Regine Schulz und Matthias Seidel (Hg.), Ägypten. Die Welt der Pharaonen (Könemann 1997), 94–103.




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Belebte Bildnisse — Die Privatplastik

Helmut Satzinger

91  Sitzstatue der Prinzessin Redji
3. Dynastie, um 2650 v. Chr.; Diorit; H. 83 cm; Museo Egizio, Turin, Cat. 3065.
»Die leibliche Königstochter Redji« (der Name  in der Inschrift der Sockelplatte  
wird unterschiedlich, zum Beispiel fälschlich Redief gelesen) sitzt auf einem Stuhl mit niedriger Lehne, der durch das bogenförmige Relief auf den Seiten als Korbstuhl gekennzeichnet ist. Ihre Haltung  ist aufrecht,  eine Hand liegt auf dem Schenkel, die andere unter der Brust. Als charakteristisch für die Werke der 3. Dynastie gilt, daß das Gesicht sehr lebendig und individuell ist, während der  Körper noch starr wirkt, wenn auch in geringerem Maß als dies bei Werken der vorausgehenden Frühzeit zu beobachten ist.

In ägyptischen Museen und Sammlungen befindet sich eine große Anzahl von rundplastischen Bildwerken, die Menschen stehend, sitzend oder hockend darstellen und von Königs- und Hötterbildnissen zu unterscheiden sind.  Diese sogenannten Privatstatuen standen im Alten Reich in aller Regel in Gräbern. Statuen aus späteren Perioden stammen eher aus Tempeln, in der Spätzeit sogar fast ausschließlich. Die wenigen, meist aus Elfenbein oder Fayence gefertigten Statuetten der prähistorischen Zeit stammen sowohl aus Sakralbezirken als auch aus Gräbern, wobei es nicht immer klar ist, ob Privat-, Herrscher- oder Götterstatuen vorliegen. Das Gleiche gilt für die noch selteneren Stein- und Holzskulpturen der Thinitenzeit. Daher mag es auch im Alten Reich Tempelstatuen gegeben haben, wiewohl ein eindeutiger Nachweis nicht vorliegt. Die Tradition von Grabstatuen privater Personen beginnt eindeutig erst in der Zeit der 3. Dynastie. Sie wurden zunächst in den Gräbern von Prinzen und höchsten Würdenträgern in den Nekropolen der alten Hauptstadt Memphis gefunden, also vor allem in Saqqara und Gisa.
           Innerhalb der Gräber waren die Statuen nicht öffentlich aufgestellt. Diese Situation darf für die Beurteilung ägyptischer Kunstwerke als äußerst auschlußreich gelten. Es erweist sich, daß der primäre Daseinszweck einer Skulptur nicht der ist, gesehen zu werden. Er liegt vielmehr in ihrer bloßen Existenz, um dem Dargestellten als Ersatzleib, eine Art Alter Ego, zu dienen. Im Rahmen des Totenkultes wurden in der Grabkapelle Speisen und Getränke vor der Scheintür niedergelegt und Räucherwerk verbrannt. Wenn sich der Tote in der Serdab-Statue niederließ, konnte er durch die abgebildete Tür hindurch die Gaben genießen. Diese Funktion der Statue war nur möglich, wenn sie mit dem Toten identifiziert war.  Dies wurde dadurch ermöglicht,  daß sie einerseits mit seinem Namen versehen war, andererseits durch individualisierende oder Porträthafte Gestaltung gekennzeicnet werden konnte. Dazu kam schließlich ein Belebungsritual, die sogenannte Mundöffnung, die der Priester an der fertigen Statue vollzog. Ägyptische Kunst, nicht nur die bildende, steht in dem starken Spannungsfeld von Norm und Wirklichkeit. Daß sich die göttliche Norm der Welt, der Zustand, in dem die Welt sein soll, nicht immer mit der rauhen Wirklichkeit deckt, blieb selbstverständlich auch dem Ägypter des Alten Reiches nicht verborgen. Die Kunst mußte der Norm entsprechen; sie mußte ein Idealbild bieten.
Es war aber unvermeidlich, daß auch die Wirklichkeit ihre Forderungen erhob. Jedes einzelne Kunstwerk ist das Ergebnis von Kompromissen zwischen diesen beiden Tendenzen.


Wo stand die Statue ?

