Reader
zur Lehrveranstaltung
 "Familienpsychologie I"
(604 532, anrechenbar als iD 2304)
Wintersemester 1997/98
(Blocklehrveranstaltung vom 27. – 29. November 1997)
Lehrveranstaltungsleiter und Herausgeber
Univ.-Ass. Mag. Dr. Harald WERNECK
Abteilung für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie des Instituts für Psychologie der Universität Wien
Wien, Februar 1998



vergleiche auch: "Psychologie der Familie. Theorien, Konzepte, Anwendungen", herausgegeben von Harald Werneck und Sonja Werneck-Rohrer, 2000, Wien: WUV|Universitätsverlag.
 

Vorwort

Der vorliegende Reader beinhaltet die gesammelten schriftlichen Berichte, die von Studentinnen im Rahmen der Lehrveranstaltung "Familienpsychologie I" (am Institut für Psychologie der Universität Wien) verfaßt wurden.

Die Familienpsychologie kann wohl mit einiger Berechtigung als zukunftsträchtiges Teilfach der Psychologie betrachtet werden, was u. a. durch das Bestreben bzw. die Initiative Prof. Schneewinds (München) zum Ausdruck kommt, anläßlich der 13. Tagung Entwicklungspsychologie in Wien, 1997, eine eigene Fachgruppe "Familienpsychologie" im Rahmen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) zu gründen. Auch wenn dies bislang noch nicht realisiert ist, so gibt es dennoch bereits einige erfolgreiche Beispiele einer Institutionalisierung der Familienpsychologie, etwa in Form der Sektion "Kinder-, Jugend- und Familienpsychologie" im Berufsverband Österreichischer Psychologinnen und Psychologen (BÖP) oder der "Division 43 – Familiy Psychology" der American Psychological Association (APA).
Inhaltlich sprechen viele gute Argumente, wie z. B. die systematischere und stärkere Einbeziehung familienorientierter Aspekte in einschlägige Forschungsarbeiten, für die Etablierung einer eigenen Subdisziplin "Familienpsychologie" und für eine Ablösung aus den diversen traditionellen Grundlagen- und Anwendungsfächern innerhalb der Psychologie, wie etwa der Entwicklungspsychologie, der Klinischen, der Pädagogischen, der Sozial- oder der Persönlichkeitspsychologie. Andererseits soll auch an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, daß ebenso gute Argumente gegen eine weitere Aufsplittung des Faches Psychologie bzw. Ihrer Einrichtungen vorgebracht werden können und wurden.

Diese Lehrveranstaltung bzw. dieser Reader versteht sich jedenfalls im Sinne einer "Promotion", einer Weiterentwicklung des Faches Familienpsychologie, als Forum einer systematischen Sammlung bzw. Diskussion einschlägiger Forschungsergebnisse unter dem gemeinsamen Aspekt familienorientierter Zugangs- und Betrachtungsweisen.

Die einzelnen Berichte bzw. Kapitel wurden relativ unverändert (von den jeweiligen Diskettenversionen) übernommen – abgesehen von Veränderungen im Layout bzw. geringfügigen Korrekturen (v. a. betreffend die Rechtschreibung).
Auf eine inhaltliche Überarbeitung bzw. eine komplette Vereinheitlichung des Layouts oder auch der Literaturverzeichnisse mußte aus Zeitgründen verzichtet werden.
Die inhaltliche Verantwortung bleibt dementsprechend bei den einzelnen Autorinnen.

Dieser Reader soll in erster Linie als Service für die Teilnehmenden an der ihm zugrundeliegenden Lehrveranstaltung dienen, aber auch als Basisinformation bzw. Anregung für (aus verschiedenen Gründen) am Thema Interessierte.

Wien, Februar 1998 / Univ.-Ass. Mag. Dr. Harald Werneck





INHALTSVERZEICHNIS
 

1) Gegenstand und Begriffsdefinitionen (Sophie Chabert)
2) Familie im historischen Wandel (Corinna Klein)
3) Aktuelle Trends der Institution Familie (Martina Gustavik)
4) Familienpsychologische Theorien (Tanja Kremser)
5) Familiäre Sozialisation (Astrid Sander)
6) Familiendiagnostik (Alexandra Wiener)
7) Familiendiagnostisches Testsystem (Petra Steindl)
8) Familienberatung und Familientherapie (Doris Wölbitsch)
9) Einstellungen zur Familie (Anita Wisberger)
10) Nichteheliche Lebensgemeinschaften (Petra Stögerer)
11) Grundlagen der Bindungstheorie (Brigitta Wiesmüller)
12) Pubertät als Herausforderung für die Familie (Sabine Nimmervoll und Irene Hanke)
13) Geschwisterforschung (Barbara Klaus)
14) Scheidung und ihre Folgen für die betroffenen Kinder (Carina Kreuzinger)
15) Psychologie der Großelternschaft (Barbara Martl)
16) Beziehungen zwischen den Generationen (Barbara Izay)
17) Familie und Arbeitswelt (Barbara Reithofer)
18) Beruf – Familie – Freizeit / Zeitbudgeterhebungen (Karin Mayer)
19) Familienpolitik (Melanie Peham)





Inhaltsverzeichnis

 1) Gegenstand und Begriffsdefinitionen (Sophie Chabert)

Einleitung

Diese Seminararbeit soll einen kurzen Überblick über die Gegenstands- und Begriffsdefinitionen von Familienpsychologie bieten. Im ersten Teil werden einige allgemeine Aspekte der Familienpsychologie (Ausbildungsmöglichkeiten in diesem Bereich, Überlegungen zu ihrer theoretischen Fundierung, Gedanken zur familiären Intervention und zur Familiendiagnostik) kurz angeschnitten.

Der zweite Teil der Arbeit befaßt sich mit der Familie selbst. Einleitend erfolgen Erklärungen und Gedanken zur Begriffsgeschichte des Wortes. Anschließend werden die unzähligen Definitionsansätze zum Begriff der Familie geschildert und die dabei auftretenden Probleme näher dargestellt und erläutert.

Einteilungsmöglichkeiten und verschiedene Versuche Familie zu klassifizieren werden als abschließender Punkt in der Arbeit behandelt.

Teil I: Begriffsdefinition

Unter Familienpsychologie versteht man einen Zweig der Psychologie der als Wissenschaft und als Profession die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Familie behandelt. Der Fokus der Familienpsychologie ist das Verhalten und Erleben von Personen in Beziehung zu ihrer Familie. Der Gegenstand der Familienpsychologie ist die Familie.

Für das Programm der Familienpsychologie werden folgende Punkte als bedeutsam angesehen:

I.) Die Probleme der theoretischen Fundierung der Familienpsychologie.

II.) Überlegungen zur Familienentwicklungspsychologie.

III.) Gedanken zur familiären Diagnostik

IV.) Gedanken zur familiären Intervention.

  1. Die Ausbildung in der Familienpsychologie.
I.) Theoretische Fundierung der Familienpsychologie:

Das Problem bei der theoretischen Fundierung der Familienpsychologie besteht darin, daß es nicht möglich ist, eine Familientheorie oder gar "die" Familientheorie zu präsentieren.

Die bisherigen Angebote an expliziten Familientheorien genügen den Anforderungen dieses Theoriebegriffes kaum. Es ist daher wesentlich angemessener, von theoretischen Modellen oder Metaphern zu sprechen. Auch diese können sehr gut als Ordnungsraster für die Familienpsychologie verwendet werden.

Die systemische Familientheorie, Michums normatives Theoriemodell oder das familieninterne spezifische Erfahrungsmodell sind nur einige Beispiele für solche theoretischen Modelle.

II.) Überlegungen zur Familienentwicklungspsychologie:

Unter Familienentwicklung versteht man den im Kontext der Familie in wechselseitiger Bezogenheit verlaufenden Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung. Familienentwicklung kann auch als Koevolution oder Koindividuation bezeichnet werden. Die Verläufe der Familienentwicklung werden beispielsweise von der Familien - Streß - Theorie untersucht.

Die Theorie geht dabei von der Wirkung aktueller normativer und nicht normativer Stressoren auf das Familiensystem aus. Während sich die normativen Stressoren auf erwartbare Übergänge im Familiensystem beziehen (z. B. Übergang von Partnerschaft zur Elternschaft, Übergang vom Familienleben zum "leeren Nest",.....), beziehen sich die nicht normativen Stressoren auf außerhalb des Erwartungshorizontes der Familie liegende Ereignisse (z. B. Arbeitslosigkeit, Krankheit, Tod, ...).

Es geht somit um eine realzeitliche Analyse von Familienentwicklungsprozessen, wobei zum einen die familienhistorisch - individualbiographische Perspektive berücksichtigt wird und zum anderen die aktuelle Lebenslage der Familie.

III.) Gedanken zur familiären Diagnostik:

Die Familien - Diagnostik beschäftigt sich mit:

Bei der familiären Diagnostik ist es wichtig die familiären Beziehungsaspekte auf unterschiedlichen Systemebenen zu untersuchen (z. B.: Eltern - Kindsystem, Partnersystem, ...). Zur Erfassung erlebter familiärer Beziehungssysteme dient das FDTS (= familiendiagnostisches Testsystem).

Ein Vorschlag zur Klassifikation familiendiagnostischer Verfahren stammt von Cromwell, Olson und Fournier. Sie unterscheiden die diagnostischen Verfahren hinsichtlich der Datenquelle (Insider beziehungsweise Outsider Perspektive) und hinsichtlich der Datenart (subjektive erlebnisbezogene, beziehungsweise objektive verhaltensbezogene Informationen).

Die traditionellen Ansätze der Familiendiagnostik werden von Garahl, Rau -Ferguson und L´Abote in den folgenden Bereichen heftig kritisiert:

  1. Überbetonung intrapsychischer Phänomene - Diese Überbetonung hat zu einer Vernachlässigung der Beziehungen zwischen den Individuen geführt.
  2. Favorisierung einer linearen Epistemologie. - Diese ist einer Berücksichtigung von Entwicklungskontexten im Weg gestanden.
  3. Außerachtlassung des Systemprinzipes der Nicht-Summativität – sie war für die direkte Beobachtung interagierender Familienmitglieder hinderlich.
IV.) Familiäre Intervention:

Die familiäre Intervention berücksichtigt vier Aspekte:

Als erstes den Aspekt der familiären Prävention. Hierbei geht es um eine Wissens- und Handlungsvermittlung mit dem Ziel die Eigenständigkeit und die Selbstregulationsfähigkeit in der Familie zu stärken. Ein familien - entwicklungsorientierter Ansatz bietet sich insbesonders für eine präventive Familienberatung an, um das Bewältigungspotential von Familien bei Krisen im Familienleben zu stärken.

Ein zweiter Aspekt berücksichtigt die formellen und informellen Unterstützungssysteme und zwar sowohl auf kommunaler als auch auf Quartierebene.

Der dritte Aspekt betrifft die Einflußnahme der Familienpsychologie auf politischer Ebene vor allem, wenn es um Fragen der materiellen und sozialen Rahmenbedingungen familiärer Lebensgestaltung geht (z. B. Gutachten für familiäre Fragen).

Der vierte Aspekt schließlich betrifft die Familientherapie selbst. Eine solide wissenschaftliche Fundierung der familientherapeutischen Praxis gibt es leider nicht und die Therapieprozeßforschung im Rahmen der Familientherapie ist unterentwickelt.

Die zentrale Frage der Familientherapie betrifft die bestmögliche Wirkung einer Therapie bei wem, wann sie von wem in welcher Situation, für welchen Typ von Problemen, angewandt wird.

V.) Ausbildung im Bereich der Familienpsychologie:

Zur Ausbildung im Bereich der Familienpsychologie gibt es leider nur wenig Positives zu sagen. Eine Befragung ergab, daß nur fünf von 148 befragten Institutionen ein familienorientiertes Ausbildungskonzept vorzuweisen haben. - Das erklärt das so eklatant gewordene Mißverhältnis zwischen den im Berufsfeld von Psychologen geforderten Kompetenzen und der Vermittlung dieser Kompetenzen durch akademische Ausbildungsprogramme.

Teil II: Gegenstandsdefinition

I.) Zur Begriffsgeschichte des Wortes Familie:

Das Wort Familie stammt vom lateinischen Wort "familia" ab, es verweist auf famulus (= Diener) und famuli (= das im Haus lebende Gesinde). Das Wort "Familie" wird erst Ende des 17. - Anfang des 18. Jahrhunderts in die deutsche Sprache eingeführt.

Bis Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff jedoch noch synonym für "das ganze Haus" verwendet und entsprach dem damaligen Verständnis von Familie. Familienfähigkeit wurde nur jenem zuerkannt, der auch ein eigenes Haus besaß.

Erst im Zeitalter der Industrialisierung (Trennung von Erwerb und Zusammenleben wird wichtig) wird die Familie als Ort der privaten Beziehungen betrachtet.

Im 19. Jahrhundert kam es schließlich zur Entwicklung von Familienidealen, die die Vorläufer der bürgerlichen Kernfamilie darstellen.

Kennzeichen der bürgerlichen Kernfamilie sind:

II.) Zur Definition des Wortes Familie:

Es besteht bis heute keine einheitliche Auffassung dessen, was unter Familie zu

verstehen ist.

Einige der unzähligen Definitionsansätze sollen an dieser Stelle als Beispiel

angeführt werden:

"Familie ist ein psychologisches und moralisches Desaster, ein Gefängnis der sexuellen Repression, ein Tummelplatz der inkonsequenten moralischen Unklarheiten, ein Museum des Besitzdenkens, eine Brutstätte der Schuldgefühle, eine Schule der Selbstsucht". "Familie kann in einem sehr weiten Verständnis, die Gruppe von Menschen bezeichnen, die miteinander verwandt oder verschwägert sind, gleichgültig, ob sie zusammen oder getrennt leben. Im engeren Sinn wird Familie übereinstimmend als biologisch - soziale Gruppe von Eltern mit ihren ledigen, leiblichen oder adoptierten Kindern verstanden". Diese Definition trägt dem institutionellen Aspekt von Familie Rechnung. "Familie ist das verbindliche Zusammenleben von verschiedenen Generationen in spezifischen als solche gesellschaftlich anerkannten Beziehungsformen, wobei jeweils eine für die andere persönliche Verantwortung trägt". Familien sind eheliche Lebensgemeinschaften, sowie Lebensgemeinschaften oder Alleinerzieher mit ihren Kindern". "Familie ist das Elternpaar mit den unselbständigen Kindern als Einheit des Haushaltes". Die unterschiedlichen Definitionsansätze machen deutlich, daß der Familien Begriff eigentlich gar nicht selbständig definiert wird, sondern eher durch einen anderen ersetzt wird. Familien sind also:

1.) Ehen: (staatlich oder kirchlich geschlossen).

Die Reduktion der Familie auf die Ehe entspricht der konservativen Rechtsauffassung. Ein wichtiger Vertreter dieser Position ist W. Rufner.

2.) Blutsverwandtschaftliche Verbindungen:

Diese Form der Definition von Familie stellt die Grundlage für viele Entscheidungen dar. Kindergeld beispielsweise, wird nur für leibliche Kinder gezahlt, egal wo sie wohnen. Die Verwandten werden ebenfalls in die Berechnung mit einbezogen - auch wenn diese nicht im selben Haushalt leben. Das gemeinsame Zusammenleben der Familienmitglieder ist hier nur sekundär.

3.) Wirtschaftseinheiten von Privathaushalten mit Kindern:

In diesem Sinne bezeichnet man Familie als Elternpaare bzw. alleinstehende Elternteile zusammen mit ihren im gleichen Haushalt lebenden ledigen Kindern. Ob die Eltern miteinander verheiratet sind, eine intime Beziehung miteinander haben, oder verwandt sind, interessiert bei dieser Definition nicht.

Die Art und Weise, wie man Familie definiert, bestimmt vor allem auch welche Arten von Familien als abweichend oder normal betrachtet werden und welche Rechte und Pflichten von rechtlichen und anderen sozialen Institutionen anerkannt werden.

Warum jedoch ist es so schwierig "Familie" zu definieren?

Es gibt hier zwei Gründe als Antwort auf diese Frage:

1.) "Die Familie" gibt es nicht, nur verschiedene Ausprägungen von Familien, und weiters sind die doch vorhandenen Definitionen abhängig von gesellschaftlichen, ethnischen und strukturellen Bedingungen, von politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Gesellschaft, sowie von der wirtschaftstheoretischen Ausrichtung.

2.) Jede Definition wird durch die Familie mitbestimmt und durch die eigene Erfahrung geprägt. Familie kann somit folgendes bedeuten:

Die eben genannten zwei Punkte sind also ausschlaggebend für die Definitionsprobleme. Die Definitionen widersprechen sich, oder sind auf einen bestimmten Aspekt reduziert. Auf diese Weise werden sehr viele quasi-familiale Lebensformen wie Ein-Eltern-Familie, wilde Ehe, Wohngemeinschaft, Kommune, SOS-Kinderdorffamilie, Pflegefamilie, Onkelehe, usw. ausgegrenzt.

Schließlich lassen sich jedoch doch noch Kennzeichen für Familien finden, gleichgültig welcher Kultur sie angehören. Eine Familie ist gekennzeichnet durch die biologisch - soziale Doppelnatur, hat also eine biologische Reproduktions- und Sozialisationsfunktion. Außerdem zeichnen sich Familien durch ein besonderes Kooperations- und Solidaritätsverhältnis aus und durch ganz spezifische Interaktionsbeziehungen. Schließlich wird noch das Vorhandensein von wenigstens zwei Generationen als letztes Kriterium für Familien gefordert.

III.) Klassifikationsversuche und Einteilungsmöglichkeiten für Familien:

1.) Allgemein gilt es zu differenzieren zwischen Familie als Institution und Familie als gelebte Alltagswirklichkeit (= als konkreter Familienalltag, als gelebte Beziehungen). Nach Wingen ist Familie als Alltagswirklichkeit ein sehr dynamischer Prozeß. Es bestehen unterschiedliche Auffassungen dahingehend, welche konkreten in der Alltagswirklichkeit existierenden Lebensformen zur Familie zu zählen sind. Bezüglich der Familie als primäre Institution besteht dagegen weitgehende Einigung und sie ist unter anderem durch Formen der gesellschaftlichen Anerkennung gekennzeichnet.

2.) Einteilung von Hoffman-Riem:

Hoffman-Riem unterscheidet Familien nach den vier Konstruktionstypen:

Kernfamilie, Adoptivfamilie, heterologe Insemination und Stieffamilie.