Zum Teil waren Grabstatuen im Kultraum aufgestellt, wo sie lediglich von den Personen, die den Opferkult vollzogen, gesehen werden knten. Sie waren also nicht öffentlich zugänglich. Typisch für das Alte Reich ist jedoch, daß die Grabstatue überhaupt für alle Menschen unsichtbar bleiben sollte. Erstmals bei der Pyramide König Djosers und ab da auch in privaten Mastaba-Gräbern wird angrenzend an einen Kultraum eine Kammer für die Grabstatuen errichtet, deren einzige Öffnung ein Sehschlitz ist (vgl. Abb. im Beitrag Altenmüller). Die Archäologie gebraucht für diesen Raum den persisch-arabischen Terminus »Serdab«, eigentlich eine Höhle oder ein unterirdischer Aufenthaltsraum. Daneben bleibt in anderen Gräbern die freie Aufstellung der Grabstatuen an Wänden oder in Nischen des Kultraumes üblich. In der Zeit König Cheops’ hat das großartige Grab des Hemiunu zwei Serdabs, im Grab seines Zeitgenossen  Kawab hingegen hingegen sind die zahlreichen Statuen in der äußeren Kapelle sichtbar aufgestellt, ähnlich bei Prinz Minchaef. Erst in der Zeit des König Mykerinos nimmt die Zahl von Gräbern mit Serdabs zu.  In der Zeit der späten 5. Dy-na-stie werden diese Statuenkammern in Saqqara und Gisa immer zahlreicher und größer. Rawer, Sohn des Itisen,hatte  in Gisa hatte für sich und seine Familie mehr als hundert Statuen in fünfundzwanzig ssolcher Räume. Gegen Ende der 5. Dynastie werden zunächst die Statuen des Grabherren, später auch Dienerfiguren in die unterirdische Grabkammer verbracht. Diese Sitte, die einen Wandel in der Auffassung von Grab und Statue dokumentiert, führt schließlich zum Ende der Serdab-Tradition. Im übrigen tritt das Serdab nur im Zusammenhang mit dem Grabtyp der Mastaba auf, nicht im Felsengrab, das für oberägyptische Nekropolen und dann für die gesamte weitere Entwicklung nach dem Alten Reich charakteristisch wird.

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92  Sitzfigur der Chent mit ihrem Söhnchen
Gisa; wohl frühe 5. Dynastie, etwa um 2500 v. Chr.; Kalkstein, H. 53 cm; Wien, Kunsthistorisches Museum, ÄS 7507
Frau Chent war die Gemahlin eines hohen Beamten namens Nisutnefer. Sie war sehr wahrscheinlich in einem eigenen Grabschacht im Mastaba-Grab ihres Gatten bestattet. Normalerweise werden Gattinnen nicht in eigenen Statuen präsentiert, sondern in einer Gruppe zusammen mit dem Mann. Frau Chent jedoch hatte eine eigene Statue, die in einem eigenen Serdab aufgestellt war.
Sie sitzt aufrecht auf einem breiten Stuhl
 mit hoher Rückenplatte, die Hände flach auf die Schenkel gelegt. Wie von Gruppen-
statuen von Ehepaaren bekannt, steht seitlich vorn am Stuhl ganz klein ein Knabe, auch er aus demselben Steinblock gearbeitet. Der ägyptischen Ikonographie entsprechend ist er durch den seitlichen Zopf (die sogenannte Jugendlocke), den Finger am Mund und durch Nacktheit als kleines Kind charakterisiert. Stilistisch gehört die Skulptur zu der großen Gruppen von Werken des hohen Alten Reiches, die den Realismus der Zeit des Cheops und Chephren durch die typische Idealisierung der Folgezeit ersetzen.
93  Gruppe mit Standfiguren des Memisabu und seiner Frau
Gisa; 5. bis 6. Dynastie, um 2350 v. Chr.; Kalkstein; H. 62 cm; New York, Metropolitan Museum of Arts, 48.111.
Bei Gruppen von Paaren legt zumeist die Frau ihren Arm um die Schultern des Mannes. Sehr selten legt hingegen der Mann den Arm über die Schulter der Frau. Die possessive Wirkung dieser Geste wird hier noch durch den starken Größen-
unterschied verstärkt.
Die Frau umfängt ihrerseits die Taille des Mannes. Die Skulptur ist ein gutes und qualitätvolles
Beispiel für die Ablösung vom Idealbild der frühen 5. Dynastie und eine Entwicklung, die man die zweite Individualisierung (nach der der frühen 4. Dynastie) nennen könnte. Der Größenunterschied der Personen mag darauf beruhen, daß der Bildhauer bestrebt war, die umarmende Geste des Mannes in einer natürlich wirkenden Weise zu realisieren.





Wer wird dargestellt ?

Die prinzipielle Antwort kann lauten: die in den Mastaba-Gräbern Bestatteten. In der Zeit des Cheops sind dies vor allem Prinzen und hohe Würdenträger, gegen Ende des Alten Reiches sind es auch Handwerker und kleine Beamte, die ihre oft bescheidenen Gräber zwischen die großen Mastabas quetschen. Mastabas werden für nur eine Generation errichtet, also im Regelfall für Eltern und zum Teil für deren im jugendlichen Alter verstorbene Kinder. Daher finden wir im Serdab häufig sowohl Einzelstatuen des Grabherrn und seiner Frau als auch beide in einer Gruppenstatue vereinigt. Kinder treten nicht selbständig auf. Sie sind immer zusammen mit den Eltern, zumeist in sehr kleinem Format, dargestellt, es können auch Personen sein, die zum Zeitpunkt dr Darstellung längst erwachsen waren. Die Anwesendheit der Kinder müssen nicht jung verstorbene Nachkommen sein. Die Anwesendheit der Kinder mag deshalb auch einfach nur  den Wunsch nach einem Weiterleben nach dem Tod ausgedrückt
 haben. Gelegentlich stellt die Frau an der Seite des Grabherrn nicht die Gattin, sondern die Mutter dar. Auch andere Kombinationen in Zweiergruppen (zwei Männer, zwei Frauen) und Dreiergruppen (zwei Männer und eine Frau und so weiter) kommen vor. Einzelstatuen von Mann und Frau können jeweils in einem eigenen Serdab aufgestellt worden sein. Wie der Grabherr eine beliebige Zahl von Einzelstatuen haben kann, gibt es auch Gruppen, in denen er zwei- oder dreimal dargestellt ist (sogenannte Pseudogruppen).

Das Verhältnis von Mann und Frau

Interessant ist es, das Größenverhältnis zwischen Mann und Frau zu beobachten. Oft sind Mann und Frau gleich groß, oder die Frau ist um den statistischen Größenunterschied kleiner. Mitunter ist die Frau jedoch sehr viel kleiner dargestellt. Mehrfach kommen darunter Zweiergruppen

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94 (linke Seite) Familiengruppe der Pepi
Gisa; späte 5. Dynastie, um 2370 v. Chr.; Kalkstein; H. 45 cm; Hildesheim,
Pelizaeus-Museum, 17.
An der Dreiergruppe von Mann, Frau und Kind fällt zunächst auf, daß die Frau größer ist als der Mann, und da das Kind größer als sonst üblich wiedergegeben ist, erscheint die Frau in zentraler Position. Die Frau hält den Mann an Schulter und Oberarm, wie es auch sonst Gattinnen und Mütter in den Statuengruppen tun. Obwohl die Skulptur auf der Basis Inschriften trägt, ist die familiäre Beziehung der Dargestellten zueinander nicht klar, nicht zuletzt deshalb, weil Mann und Kind den selben Namen, Raschepses, tragen.  Der Mann ist als »ihr Sohn« bezeichnet, während der Knabe laut Beischrift »königlicher
Wab-Priester« ist. Einfachste Lösung: die
 Beischriften sind irrtümlich vertauscht worden, der Erwachsene ist ihr Gatte, ein Wab-Priester, der Knabe hingegen ihr Sohn; dann wären Größe und Position der Frau sehr bemerkenswert. Oder: Es sind zwei Söhne, von gleichem Namen (das kommt mitunter vor), oder es sind Sohn und Enkel: bemerkenswert, daß dieser bereits einen Titel trägt, tatsächlich also längst erwachsen ist. Eine weitere Lösungsmöglichkeit böte die Annahme einer Pseudogruppe, Pepis Sohn Raschepses wäre in zwei verschiedenen Altersstufen dargestellt. Wie immer die richtige Lösung lautet: es liegt der seltene Fall einer vorwiegend auf eine Frau ausgerichteten Familiengruppe vor. Die Datierung »späte 5. Dynastie«, die nach stilistichen Kriterien erarbeitet it, bleibt unsicher. 95–97  Standfiguren des Sepa (zweimal) und der Nesa
Wohl aus Saqqara; 3. Dynastie, um 2670 v. Chr.; Kalkstein; H. 159, 165 und 152 cm; Paris, Musée du Louvre, A 36, A37, A 38.
Die drei hervorragenden Großskulpturen des frühen Alten Reiches stammen aus einer Serie. Im selben Serdab waren zwei Statuen des Grabherrn und eine seiner Gattin aufgestellt. In der weiteren Entwick-
lung werden oft anstelle von Einzelfiguren monolithe Gruppenstatuen geschaffen. Wenn dabei, wie in diesem Fall, zweimal dieselbe Person repräsentiert wird, sprechen wir von »Pseudogruppen«. Die beiden Statuen des Sepa sind bis auf kleinste plastische Nuancen identisch. Im Gegensatz zu späteren Steinskulpturen ist der Mann Szepter und Stab in den Händen 
dargestellt. Die rundplastische Wiedergabe der Insignien ist nicht nur technisch problematisch, sie fügt sich auch nur schwer in den eigenwilligen Werkstil der  ägyptischen Skulptur. Während das Sechem-Szepter nach Ausweis der Reliefs waagrecht getragen wurde, mußte es der Bildhauer hier senkrecht wiedergeben, um es nicht aus dem Körperblock zu lösen. Auch der Stab bleibt aus technischen Gründen in Verbindung mit dem Körper. Der Stil der Gesichter ist individuell, vielleicht porträthaft. Die Körper sind, wie üblich, summarischer wiedergegeben. Die an den Leib gepreßten Arme wirken starr, charakteristisch für die Skulptur der 3. Dynastie, im fortgeschrittenen Übergang von der archaischen Kunst zu der des hohem Alten Reiches.