Die Fünf Hauptfunktionen der Kernfamilie sind:
  1. die Reproduktionsfunktion, daß heißt die Zeugung von Nachkommen. Die Reproduktionsfunktion führt auf individueller Ebene zur Befriedigung und auf gesellschaftlicher zur Sicherung des Personenstandes;
II.) die Existenzsicherung und Produktionsfunktion als Voraussetzung für die Verfügbarkeit der Person im Produktionsprozeß (z. B. Ernährung, Schutz, Gesundheit,...);

III.) die Regenerationsfunktion, die einerseits zu einer Krafterneuerung und Selbstverwirklichung führt, andererseits dient sie der Wiederherstellung der Produktionskraft;

IV.) die Sozialisation und Erziehungsfunktion und

V.) die Platzierungsfunktion, wobei es um die Verwirklichung von Bildungs- und

Berufsinteressen geht, aber auch um die Erhaltung eines konkurrenzfähigen Bestandes an

Arbeitskräften.

Der Nachteil dieses Klassifikationsversuches besteht in einer zu engen Systematik. Die Systematik erschöpft sich in den zwei Kategorien der Elternschaft und impliziert dabei, daß Familie ohne Elternschaft nicht vorstellbar ist. Zusätzlich werden wichtige Variablen des Erleben wie Intensität oder Intimität der Beziehungen hier nicht berücksichtigt.

3.) Einteilung von Karpel und Strauß:

Karpel und Strauß unterscheiden verschiedene Bedeutungsvarianten von Familien. Sie differenzieren zwischen der funktionalen Familie, der rechtlichen Familie, der biologischen Familie, der Familie wie sie von ihren Mitgliedern gesehen wird und schließlich der Familie mit längerfristigen Verpflichtungen.

Die funktionale Familie wird durch die Art und Weise charakterisiert, wie sie im täglichen Zusammenleben die praktischen Anforderungen des Lebens, wie zum Beispiel die Haushaltsführung, die Kindererziehung, oder die Freizeitgestaltung regelt.

Bei einer rechtlichen Familie werden die Bindungen vor allem von außen, durch die Normen des Rechtssystems definiert.

Die Familie, wie sie von ihren Mitgliedern gesehen wird, bezieht sich auf die subjektive Wahrnehmung der Familienmitglieder, wer als Familie zugehörig erachtet wird und wer nicht.

Das Kennzeichen der Familie mit längerfristigen Verpflichtungen, ist die Dauerhaftigkeit und Stabilität der wechselseitigen Bindungen. Diese längerfristige Verpflichtung kommt auch sehr deutlich im Eheversprechen "bis daß der Tod Euch scheidet" zum Ausdruck.

Die biologische Familie schließlich bezieht ihre Bindungen aus der Tatsache der Blutsverwandtschaft.

Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Familie ein sehr mehrdeutiger Begriff ist. Wie Familie definiert wird, hängt von gesellschaftlichen, politischen, sowie kulturellen Bedingungen ab und von der persönlichen Erfahrung innerhalb der eigenen Familie.

Eine Familie ist durch die biologisch - soziale Doppelnatur gekennzeichnet. Sie zeichnet sich außerdem durch ein besonderes Solidaritäts- und Kooperationsverhältnis aus, sowie durch ganz spezifische Interaktionsbeziehungen. Das Vorhandensein von mindestens zwei Generationen wird als weiteres Kriterium für Familien gefordert.

Die ursprüngliche Bedeutung von "Familie" war Diener beziehungsweise das im Haus lebende Gesinde.

Die Familie ist der Gegenstand der Familienpsychologie. Diese behandelt die Beziehung zwischen dem Individuum und seiner Familie. Es geht ihr darum, das Verhalten und Erleben von Personen in Beziehung zu ihrer Familie zu erfassen.

Die familiäre Diagnostik und Intervention sind ganz besonders bedeutsame Punkte innerhalb ihres Programmes.
 

Literaturverzeichnis

Beham, M. & Schramm, B. (1995). Familie und Arbeit - zwei eindeutig mehrdeutige Begriffe?. In Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten (Hrsg.), Familie und Arbeitswelt, Wien: Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten.

Petzold, M. (1992). Familienentwicklungspsychologie. Einführung und Überblick, München: Quintessenz.

Schneewind, K. (1991). Familienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis

2) Familie im historischen Wandel (Corinna Klein)

1. Einleitung

Früher hat sich die historische Familienforschung mit der Frage von Entwicklungstrends beschäftigt und damit versucht, Abfolgen oder Phasen in der Entwicklung der Familie zu finden. Heute ist man von den Vorstellungen, daß es eine generelle Entwicklung gibt, abgekommen.

Das heißt aber auch, daß es unrichtig wäre allgemeine Aussagen über die Lebensart der Familie in einer bestimmten Epoche anzustellen.

Insofern kann man beim Aufdecken verschiedener Familiensysteme eigentlich nur von Situationsbeschreibungen sprechen.

Genau in diesem Sinne möchte ich im folgenden einen Überblick darüber geben, wie einzelne Familiensysteme ausgesehen haben können, jedoch ohne den Anspruch zu erheben, daß gerade diese Form der Familienbeziehung zu dieser Zeit die einzig mögliche war.

Trotz alledem ist aber das Wissen um die Bedingungen der Veränderung von Familienformen aus vergangener Zeit, für die gegenwärtige Familienforschung, eben für das Verständnis heutiger Handlungsformen, von großer Relevanz.

2. Familienveränderungen unter verschiedenen Gesichtspunkten

2.1 Das Bild des Kindes im Wandel der Zeit

Man kann wohl behaupten, daß die Familie in dem Maße einem tiefgreifenden Wandel unterliegt, als sich ihre innere Beziehung zum Kind verändert.

Aus diesem Grund möchte ich gerne mit einem Überblick über das Bild des Kindes im Wandel der Zeit beginnen. Nicht zuletzt deswegen, weil man in diesem Zusammenhang Rückschlüsse auf das Familienleben ziehen kann.

Ein italienischer Text gibt uns eine Vorstellung von der mittelalterlichen Familie. Der Autor schreibt darin über die zu der damaligen Zeit herzlosen Engländer. Es war damals in England üblich, Knaben und Mädchen ab dem siebenten bis neunten Lebensjahr, in die Häuser anderer Leute zu geben. Dort blieben sie dann bis zu ihrem 15. oder 16. Lebensjahr, zur Verrichtung sämtlicher Hausarbeiten. Und wirklich es gab damals nur wenige, die dieses Verfahren umgangen sind. Denn jeder, wie groß sein Vermögen auch gewesen sein mag, schickte seine Kinder weg, um selber andere bei sich aufzunehmen.

Während der Italiener diese Methode als grausam beschreibt, erklärten die Engländer den Zweck mit dem Erlernen guter Manieren. Philippe Aries meint, daß dieser Modus aber wahrscheinlich im gesamten mittelalterlichen Westen üblich war.

Spätere Zeiten geben sogar, aufgrund zahlreicher, schriftlich vereinbarten Verträge, Aufschluß über das Ausleihen von Kindern an Lehrherren. Das heißt, das Kind damals lernte durch seine Erfahrungen, die sowohl im Haushalt, im privaten Bereich als auch im Berufsleben gemacht wurden. Dabei ist es wichtig anzumerken, daß es damals keine Trennung von Privatem und Beruflichen im heutigen Sinne gegeben hat.

In jedem Fall wurde das Kind unter diesen Bedingungen sehr früh aus der elterlichen Obhut entlassen. Man kann daher fast annehmen, daß die historische Familie wohl kein Nährboden für eine tiefe Verbundenheit zwischen Eltern und Kinder war. Die Wichtigkeit bestand eher im Hinblick auf ein gemeinsames Schaffen und in der Absicherung der Familie.

Seit dem 15. Jhdt. begannen sich die Realitäten und die Empfindungen gegenüber der Familie zu wandeln, nicht zuletzt auch durch die Ausdehnung der Schulbildung. Was die Kindererziehung im Mittelalter durch Lehrherrn war, übernimmt jetzt mehr und mehr die Schule. Diese Wende entspricht damit auch dem neuen Bedürfnis nach Sittenstrenge seitens der Erzieher, quasi um die Jugendlichen von der verderbten Welt der Erwachsenen fern zu halten. Doch zugleich entsprach diese Entwicklung dem Bestreben der Eltern ihre Kinder näher bei sich zu haben.

Doch hat sich diese Verschulung keineswegs auf die gesamte Bevölkerung ausgedehnt. So wurden z. B. immer noch alle Mädchen nach wie vor gemäß den alten praktischen Lehrverhältnissen erzogen, doch war das nicht mehr unbedingt mit dem Eintritt in eine andere Familie verknüpft. Was die Knaben betrifft, so ergriff die Schulbildung zunächst nur der mittlere Teil der Standeshierachie. Der Hochadel und die Handwerksstände blieben der alten Lehrzeit treu: die einen dienten weiter als Pagen, und die anderen weiter als Lehrlinge.

Es ist die Rückkehr der Kinder in den Schoß der Eltern, das dem 17. Jhdt. den wesentlichen Charakter verleiht. Das Kind wird zu einem wichtigen Bestandteil des Alltaglebens, man beschäftigt sich vermehrt mit seiner Erziehung, seiner Unterbringung und seiner Zukunft.

Diese Familie ist dennoch nicht zur modernen Familie zu zählen. Sie unterscheidet sich durch das enorme Ausmaß an Sozialität. So stellt die Familie in den großen Häusern ein Zentrum hierarchisch organisierter gesellschaftlicher Beziehungen dar, an deren Spitze das Familienoberhaupt steht. Ganz im Gegensatz zur modernen Familie, welche sich von der Welt abkehrt und in der heutigen Gesellschaft eine kleine zurückgezogene Gruppe von Eltern und Kinder darstellt. Auch besteht heute das Bemühen um das Fortkommen jedes einzelnen Kindes. In diesem Sinne geht es oft mehr um die Kinder, als um die Familie.

1762 veröffentlicht Jean-Jaques-Rousseau sein Traktat: "Emilie oder Über die Erziehung". Er fordert darin eine neue Erziehung, eine die den Menschen in seinem natürlichen Zustand als Menschen bewahrt. Die Erziehung soll allein dazu dienen, die Anlagen der Kinder zu entwickeln, sie endet auch nicht mit der Kindheit, sondern schließt die Jugend bis zum Erwachsenenalter mit ein. Rousseau entdeckt die Kinder als eigenständige Wesen, entdeckte ihre Gefühle und Bedürfnisse, und er forderte Zuneigung und Liebe zu ihnen. (Rousseaus Werk ist später von Mallet ziemlich kritisiert worden.)

Sieht man sich die Prozesse des Wandels in Eltern-Kind-Beziehungen im Verlauf der europäischen Neuzeit an, differenziert man am besten nach den Altersstufen der Kinder. Von den Trends der Familienzusammensetzung kann man für die Kleinkindphase sagen, daß es vermehrt zu einer Konzentration auf nur zwei Bezugspersonen gekommen ist. Denn es waren früher vor allem Dienstpersonen oder auch ältere Geschwister, die zur Kindererziehung herangezogen wurden und damit oft eine wichtige Figur neben oder anstatt der Mutter darstellen. Der Vater hingegen war in der Vergangenheit in den ersten Jahren von geringerer Bedeutung. Der engere Kontakt ergab sich oft erst aus der Zusammenarbeit in der gemeinsamen Arbeitswelt aber auch da betrifft er vor allem nur die Söhne. Demgegenüber ist es heute zu einer Aufwertung der Vaterrolle im Kleinkindalter gekommen. Da die Anteilnahme von Vätern an den Kleinkindern noch realtiv jung ist spricht Mitterauer von einer "neuen Väterlichkeit".

Wie schon erwähnt war die klassische Kindererziehung durch das Erlernen von Fähigkeiten vor allem durch das Mitleben und Mitarbeiten geprägt. Damit orientierten sich natürlich auch die Erziehungsmethoden an den selbst gerlernten. Es gab damals keine Alternativen. Neuentwicklungen dieser Konzepte entstanden vor allem seit dem Zeitalter der Aufklärung. Mit der Entwicklung der modernen Lohnempfängergesellschaft, damit auch mit der Trennung von Familien- und Arbeitsleben hat sich die Erziehung verändert. Doch so sehr die Vielfalt pädagogischer Erziehungsstile individuellen Freiraum verschafft, so sehr kann es auch Verunsicherungen und Orientierungslosigkeit zur Folge haben. Die Entwicklung der Schulbildung stellt zweifelsfrei einen großen Fortschritt dar, bringt aber auch Probleme mit sich, denn aufgrund der allgemeinen Schulpflicht findet ein Eingriff in die elterliche Erziehung statt. Wobei Konformität dort besteht, wo die Schule sichert, was das Elternhaus nicht bieten kann, wie den sozialen Aufstieg durch Bildung, doch wird sie auch oft zum Belastungsfaktor der Eltern-Kind-Beziehung. Es sind aber nicht nur die schulischen Leistungen sondern auch die Wahl des Schultyps, der Druck, dem Kind die bestmöglichen Chancen für eine berufliche Zukunft zukommen zu lassen, die immer wieder ein Konfliktpotential darstellen.

In der alteuropäischen Zeit waren solche Probleme unbekannt.

Es hat sich aber auch im Bereich der Autonomie der Kinder gegenüber den Eltern vieles geändert. Denn die Wahl des Freundeskreises, der Freizeitgestaltung als auch der Partner wird heute fast ausschließlich durch Selbstbestimmung getroffen. Die Konflikte, die sich daraus ergeben, gehen dann meist in die Richtung eines Ablösungsprozesses der Kinder von den Eltern.

Ein großer Unterschied liegt wohl in den genauen Grenzen, die früher zwischen jugendlicher Abhängigkeit und erwachsender Selbstständigkeit gezogen wurden, welche heute mehr und mehr an Schärfe verlieren. Aber auch die Entwicklung hin zu individuellen Komunikationsmöglichkeiten und Möglichkeiten zur eigenständigen Gestaltung eines Weltbildes, hat die Eltern-Kind-Beziehung zu einer besonderen Herausforderung herangewachsen lassen.

2.2 Veränderungen der Rollenmuster

Wenn man äußerlich die Struktur der Familie im neuzeitlichen Europa betrachtet, so läßt sich die Tendenz zur Reduktion familialer Rollen feststellen. In der modernen Familie leben Vater, Mütter und deren zumeist leibliche Kinder zusammen – zum Unterschied zu der alteuropäischen Gesellschaft, wo die Rollenvielfalt innerhalb einer Familie größer war. Denn es lebten abgesehen vom Familienkern auch noch Eltern bzw. verwitwete Elternteile (damit Großeltern), Geschwister, sonstige Verwandte, Ziehkinder vor allem aber Gesinde in der Hausgemeinschaft.

Nicht richtig ist allerdings die Vorstellung, damit die Entwicklung von der "Großfamilie" zur "Kleinfamilie" darzustellen. Familienforscher halten die Annahme, im alteuropäischen Raum wäre das Zusammenleben von zumindest drei Generationen bestimmt gewesen, nicht mehr aufrecht. Denn wenn man die durchschnittlich mittlere Lebenserwartung bedenkt, muß man zum Schluß kommen, daß viele Enkelkinder ihre Großeltern nicht mehr gekannt haben. Wenngleich die historische Familie im Durchschnitt mehr Personen umfaßten als heute, so war das nicht durch die Generationentiefe bedingt.

Sicher aber ist, daß die Haushaltsgrößen im Verlauf des 20.Jhdt. zurückgegangen sind.

Um diese gesamte Tendenz besser erfassen zu können, ist es sinnvoll kurz auf die in ihrer Bedeutung zurückgetretenen Familienrollen einzugehen.

Seit dem Mittelalter in Europa hat sich zwar die Mehrzahl der jungen Leute neolokal angesiedelt, die patrilokale Ansiedelungsform läßt sich generell in zwei Grundtypen unterteilen.

Charakteristisch für den einen Typ ist, daß einer oder mehrere Söhne früh heirateten und mit ihrer Gattin im elterlichen Haus blieben, ohne daß der Vater seine Autoritätsposition übergab.

Der zweite Typus findet sich vor allem in der bäuerlichen Bevölkerung in Mittel-, Nord- und Westeuropa. Dort darf nur ein im Haus bleibender Sohn (nur in Ausnahmefällen eine Tochter) heiraten. Wobei hier die Heirat dann im allgemeinen ziemlich spät erfolgt und mit einer Haus- und Autoritätsübergabe im Zusammenhang steht. Das heißt für die Eltern ins Ausgedinge zu ziehen und für eventuelle Geschwister im Haushalt als Mägde oder Knechte zu dienen. Sie dürfen aber nicht heiraten. Diese Formen der Familienführung basieren auf einer Wirtschaftsform, die eben eine große Anzahl erwachsener Arbeitskräfte erfordert. Durch die aufstrebende Lohnarbeit lösten sich dann solche Familienformen vermehrt auf, weil dadurch Sondervermögen (nicht ererbtes) zustande kam.

Die Trends neuer Haushaltsformen lassen sich sicher auch mit einer zunehmenden Altersvorsorge und Individualisierung und damit mit einer zunehmenden Eigenständigkeit der Generationen beschreiben.

Als Kontrast zwischen alteuropäischer und heutiger Familienzusammensetzung, kommt dem damaligen Gesindewesen eine markante Bedeutung zu. Das Gesinde lebt bei der Familie und läßt sich grundsätzlich in Produktionsgesinde (Knechte, Lehrlinge,..) und Haushaltsgesinde unterteilen. Der Gesindestatus ist im allgemeinen aber nur eine Durchgangsphase, die mit der Heirat abgeschlossen wird.

2.3 Veränderungen in den Gattenbeziehungen:

Ein interessanter Blickpunkt stellt etwa die Alterskonstellation zwischen den Eheleuten im Verlauf der Zeit dar. Bis ins 18. Jhdt. begegnet man sowohl im städtischen wie auch im ländlichen Raum sehr häufig altersungleichen Paaren. Der Grund dafür dürfte in den häufigen Wiederverehelichungen liegen, welcher durch Verwitwung zustande kam. Man darf in diesem Zusammenhang zweierlei nicht vergessen, nämlich daß Krankheiten, wie etwa das Kindbettfieber den Verlust eines Familienmitgliedes schon in jungen Jahren nach sich zog und, daß das Eheleben eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellte, vor allem in den bäuerlichen Bevölkerungsgruppen. Allgemein aber starben Frauen und Männer vor der Überwindung der europäischen Seuchenwelle häufig schon in den mittleren Lebensjahren.

Seit dem 19. Jhdt. geht nicht nur die Zahl der Verwitwungen sondern auch der Zwang nach Wiedervehelichung zurück.

Weiters war im alteuropäischen Raum auch die Möglichkeit einer Scheidung nicht denkbar. Selbst dort wo es kirchenrechtlich möglich gewesen wäre, kamen Scheidungen aus ökonomischen Zwängen heraus, so gut wie nicht vor.

Es ist aber nicht verwunderlich, daß die später zunehmenden Scheidungsraten gerade im städtischen Milieu ihren Anfang nahmen. Dies mag einerseits an der Loslösung christlicher Vorstellungen, andererseits an der Fortschreitung individueller Prozesse innerhalb der Familie liegen.

Ein weiterer Wandel innerhalb der Partnerbeziehung betrifft Veränderungungen der Partnerwahl. In der historischen Familienforschung wird die Frage der Entstehung der "Liebesheirat" stark diskutiert. So gibt es Historiker, die das Aufkommen der romantischen Liebe, welcher allerdings keine genaue Definition zukommt, mit der modernen Familie in Zusammenhang bringen. Dieser Entwicklung geht sicher ein sehr langer Prozeß voraus. Denn man muß nicht grundsätzlich annehmen, daß Ehen, die zu Beginn der Neuzeit geschlossen wurden, unbedingt von den Eltern arrangiert wurden. Selbst im Mittelalter wird es selbstbestimmte Ehen gegeben haben. Denn ausgehend davon, daß die Lebenserwartung relativ niedrig, das Heiratsalter aber relativ hoch war, lebten vielfach die Eltern bei der Eheschließung ihrer Kinder nicht mehr. Abgesehen davon führte das Gesindewesen viele Jugendliche weit weg von Zuhause, was die Mitsprache wohl auch sehr schwierig gestaltet hätte. Mit starker Einflußnahme ist überall dort zu rechnen, wo familienwirtschaftliche Strukturen vorherrschten, nicht zuletzt gerechtfertigt dadurch, daß die ganze Familie davon betroffen war.

Die "Liebesheirat" hat allerdings nicht nur mit der freien Partnerwahl zu tun, sondern auch mit den Kriterien nach denen sie erfolgt. Denn auch ein selbstgewählter Partner mußte nicht unbedingt die große Liebe bedeuten, wie auch umgekehrt das elterliche Mitspracherecht nicht unbedingt emotionale Beziehungen ausschloß. Aber natürlich haben Faktoren wie Arbeitsfähigkeit, Besitz und Gesundheit eine entscheidende Rolle gespielt.

Die "Liebesheirat" war damals eigentlich eine vom Bürgertum ausgehende, sich dem Adel gegenüber emanzipierende, Vorstellung (wurde aber auch dort weitgehend nicht realisiert). Es läßt sich aber die allgemeine Entwicklungstendenz festhalten, daß die Rahmenbedingungen für das Eingehen einer Ehe mehr und mehr emotional bestimmt waren.

Die heutige Vorstellung, daß die Ehe partnerschaftlich gestaltet sein soll, ist eine neue Sichtweise, die sich parallel zu den Vorstellungen der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen entwickelt hat. In historischen Formen der Ehebeziehung war ein starkes Machtgefälle zwischen Frau und Mann üblich. Aufgrund des Systems der Familienwirtschaft kam dem Mann die Rolle der funktionalen Autorität zu. Dieser patriarchalisch geführte Lebensstil hat mit der Ausbreitung der Lohnarbeit seine Notwendigkeit, zumindest auf wirtschaftlicher Ebene, verloren. Aber auch die Kinderbetreuung obliegt der heutigen Mutter nicht mehr im gleichen Maß wie den Frauen früher.

Das heißt, die heutige Gesellschaft hätte im Vergleich zu früher eher die Möglichkeit eine Gleichheit im Haushalt sowie im Arbeitsleben anzustreben.

Es sind allerdings oft die übernommenen Rollenbilder von Mann und Frau, die dieser Realisierung im Wege stehen. Sie sind damit zwar noch immer gesellschaftlich bedingt, doch die Wurzeln stammen eigentlich aus längst vergangen Zeiten.

3. Einige demographische Trends in Europa:

Charlotte Höhn zeigt im Handbuch der Familien- und Jugendforschung Trends der Bevölkerungsentwicklung in Europa nach dem 2. Weltkrieg auf.

Ausgehend vom deutschen Bundesgebiet schreibt sie über die interessante Entwicklung der Bevölkerungszahlen, der Heirats-, Geburtenhäufigkeit und schließlich auch über die Beobachtung der Sterblichkeit in ganz Europa.

3.1. Bevölkerungszahlen:

Zwischen 1939 und 1950 gab es im deutschen Bundesgebiet einen Bevölkerungszuwachs von rund 7 Millionen Menschen und das, obwohl im Krieg fast zwei Millionen Menschen gestorben sind. Begründet wird dieser Zuwachs mit enormen Wanderungsströmen in Europa.

Der österreichische Bevölkerungszuwachs hat sich in den Jahren von 1950 bis 1985, von 6,9 auf 7,5 Millionen erhöht.

Macura und Malacic (1987) haben interessante Vorrausschätzungen über Bevölkerungszahlen bis zum Jahr 2035 vorgelegt:

Anhand dieser Annahme erreicht die europäische Bevölkerung im Jahr 2000 mit 512,3 Millionen ihren Maximalwert und sinkt danach bis zum Jahr 2035 auf 450,9 Millionen ab.

3.2. Heiratshäufigkeiten:

Eine weitere wichtige demographische Veränderung ist der Rückgang der Heiratshäufigkeit in den vergangenen 15 Jahren. Während man bis 1960 davon ausgehen konnte, daß die meisten Menschen den Wunsch hatten zu heiraten, konnte man kurz nach 1970 die ersten Einbrüche feststellen.

Man könnte laut Statistik annehmen, daß im Europa der Zukunft vielleicht mehr als 20% der Frauen und 25% der Männer unverheiratet bleiben.

3.3. Scheidungsraten:

Die Anzahl der Scheidungen in Europa haben sich seit 1970 verdoppelt bis verdreifacht.

In Österreich wurden um 1970 18% der Ehen 1985 dagegen schon 31% der Ehen geschieden. Wir liegen mit diesen Raten im Mittelfeld der gesamteuropäischen Scheidungen.

(Auch die heute so oft gelebte Probeehe schützt offensichtlich nicht vor Scheidungen.

Interessant ist auch, daß die Scheidungshäufigkeit in solchen Ländern, z. B. in Schweden, besonders hoch ist, wo es auch die meisten nichtehelichen Lebensgemeinschaften gibt.)

3.4. Geburtenhäufigkeit:

Der Entwicklung der Geburtenhäufigkeit ab 1950 geht ein langfristiger Prozeß voraus. Zum Beispiel kann man in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jhdt. pro Ehe zirka 5 Kinder annehmen. Um 1900 sind es dann 4 ab 1910 nur noch 3 Kinder und zwischen 1920 und 1950 schließlich nur noch knapp mehr als 2 Kinder im Durchschnitt.

In Österreich haben sich die Geburtenziffern in den Jahren 1960 bis 1985 von 2,7 auf 1,5 Kinder pro Frau reduziert.

Es handelt sich hier um eine Entwicklung, die heute mehr oder weniger in allen Industrieländern zu beobachten ist. Eine europäische Ausnahme bildet Irland, welche 1985 immer noch eine Nettoreproduktionsziffer von 1,19 aufweisen kann.

4. Persönliche Stellungnahme

Beenden möchte ich die Arbeit mit einem persönlichen kurzen Gedankengang:

Es ist für mich keine Frage, daß ich lieber in der heutigen Zeit lebe, als im Mittelalter. Doch ich schätze, daß wir uns heute kaum eine Vorstellung darüber machen können, wie die Menschen damals gefühlsmäßig gelebt haben. Ich meine damit im konkreten, daß wir heute unser Hauptaugenmerk auf zwischenmenschliche Beziehungen legen. Wir zeichnen uns heute durch ein ständiges Beobachten und damit durch ein ständiges Bemühen nach Ausgleich unserer inneren Gefühlswelt aus. Ich bezweifle aber, daß sich Menschen im Mittelalter solchen Gedankenweisen hingeben konnten. Von der Annahme ausgehend, daß sich auch damals die Menschen nicht absichtlich und selbstlos Schmerz zugefügt haben, z. B. die Erziehung betreffend, liegt für mich der Schluß nahe, daß es aus überlebensstrategischen Gründen, aus wirtschafltichen Sicht, einfach nicht möglich war, ihr diesen, nach heutiger Sicht, hohen Stellenwert zukommen zu lassen. Es scheint mir daher kein Leichtes, die Geschichte der zwischenmenschlichen Interaktionen wirklich nachzuvollziehen.

Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Ariés, P. (1975). Geschichte der Kindheit. München:Carl Hanser Verlag.

Mitterauer, M. (1989). Entwicklungstrends der Familie in der europäischen Neuzeit. In R. Nave-Herz & M. Markefka (Hrsg.), Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Familienforschung (Bd. 1) (S. 179-209). Neuwied: Luchterhand.

Petzold, M. (1992). Familienentwicklungspsychologie. Einführung und Überblick (S. 11-17). München: Quintessenz.

Sekundärliterratur: Mallet, C. H. (1987). Untertan Kind. Ismaning bei München: Hueber. Tabellen:
 

Bevölkerungsentwicklung:
 
 
1980
2000
2010
2020
2025
2035
Europa
484,50
512,30
507,50
493,70
483,00
450,90
Ost
109,30 
120,30 
123,5
123,4
122,4
117,7
Nord
82,10 
83,70 
81,90 
79,1
76,9
70,7
Süd
139,50 
152,30 
152,90 
150,7
148,8
141,7
West
153,50 
156,00 
149,2
140,5
134,9
120,8

Heiratshäufigkeiten: von 1000 heiraten mindestens einmal (Frauen, Männer):
 
 
1965
1970
1975
1980
1985
Männer
923
854
731
690
637
Frauen
994
913
751
675
613

Ehescheidungen je 1000 Ehen:
 
1890
1904
1920
1930
1960
1970
1980
1985
0,7
1,1
3,2
3
3,6
5,1
6,1
8,6

Scheidungshäufigkeit in europäischen Ländern – von 100 Ehen werden geschieden:
 
 
Dänem.
Schwed.
Engl.
Frankr.
Holland
Österr.
BRD
Schweiz
Belg.
1970
25
23
 
11
11
18
15
15
10
1985
46
45
39
31
31
31
30
30
26

Lebenserwartung in Westeuropa:
 
 
Männlich
Weiblich
 
1950
1970
1984
1950
1970
1984
Österreich
61,9
66,6
70,1
67,6
73,7
77,3
Belgien
65,2
67,8
70,0
70,3
74,2
76,8
Frankreich
63,6
68,3
71,3
69,3
75,8
79,4
BRD
64,6
67,4
70,5
68,5
73,8
77,1
Holland
70,6
70,8
73,0
72,9
76,8
79,7
Schweiz
66,4
70,2
73,1
70,9
76,2
79,7

Geburtenhäufigkeit im europäischen Vergleich:
 
Geburtenziffer
Nettoreproduktionsziffer
 
1950
1960
1970
1985
1970
1985
BRD
2,1
2,4
2,0
1,3
0,95
0,60
Belgien
2,3
2,5
2,3
1,5
1,06
0,71
Dänemark
2,6
2,5
2,0
1,4
0,93
0,70
Frankreich
2,9
2,7
2,5
1,8
1,17
0,87
Griechenland
2,6
2,2
2,3
1,7
1,07
0,78
Irland  
3,8
3,9
2,5
1,81
1,19
Italien
2,5
2,4
2,4
1,5
1,11
0,77
Holland
3,1
3,1
2,6
1,5
1,22
0,73
Norwegen
2,5
2,9
2,5
1,7
1,19
0,80
Österreich  
2,7
2,3
1,5
1,07
0,70
Portugal
3,0
3,1
2,8
1,7
1,23
0,81
Schweden
2,3
2,2
1,9
1,7
0,92
0,83
Schweiz
2,4
2,4
2,1
1,5
1,00
0,72
Spanien
2,5
2,8
2,8
1,8
1,35
 
Großbritannien
2,2
2,7
2,4
1,8
1,15
0,86

EinwohnerInnen:
 
 
1950
1970
1985
1950 bis 1970 (in %)
1970 bis 1985 (in %)
BDR
50,8
60,6
61,2
19
1
DDR
18,4
17,1
16,6
-7
-3
Österreich
6,9
7,4
7,5
7
1
Schweiz
4,7
6,3
6,3
34
0
Frankreich
41,7
50,7
54,6
22
8
Belgien
6,8
9,6
9,9
41
3
Holland
10,1
13
14,5
29
12
Dänemark
4,3
4,9
5,1
14
4
Großbritannien
50,6
55,5
55,6
10
0
Schweden
7
8
8,3
14
4
Irland
2,7
3
3,6
11
20
Polen
24,8
32,6
37,6
31
15
Tschechoslowakei
12,4
14,4
15,6
16
8
Ungarn
9,4
10,4
10,8
11
4
Italien
46,8
53,6
56,9
15
6
Spanien
27,9
33,8
39
21
15
Portugal
8,4
8,6
10,1
2
17

 
 


 
 
 
 


 
 


 
 
 
 


 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis
 

3) Aktuelle Trends der Institution Familie (Martina Gustavik)

1. Einleitung

Wenn man die Institution Familie über die Jahrhunderte hinweg betrachtet, dann stellt man fest, daß diese sich in ihrer Erscheinungsform gewandelt hat und zwar hinsichtlich ihrer personalen Zusammensetzung, ihrer Entstehungsmodi, ihres zeitlichen Ablaufs, der Funktionen, die sie erfüllt, sowie der Art der Beziehungen, die zwischen ihren Mitgliedern herrscht. Diese Veränderungen bzw. dieser Wandel fand statt aufgrund von unterschiedlich wirksamen gesellschaftlichen Prozessen, wie zum Beispiel die Verstädterung, die auftretende Industrialisierung, Säkularisierung, Demokratisierung etc.

2. Geschichtliche Entwicklung der Familie

Betrachtet man die Familie im 16. Jahrhundert, so findet man viele unterschiedliche Familientypen, die sich an der beruflichen Zugehörigkeit des Familienvorstandes orientieren. Die wesentlichen Merkmale dieser Familie sind die große Anzahl der zu einer Familie gezählten Personen, wobei dies auch nicht-verwandte Personen und das Hauspersonal bzw. Gesinde miteinschließen kann; und eine hierarchisch innerfamiliale Struktur an deren Spitze ein männliches Oberhaupt steht (Hausvater). Das Leben der Frau beschränkt sich auf das Gebären von Kindern, deren Erziehung und der Versorgung des Haushaltes. Der Wert des Kindes liegt vorwiegend darin, zukünftiger Erbe, zukünftige Arbeitskraft oder Altersversorgung der Eltern zu sein. Meist leben die Eltern bis zu ihrem Lebensende mit zumindest einem ihrer Kinder zusammen.

In dieser Zeit gibt es kaum eine "Liebesheirat", da andere Faktoren, wie zum Beispiel Besitz, Arbeitsfähigkeit und Gesundheit einen höheren Stellenwert einnehmen.

Meist werden die Ehen schon von den Eltern arrangiert. Auch die eheliche Sexualität dient nur der Zeugung von Nachkommen und nicht der emotionalen Erfüllung der Partnerbeziehung. Weiters bestehen sehr oft große Altersunterschiede zwischen den Eheleuten, nicht nur, daß der Mann um einiges älter ist, sondern es kommt auch gelegentlich vor, daß sich eine verwitwete ältere Frau einen jungen Mann zum Gatten nimmt.

Während dieser Zeit dominiert das Patriarchat, an dessen Spitze der Mann als Hausvater der hierarchisch organisierten Familie steht und die Frau sich mit der restlichen Familie diesem unterzuordnen hat. Es herrscht auch eine streng geschlechtsspezifische Arbeitsteilung, die der gesellschaftlichen Norm dieser Zeit entspricht.

Singelhaushalte gibt es nur selten.

Die Entwicklung der Familie in der Neuzeit ist gekennzeichnet durch eine kleinere zur Familie gehörende Personengruppe, vor allem durch den Wegfall des Gesindes, ein verändertes generatives Verhalten, wie Geburten- und Familienplanung und geringere Kindersterblichkeit, durch die Veränderungen der Beziehungen der Familienmitglieder zueinander, durch selbstbestimmte Partnerwahl, tendenzieller Abbau patriarchalisch-hierarchischer Beziehungen und veränderte Beziehung der Eltern zu ihren Kindern, indem diesen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird. Besonders die Mutter als Bezugsperson gewinnt an Bedeutung. Ein weiterer Punkt ist die Veränderung der familialen Funktionen.

Diese Entwicklungen führen dazu, daß sich in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts eine bestimmte Lebensform herauskristallisiert, und zwar die "traditionell-bürgerliche" Kernfamilie, wo das exklusive Zusammenleben der Eltern mit ihren Kindern vorherrscht. Dieses auch von der Gesellschaft anerkannte und gelebte Modell findet seinen Höhepunkt in den frühen 60er Jahren. Dies zeigt sich vor allem in einer hohen Eheschließungszahl, einem niedrigen durchschnittlichen Heiratsalter, einer hohen durchschnittlichen Kinderzahl pro Familie und einer niedrigen Scheidungsrate. Es gilt als selbstverständlich zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. Die Eltern versuchen einerseits eine auf eine romantische Liebe aufbauende Partnerschaft zu führen und andererseits Verantwortung für ihre leiblichen Kinder zu übernehmen und diese so gut als möglich zu erziehen. Diese Familienform ist weiters gekennzeichnet durch eine strikte geschlechtsspezifischen Rollen- und Aufgabentrennung. Die Aufgabe des Mannes ist es, seine Familie zu erhalten und sie nach außen hin zu repräsentieren. Parsons und Bales (1966, zitiert nach Wilk, 1995) bezeichnen ihn als den "instrumentellen" Führer, dem letztlich die Verantwortung und Entscheidung über alle familialen Angelegenheiten obliegt. Die Frau hingegen sehen sie als die "expressive" Führerin an. Ihre Aufgabe ist es, die Kinder zu betreuen und zu erziehen und durch die Pflege der innerfamilialen Beziehungen ein harmonisches Klima zu schaffen, das heißt, ihre eigentliche Machtbefugnis beschränkt sich auf Heim und Familie.

Auch die Erziehung der Kinder erfolgt geschlechtsspezifisch. Die Beziehung zur Mutter ist eher gefühlsbetont, die zum Vater sehr respektvoll, da er vorwiegend eine Autoritätsperson darstellt.

Die Basis der bürgerlichen Familie stellt also die Ehe dar, deren Aufrechterhaltung dem Willen des Gatten unterworfen ist, wobei natürlich auch die finanzielle Abhängigkeit der Frau das Auflösen der Ehe erschwert und wenig wahrscheinlich macht.