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98  Standfigur des Babaef
Gisa; wohl frühe 5. Dynastie, um 2480 v. Chr.; Kalzit-Alabaster; H. 49,7 cm; Wien, Kunsthistorisches Museum ÄS 7785.
Babaef ist in der typischen Weise des hohen Alten Reiches dargestellt: aufrecht stehend, von athletischer Statur, mit mächtigen Schultern und schmalen Hüften, mit kräftigen Muskeln. Die herabhängenden Hände sind zu Fäusten geballt, die den nur vorne sichtbaren
"Steinkern" um-
schließen. Auch dadurch wird der musku-
löse Charakter der Figur unterstrichen. Der nach vorn gerichtete Blick geht leicht aufwärts, nach neuerer Auffassung zur Sonne hin, um den erhofften Zustand der Verklärung anzudeuten. Der Rückenpfeiler, der bis zur halben Höhe des Kopfes reicht, ist so schmal, daß ihn die Figur verdeckt.
Alabaster ist als Werkstoff seltener und kostbarer als der übliche Kalkstein.
99  Schreiberfigur
Saqqara; frühe 5. Dynastie, um 2500 v. Chr.; Kalkstein, bemalt; H. 51 cm; Kairo, Ägyptisches Museum, CG 36.
Die Hockfigur ist eine der bekanntesten Skulpturen des Alten Reiches. Die Idealisierung der Plastik der 5. Dynastie ist hier noch mit deutlich erkennbarer Individualisierung gepaart. Wir sind nicht in der Lage zu sagen, ob die markanten Falten zu Seiten der Nase ein portraithafter Zug des Dargestellten waren; aber dieses Detail gibt auf jeden Fall dem schönen und
sympathischen Gesicht eine sehr individuelle Note. Die natürliche Wirkung wird noch durch die eingelegten Augen erhöht, wobei heute die Korrosion der Kupfereinfassung, die die Schminkstriche wiedergibt, dies ein klein wenig beeinträchtigt. Der Kopf ist leicht gedreht, die Augen blicken leicht nach rechts. Diese auch anderwärts feststellbaren Erscheinungen lassen den Schreiber voll gehorsamer Aufmerksamkeit dem Diktat lauschen. Der Mann hält mit seiner Linken den aufgerollten Papyrus, die Rechte hielt vermutlich eine echte Schreibbinse.

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vor, in denen der Mann sitzt, die Frau hingegen steht. Hier kann man den erheblichen Unterschied in der Darstellungsproportion zum Teil mit kompositorischen Gesichtspunkten erklären. Selten sind Gruppen mit sitzender Frau und stehendem Mann: diesfalls ist der Maßstab von sitzender und stehender Person etwa gleich. Die nicht sehr dominante, aber doch oft feststellbare Hervorhebung des Mannes beruht vermutlich darauf, daß wir es mit Inhabern hoher Ämter zu tun haben, also wichtigen Persönlichkeiten. Der Frau kam eine so hohe soziale Bedeutung wahrscheinlich nur dann zu, wenn sie aus einer gleichfalls ranghohen Familie stammte. Bei Paaren drückt in der Regel die Frau durch ihre Haltung und Gestik ihre Zuneigung zum Mann aus, indem sie ihren Arm über seine Schultern legt und vielleicht noch mit der anderen Hand auf seinen herabhängenden Arm greift. Bei anderen Paaren ist eine reziproke Haltung zu finden, die die Ebenbürtigkeit betont, nämlich wenn Mann und Frau einander an der Hand halten.