Der Verlauf der Familie folgt meist dem "klassischen Familienzyklus: Familiengründung durch Eheschließung, Erweiterung durch Geburt mehrerer Kinder, Phase der Kinderaufzucht, Schrumpfung durch Auszug der Kinder, leeres Nest, Auflösung der Familie durch Tod eines Ehepartners" (Glick, 1947, zitiert nach Wilk 1995).

3. Gesellschaftliche Entwicklungstrends

Mit dem Beginn der 60er Jahre hat sich durch zahlreiche veränderte gesellschaftliche Bedingungen sehr rasch das traditionell-bürgerliche Bild der Familie gewandelt.

Insbesondere folgende Entwicklungstrends werden für Veränderungen der Familie verantwortlich gemacht:

Diese erlauben eine Entkoppelung von Sexualität und Elternschaft, indem man Schwangerschaften durch nahezu perfekte Kontrazeptionsmethoden planen kann. Auch die erhöhte Lebenserwartung und niedrige Kindersterblichkeit lassen sich auf eine bessere medizinische Versorgung zurückführen. Die Enttraditionalisierung führt zu einer Abnahme von allgemein verbindlichen Normen und Werten und dadurch gleichzeitig zu erweiterten Handlungsspielräumen und Freiheiten in nahezu allen Lebensbereichen, auch im Bereich von Partnerschaft, Ehe und Familie. Traditionelle Bräuche und Sitten verlieren ebenfalls an Gültigkeit. Natürlich kann diese Loslösung von traditionellen Zwängen wiederum zu anderen Krisen mit Bezug auf die Familie führen, die dadurch ständig neuen Diskussionen und individuellen Dispositionen unterworfen ist. Die fortschreitende Modernisierung, gekennzeichnet durch eine Pluralität möglicher Handlungsorientierungen, hat dazu geführt, daß für den einzelnen eine Vielzahl von Lebensentwürfen zur Wahl steht und sich die Entscheidungen und Entscheidungszwänge in allen gesellschaftlichen Bereichen vermehrt haben, wobei Entscheidungen meist nur für einen zeitlich begrenzten Abschnitt Gültigkeit besitzen und immer wieder neu getroffen werden müssen (Wilk, 1995, S.19).

Besondere Auswirkungen hat das auf die Gestaltung der Beziehung zwischen den Geschlechtern, da nämlich die zunehmende Entscheidungsfreiheit zwangsläufig zu einer Zunahme des Konfliktpotentials zwischen den Partnern führt und es dadurch wiederum zu neuen Belastungen kommt.

Mit zunehmender Komplexität der Gesellschaft erfolgt die Zuweisung einzelner Aufgaben an spezifische gesellschaftliche Bereiche. Familie hat nicht mehr nur alleine große Bedeutung für das Individuum sondern somit auch für die gesamte Gesellschaft. Von der Familie wird erwartet, daß der ganze Mensch mit all seinen Wünschen, Fähigkeiten und Schwächen Platz hat, daß nach dem Prinzip der Bedürftigkeit und bedingungslosen Solidarität gehandelt wird und daß alle emotionalen Bedürfnisse erfüllt werden. 4. Indikatoren familiären Wandels

4.1. Abnehmende Attraktivität der Ehe, Heiratsmüdigkeit, steigendes Heiratsalter

Besonders in den letzten Jahrzehnten hat die Ehe an Attraktivität verloren. Obwohl feste Partnerschaften als solche einen hohen Stellenwert besitzen, spielt dagegen die Institution der Ehe zur Legitimierung der Partnerschaft eine geringere Rolle. Gleichzeitig hat sich auch das Heiratsalter erhöht, das heißt, daß die Ehe als Lebensform so lange aufgeschoben wird wie möglich

Tabelle 1: Eheschließung und mittleres Heiratsalter in den letzten 120 Jahren (nach Wilk, 1995, S.24)
 
Jahr
Eheschließungen auf 1000 Einwohner
Median Heiratsalter
männl., ledig
Median Heiratsalter
weibl., ledig
1871
8,9
-
-
1900
8,0
-
-
1920
13,3
27,5
25,2
1937
6,9
29,3
26,5
1951
9,1
26,8
24,4
1961
8,5
24,8
21,9
1971
6,4
24,4
21,7
1981
6,3
24,7
22,1
1986
6,1
25,7
23,3
1992
5,8
27,1
24,9
Anhand der Tabelle 1 sieht man, daß ab 1961 stetig das Heiratsalter bei Männern und Frauen zunimmt, und gleichzeitig die Anzahl der Eheschließungen abnimmt.

Einer der Gründe für diese Entwicklung ist sicher das kontinuierlich anwachsende Ausbildungsniveau junger Frauen und die damit einhergehende Erhöhung ihrer Erwerbsbeteiligung, die ihrerseits zu mehr finanzieller Unabhängigkeit führt.

Die Heiratsmüdigkeit und das steigende Heiratsalter ist darauf zurückzuführen, daß heute andere Partnerschaftsformen bevorzugt werden.

Wenn heutzutage eine Eheschließung vollzogen oder geplant wird, dann geschieht das meistens aus drei Gründen; erstens wegen einer Schwangerschaft, zweitens aufgrund eines Wunsches nach Kindern und drittens wegen des Vorhandenseins von Kindern (unter Umständen aus früheren Partnerschaften).

4.2. Pluralität von Lebensformen

Die Lebensformen sind im Vergleich zur Situation um die Mitte dieses Jahrhunderts wieder vielfältiger geworden. Die Wahl der Lebensform beruht aber heute, im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen sie durch soziale oder rechtliche Zwänge weitgehend vorbestimmt war, auf der relativ freien Entscheidung des Individuums

Die nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften haben an Bedeutung gewonnen. Waren es früher hauptsächlich ältere Menschen oder geschiedene Elternteile, die nicht-ehelich zusammenlebten, so sind es heute in der großen Mehrheit jüngere Menschen. Die nicht-eheliche Lebensgemeinschaft hat sich deshalb von einer nachehelichen Beziehungsform zu einer vorehelichen Lebensform gewandelt. Diese Ehe ohne Trauschein wird oft als "Ehe-auf-Probe" oder als Vorform der Ehe angesehen, weil zumeist nach einigen Jahren doch geheiratet wird, gerade dann, wenn man den Wunsch nach Kindern realisieren möchte.

Eine andere häufige nicht-eheliche Beziehung stellt die "Rentnerehe" dar, in welcher sich Menschen in ihrem letzten Lebensabschnitt bewußt für eine gemeinsame Paarbeziehung entscheiden.

Daneben gibt es noch sogenannte Lebensabschnittspartnerschaften, wonach jeder Mensch, egal ob alt oder jung, in verschiedenen Lebensphasen andere intime Partner braucht.

Die Zahl der kinderlosen Lebensgemeinschaften hat in den letzten Jahren zwar enorm zugenommen, so ist die Zahl jener Lebensgemeinschaften, in der Kinder aufwachsen eher gering.

Es gibt noch eine Vielzahl von anderen Lebensformen.

Nach wie vor besteht die Familienform der traditionell-bürgerlichen Kernfamilie. Diese stellt jedoch nicht mehr nur das einzig akzeptierte Modell einer Kernfamilie dar.

Daneben gibt es das partnerschaftliche Modell, bei dem beide Elternteile gleichberechtigt und gleichrangig sind. Im Idealfall gehen beide Partner im gleichen Zeitausmaß einer Erwerbstätigkeit nach und teilen die familiale Arbeit gerecht untereinander auf. Sowohl Mann als auch Frau tragen beide zum Haushaltseinkommen bei und zu der Erziehung und Betreuung der Kinder. Im Vordergrund steht dabei die partnerschaftliche Beziehung zueinander und die intensive emotionale Beziehung zu den Kindern.

Die Familienform der Dreigenerationenfamilie findet man hauptsächlich im ländlichen Raum. Diese ist auf die steigende Lebenserwartung durch die ständigen medizinischen Fortschritte zurückzuführen. Ein Vorteil ist, daß mehrere Bezugspersonen im familialen Haushalt zur Verfügung stehen und sie sich bestimmte Aufgaben untereinander aufteilen können. Andererseits kann es aufgrund der in einem Haushalt lebenden unterschiedlichen Generationen zu Problemen kommen, wie zum Beispiel, daß es schwer fällt, die zugeteilten Rollen zu akzeptieren.

Ein Großteil der Ein-Eltern-Familien sind Mutter-Kind-Familien, nur ein geringer Teil sind Vater-Kind-Familien.

Familien mit nur einem Elternteil hat es als sogenanne "unvollständige Familien" in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg viele gegeben. Die Ursachen ihrer Entstehung haben sich allerdings verändert. Waren es vor wenigen Jahrzehnten vorwiegend ledige Mutterschaft und Verwitwung, so ist es heute in einem größeren Ausmaß neben lediger Mutterschaft Scheidung und Trennung der Eltern. Natürlich ist die ökonomische Situation von Ein-Eltern-Familien im Durchschnitt bedeutend schlechter als jene in Zwei-Eltern-Familien.

Noch vor einigen Jahren wurde die Alleinerziehung von den meisten Menschen abgelehnt, so besteht heute vor allem in Großstädten eine größere Toleranz für Ein-Eltern-Familien. Die traditionelle Norm der Mutter-Vater-Kind-Familie wird damit mehr und mehr in Frage gestellt.

Eine weitere Familienform stellen Stief- bzw. Fortsetzungsfamilien dar. Entstanden früher Stieffamilien ausschließlich nach Verwitwung, so entstehen diese Fortsetzungsfamilien heute dadurch, daß in eine neugegründete Familie Teilfamilien aus einer wegen Scheidung oder Tod eines bzw. einzelner Familienmitglieder zerbrochenen Familie eingebracht werden. "Das klassische Beispiel ist die zweite Ehefrau eines Mannes, die in ihre zweite Ehe noch eines oder mehrere eigene Kinder mitbringt" (Petzold, 1992, S. 36). Durch die Zunahme der Zahl der verwandtschaftlichen Bindungen wird die Fortsetzungsfamilie zu einem äußerst komplexen System, für das es meist keine klaren Abgrenzungen nach außen und keine eindeutig vorgegebenen Rollen gibt, was wiederum zu einigen Problemen bei der Gestaltung des familialen Lebens führen kann.

"Living-apart-together" ist eine Familienform, wo die Lebenspartner nicht zusammenleben. Sie bezeichnen sich zwar als festes Paar mit intimen Beziehungen, leben dennoch nicht zusammen in einer Wohnung. Die Gründe für dieses "living-apart-together" können entweder bewußt gewollt oder zum Beispiel zwangsweise beruflich bedingt (Arbeitsplätze der Partner sind weit entfernt) sein. Auch Kinder können zu dieser Art von Lebensform gehören.

Selten findet man auch gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern. Es gibt durchaus einige homosexuelle Paare, die nach Beendigung einer bürgerlichen Ehe mit ihren Kindern in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben.

Adoptivfamilien unterscheiden sich, abgesehen davon, daß es sich nicht um die leiblichen Kinder handelt, nicht von einer Kernfamilie.

Pflegefamilien hingegen stellen rechtlich gesehen eine andere Familienform dar, da sie als eine Familie auf Zeit bzw. Ersatz- oder Zweitfamilie angesehen werden.

Wohngemeinschaften mehrerer Erwachsener mit Kindern findet man eher selten.

Tabelle 2: Familientypen (nach Wilk, 1995, S.21)
 
Familientyp
1961
1971
1981
1993
Familie mit Kindern
1,283.754
1,312.215
1,369.012
1,454.500
beide Eltern vorhanden
1,024.538
1,087.756
1,111.736
1,163.800
nur ein Elternteil vorhanden
259.216
224.459
257.276
290.700
Vater
-
24.033
30.830
47.900
Mutter
-
200.426
226.446
242.800
nichtledige Mutter (verw., gesch.)
-
158.737
177.951
177.900
ledige Mutter
-
41.689
48.495
64.900
Ehepaar ohne Kinder
575.501
617.449
617.329
739.300
Familie insgesamt
1,859.255
1,929.664
1,986.341
2,193.800
Aus Tabelle 2 ist ersichtlich, daß die Zahl der Familien insgesamt in den letzten drei Jahrzehnten deutlich gestiegen ist. Auch die Zahl der Paare ohne Kinder hat sich vor allem im letzten Jahrzehnt deutlich erhöht, nämlich von 617.329 (1981) auf 739.300 (1993).

Es ist sehr interessant zu sehen, daß es 1993 fast doppelt so viele Vater-Kind-Familien gab als 1971. Auch die Zahl der alleinstehenden ledigen Mütter hat in diesem Zeitraum um 60% zugenommen.

4.3. Zeitlich begrenzte Dauer des Verweilens in einer Lebensform (Zunahme der Scheidungshäufigkeit)

Familiale Lebensformen werden zunehmend nur über einen beschränkten Zeitraum aufrechterhalten. Personen wechseln mehrfach in ihrem Leben von einer Form zur anderen und durchlaufen dabei unterschiedliche familiale und nicht familiale Lebensformen.

Ein Beispiel hiefür wäre eine Person, die, nachdem sie ihre Herkunftsfamilie verlassen hat, einige Jahre als Single lebt, dann für einige Zeit in einer nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft, der, nach der Geburt eines Kindes die Eheschließung folgt. Nach einigen Jahren kommt es zur Scheidung und dem Leben in einer Ein-Eltern-Familie, gefolgt von einer zweiten Eheschließung und der Bildung einer Fortsetzungsfamilie. (Wilk, 1995, S. 24) Dieser oftmalige Wechsel von Lebensformen führt zu einer Zunahme der Scheidungs-häufigkeit und auch der Wiederverheiratung.

Tabelle 3: Entwicklung der Ehescheidungen (nach Wilk, 1995, S.25)
 
Jahr Ehesch. auf 1000 EW Gesamtscheidungsrate
1951
1,5
17,7
1961
1,1
13,8
1971
1,3
17,8
1981
1,8
26,5
1986
1,9
29,5
1992
2,1
33,7
Die Zahl der Scheidungen hat seit 1961 kontinuierlich zugenommen, wie aus Tabelle 3 ersichtlich ist. So betrug die Gesamtscheidungsrate in Österreich 1961 13.8%, 1992 hingegen 33,7%. Das bedeutet, daß eine von drei heute eingegangenen Ehen in einer Scheidung enden wird. Die meisten Scheidungen erfolgen nicht nach jahrzehntelanger Ehedauer, sondern schon in den ersten 10 Ehejahren (Der Durchschnitt liegt bei 5 Jahren). Die Ehescheidungen häufen sich bei Paaren ohne Kinder (ca. ein Drittel der geschiedenen Ehen ist kinderlos).

Die Folgen von Ehescheidungen sind besonders für minderjährige Kinder sehr gravierend und krisenbehaftet.

4.4. Geburtenrückgang

In Österreich, wie auch in allen anderen industrialisierten Ländern, ist der Trend zu verzeichnen, daß weniger Kinder geboren werden.
 

Tabelle 4: Geburtenrate (nach Wilk, 1995, S. 26)
 
Jahr
Lebendgeborene auf 100 EW
1900
31,3
1920
22,7
1937
12,8
1951
14,8
1961
18,6
1963
18,8
1971
14,5
1981
12,4
1986
11,5
1992
12,1
Aus Tabelle 4 ist ablesbar, daß die Geburtenrate in den letzten drei Jahrzehnten stark abgenommen hat; der leichte Aufwärtstrend, der seit 1986 zu verzeichnen ist, ist fast ausschließlich auf die hohe Zahl der Geburten von Zuwanderern zurückzuführen.

Die Geburtenhäufigkeiten bleiben deutlich unter den Vorstellungen einer idealen Kinderzahl. Ca. 60% der Österreicher sehen zwei und 33,5% drei oder mehr Kinder als die ideale Kinderzahl an. Die durchschnittliche Kinderzahl bezogen auf alle Familien beträgt in Österreich zur Zeit ca. 0,86, jene bezogen auf alle Familien mit Kindern 1,75. 1971 lag letztere noch bei 2,0.

Mögliche Gründe für den Geburtenrückgang könnten sein: eine stark verringerte eheliche Fruchtbarkeit, eine abnehmende Zahl junger verheirateter Paare infolge einer geringeren Eheschließungshäufigkeit, anwachsende Scheidungszahlen, Trend erst später im Leben eine Familie zu gründen, finanzielle Belastung und die bewußte Entscheidung kinderlos zu bleiben.

Meist liegt es an der Frau sich für Beruf oder Kinder zu entscheiden. Viele Frauen versuchen dabei Kompromisse einzugehen und haben im Prinzip drei Möglichkeiten. Sie können (1) die Doppelbelastung in Kauf nehmen, (2) die Entscheidung ein Kind zu bekommen aufschieben (Deswegen steigt zum Beispiel auch das durchschnittliche Alter der Erstgebärenden an.) und (3) nach der Geburt des Kindes schneller in den Beruf zurückkehren.

Besonders die letzten beiden Möglichkeiten haben zum Geburtenrückgang beigetragen.

Die sinkende Geburtenrate hat gesamtgesellschaftlich dazu geführt, daß sich die Altersverteilung in Zukunft noch stärker verändern wird und daß sich gleichzeitig auf längere Sicht gesehen die Anzahl der Bevölkerung verringern wird. Immer weniger Kinder stehen einem größeren Anteil älterer und alter Menschen gegenüber, das heißt, immer weniger junge Leute müssen für die Altersversorgung von immer mehr alten Menschen aufkommen. Auch bedeutet die geringere Anzahl von Kindern in einer Familie für die Kinder selbst eine Einschränkung vor allem der gleichrangigen Interaktionsmöglichkeiten (Kind-Kind), aber gleichzeitig erhält das Einzelkind mehr Aufmerksamkeit, Zeit und Zuneigung von seinen Eltern.

4.5. Verändertes Selbstverständnis der Frauen bzw. neue Lebensperspektiven von Frauen

Die Lebensperspektive von Frauen hat sich entscheidend verändert. Frauen haben heute aufgrund der steigenden Bildung und besseren Ausbildungsmöglichkeiten wesentlich bessere Chancen im Beruf als früher, das heißt, sie beteiligen sich vermehrt am Erwerbsleben und sind dadurch auch unabhängiger. Leider kann man gerade im Berufsleben noch nicht von realer Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau sprechen, da es noch immer zur Diskriminierung der Frau kommt (Bsp. weniger Geld für gleiche Arbeit etc.).

Einerseits wollen Frauen ihre stärkere Bildungsbeteiligung und ihre erhöhte Berufsqualifikation auch in einem tatsächlich ausgeübten Beruf umsetzen, aber andererseits wollen sie nicht auf die Elternschaft verzichten. Somit ist die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein zentrales Anliegen für viele Frauen. Der Wiedereinstieg in das Berufsleben nach dem Heranwachsen der Kinder, das heißt, wir nehmen an, eine Frau würde 15 Jahre ihres Lebens nur der Kindererziehung widmen, ist so gut wie unmöglich und aussichtslos. Dadurch wird auch vermehrt die Doppelbelastung in Kauf genommen.

In Österreich sind mehr als die Hälfte der Mütter von Familien mit Kindern außerhäuslich erwerbstätig. Trotz ihrer Erwerbstätigkeit wird die Familien- und Hausarbeit kaum partnerschaftlich aufgeteilt. Die Hauptbelastung trägt nach wie vor die Frau, der Mann beteiligt sich daran nur am Rande.

4.6. Ökonomische Benachteiligung von Familien mit Kindern

Die relative ökonomische Benachteiligung von Familien mit Kindern hat sich über die Zeit hinweg wenig geändert. Es ist diesen Familien mit Kindern zwar möglich gewesen an der allgemeinen Wohlstandsentwicklung teilzunehmen, der relative Abstand der Einkommenssituation von Ehepaaren mit Kindern im Vergleich zu Ehepaaren ohne Kinder hat sich jedoch kaum verringert. Das Großziehen von Kindern bedeutet eine enorme finanzielle Investition oder im Vergleich zu kinderlosen Paaren eine massive Wohlstandseinbuße. Desto mehr Kinder zu versorgen sind, desto weniger finanziellen Spielraum haben die Familien. Der Augsburger Wirtschaftswissenschaftler Lampert (1989, zitiert nach Schneewind & Rosenstiel 1992, S. 19) beziffert für ein Ein-Verdiener-Ehepaar, das 1979 sein erstes und 1981 sein zweites Kind bekommen hat, den Einkommensverzicht dieser Familie bis zu dem Zeitpunkt, zu dem die Kinder 18 Jahre alt sind, auf rund DM 712.000,- (Das sind ca. ÖS 5,000.000,-).

4.7. Eltern-Kind-Beziehung

Diese hat sich in den letzten Jahrzehnten in Richtung einer partnerschaftlichen Beziehung entwickelt. Das Kind wird von den Eltern zunehmend als eine eigenständige Persönlichkeit anerkannt. Gerade die hohe Emotionalität ist kennzeichnend für diese neue Eltern-Kind-Beziehung. Besonders Väter wollen nicht mehr nur als Autoritätsperson angesehen werden, sondern lieber als Freund und Partner ihrer Kinder. Deshalb versuchen Väter sich mehr mit ihren Kindern zu beschäftigen und gemeinsam mit diesen ihre Freizeit zu gestalten. Die meiste Alltagsarbeit bleibt aber immer noch an den Müttern haften. Eltern versuchen also vermehrt ihre Kinder ganz bewußt in die Lebensgestaltung miteinzubeziehen. Dieser neue partnerschaftlich orientierte Umgang mit den Kindern scheint von dem Bildungsgrad der Eltern und von der Region, in der sie wohnen abhängig zu sein. Auch haben Kinder eine ganz zentrale Bedeutung für ihre Eltern, nämlich emotionale, erfahrungsbereichernde und sinnstiftende Bedeutung. Kinder vermitteln Eltern das Gefühl, gebraucht zu werden und tragen mitunter zur Selbstverwirklichung der Eltern bei. Immerhin ist es für ca. 42% aller Österreicher die größte Freude im Leben mitanzusehen, wie Kinder heranwachsen.
 

5. Zusammenfassung

Die Familie hat sich seit dem letzten Jahrhundert einigen Veränderungen unterwerfen müssen, woraus sich schließlich aufgrund zahlreicher sozialer Wandlungsprozesse ein als Ideal geltendes Modell herauskristallisierte, nämlich das der "traditionell-bürgerlichen" Kernfamilie.

Doch seit den 60er Jahren zeichnete sich erneut ein Wandel der Familie ab. Es entwickelten sich viele unterschiedliche und neue Familienformen, zum Beispiel nicht-eheliche Lebensgemeinschaften, das Modell des "living-apart-together", Fortsetzungsfamilien etc.

Heute macht sich der Trend bemerkbar, daß familiale Lebensformen zunehmend nur mehr zeitlich begrenzt aufrecht erhalten werden. Das ist besonders deutlich anhand der steigenden Scheidungszahlen und dem vermehrten Wechsel von einer Lebensform in die andere.

Auch in der Beziehung zwischen den Eltern zueinander und zu den Kindern macht sich ein Wandel bemerkbar. Die Beziehung ist vorwiegend partnerschaftlich orientiert und geprägt von starker Emotionalität. Nach einer Umfrage stellen Familien heute für viele Österreicher den wichtigsten Lebensinhalt dar.

Die Familie ist nach wie vor eine fundamentale Erfahrung. Besonders hoch wird ihre Erziehungs- und Sozialisationsleistung gewertet, aber auch ihr Beitrag zur Identitätsbildung, zur Begründung von Sozialität, zur Konstituierung von Kultur, zu emotionaler Fundierung, Stabilisierung und Motivation. (Kaufmann, 1988 bzw. Lüscher, 1988, zitiert nach Schneewind & Rosenstiel, 1992, S. 60) 6. Persönliche Stellungnahme

Für mich spielt die Familie eine ganz wesentliche Rolle. Gerade in unserer leistungsorientierten Welt ist es wichtig, einen Ort zu haben, an den man sich zurückziehen kann, um sich zu erholen und sich geborgen zu fühlen. Eine Familie gibt einem sehr viel Sicherheit und Halt und bringt sehr viel Verständnis auf. Man wird darin als ein eigenständiges Individuum angesehen und wird von ihr trotz möglicher Fehler und Probleme aufgenommen.

Doch leider kommt es allzu oft vor, daß man vor der Entscheidung steht, entweder eine Familie zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen oder Karriere zu machen. Diese Entscheidung sollte einem eigentlich erspart bleiben. Auch sollte der Staat die Gründung von Familien und deren Fortbestehen fördern, doch er erreicht durch ständige Kürzungen der Familienunterstützungen (Bsp. niedrigere Kinderbeihilfe, Geburtengeld, etc.) genau das Gegenteil. Das könnte in einigen Jahren noch zu gravierenden Problemen führen, da dann wahrscheinlich nicht mehr genügend junge Leute vorhanden sind, um das Bevölkerungswachstum aufrecht und die vielen älteren Menschen zu erhalten.

Ich glaube, es ist nötig, daß hier ein Umdenken stattfindet und daß den Familien das Leben "erleichtert" wird (zum Beispiel durch mehr Betreuungsstätten für Kinder, mehr Teilzeitarbeit für Mütter und Väter etc.).

Literaturverzeichnis

Petzold, M. (1992). Familienentwicklungspsychologie. Einführung und Überblick. München: Quintessenz.

Schneewind, K. (1991). Familienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.

Schneewind, K. & Rosenstiel, L. v. (Hrsg.). (1992). Wandel der Familie. Göttingen: Hogrefe.

Wilk, L. (1995). Familie in Österreich - gestern und heute. In Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten (Hrsg.), Familie und Arbeitswelt. (S. 13-34). Wien: Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten.
 
 

Inhaltsverzeichnis

4) Familienpsychologische Theorien (Tanja Kremser)

Einleitung

Die Familienpsycholgie beschäftigt sich einerseits mit der Entwicklung der Familie als eine Gruppe von Personen besonderer Art und andererseits mit der Entwicklung in der Familie. Der psychologische Familienbegriff definiert die Familie als intime Bezugssysteme, die im Laufe der Zeit Veränderungen unterworfen sind. Mit Ursachen, Bewältigung und Folgen solcher Veränderung beschäftigen sich familienpsychologische Theorien. Die meisten Autoren - wie z. B. Schneewind (1991) und Petzold (1992) - meinen, daß es die Familientheorie schlechthin nicht gibt, sondern vielmehr mehrere Forschungsansätze nebeneinander existieren. Über diese Modelle möchte ich einen Überblick geben. Es sind dies a) die Familiensystemtheorie, b) die Familienentwicklungstheorie, c) die Familienstreßtheorie und d) das integrative Modell der Familienentwicklung, das versucht die obengenannten Theorien miteinzubeziehen.
 

Theorien

Die Familiensystemtheorie

Die Familiensystemtheorie leitet sich aus der allgemeinen Systemtheorie ab, die ein System als "einen Komplex interagierender Elemente" (Bertalanffy,1968, zitiert nach Schneewind,1991) definiert. Ein Familiensystem wird als eine besondere Gruppe von Personen betrachtet, zwischen denen Beziehungen bestehen. Die Familienmitglieder etablieren und halten diese Beziehungen durch Kommunikation aufrecht.

Im folgenden werden wichtige Punkte der Familiensystemtheorie genannt, die auch für die Familientherapie bedeutsam sind.

Die Familie ist eine Einheit, deren Mitglieder durch Kommunikation miteinander vernetzt sind (Ganzheitlichkeit). Die Familie als Ganzes wird mehr betrachtet als die Summe ihrer aus Personen bestehenden Teile. Bestimmte Probleme werden nicht als individuelle, sondern als systemisches Probleme betrachtet.

Ziele geben dem Leben Sinn und Kontinuität. Je nach Lebens- bzw. Familienphase unterscheiden sich diese Ziele (Zielorientierung).

Bestimmte Regelhaftigkeiten sind bei den Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern erkennbar. Darunter fallen Familienrituale, die bewußt gepflegt werden, aber auch solche, die unausgesprochen das Verhalten einzelner Familienmitglieder beeinflussen. Das Interaktionsgeschehen in der Familie weist eine sogenannte zirkuläre Kausalität auf. Darunter versteht man den wechselseitigen Beeinflussungsprozess mehrerer Personen über eine gewisse Zeitspanne hindurch. Rückkoppelung wird durch regelabweichendes Verhalten eines bestimmten Familienmitgliedes ausgelöst und ruft Effekte bei den restlichen Familienmitgliedern hervor, die wiederum das Verhalten jenes einen Mitgliedes beeinflussen. Positive Rückkoppelung ist veränderungsorientiert; negative ist stabilitätsorientiert und versucht die Ausgangslage wiederherzustellen. Unter Homöostase wird die Aufrechterhaltung des Kräftegleichgewichtes in der Familie genannt, die durch negative Rückkoppelung erreicht wird. Die Familie orientiert sich an etablierten Zielen, Regeln und Handlungsabläufen. Familien mit starren Regeln versuchen auch unter veränderten Bedingungen ihre bisherige Lebensform beizubehalten. Den jeweiligen Gegebenheiten können sich Familien mit flexiblen Regeln anpassen, indem sie neue Regeln festsetzen. Solche Familien gelangen leichter von einem relativ stabilen Zustand wieder in einen stabilen. Speer führte 1970 dafür den Begriff der Morphogenese ein, mit dem die Entwicklung neuer Strukturen innerhalb eines Familiensystems gemeint ist. Welche Art von Veränderung eine Familie durchläuft, hat die Unterscheidung in Wandel erster und zweiter Ordnung zur Folge. Veränderungen von einem internen Zustand zu einem anderen innerhalb eines invariant bleibenden Systems sind Wandel erster Ordnung. Wandel zweiter Ordnung ändern das System selbst.

Die Familie als System grenzt sich anderen Systemen gegenüber unterschiedlich ab. Die Familiensystemtheorie unterscheidet einerseits Suprasysteme, in denen die Familie eingegliedert ist, andererseits kann die Familie in Subsysteme unterteilt werden. Die Grenzen zwischen diesen Systemen sind unterschiedlich stark ausgeprägt: starr, diffus oder und klar.

Starre Grenzen finden sich in der Realität kaum, da es zu keinem Austausch mit anderen Systemen kommt. Am ehesten sind damit Familien gemeint, die nichts von sich preisgeben und sich anderen gegenüber verschließen. Bei diffusen Grenzen kann jeder zu jeder Zeit mit anderen in Kontakt treten. Es wird kaum zwischen den Systemen unterschieden. Allerdings leidet die Privatheit des einzelnen darunter. Klare Grenzen gestatten ein gewisses Maß an Durchlässigkeit, wehren Einmischung von außen aber gleichzeitig ab.

Das interne Erfahrungsmodell meint die subjektiven Repräsentationen, die sich eine Person von sich, den Familienmitgleidern und den Beziehungen untereinander macht.

Der systemische Ansatz bezieht sich nicht nur auf die Familiensystemtheorie, sondern findet sich auch in anderen Modellen wieder.
 

Die Familienentwicklungstheorie

entstand im anglo-amerikanischen Sprachraum. Vertreter sind vor allem Familiensoziologen, wobei der Familienzyklus in den Mittelpunkt ihrer Theorie steht. Duvall (1977) versteht unter Familienzyklus eine Abfolge von charakteristischen Stufen, die mit der Familienbildung beginnen und sich über die Lebensspanne der Familie bis zu ihrer Auflösung fortsetzen.

Die Veränderung der Zahl der Familienmitglieder, der Entwicklungsstand des älteren Kindes und das Ausscheiden der Haupterwerbsperson aus dem Berufsleben sind Kriterien für die Familienstufenbildung. Die Familienentwicklungstheorie betrachtet die Familie als ein System von Rollenträgern. Die Familienmitglieder nehmen bestimmte Positionen im Familiensystem ein, denen bestimmte Rollen zugeordnet sind. Mehrere Rollen ergeben ein Rollenmuster, woran wiederum Erwartungshaltungen geknüpft sind. Mit dem Durchlaufen des Familienzyklus kommt es zu Veränderungen in der Zusammensetzung verschiedener Rollen (positionelle Karriere) und zu Änderungen des Rollenkomplexes (Familienkarriere). Neben den Familienstufen und -rollen gibt es auch Familienentwicklungsaufgaben, normative Erwartungen an die Familieneinheit, die für den einzelnen oder die Gesellschaft erfüllt werden müssen. Die Formulierungen der Aufgaben erfolgt mit Einbeziehung der Familienstufen. Der Übergang von einer Familienstufe zur nächsten ist mit einer Änderung der Familienentwicklungsaufgaben verbunden: alte werden abgelegt, neue kommen hinzu. Diese Veränderung ist vergleichbar mit dem Wandel zweiter Ordnung in der Familiensystemtheorie. Manche Familien haben Probleme, die nächste Stufe im Familienentwicklungsprozeß zu erreichen und benötigen Hilfe, z. B. bei Abnabelungsprozessen der Kinder. Sowohl die Eltern-Kind-Beziehung als auch die Beziehung der Eltern zueinander muss neu definiert werden.

Kritik an der Familienentwicklungstheorie:

Das Modell von Duvall war zwar sehr wichtig für die weitere Familienforschung - die Familie wird nicht als etwas Statisches betrachtet, sondern als sich verändernd.

Allerdings beschreibt Duvall die normative Familie, die Kernfamilie. Nicht-normative Lebensereignisse wie Tod, Scheidung oder chronische Krankheiten bleiben unberücksichtigt. An dieser Stelle sei aber McGoldrick und Carter (1988) erwähnt, die Entwicklungsaufgaben für alleinerziehende, alleinlebende und wiederverheiratete Elternteile definiert haben.

Ein weiterer Kritikpunkt ist, daß die Familienentwicklungstheorie eigentlich keine richtige Theorie ist, sondern nur Phasen beschreibt.

Weiters gibt es über die Anzahl der Familienentwicklungsstufen Uneinigkeit. So geht Duvall von 8 Stufen aus, McGoldrick und Carter dagegen von 6 Einheiten der Familienentwicklung.

Ebenso unklar ist man sich über jene Ereignisse, die zu Veränderungen in der Familie führen. Einige Autoren gehen davon aus, daß es die Familienentwicklungsaufgaben sind, die zu Veränderungen führen, andere Autoren nennen Krisen als positive Chance zur Weiterentwicklung.

Die Familienstreßtheorie

enstand ebenfalls im anglo-amerikanischen Sprachraum und beschäftigt sich mit der Frage, wie die Familie mit Streß, Krisen oder Belastungen umgeht.

Hill (1949) untersuchte sowohl die Folgen der Weltwirtschaftskrise als auch die der Trennung und Wiedervereinigung der Familien um den 2. Weltkrieg und entwickelte ein Familienkrisenmodell:

ABCX-Modell: Das Stressorereignis A - Stressoren sind streßauslösende Ereignisse, die zu Veränderungen in der Familie führen (können) - steht in Interaktion mit B - den Krisenbewältigungsressourcen der Familie, in Interaktion mit C - Definition der Familie vor dem Ereignis - und erzeugt die Krise X (Hill, 1958).

Wie die Familie damit umgeht, zeigt sein Phasenmodell zur Bewältigung von Familienstreß. Der krisenauslösende Stressor führt zuerst zu einer Phase der Desorganisation, dann zu einer Erholungsphase. Je nachdem wie gut die Familie die Krise bewältigt hat, erreicht sie ein neues Organisationsniveau.

Doppeltes ABCX-Modell: McCubbin und Patterson (1983a) haben das Modell von Hill zu einem doppelten ABCX-Modell erweitert, da sie davon ausgingen, daß eine Krise eine Anhäufung von Stressoren zur Folge haben kann.

Bei diesen beiden Modellen wird angenommen, daß belastende Umstände immer in eine Krise münden müssen.

Integratives Familienstreßmodell: zeigt, daß belastende Umstände nicht immer eine Krise zur Folge haben müssen. Ausgangslage des Modells ist der Zustand, in dem sich die Familie momentan befindet. Auf sie wirken jetzt Stressoren ein. Familienstressoren sind zunächst objektiv; erst wenn sie subjektiv wahrgenommen werden, wirken sie streßauslösend.

Erwartbare Ereignisse sind normative Familienstressoren, akute hingegen nicht-normative, die oft Familienkatastrophen sind. Bei Familienkatastrophen wird das Leben als plötzlich bedroht erlebt. Die Betroffenen erleben ein Gefühl der Unkontrollierbarkeit und der Hilflosigkeit. Normative Stressoren hingegen werden nicht so krisenhaft und bedrohlich erlebt wie angenommen.

Menaghan (1982) erhob bei über 1000 Erwachsenen deren subjektive Beurteilung von normativen Stressoren im Familienlebenszyklus. Für 10 kindbezogene Übergänge wurde erfragt, inwieweit sich dadurch das Leben änderte, inwieweit sich die Gefühle über sich selbst änderten und inwieweit sich die Betroffenen beeinträchtigt fühlten.

78% der Befragten gaben an, daß sich durch die Geburt des ersten Kindes das Leben stark änderte, bei 53% änderten sich die Gefühle über sich selbst, aber nur 30% fühlten sich beeinträchtigt. Die Geburt des ersten Kindes wird zwar als etwas Einschneidendes erlebt, die Beeinträchtigung ist aber gering. Spätere kindbezogene Übergänge wie die Geburt des zweiten Kindes oder Schulbeginn hatten noch geringeren Einfluß. Folgen normativer Stressoren sind also relativ gering im Vergleich zu jenen nicht-normativer. Dies konnte die oben genannte Autorin 1983 in einer Untersuchung beweisen, die keinen Unterschied in Partnerbeziehungen von Familien, die sich in Übergangsphasen befanden, und Familien in einem stabilen Zustand feststellen konnte.