Statuentypen

Im Lauf der Geschichte der ägyp-tischen Skulptur wurde eine Anzahl kanonischer Stellungen entwickelt, die immer wieder aufgenommen und somit kanonisiert werden. Im Alten Reich sind davon schon folgende drei Grundformen vorhanden:
    Die Standfigur — Männer zeigen eine deutliche Schreitstellung, wobei jedoch das Gewicht weitgehend auf dem hinteren Bein ruht. Es ist also eine statische Haltung, die das Schreiten nur andeutet. Frauen stehen mit geschlossenen Beinen oder in nur enger Schrittstellung. Die Arme hängen meist herab, wobei die Hände entweder geöffnet oder um einen "Steinkern" geballt sind; selten ist ein Arm abgewinkelt, wobei die Faust vor der Brust liegt. Nur Holzstatuen zeigen den von den zweidimensionalen Darstellungen vertrauten langen Stab in einer Hand.


100  Statuengruppe eines stehenden Mannes mit seiner Frau
Gisa; 5. Dynastie, um 2450 v. Chr. ; Kalkstein, bemalt; H. 56 cm; Wien, Kunsthistorisches Museum, ÄS 7444.
Die Skulptur zeigt die Paargruppe in Standardausführung. Mann und Frau sind in der Tracht ihrer hohen Gesellschaftsschicht wiedergegeben, der Mann mit kurzem Schurz
und Perücke,
die Frau mit Trägerkleid und Perücke. Die in natürlichem Größenverhältnis dar-
gestellte Frau umfängt seinen Rücken und berührt seinen Arm. Der leere Raum zwischen ihnen ist durch Schwarzfärbung des Hintergrundes ikonographisch als solcher gekennzeichnet. Die kurze Inschrift auf der Basisplatte nennt die Na-
men der Dargestellten, aber sie sagt nichts aus über ihr Verwandtschaftsverhältnis.
101  Statuenpaar
Wohl aus Saqqara; frühe 5. Dynastie, um 2500  v. Chr.; Holz; H. 69 cm; Paris, Musée du Louvre, N. 2293.
Das Material Holz begünstigt eine ralistische Darstellungsweise. Die beiden Figuren sind einzeln gearbeitet, jedoch



nicht nur durch einen gemeinsamen Sockel zusammengefaßt, dessen Original verloren ist, sondern auch durch den linken Arm der Frau, der den Rücken des Mannes umfaßt. Da sie sehr viel kleiner ist, ruht der Arm unterhalb der Schulterblätter.




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    Die Sitzstatue — der oder die Dargestellte sitzt auf einem kubischen oder quaderförmigen Block. Die Arme liegen meist abgewinkelt auf den Schenkeln, wobei meist eine Hand um den "Steinkern" geballt ist.
   Die Hockstatue — der Dargestellte, meist ein Mann, sitzt mit untergeschlagenen gekreuzten Beinen auf einer Matte oder auf dem Boden ("Schneidersitz"). Hat der Hockende eine offene Papyrusrolle auf dem Schoß, so ist es ein "Lesender"; hat er zusätzlich eine Schreibbinse in der Hand, so erweist er sich als "Schreiber". Seltener ist der "asymmetrisch Hockende", der ein Knie aufgestellt hat. "Kniende" oder auf den Fersen Sitzende sind noch seltener. Man beachte, daß diese Terminologie abendländisch und unägyp-tisch ist: Das "Hocken" ist in Wahrheit die normale Sitzhaltung, während das Sitzen auf einem Stuhl etwas Besonderes ist; die Hieroglyphe des solcherart Sitzenden   ist das Wortzeichen für schepses "vornehm". Hingegen ist der "asymetrisch Hockende"   das Zeichen für "Mann" schlechthin.

    In dynastischer Zeit werden in Stein zunächst Sitzstatuen hergestellt, Stehende vor der 3. Dynastie nur in Holz. In der Folgezeit sind Sitzstatuen der häufigste Typ, knapp gefolgt von Standfiguren und dann Hockstatuen aller Varianten.

    Eine Besonderheit des Alten Reiches sind Köpfe und Büsten; diese haben aber sichtlich eine andere Funktion als die Grabstatuen. Das gilt auch von den Dienerstatuen – sie treten erst im Lauf des Alten Reiches auf –, die beim Herstellen von Nahrung und in ähnlicher Tätigkeit dargestellt sind. Sie sind nicht individuell (sie sind auch nie mit Namen beschriftet), sondern stehen für die ausgeübte Tätigkeit. Stehende Steinstatuen weisen auf der Rückseite einen Stützpfeiler
auf, Gruppen von Stehenden haben eine gemeinsame Rückenplatte. Auch Sitzstatuen können eine Rückenplatte haben; sie wirkt wie eine hohe Lehne. Neben frei gearbeiteten Statuen gibt es auch solche, die im Grab aus dem anstehenden Felsen skulptiert sind.
    Arme und Beine von Steinstatuen sind mit Stegen mit dem Körper verbunden. Bei Kalksteinskulpturen können die Arme jedoch auch frei sein. Bei Hartstein-Statuen war dies jedoch nicht möglich. Bei Holzstatuen bestehen keinerlei technische Beschränkungen hinsichtlich der freien Gestaltung der Gliedmaßen; diese sind in der Regel getrennt gearbeitet und dem Rumpf angefügt.