Laut Olson und McCobbin (1983) gab es mehr Streß bei Übergang ins Jugendalter und wenn normative Stressoren die Aneignung neuer Rollen erfordert.

"Systemischer Streß" betrifft das gesamte Familiensystem. Das Ausmaß hängt sowohl vom Stressor ab als auch von den Bewältigungsmöglichkeiten.

Die Art und Weise, wie die Familie einen Stressor definiert, weist darauf hin, ob er als Herausforderung oder Belastung empfunden wird. Oft wird durch die Art der Definition des Stressors eine effektive Bewältigung verhindert. Daher ist die subjektive Definition des Familienstressors bedeutend in der professionellen Hilfe.

Weiters ist die Frage wichtig, welche Ressourcen eine Familie zur Streßbewältigung zur Verfügung hat. Es gibt persönliche Ressourcen einzelner Familienmitglieder (Bildungsniveau, Wohlstand, Wohlbefinden, Persönlichkeit, ...), interne Ressourcen des Familiensystems und außerfamiliäre Unterstützungssysteme (sozial, instrumentell, aktiv und materiell).

Dysfunktionale Bewältigungsformen können die Situation in der Familie noch verschlimmern. Es kommt zu einer Anhäufung von Familienstressoren. Ist die Bewältigbarkeit von Stressoren und Bewältigungsmotivation gegeben, entsteht Bewältigungsstreß.

Ziel der Bewältigung ist entweder das Erreichen der Ausgangslage (negative Rückkoppelung oder Wandel 1. Ordnung) Þ Aktive Streßassimilation, die gelingen oder mißlingen kann oder die Veränderung des Systems (= positive Rückkoppelung oder Wandel 2. Ordnung) Þ Streßakkomodation. Gelungene Akkomodation führt zur Neuanpassung.

Sind Stressoren nicht bewältigbar, besteht keine Motivation dazu oder mißlingt die aktive Streßassimilation, stellt sich die Frage nach der Erträglichkeit der Stressoren: Ist diese gegeben, wird Streß ertragen (Duldungsstreß) Þ Passive Streßassimilation.

Wenn die Stressoren nicht ertragen werden können oder die Bewältigungsmöglichkeiten erschöpft sind, entsteht Krisenstreß und führt zu einer Akkumulation von Stressoren. Eigene Bewältigungsstrategien reichen nicht mehr aus - erweiterte Bewältigungsmöglichkeiten müssen in Anspruch genommen werden.
 

Das integrative Modell der Familienentwicklung
Das integrative Modell zur Familienentwicklung versucht all diese Theorien miteinzubeziehen. Der Familienentwicklungsprozess wird als eine Folge von entwicklungsbezogenen Stressoren und Ressourcen gesehen. Ausgangspunkt des Modells ist der Zeitpunkt, zu dem sich zwei unabhängige Personen treffen und ihre eigene Beziehungsgeschichte schaffen. Sie sind in ihr eigenes Paar- oder Familiensystem eingebunden, aber auch in das Mehrgenerationensystem ihrer eigenen Familien und in extrafamiliäre Systeme. Frühere Erfahrungen in der Lebensbewältigung verdichten sich in der Gegenwart zu vertikalen Stressoren und Ressourcen. Herausforderungen, denen sich das Paar stellen muß, sind horizontale Stressoren und Ressourcen wie normative, nicht-normative Ereignisse, dauerhafte Lebensumstände und alltägliche Unannehmlichkeiten. Beide Dimensionen zusammen entscheiden, wie ein Paar mit Herausforderungen umgeht.
 

Zusammenfassung

Die Familientheorie gibt es nicht - es existieren mehrere Ansätze nebeneinander, die an verschiedenen Perspektiven ansetzen.

Die Familiensystemtheorie betrachtet die Familie als eine Gruppe besonderer Menschen, die Beziehungen mittels Kommunikation aufrechterhalten und mit anderen Systemen in Kontakt stehen.

Die Familienentwicklungstheorie stellt den Familienzyklus mit den Familienentwicklungsstufen in den Mittelpunkt, die die Familie durchlaufen muß und an die Familienrollen und -entwicklungsaufgaben gebunden sind. Der Übergang von einer Stufe zur nächsten kann mit Belastungen verbunden sein und zu Veränderungen in der Familie führen.

Die Familienstresßtheorie beschäftigt sich mit der Frage, wie die Familie - unabhängig von der Definition der Familie - mit Belastungen und Streß umgeht. Veränderungen in der Familie finden nicht durch Übergänge von einer Entwicklungsstufe zur nächsten statt, sondern sind von der Streßbewältigung der Familie abhängig.

All diese Theorien werden im integrativen Modell zur Familienentwicklung berücksichtigt, das den Familienentwicklungsprozeß als eine Folge von entwicklungsbezogenen Stressoren und Ressourcen betrachtet.
 

Persönliche Stellungnahme

Jede Theorie für sich ist nicht uninteressant, kann gut nachvollzogen werden und klingt plausibel. Trotzdem sollten die einzelnen Ansätze nicht als nebeneinander existierend betrachtet werden, sondern eher als Teile einer Theorie, die alle Theorien berücksichtigt.

Da das integrative Modell zur Familienentwicklung genau das versucht, erscheint mir diese Theorie als die modernste und wichtigste.

Literaturverzeichnis

Petzold, M. (1992). Familienentwicklungspsychologie. Einführung und Überblick. München: Quintessenz.

Schneewind, K. (1991). Familienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.

Schneewind, K. (1995). Familienentwicklung: In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (3., vollständig überarbeitete Auflage) (S. 128-166). Weinheim: Beltz.
 
 

Inhaltsverzeichnis

5) Familiäre Sozialisation (Astrid Sander)

1. Begriffsdefinition - Familiale Sozialisation

Unter Sozialisation versteht man das Hineinwachsen eines Individuums, vor allem eines Kindes, in eine Kultur, sofern es durch spezifisch zwischenmenschliche Interaktionen vermittelt wird (vgl. Dreesmann, 1987, S. 461). In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff Enkulturation gebraucht, worunter man die Internalisierung traditioneller Normen und Werte versteht.

Um zu verstehen, was der Begriff Sozialisation meint, stelle man sich vor, was ein Mensch aus einer fremden Kultur lernen müßte, um in unserer Kultur zu leben: die Sprache, den Sinn von Symbolen (z. B. Schrift), die Regeln des sozialen Umgangs, die Funktion von Werkzeugen und Kulturgütern, die Differenzierung sozialer Positionen mit ihren Rechten und Pflichten, die Funktionen gesellschaftlicher Institutionen (z. B. Parteien, Verbände, Kirchen), Kenntnisse und Fertigkeiten eines Berufes, Werte- und Glaubenssysteme usw.

Die Familie wird demnach als primäre Sozialisationsinstanz betrachtet, da hier die ersten Erfahrungen mit der umgebenden Kultur gemacht, bzw. deren Werte, Regeln und Techniken vermittelt werden. Sozialisation erfolgt z. B. durch Anleitung und Aufforderung, Information und Belehrung, durch Beobachtung und Nachahmung von Vorbildern, durch Strafe und Belohnungen.

Weitere, sekundäre Sozialisationsinstanzen sind z. B. der Kindergarten, die Schule, Jugendorganisationen, die berufliche Umgebung, Parteien (Montada, 1995, S. 57 ff).
 

2. Soziologische und psychologische Betrachtung der Familie

Die Familie als soziale Institution war seit langem ein Gegenstand der Soziologie. Hier konzentrierte man sich vor allem auf die Rollen, die den einzelnen Familienmitgliedern zukommen und analysierte deren Funktion. Die Sozialisation in der Familie wird im Rahmen der Rollentheorie (Parsons, 1956) als eine Rollenübernahme verstanden (Geschlechtsrolle, postionsspezifische Rolle wie z. B. Vater, Mutter, erstgeborenes Kind, Spätankömmling etc.).

In der Psychologie konzentrierte man sich dagegen auf das Individuum in der Familie. Dabei untersuchte man zunächst die Bedeutung mütterlichen Verhaltens auf die Entwicklung des Kindes. Erst allmählich geriet der Vater ins Blickfeld des Forschungsinteresses. Während man in der Erziehungsstilforschung die Wirkung der Eltern auf die Entwicklung des Kindes betrachtete, gewann in den letzten 15 Jahren immer stärker die Ansicht an Bedeutung, daß auch das Kind selbst in gewissem Umfang seine eigene Entwicklung steuert. Ebenso wurde die Untersuchung der Beziehung zwischen Eltern und Kindern auf alle Interaktionspartner in der Familie ausgeweitet, die Familie also als ein System betrachtet.

Die Sozialisation in der Familie wird schließlich in der neueren psychologischen Forschung sowohl in einen soziokulturellen und epochalen Kontext gestellt als auch unter der Perspektive einer lebenslangen Entwicklung gesehen (vgl. Kreppner, 1989; Schneewind, 1991, S. 139 ff.).

Diese Veränderungen und Ausweitungen in der psychologischen Sichtweise der Familie sollen im folgenden näher dargestellt werden:
 

3. Mütterliches Erziehverhalten – Erziehungsstilforschung

Übereinstimmend wurde in allen Untersuchungen zum mütterlichen Erziehverhalten festgestellt, daß folgendes Erziehverhalten sich günstig auf die Entwicklung eines Kindes auswirkt: Es erfährt in hohem Maße mütterliche (elterliche) Unterstützung und Wärme, und es wird ihm ein dem Entwicklungsstand angemessener Freiraum gewährt. Wichtig ist auch, daß das Kind in konsistenter (statt inkonsequenter) Weise kontrolliert und diszipliniert wird. (Es wird ihm nicht einmal etwas erlaubt und das nächste Mal nicht.) Bei der Disziplinierung werden die Gründe für Verbote und Gebote erklärt.

An der Erziehungsstilforschung wird kritisiert, daß sie nur die Auswirkungen von der Elternperson auf das Kind beachtet und damit das Kind als einen mehr oder minder passiven Empfänger mütterlicher (elterlicher) Sozialisationsbemühungen betrachte (vgl. Schneewind, 1991, S. 139).
 

4. Der Beitrag des Kindes zur Sozialisation

In neuerer Zeit setzte sich vor allem unter dem Einfluß von Forschern, die den Austausch zwischen Mutter und Säugling untersuchten, die Auffassung durch, daß auch kleine Kinder einen hohen Grad an Eigenaktivität entwickeln und sie dadurch einen beträchtlichen Anteil ihrer Beziehung zu den Eltern mitgestalten (vgl. Kreppner, 1989, S. 292 f.).

Zwei Konzepte seien beispielhaft für diese Sichtweise näher dargestellt:

4.1 Das Bindungskonzept - Ausbildung von Erwartungsmustern für soziale Beziehungen (intern working models)

Das Bindungskonzept wird in der Entwicklungspsychologie mit dem Namen John Bowlby (1994) verbunden. Er geht davon aus, daß jeder Mensch mit Verhaltenssystemen ausgestattet ist, die das Überleben der Art sichern. Zu diesem gehört beim Kind das System des Bindungsverhaltens (attachment) und beim Erwachsenen, dazu komplementär, das Fürsorgeverhalten (maternal behavior, bonding). Das Bindungsverhalten des Kindes zielt darauf (z. B. durch Schreien, Hinterherlaufen), daß die Hauptpflegeperson in der Nähe bleibt und dem hilflosen Kind Schutz gewährt.

Die personspezifische Bindung entwickelt sich in mehreren Etappen. Die letzte Phase ist erst mit etwa drei Jahren erreicht. Hier versucht das Kind, je nach situativen Gegebenheiten, das Verhalten der Bezugsperson zu beeinflussen (vgl. Rauh, 1995). Bowlby (1994) nimmt an, daß das Kind bereits innere Erwartungsmuster sozialer Beziehungen aufgebaut hat.

4.2 Das Konzept der "ungeteilten familialen Umwelt" (nonshared environment)

Dieses Konzept stammt aus der Zwillings- und Adoptionsforschung. Es besagt, daß das Kind in seiner Entwicklung nicht nur durch seine genetische Ausstattung, sondern auch durch seine familiäre Umwelt maßgeblich beeinflußt wird. Allerdings - und das ist das Neue an der Konzeption - ist nicht die "objektiv" gegebene Umwelt entscheidend, sondern die Art, wie das Kind diese subjektiv erlebt. Weiters wird angenommen, daß das subjektive Erleben der Umwelt, in diesem Fall der Familie einzigartig ist, also von keinem anderen Familienmitglied geteilt wird (vgl. Kreppner, 1989, S. 401 f.).
 

5. Die Bedeutung des Vaters

Seit den 70er Jahren wandte sich das Interesse der Forschung auch dem Vater zu. Im Vordergrund standen dabei Fragen, ob Väter zur Erziehung von Kindern geeignet sind, wie sie mit diesen umgehen (Interaktion), und welche Beziehungen sie aufbauen. Faßt man die Befunde zu diesen Fragestellungen zusammen, so kann festgestellt werden, daß sich Väter genauso zur Pflege ihres Neugeborenen eignen wie Mütter und sich auch genauso stark engagieren, wenn man ihnen die Gelegenheit dazu gibt; daß es weit mehr Ähnlichkeiten im Verhalten von Vätern und Müttern gibt als Unterschiede, daß die Auswirkungen des väterlichen Einflusses durch die Familienkonstellation sowie die Einstellungen und Verhaltensweisen der Familienmitglieder beeinflußt werden. Wenn Väter in Untersuchungen zum Bindungsverhalten einbezogen wurden, zeigten sich bei den Kindern die gleichen Bindungstypen wie bei Müttern. Ein Kind kann allerdings zu Vater bzw. Mutter Bindungen unterschiedlicher Qualität aufbauen (vgl. Fthenakis, 1985). Insgesamt machte die Vaterforschung deutlich, daß Mütter nicht von "Natur aus" fähiger sind, mit kleinen Kindern umzugehen, und daß mütterliche Verhaltensweisen für die Kinder nicht förderlicher sind, sondern daß Mütter und Väter sich ergänzen. Über ihre Geschlechtszugehörigkeit und ihre unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmale repräsentieren sie verschiedene Verhaltensmodelle. So kann das Kind lernen, daß Verhaltensmuster verschieden und doch gleichwertig sein können. Die Möglichkeit unterschiedliche Interaktionsstile (Verhaltensstile) beobachten zu können, wirkt sich günstig auf die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern aus (Schütze, 1989).
 

6. Die Familie als System

Im folgenden wurden in der Forschung Untersuchungen auf die Interaktion aller Familienmitglieder ausgedehnt. Die Familie wird unter diesem Aspekt als System aufgefaßt.
 

7. Die Familie im soziokulturellen und epochalen Kontext

Die Sozialisation der Kinder in einer Familie sollte aber nie unabhängig von der gegebenen historischen Epoche sowie der Kultur und den sozioökonomischen Rahmenbedingungen, in die Familie eingebettet ist, gesehen werden:

Die Familie wird als Mikrosystem verstanden, das sich aus verschiedenen Subsystemen zusammensetzt, die sich wechselseitig beeinflussen. Das Individuum (z. B. das Kind) wird ebenfalls als ein System dargestellt, das aus sich gegenseitig beeinflussenden System besteht (z. B. kognitives intrapsychisches System und organisches System). Das Kind (Individuum) wird durch die Subsysteme in seiner Familie in seiner Entwicklung beeinflußt und beeinflußt selbst diese Beziehungssysteme.

Von außen wird ebenfalls von sogenannten Exosystemen auf die Familie Einfluß genommen. Darunter versteht man Gemeindeorgarnisationen, wie z. B. Sportvereine, Jugendamt oder Schule. Umgekehrt nimmt auch die Familie mit ihren Subsystemen Einfluß auf diese Exosysteme. Den Mikrosystemen übergeordnet sind Mesosysteme wie die Beziehungssysteme Nachbarschaft, Freundeskreis, Verwandtschaft (soziales Netz). Auch hier wird eine wechselseitige Einflußnahme angenommen.

Allen genannten Systemen übergeordnet ist das Makrosystem, das die aktuelle kulturelle, politische, rechtliche oder wirtschaftliche Orientierung einer Gesellschaft umfaßt.

Betrachtet man z. B. die Gesellschaft von Österreich und der Türkei, so wirken sich die jeweils verschiedenen Einstellungen zum Staat auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen in den verschiedenen Mesosystemen, aber auch auf die Beziehungen innerhalb der Familie unterschiedlich aus. Das gleiche gilt auch für gesellschaftliche Einstellungen in unterschiedlichen geschichtlichen Epochen. So hatte z. B. eine Ehescheidung im 19. Jahrhundert noch deutlich massivere Einschnitte in die Familienbeziehungen zur Folge, so durfte eine schuldige geschiedene Frau ihre Kinder überhaupt nicht mehr sehen, als heute, wo gegenüber Ehescheidung eine liberalere Einstellung herrscht. (von Schlippe, 1984, S.28) 8. Sozialisation als lebenslanger Prozeß

Die Familie hat im Laufe des Lebenszyklus typische Aufgaben zu bewältigen, die mit dem Neuerlernen und Verändern von Normen zu tun haben. Neben den Aufgaben, die fast alle Familien zu bewältigen haben, gibt es auch Probleme, die nur einzelne Familien zu lösen haben, z. B. der Tod eines Elternteils bei noch nicht erwachsenen Kindern, Arbeitslosigkeit des/der Hauptverdieners/in, etc.

Zusammenfassung

Unter Sozialisation versteht man das Hineinwachsen eines Individuums in die umgebende Kultur, wobei die Familie als primäre Sozialisationsinstanz betrachtet wird. Während sich die Soziologie mit der Familie als soziale Institution beschäftigt, konzentriert sich die Psychologie auf das Individuum in der Familie. Dabei untersuchte man zunächst die Bedeutung mütterlichen Verhaltens auf die Entwicklung des Kindes. Erst allmählich geriet der Vater ins Blickfeld wissenschaftlichen Interesses. Während man sich in der Erziehungsstilforschung alleine auf die Wirkung der Eltern auf das Kind konzentrierte, gewann in den letzten 15 Jahren immer stärker die Ansicht an Bedeutung, daß auch das Kind selbst einen gewissen Teil zu seiner eigenen Sozialisation beisteuert. Ebenso werden in neuerer Zeit nicht nur Zweierbeziehungen (Mutter-Kind/Vater-Kind) untersucht, sondern die Untersuchungen werden auf die Interaktion aller Familienmitglieder ausgedehnt. Die Familie wird unter diesem Aspekt als System aufgefaßt.