Die Ersatzköpfe

Diese reichlich nüchtern klingende Bezeichnung dient für Skulpturen in Form von lebensgroßen Köpfen, die in Gräbern insbesondere der 4. Dy-na-stie gefunden worden sind. Es sind einige dreißig solcher Köpfe bekannt; die meisten stammen aus Gisa. Sie sind von vornherein als Köpfe gefertigt und sind nicht etwa Frag-mente von Statuen. Ihr ursprünglicher und vorgesehener Aufstellungsort ist aus vereinzelten Bei-spielen bekannt: Es ist nicht das Serdab, sondern die Sohle des tiefen Schachtes, der in die Grabkammer führt. Genauer gesagt, befanden sie sich in einer Nische der Mauer, die die Grabkammer vom Schacht trennt und abschließt. Die meisten Köpfe stammen aus der Zeit des Cheops und des Chephren. Es hat viele Versuche gegeben, den Sinn dieser Objektgattung und das Motiv für die Herstellung und Aufstellung der Köpfe zu deuten: 1. Angst, den Kopf im Jenseits zu verlieren, sei es durch Dämonen

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oder natürlichen Verfall; man nennt sie daher auch Reserve- oder Ersatzköpfe; 2. Ersatz für die Grab-statue; 3. Bewahrung des Aussehens, auch wenn die Mumie zerfällt (die Technik der Mumifi-zierung war damals noch nicht sehr wirkungsvoll), sowohl für das Weiterleben nach dem Tod als auch um der sich freizügig bewegenden Komponente des Ich ("Seele") die Identifizierung des Körpers zu  ermöglichen. Nach einer neuen Theorie, die allerdings wenig Anerkennung gefunden hat, dienen sie einer magischen Praktik, die verhindern soll, daß der Tote zurückkommt und den Hinterbliebenen schadet. Daneben gibt es sogar Thesen, die in ihnen Gegenstände sehen, die dem Grabinhaber schon zu Lebzeiten als Bildhauervorlagen für sein Porträt oder als Wohnzimmerschmuck gedient haben.

     Der Aufstellungsort zeigt jedenfalls, daß die Köpfe nicht die Funktion einer Kultstatue haben, also nicht dazu dienen, dem Toten die Entgegennahme der Opfer zu ermöglichen. So kann ihre Leistung einzig und allein sein, die Individualität und das Aussehen des Verstorbenen zu bewahren.


Stilisierung, Realismus, Porträtcharakter


Was man darstellte, unterlag einer fundamentalen Stilisierung, die das Menschenbild in einer Verfassung realisierte, die für eine Verewigung geeignet war. Diese Idealisierung betrifft zunächst das existentiell Menschliche. Prinzipiell werden die Bestatteten heil und gesund dargestellt. Die Wiedergabe erfolgt nach einem festgelegten idealen Proportionskanon, der das Verhältnis der Teile des Körpers zueinander regelt. Die Menschen erscheinen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in einem gleichsam neutralen Alter, weder jugendlich noch betagt, sowohl Reife als auch Vitalität zeigend. Die Körper sind kraftvoll und athletisch, die Haltung ist aufrecht, der Blick fest und geradeaus gerichtet. Ähnlich neutral ist die Stimmung: weder freudig noch traurig, nicht einem bestimmten Moment verhaftet. Die Menschen sind nicht in einer bestimmten Tätigkeit begriffen, noch einem bestimmten Ambiente zugehörig. Insgesamt ist die Wiedergabe völlig statisch.

     Die Idealisierung hat ferner einen sozialen Aspekt, indem die Zugehörigkeit zur richtigen Klasse, zum Platz in der Gesellschaft ausgedrückt wird. Dies geschieht durch die Wahl standesgemäßer Kleidung, einschließlich von Haartracht und Schmuck (Schmuck hat ursprünglich magisch schützende Funktion, wie denn "schön" in vielen Kulturen vor allem "gut" und "nützlich" bedeutet). Es kann aber auch in Haltung und Attributen ausgedrückt sein, etwa das Sitzen auf dem Stuhl, das mit dem Gedanken an Vornehmheit verknüpft ist. Ähnlich charakterisiert den Mann die Darstellung als Schreiber als zur Elite gehörig. Zusätzlich ist eine rein künstlerische Idealisierung anzusetzen. Skulptur ist nicht realistisch, sie reproduziert nicht exakt die plastische Oberfläche des Menschen in Form und Proportion, sondern sucht und findet Stilmittel und Konventionen, um ein Erscheinungsbild zu erzeugen, das von der Gesellschaft akzeptiert wird und im Betrachter das Intendierte hervorruft, sei es über den spontanen Seheindruck, sei es durch Kenntnis ikonischer Konventionen. Dabei wird vor allem vereinfacht, so bei Details wie der Haartracht, oder es wird plastisch überzeichnet – wie bei der erhabenen Wiedergabe von Brauen und Lidstrichen. Die Plastizität zumal des Gesichtes wird großflächiger gestaltet, gleichsam geometrisiert.