Die Sozialisation des Kindes wird heute auch eingebettet in den jeweiligen soziokulturellen und epochalen Kontext gesehen, sowie unter der Perspektive einer lebenslangen Entwicklung.

Stellungnahme

Die Beschäftigung mit dem Seminarthema hat mir einige neue Einsichten vermittelt. Besonders interessant fand ich die heute vorherrschende Perspektive einer lebenslangen Entwicklung. Das heißt, daß sich nicht nur Kinder und Jugendliche, sondern auch Erwachsene ihr Leben lang immer wieder neuen Gegebenheiten anpassen und neue Werte und Normen akzeptieren müssen. Gerade durch diese Sichtweise ist mir klar geworden, wieso sich der Generationenkonflikt so schwierig gestaltet. Es ist sehr schwer, einmal gelernte Normen und Werte zu verändern, weil sie das Leben vereinfachen und Sicherheit geben. Aus diesem Grund legen viele Menschen in der Gesellschaft darauf Wert, daß Normen beibehalten werden.

Ein anderer Gedanke, den ich auch besonders interessant finde, ist folgender: Eltern machen sich oft Vorwürfe, daß ihr Kind sich in eine nicht gewünschte Richtung entwickelt und fühlen sich selbst schuldig. Für die Beratung finde ich es sehr wichtig, Eltern diese Schuldgefühle zu nehmen und ihnen klar zu machen, daß das Kind eine eigenständige Person und nicht völlig durch den Erziehungseinfluß determiniert ist.

Entwicklungspsychologische Forschung hat demnach auch für die Praxis hohe Relevanz.
 

Literaturverzeichnis

Bowlby, J. (1984). Bindung. Frankfurt: Fischer.

Bronfenbrenner, U. (1981). Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Stuttgart: Klett Cotta.

Dreesmann, H. (1987). Zur Psychologie der Lernumwelt. In B. Weidenmann & A. Krapp u. a. (Hrsg.), Pädagogische Psychologie (S. 447 - 492). München/Weinheim: Urban & Schwarzenberg/PVU.

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Montada, L. (1995). Fragen, Konzepte, Perspektiven. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S. 1 - 83). Weinheim: Beltz, PVU.

Parsons, T. (1956). Family structure and socialization in the child. In T. Parsons & R.F. Bales (Eds.), Family, socialization and interaction process (pp. 35 - 131). London: Routledge & Kegan.

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Schlippe, A.v. (1984). Familientherapie im Überblick. Paderborn: Jungfermann.

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Schütze, Y. (1989). Die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des Kindes. In B. Paetzold & L. Fried (Hrsg.), Einführung in die Familienpädagogik. Weinheim: Beltz.
 
 

Inhaltsverzeichnis

6) Familiendiagnostik (Alexandra Wiener)

Einleitung

Zu Beginn meiner Arbeit werde ich kurz auf den Begriff "Familie" eingehen, dem dann eine Begriffsdefinition der "Familiendiagnostik" folgt.

Den Rahmen meines Hauptteils bilden dann die 9 Grunddimensionen der Familiendiagnostik (nach Schneewind 1991), wobei ich aber nur einige mir wichtig erscheinende Dimensionen besonders genau erläutern werde.

Abschließend folgt eine kurze Zusammenfassung zu dieser Thematik, die eine kurze persönliche Stellungnahme inkludiert.

2.1. Begriffsdefinition

a.) Familie:

Jede Person hat in ihrem Leben ganz persönliche Erfahrungen mit ihrer Familie gemacht, und daher hat jeder von uns sein persönliches Familienbild und dieses subjektive Bild von Familie, das wir in uns tragen, wird uns wiederum bei der Gründung unserer eigenen Familie leiten. Eine Definition des sozialen Gebildes ist alles andere als einfach. Der Begriff "Familie" stellt nämlich für jede wissenschaftliche Disziplin etwas anderes dar.

(Die soziologische Definition unterscheidet sich von der Juristischen und diese wiederum von der psychotherapeutischen Definition.)

Da eine genaue Unterscheidung den Rahmen sprengen würde, gehe ich nun näher auf den Begriff Familiendiagnostik ein.

b.) Familiendiagnostik:

Cierpka (1987, zitiert nach Cierpka, 1996) definiert Familiendiagnostik wie folgt:

Die Familiendiagnostik untersucht und beschreibt Interaktionen und ihre Veränderungen zwischen den Familienmitgliedern, den Subsystemen und analysiert die Dynamik der Familie als systemisch Ganzes. Sie untersucht die unbewußten Phantasien, Wünsche und Ängste der Familie auf den Hintergrund der Familiengeschichte und der Lebensentwürfe für die Zukunft, um zu einem Verständnis für die bedeutsamen Interaktionssequenzen und deren Funktionalität zu kommen. (S.2) Familiendiagnostik kann als Prozeß der Informationssammlung gesehen werden, wobei sich die Informationssammlung hauptsächlich auf die Struktur und die Prozesse von intimen Beziehungssystemen bezieht.

Es geht also um die Erfassung interpersoneller Prozesse, d.h. um Beobachtung und Interpretation von Verhaltensweisen "im Austausch" zwischen zwei oder mehreren Personen, was aber keinesfalls den Ausschluß intrapsychischer Prozesse aus der Diagnostik bedeutet.

Familiendiagnostik sollte "überindividuell" sein, in dem Sinne, daß sowohl interpersonelle als auch intrapersonelle Vorgänge beachtet und vereint werden.

Die Informationssammlung in der Familiendiagnostik verlangt daher nach einer Anwendung bestimmter Verfahren und Techniken. Einige dieser Verfahren werden dann im Rahmen der 9 Grunddimensionen, wie sie in den verschieden Anwendungsfeldern der Familiendiagnostik zum Einsatz kommen, erwähnt.

Diese 9 Grunddimensionen umfassen eine Reihe von Kriterien von Gegensätzlichkeiten, die für die Familiendiagnostik besonders wichtig erscheinen.

2.2. Grunddimensionen der Familiendiagnostik: (Schneewind 1991)

1. Erkenntnistheoretische Annahmen: linear versus zirkulär

2. Begriffliche Orientierung: theoretisch versus nicht-theoretisch

3. Anwendungsschwerpunkt: Forschung versus klinische Praxis

4. Schwerpunkt der Analyse: strukturell versus prozeßorientiert

5. Ebene der Diagnostik: individuell versus systembezogen

6. Repräsentationsmodus: verbal versus bildhaft-methaphorisch

7. Zeitperspektive: Vergangenheit versus Gegenwart versus Zukunft

8. Datenquelle: Insider versus Outsider

9. Datenart: subjektiv versus objektiv

2.2.1. Erkenntnistheoretische Annahmen – linear versus zirkulär

Diese Dimension gibt Aufschluß darüber, wie sich ein Familiendiagnostiker mit dem System Familie auseinandersetzt. Ist seine Denkweise dem linear-reduktionistischenAnsatz zuzuordnen, dann beruhen seine Aussagen auf kausalen oder konditionalen Beziehungen (z. B. "wenn-dann", "A führt zu B" oder "Ursache-Folgen"). Als Beispiel kann hier der Ehemann gesehen werden, der seine Frau aufgrund ihrer Depressionen nunmehr vermehrt umsorgt. Beim rekursiven oder zirkulären Ansatz kommt klar zum Ausdruck, daß Ursache-Wirkung-Beziehungen nur zum Teil Informationen liefern. Bei der zirkulären Technik hingegen ist die Unterscheidung zwischen Ursache und Wirkung nicht mehr sinnvoll, da beides sich gegenseitig beeinflußt, (Bsp. Was war früher da? Die Henne oder das Ei?) und dasselbe Ereignis kann das ein Mal "Ursache" sein und das andere Mal "Folge", je nachdem wo man mit dem Interaktionskreis beginnt. Daß, um auf das vorherige Bsp. zurückzukommen, der Ehemann seine depressive Frau nun mehr umsorgt kann einerseits als Folge ihrer Depressivität gesehen werden, andererseits aber auch als Ursache dafür, daß es der Frau wieder besser geht, was dazu führen kann, daß sich der Ehemann wieder anderen Dingen zuwendet. Dies kann wiederum dazu führen, daß die Frau wieder depressiv wird. Trotz der Zirkularität des Verhaltenssaustausches beider Partner ist es notwendig, einen umfassenderen und tiefgehenderen Einblick in ihr Beziehungsgefüge zu bekommen. Denn warum die Frau mehr Nähe und Unterstützung des Mannes wünscht und warum er ein Bedürfnis nach Distanz hat, bleibt allein durch das zirkuläre Fragen ungeklärt. Hier wäre eine gründliche Analyse der Entwicklungsgeschichte beider Partner aufschlußreich.

In der systemisch orientierten Familientherapie hat die Technik des zirkulären Fragens einen sehr wichtigen Stellenwert bekommen. Sie wurde zum Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Reihe weiterführender Interview- und Befragungsmethoden, bei denen noch vor dem diagnostischen Ziel der Informationsgewinnung das therapeutische Ziel der Intervention und Veränderung des Familiensystems ganz in den Mittelpunkt rückt. Zirkuläre Ansätze und lineare Ansätze können einander ergänzen. Linear orientierende Fragen werden mit einer "investigatorischen Absicht" gefragt und können vom Therapeuten dann gestellt werden, wenn er etwas nachforschen möchte bzw. die Besonderheit eines präsentierten Problems herausfinden möchte.

Lineare Fragen wären um auf das Bsp. der depressiven Frau zurückzukommen z. B. über die subjektiv empfundenen Begleiterscheinungen, oder subjektive Erklärungen ihrer Depression. Die Fragen wären nach wie vor linear gerichtet, würde man sie Umformulieren und den Ehemann z. B. über die depressive Verstimmung seiner Frau fragen.

Zirkulär gestellte Fragen zielen besonders auf den Beziehungskontext ab.

Die Annahme besteht darin, daß ein symptomatisches Verhalten keine isolierte Einheit darstellt, sondern es wird als Ereignis gesehen, auf das jene Personen die mit dem "Symptomträger" in irgendeiner Weise verbunden sind, unterschiedlich reagieren.

Zirkuläre Fragen werden mit einer "exploratorischen Absicht" gefragt.

Der Therapeut versucht dadurch die Muster von wiederkehrenden Erreignissen aufzudecken, die mit dem präsentierten Problem einhergehen.

Zur Illustration folgt nun ein kleiner Ausschnitt aus einem Erstgespräch einer Familie mit einem anorektischen Sohn und dessen Schwester.

Therapeut: Wenn deine Mutter versucht, Marcello zum Essen zu bewegen, und er die Nahrung verweigert, was tut dann dein Vater?

Ornella: Eine Zeitlang hält er sich zurück, aber dann wird er langsam wütend und beginnt zu schreien.

Therapeut: Wen schreit er an?

Ornella: Marcello.

Therapeut: Und wenn er Marcello anschreit, was tut dann deine Mutter?

Ornella: Sie wird über Papa wütend. Sie sagt er ruiniere alles, er habe keine Geduld und er mache alles nur noch schlimmer.

(Selvini-Palazzoli et al.; 1981, S.135f., zitiert nach Cierpka, 1996)

Zusammenfassend kann man sagen, daß sowohl lineare Fragen als auch zirkuläre Fragen im Bereich der Familiendiagnostik ihre Berechtigung haben. Es kann nur von Vorteil sein, wenn man beide Fragetypen in flexibler Weise bei einem Familiengespräch einsetzt.

2.2.2. Begriffliche Orientierung: theoretisch versus nicht theoretisch:

Aufgrund der verschiedenen theoretischen Ansätze, der verschiedenen Schulen usw. stellt sich nun die Frage, ob bei der Familiendiagnostik die Bindung an eine bestimmte Theorie notwendig ist oder nicht. Es gibt nahezu 1000 Verfahren zur Erfassung von Familienvariablen und es hängt natürlich zuallererst von der theoretischen Grundhaltung des Diagnostikers ab für welches Verfahren er sich entscheidet. Ein psychoanalytischer Familientherapeut wird z. B. mit seinem Schwerpunkt auf unbewußten Prozessen, der Übertragung und Gegenübertragung ganz andere Verfahren zur Diagnose und Beurteilung von Familien verwenden als ein verhaltenstheoretisch orietierter Familientherapeut, der sich mit dem offen beobachtbaren Verhalten der einzelnen Familienmitglieder beschäftigen wird. In beiden Fällen wären hier die entsprechenden Ansätze von theoretischen Überlegungen geleitet.

Im Vergleich dazu gibt es auch Ansätze die "nicht-theoretisch" sind, (wobei es eigentlich keine ganz "theoriefreie" Diagnostik gibt), und als Beispiel dient hier die Methode der "klinischen Listen" nach Fisher (1976). Die Listen beziehen sich auf eine Anzahl von Dimensionen, die aus klinischer Erfahrung abgeleitet wurden und hilfreich für die klinische Diagnose von Familien sind.

Ein Bsp. für ein theoriegeleitetes familiendiagnostisches Instrument ist das Family Assessment Measure (FAM III) das von Skinner, Steinhauer und Santa-Barbara (1983) entwickelt und von Cierpka als Familien-Einschätzungsbogen(FEB) für den deutschen Sprachraum adaptiert wurde. Es werden sieben theoretisch abgeleitete Konstrukte erfaßt: Aufgabenerfüllung, Rollenausübung, Kommunikation, Affektausdruck, Involviertheit, Kontrolle und Werte und Normen. Das FAM III besteht aus drei Skalen zur Erfassung von Stärken und Schwächen von Familien auf drei Systemebenen. (1. Ebene: Gesamtfamilie, 2. Ebene: Dyaden innerhalb der Familie, 3. Ebene: Individuelle Familienmitglieder). Dieselben theoretischen Konstrukte werden auf allen drei Systemebenen erfaßt, was somit einen Vergleich über die verschieden Systemebenen hinweg erlaubt. Laut Autoren kann das FAM III sowohl als Verfahren zur Analyse von Familienprozessen in Forschungsstudien verwendet werden als auch zur Erfassung des Therapieprozesses und des Therapieerfolges.

2.2.3. Anwendungsschwerpunkt: Forschung versus klinische Praxis

"Das Interesse des Familienforschers besteht in der Entwicklung von diagnostischen Verfahren für sein Erkenntnisobjekt, die Familie, die als reliable und valide Indikatoren von theoretisch definierten Konstrukten dienen und als solche die wiederholte Erfassung von Phänomenen ermöglichen." (Carlson, 1989, S. 172). Die Familiendiagnostik im klinischen Bereich hingegen verfolgt, im Gegensatz zur Theorieprüfung der Familienforschung, sehr unterschiedliche Ziele. Carlson (1989) unterscheidet in der Familiendiagnostik folgende 5 Stufen der Familienbehandlung:

A.) Abklärung familiärer Dysfunktionen:

Eine angemessene Methode für eine Breitband-Familiendiagnostik sollte auf der ersten Stufe eingesetzt werden.

Ein einfaches Instrument stellt der Familien-APGAR (Smilkstein, 1978) dar, der die folgenden Funktionssaspekte der Familie erfassen soll: (1) Anpassung oder Problemlösefähigkeit in der Familie, (2) Partnerschaftlichkeit oder Teilen von Verantwortlichkeit und Entscheidungsfindung, (3) Wachstum, (4) Zuneigung, (5) Entscheidungsfähigkeit oder die Bereitschaft, mit anderen Familienmitgliedern Zeit, Raum und materielle Güter zu teilen.

Die Nützlichkeit dieses Instruments wurde trotz Einfachheit nachgewiesen.

Die "telefonische Beziehungskarte" von (Blasio, Fischer & Prata, 1986) ist ebenfalls ein geeignetes Verfahren zur Erfassung von Familieninformationen in der Sondierungsphase. Es handelt sich dabei um ein kurzes Telefoninterview, wobei die Daten nach einem vorgegebenen Raster erfragt werden, was wiederum dem Therapeuten die Entscheidung für das anzuwendende Verfahren in der ersten Familiensitzung erleichtern wird.

B.) Klinische Familiendiagnose:

In dieser Phase geht es um die Spezifizierung und Bestätigung der Hypothesen über die Funktionsweise der Familie. Die Verfahren, die man auf dieser Stufe anwendet, sollten valide Unterscheidungen zwischen einzelnen Familien ermöglichen und sie hinsichtlich des Typs und des Schweregrads einer Dysfunktion richtig klassifizieren.

Im folgenden werden einige Verfahren in aufsteigender Reihenfolge bezüglich Aufwand an Training, Auswertung und Datenanalyse dargestellt.

1. Selbstbeurteilungsverfahren:

Als Beispiel wäre hier das von Snyder (1981) entwickelte Marital Satisfaction Inventory (MSI) zu erwähnen. Hier werden 9 spezifische Bereiche der Partnerindikation erfaßt: (1) Affektive Kommunikation, (2) Problemösungsorientierte Kommunikation, (3) Gemeinsam verbrachte Zeit, (4) Unstimmigkeiten in bezug auf Geldangelegenheiten, (5) Unzufriedenheit mit der Sexualität, (6) Rollenorientierung, (7) familiengeschichtlicher Hintergrund von Belastungen, (8) Unzufriedenheit mit Kindern, (9) Konflikte in der Kindererziehung.

2. Quasi-Beobachtungsverfahren:

Hier ist die Spouse Observation Checklist (SOC) von Weiss und Perry (1979) zu nennen. Diese ist ein Beispiel für die teilnehmende Beobachtung in der Familiendiagnostik und verlangt von den Partnern, daß sie täglich die Auftretenshäufigkeit von angenehmen und unangenehmen Verhaltensweisen des Partners anhand von 12 Kategorien erfassen.

3. Beobachtungsorientierte Schätzskalen:

Methodisch abgesicherte Verfahren gibt es in diesem Bereich nur sehr wenig. Eine davon ist die Marital Communication Rating Scale (MCRaS) von Borkin, Thomas und Walters (1980), das ein Verfahren zur Einschätzung des Kommunikationsverhaltens von Paaren ist. Es wird dabei von trainierten Ratern gefordert, daß sie die Interaktionen eines Paares beobachten und anschließend jeden Partner anhand von 37 Beobachtungskategorien beurteilen.

4. Beobachtungsorientierte Kodierungssysteme:

Als Beispiel für die in dieser Kategorie sehr aufwenigen Verfahren ist das Marital Interaction Coding System (MICS) von Weiss und Summers zu nennen, das in den vergangenen Jahren dreimal revidiert wurde und nun als MICS III verfügbar ist. Auch hier wird die Paar-Interaktion beobachtet oder videographiert und anschließend anhand von 32 Verhaltenskategorien kodiert. Die Kodierungen des MICS beziehen sich auf positives verbales und nonverbales Verhalten, auf negatives verbales und nonverbales Verhalten, auf Problemlösungsverhalten sowie auf das Zuhörerverhalten. Dieses Instrument wird zur Messung des Erfolges von ehetherapeutischen Interventionen verwendet und differenziert Paare mit und ohne Eheprobleme.