     Es ist jedoch zu beachten, daß diese Stilisierungen in  unterschiedlichem Maß ausfallen können. In bestimmten Perioden – etwa in der frühen 4. Dynastie – treten Werke auf, die diese Konventionen überwinden, die die Plastizität des Gesichtes realistisch gestalten, die ein reiferes Alter wiedergeben, oder auch körperliche Abweichungen vom Ideal, wie Korpulenz oder Zwergwuchs. Der Realismus wird durch die Notwendigkeit der Idealisierung in Schranken gehalten. Andererseits erfordert der



104  »Ersatzkopf«
Gisa; 4. Dynastie, um 2590 v. Chr.; Kalkstein; H. 27,7 cm; Wien, Kunsthistorisches Museum, ÄS 7787.
Die Funktion der Ersatzköpfe muß eine andere gewesen sein als die, dem Toten als Ersatzleib für die Entgegennahme des Totenopferkultes zu dienen. Stilistisch sind sie hochinteressant, da es aus der ersten Hälfte der 4. Dynastie, da die Entwicklung zu einem naturalistischen Stil ihren Höhepunkt erreicht, nur wenig Privatplastik gibt. Es ist faszinierend, im Vergleich der einzelnen Werke das Spannungsfeld zwischen Idealisierung und Realismus zu beobachten. Bei den am weitesten entwickelten Stücken, wie dem Wiener Kopf aus der Gisa-Nekropole, ist die Individualisierung frappant, und vermutlich ist auch der Porträtcharakter ausgeprägt. Die Plastizität der Gesichtsflächen wird jedoch summarisch gestaltet, die Plastik erscheint sozusagen geometrisiert. Idealisierung liegt auch darin, daß der Mensch in einem neutralen Zustand der Emotionslosigkeit und Alterslosigkeit gezeigt wird, wie es ein Anspruch auf Verewigung erfordert.



kultische Daseinszweck der Werke die individuelle Identifizierung von Darstellung und Dargestelltem. Dafür wird zunächst ein außerkünstlerisches Mittel verwendet, nämlich die Beschriftung. Die Angabe des Namens und der Titel bewirkt eine eindeutige Zuordnung. Dazu kommt das künstlerische Mittel der bildlichen Individualisierung oder des Porträts. Individualisierung ohne Porträtcharakter ist ein wenig mit einer ungekonnten Karikatur vergleichbar: charakteristische Einzelheiten werden wiedergegeben, ohne daß dadurch ein Porträtcharakter entsteht. Der Verstand sagt: ein Mensch mit solchen körperlichen Eigenheiten muß NN. sein. Beim Porträt hingegen identifiziert der Betrachter spontan. Realistischer Stil kommt dem Porträt entgegen, aber Porträt ist auch in einem nichtrealistischen Stil möglich. Es gibt in der modernern Kunst expressionistische, kubistische usw. Porträts, die diese Bezeichnung voll verdienen. Ebenso haben sicherlich viele der hier in Betracht genommenen ägyp-tischen Skulpturen trotz ihres Idealstils Porträtcharakter, auch wenn wir dies nicht direkt nachweisen können.

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105  Sitzfiguren des Rahotep und der Nofret
Meidum; 4. Dynastie, um 2610 v. Chr.; Kalkstein, bemalt; H. 51 und 48,5 cm; Kairo, Ägyptisches Museum, CG 3 und 4.
Die beiden getrennt gearbeitete Sitzstatuen eines Mannes und einer Frau bilden ein Ensemble. Der Sitz gleicht mit seiner hohen

Rückenlehne und dem rechteckigen Sockel der Hieroglyphe   für Thron. Die Statuen zeigen die ursprüngliche Bemalung fast vollständig, und sie sind ein gutes Beispiel für die kanonische geschlechtsspezifische Hautfarbe: braun für den Mann, Gelb für die Frau. Die lebendige Wirkung der gut durchgeformten Gesichter ist durch lebensecht wirkende eingelegte Augen aus weißem Quarz und durchsichtigem Bergkristall gesteigert. Die Inschriften der beiden Statuen sind sehr plakativ auf der Rückenlehne zu beiden Seiten des Kopfes in jeweils identischer Version angebracht. Stilistisch zeigt das Skulpturenpaar mit der  Darstellung der Gesichter und der Lockerung der körperlichen Haltung einen grandiosen Schritt in Richtung Realismus. Es ist somit ein Bindeglied zwischen den Werken der 3. Dynastie (oben Abb. 1 und 2) und den realistisch-portäthaften Werken der Zeit von Cheops und Chephren.

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106 Büste des Anchhaef
Gisa; 4. Dynastie, um 2500 v. Chr.; Kalkstein mit Stuck; H. 50,6 cm; Boston, Museum of Fine Arts, 27.442.
Die Büste des Anchhaef ist in der Kunst des Alten Reiches einzigartig in ihrem Realismus, ja sie hat hierin auch in späteren Werken kaum Konkurrenz. Die Plastizität der Körperoberfläche ist von höchster Differenzierung, insbesondere im Bereich des Gesichtes. Damit ist ein hoher Grad von Individualisierung erreicht, und es war ohne Zweifel eine frappierende Porträtähnlichkeit gegeben (was wir ja leider nicht prüfen können). Allerdings liegt hier keineswegs eine Grabstatue im üblichen Sinn vor. Dafür sprechen ihr Charakter als Büste, also als Teilwiedergabe des Menschen, sowie Material und Herstellungetechnik: ein Steinkern ist mit einer Stuckschicht von unterschiedlicher Stärke und mit rosafarbener Bemalung überzogen worden. Leider ist das Mastaba-Grab des Anchhaef in der Nekropole von Gisa in gestörtem Zustand vorgefunden worden, so daß nichts Sicheres über den originalen Aufstellungsplatz der Büste gesagt werden kann. Jedenfalls dürfte sie nicht in der unterirdischen Bestattungsanlage gestanden sein, wie dies für einige Ersatzköpfenachweisbar ist.



Stilistische Entwicklung

In der 3. Dynastie finden wir im Vergleich zur Thinitenzeit auffallend lebendige Gesichter, die Körper hingegen wirken verpuppt und nicht gelöst. Die Werke aus der Zeit der 4. Dynastie sind mitunter von einem beachtlichen Realismus, wie die grandiose Büste des Anchhaef, andere zeigen sehr individuelle Merkmale, die realistisch erscheinen (Hemiunu). Hierher gehören auch die meisten Ersatzköpfe.
    In der späten 4. und in der 5. Dynastie entwickelt die Skulptur einen ausgeprägten stilistischen Typ mit runden, etwas fleischigen Gesichtern, die geradezu als austauschbar wirken (was aber objektiv nicht der Fall ist). Da aus dieser Zeit sehr viel Skulptur erhalten ist, wird dieser Typ meist als repräsentativ für das Alte Reich angesehen. Die Körper werden weiterhin athletisch und kraftstrotzend dargestellt.
    In der Folge tritt jedoch eine Erscheinung ein, die sich in der Geschichte der Kunst immer wieder aus klassischen Stilen entwickelt: die
Distorsion der Klassik. Zunächst wird die Idealisierung verringert, die Darstellung wird wieder realistischer; in der Gestaltung der Körperhaltung kommt es zu größerer Freiheit. Allmählich kommt eine Art Expressionismus auf, der für die bildende Kunst der Ersten Zwischenzeit typisch wird. Die Augen werden groß, geweitet, der Mund wird größer, fleischiger, die Gesichter sind nicht mehr rund und voll. Die Gestaltungs des Körpers ist mitunter wenig proportioniert, als ob ungekonnt. Mit diesem Urteil würde man jedoch der Kunst des ausgehenden Alten Reiches nicht gerecht. Was hier sichtbar wird, ist vielmehr ein neue Ungezwungenheit und Freiheit, verglichen mit dem streng kanonischen Kunstschaffen der vorangegangenen Klassik.
    Die ägyptische Privatplastik des Alten Reichs ist nur in ihrem funerären Kontext zu verstehen. Eine differenzierte Betrachtung der Darstellunge und Darstellungsweisen erlaubt sowohl Einblicke in die diesseitige ägyptische Gesellschaft als auch in die vorgestellte, jenseitige Welt. Die von uns empfundene Schönheit der Bildnisse beruht einerseits auf dem Schönheitssinn und Stilgefühl ihrer Schöpfer; andererseits ergibt sie sich aus den Ansprüchen an sie, für die Ewigkeit zu genügen.

NB. Der Text wurde aus dem Manuskript hergestellt, nicht vom Buch gescannt; kann vereinzelt von der Druckversion abweichen.