C.) Diagnostisch gestützte Behandlungsplanung:

Nicht nur die valide Information über die Funktionsweise der Familie ist für den Familienpsychologen von Bedeutung, ebenso wichtig ist das Auswählen angemessener Behandlungsziele, den Verlauf der Behandlungseinheiten zu spezifizieren und schließlich auch Kriterien für den Behandlungserfolg zu bestimmen.

D.) Diagnostische Begleitung des Behandlungsablaufs:

Diese Phase der Behandlung erfordert familienpsychologische Verfahren, die Informationen über die Wirksamkeit der Intervention und über die Veränderung bestimmter Interaktionsmuster liefern. Diese Verfahren müssen einerseits sehr veränderungssensitiv sein, andererseits aber auch resistent sein gegenüber Methodenartefakten wie z. B. Anfälligkeit für Antwortstile, Testwiederholungseffekte.

Die vorhin genannte Spouse Observation Checklist (SOC) könnte z. B. dem Paar als Hausaufgabe mitgegeben werden mit dem Ziel, daß das Paar Veränderungen auf dem Weg der teilnehmenden Beobachtung erfaßt.

E.) Evaluation nach Abschluß der Behandlung:

Eine Evaluation nach Behandlungsende kann Informationen über die Dauerhaftigkeit der Veränderungen liefern. Man kann z. B. erfahren, ob das veränderte Kommunikationsverhalten eines Paares über die Zeit stabil geblieben ist, oder ob es sich auf andere dyadische Familienbeziehungen auswirkt. Die Evaluation kann so durchgeführt werden, indem zumindest einige der Verfahren nocheinmal angewendet werden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß sowohl die Forschung als auch die klinische Praxis als eine sich gemeinsam entwickelnde Erkenntnisquelle, die sich gegenseitig ergänzen und befruchten, verstanden werden kann.

2.2.4. Schwerpunkt der Analyse – strukturell versus prozeßorientiert

Bei der Auswahl der Erhebungsmethoden soll sich der Familiendiagnostiker auch danach richten ob er an dauerhaften strukturellen Aspekten des Familienlebens interessiert ist, oder ob er sich eher auf die weniger stabilen prozeßhaften Merkmale des familiären Zusammenlebens konzentriert.

Bei Minuchins (1977) Modell der strukturellen Familie geht es, wie der Name schon sagt, um die strukturellen Merkmale des Familienlebens, mit Betonung auf System- und Subsystemgrenzen, generationsübergreifenden Koalitionen und auf dyadische Qualitäten innerhalb der Familie. Mit einer Reihe von Symbolen wird, vorrausgesetzt natürlich, daß die Familie vorher befragt und hinsichtlich ihres verbalen und nonverbalen Verhaltens beobachtet wurde, ein Strukturdiagramm konstruiert.

Bei der prozeßorientierten Familiendiagnostik verwendet man hauptsächlich Verfahren, die zur Kategorie der beobachtungsbezogenen Kodierungssysteme zählen. (D.h., Familieninteraktionen werden beobachtet und kodiert.)

In der Literatur werden zwei Ansätze der quantitativen Verarbeitung der kodierten Daten diskutiert, entweder ihre ereignisbezogene Auswertung über sog. Frequenzanalysen oder ihre zeit- bzw. prozeßbezogene Verrechnung über sog. Sequenzanalysen. Die Beschränkung der Datenanalyse auf Frequenzanalysen führt zum Verlust der Informationen über den Interaktionsprozeß. Sequenzanalytische Methoden können besser zwischen Funktionalität und Dysfunktionalität von Beziehungen unterscheiden. Es können Verhaltensmuster entdeckt und Voraussagen über Verhaltenskombinationen gemacht werden, was mittels Frequenzanalyse nicht möglich ist. Sie finden in der Praxis jedoch kaum Verwendung, da sie sehr zeitaufwendig sind (eine videographierte Stunde erfordert etwa 30 Stunden Kodierung und Datenanalyse), und neben der methodischen Erfahrung ist die Apparateausstattung und Computersoftware zur Datenanalyse erforderlich.

2.2.5. Ebene der Diagnostik – individuell versus systembezogen

Um bestimmte familiendiagnostische Verfahren anwenden zu können, muß zunächst einmal entschieden werden, auf welche Familiengruppierung das Hauptaugenmerk gerichtet wird.

A.) Individuelle Familienmitglieder:

Primäres Ziel auf dieser Ebene ist es, Informationen über intrapsychische Strukturen und Prozesse einer bestimmten Person zu erhalten. Individuelle Daten über Intelligenz, Motivation, Sozialverhalten, Affektivität, Temperament, Selbskonzept usw. werden als Hinweis auf Verhaltensdispositionen betrachtet, die sich dann unter bestimmten Situationsanforderungen als offen beobachtbares Verhalten äußern.

B.) Ebene der Zweierbeziehungen oder Familiäre Subsysteme:

Auf dieser Ebene gibt es sowohl Dyaden als auch Tetraden, d.h. die Zahl der Personen in einer Gruppierung muß um mind. eine Person niedriger sein als die Gesamtzahl der Familienmitglieder. Bei den meisten Verfahren geht es um die Erfassung dyadischer Beziehungen. (Dyadic Adjustment Scale – DAS, Marital Adaptability and Cohesion Evaluation Scales – MACES) usw.). Nach Crotevant und Carlson (1989) gibt es rund 23 Selbstberichtsverfahren zur Erfassung von Eltern-Kind-Beziehungen.

Das Parent Perception Inventory (PPI) von Hazzard, Christensen und Margolin verlangt vom Kind, daß es neun positive und neun negative elterliche Verhaltensweisen beurteilt. Die Einschätzungen für die Mutter und den Vater werden dann getrennt erhoben. Es handelt sich bei diesem Verfahren um ein sehr ökonomisches und klinisch nützliches Verfahren

C.) Familiensystem:

Zur Erfassung der Gesamtfamilie gibt es die größte Anzahl an familiendiagnostischen Instrumenten. Als Beispiel dient hier die von Moos (1974) entwickelte Family Environment Scale (FES), die unter dem Namen Familienklimaskalen für den deutschen Sprachraum adaptiert wurde und Bestandteil des Familiendiagnostischen Testsystems (FDTS) sind.

D.) Suprasysteme:

Jede Familie lebt in einem gewissen Kontext und ist in verschiedene Suprasysteme (außerfamiliäre Systeme) eingebettet und wird von diesen auch beeinflußt.

Hier gibt es nur wenige Verfahren die Aufschluß über schulische, berufliche, freundschaftliche und institutionelle Beziehungen etc. geben.

Ein Instrument zur Erfassung dieser Suprasysteme ist die Umwelt-Landkarte von Hartmann (1978). Der mittlere Kreis auf einem Papier stellt den Familienhaushalt dar, während die rund um angeordneten Kreise die extrafamiliären Systeme symbolisieren sollen. Die Qualität der entsprechenden Beziehungen wird mittels Symbolen dargestellt.

Dieser Ansatz ermöglicht eine ganzheitliche und integrative Veranschaulichung des Lebensraums einer Familie.

2.2.6. Repräsentationsmodus: verbal versus bildhaft-methaphorisch

Die meisten familiendiagnostischen Instrumente beruhen auf dem verbalen Modus z. B. bei Selbstbericht- und Interviewmehoden. Es kommen semantische, syntaktische und pragmatische Aspekte der Sprache ins Spiel, wenn wir in einer beschreibenden, erklärenden oder vorschreibenden Weise Aussagen machen.

Der bildhaft-methaphorische Modus eignet sich besonders für Personen mit geringer sprachlicher Ausdrucksfähigkeit (z. B. Kinder); die Methoden sind einfach und ohne Aufwand durchführbar. Bei diesem Modus werden die Beziehungen in verschiedenster Weise dargestellt

Die Familienskulptur (Duhl et al. 1973) ist eine Methode bei der die Familienmitglieder sich so im Raum positionieren müssen, sodaß die Beziehungen zwischen ihnen deutlich werden.

Nicht-sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten, wie Abstand, Körperhaltung, Gestik, Mimik, Blickrichtung etc., sollten miteinbezogen werden.

Es können die tatsächlichen, idealen oder erwarteten Beziehungen dargestellt werden.

Eine wichtige Frage in der Familientherapie ist, wie die Familienmitglieder ihre Struktur und die Beziehungen, Nähe und Distanz, untereinander erleben, woraus dann Erkenntnisse gewonnen und das Verhalten geändert werden kann.

Als weiteres Verfahren wäre der Family System Test (FAST) von Gehring und Wyler (1986) zu nennen. Auf einem schachbrettähnlichen Brett sollen Figuren, die die Personen darstellen, entsprechend plaziert werden um die zwei Dimensionen "Kohäsion" und "Macht" zu veranschaulichen.

2.2.7. Zeitperspektive: Vergangenheit versus Gegenwart versus Zukunft

Verschiedene Familientherapeutische Schulen interessieren sich für verschiedene Zeitqualitäten. Psychoanalytische Schulen orientieren sich eher an der Vergangenheit und versuchen frühe oder generationsübergreifende Familienbeziehungen aufzudecken, während sich der verhaltenstheoretisch orientierte Therapeut mit dem "Hier und Jetzt" befassen wird.

Doch ist der Zeitbegriff allein schon problematisch, da zukünftige Ereignisse, sobald sie verwirklicht werden, den Status der Gegenwärtigkeit annehmen und gegenwärtige Ereignisse im nächsten Moment schon wieder der Vergangenheit angehören.

A.) Vergangenheit

Ein Ansatz zur Erfassung historischer Familiendaten, besonders in der Mehrgenerationen-Familie, stellt das Familiengenogramm dar. Es wird ein Familienstammbaum konstruiert, wobei mindestens drei Generationen miteinander verknüpft sein sollen. Zur Kennzeichnung des Familiengenogramms werden 2 Arten von Daten herangezogen. 1. Faktische Daten wie Geburt, Heirat, Krankheit, Tod, Beruf, usw. und 2. Beziehungsdaten wie Krankheits- oder Kommunikationsmuster, Probleme, Krisen etc.

B.) Gegenwart

Die meisten Verfahren in der Familiendiagnostik beziehen sich auf "Hier-und-Jetzt"-Beziehungen. Dies gilt auch für alle beobachtungsbezogenen Schätz- und Kodiersysteme. Die Zeitdimension stellt jedoch ein Problem dar, da Personen, die bei Selbstberichtmethoden gebeten werden die Familie darzustellen, natürlich auf Erfahrungen und Erinnerungen in der Vergangenheit zurückgreifen müssen.

C.) Zukunft

Zur Erfassung zukünftiger Entwicklungen in der Familie gibt es trotz der Wichtigkeit nur wenige Verfahren. Eines davon ist die Family Environment Scale (FES) von Moos und Moos (1986) von der es eine Real-Version (Einschätzung der gegenwärtigen Familie), eine Ideal-Version und eine Erwartungs-Version gibt. Zur Erfassung zukünftiger Ereignisse wurde von Schneewind, Vaskovics et al. (1989) ein Veränderungsfragebogen entwickelt. Hier kann z. B. angegeben werden, was sich nach Ankunft eines best. Ereignisses (Geburt, etc.) verändern wird. Diese Veränderungserwartungen werden nach dem Ereignis mit dem entsprechenden Veränderungsleben verglichen und eventuelle Erwartungsverletzungen (pos. oder neg.) können frühzeitig erkannt werden. Belsky (1985) konnte nachweisen, daß negative Erwartungsverletzungen auf längere Sicht zu einer Verringerung der Beziehungsqualität führen können.

2.2.8. Datenquelle – Insider versus Outsider

In der Familiendiagnostik ist eine wichtige Entscheidung, ob die Daten von Personen stammen sollen, die direkt am Geschehen beteiligt sind (Insider) oder von Personen, die das Ganze von außen beobachten (Outsider).

Bei allen Selbstberichtverfahren wie Fragebögen, Ratingverfahren oder Interviewdaten stammen die Daten von Insidern, sowie auch bei Methoden wie z. B. Familienzeichnung oder die Familienskulptur.

Outsider sind jene Personen, die nicht direkt zur untersuchten Familie gehören, wie Lehrer, Freunde, Arbeitskollegen, etc. trotzdem aber wichtige Informationen über die Funktionsweise der Familie liefern können.

Untersuchungen zeigten, daß es kaum zu einer Übereinstimmung von Daten innerhalb der Insider- bzw. Outsiderperspektive kommt, da oft unterschiedliche theoretische Modelle zugrundeliegen, obwohl sie vorgeben dieselben Konstrukte zu messen.

2.2.9. Datenart: subjektiv versus objektiv

Olson (1981) unterscheidet vier Typen von Methoden zur Familiendiagnostik.

Klassifikation subjektiver und objektiver Daten der Familiendiagnostik (Olson 1981, S.78).
 
 
  Datenart: subjektiv Datenart: objektiv
Datenquelle: Insider Selbstberichtmethode Verhaltensbez. Selbstberichtmethoden
Datenquelle: Outsider Subjektive Beobachterberichte Verhaltensbezogene Methoden
Subjektiv-orientierte Daten müssen nach Olson nicht nur auf die Insiderperspektive beschränkt sein, sondern können auch aus der Sicht des Outsiders erhoben werden. Dasselbe gilt für objektiv-verhaltensorientierte Daten, die genauso von Insidern erfaßt werden können.

Nach Schneewind (1991) wird die Kategorie der subjektiven Insiderdaten und auch die der objektiven Insiderdaten noch mit Verfahren wie der Familienskulpturtechnik ergänzt. Auch die objektiven Daten müssen sich nicht nur auf das Verhalten beschränken, zu dieser Kategorie können auch faktische Daten zur Konstruktion eines Familiengenogramms oder medizinische Gesundheitsdaten gezählt werden.

Subjektiv-introspektive Daten haben in letzter Zeit immer mehr Beachtung gefunden. Die subjektive Realität einer Person wird als wichtige Informationsquelle für das Verständnis von Familienbeziehungen gesehen, darüber hinaus sind solche Daten auch einfacher zu erheben und auszuwerten als verhaltensbezogene Daten. Dagegen spricht allerdings, daß subjektive Daten für gewisse Antwortstile (soz. Erwünschtheit, etc.) oder Simulationstendenzen sehr anfällig sind. Verhaltenstheoretisch-orientierte Familiendiagnostiker betrachten objektive Daten, also die Beobachtung und Kodierung realer Familieninteraktionen, als den "Königsweg" der Diagnostik. Beobachtungsbezogene Kodiersysteme erlauben, trotz des erhöhten Arbeits- und Kostenaufwands, eine feinrastrige Erfassung des Interaktionsgeschehens innerhalb der Familie, und es kann ein hoher Grad an Genauigkeit und Beobachterübereinstimmung erzielt werden. Auch können diese Daten statistischen Analysen unterworfen werden, die Häufigkeitsmuster und sich wiederholende Abfolgen von Familieninteraktionen aufdecken. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die gegenseitige Ergänzung beider Ansätze für das Verständnis des komplexen Systems "Familie" notwendig ist.
 

3.1. Zusammenfassung und persönliche Stellungnahme

Immer wieder werde ich damit konfrontiert, daß Forschung und Praxis zwei Welten sind, die zwar nicht grundverschieden sind, aber oft nur in geringen Ansätzen übereinstimmen.

In den 9 Dimensionen nach Schneewind, die die wichtigsten Kriterien der Familiendiagnostik darstellen, kommen diese Gegensätzlichkeiten auch ganz deutlich zum Ausdruck. (Bemängelnd finde ich allerdings bei Schneewind (1991), daß er bei den Verfahrensarten völlig auf die projektiven Verfahren vergißt.)

Ziel sollte meiner Meinung nach sein, alle diese Ansätze, diese scheinbaren Polaritäten, mit allen ihren Vor- und Nachteilen zu akzeptieren und so gut wie möglich zu vereinen. Gut wäre auch zukünftig mehr Verbindungsbrücken zwischen Forschung und Praxis herzustellen und die Vielfalt an psychologischen Testverfahren zu überarbeiten und an die heutige Zeit zu adaptieren.
 

Literaturverzeichnis

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Schneewind, K. (1991). Familienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.
 

Inhaltsverzeichnis

7) Familiendiagnostisches Testsystem (Petra Steindl)

1) Einleitung

Das Familiendiagnostische Testsystem wird vor allem für den Bereich der familienpsychologischen Diagnostik eingesetzt. Die familienpsychologische Diagnostik bedarf in ihren anwendungsbezogenen Aspekten einer "systemischen Diagnose". Darunter versteht man eine Verbindung der allgemeinen Systemtheorie mit a) Mehrebenen-Perspektive b) einer Multivariablen Perspektive und c) einer Multimethoden-Perspektive. Solche Konzeptionen stützen sich jedoch eher auf programmatische Aussagen.

Auch heute werden die entwickelten Methoden diagnostischer Verfahren höchstens teilweise dem systemorientierten Ansatz gerecht.

Die von Cromewell und Peterson vorgeschlagenen diagnostische Verfahren beruhen auf einer Zusammenarbeit von bereits bekannten, für verschiedene Fragestellungen konstruierten Erfassungsmethoden. Dies wurde stark kritisiert.

Das Konzept von Cromewell und Peterson stellt jedoch ohne Zweifel auch eine Bereicherung dar. Sie machten vor allem auf das Problem unterschiedlicher Datenquellen mit ihrer Unterscheidung einer Insider- und Outsiderperspektive aufmerksam. Das heißt, daß es einen Unterschied macht, ob ein Outsider (dies kann ein Freund der Familie oder der Familientherapeut sein) eine Person innerhalb der Familie bestimmte innerfamiliäre Beziehungsdyaden oder die Familie als Ganzes beschreibt oder ob diese Aussagen von einem Insider (Familienmitglied) getätigt werden. In neueren Arbeiten zur familiären Sozialisationsforschung wird sowohl auf inner- als auch außerfamiliäre Kontextbedingungen aufmerksam gemacht.

2) Theorie

2.1. Grundstruktur des FDTS

Der FDTS besteht aus einem Fragebogen-Satz, durch den möglich wird, das innerfamiliäre Beziehunsgefüge aus der Sichtweise der Beteiligten zu erfassen. Gegenstandsbereich ist die Kernfamilie (Vater, Mutter, Kind).

a) Triadische Interaktionsbeziehung:

Ausgehend von der Kernfamilie ergeben sich fünf mögliche Beziehungskonstellationen und zwar jeweils aus der Sicht der beteiligten Personen.

Bsp.: Beziehungskonstellation Vater/Tochter wird sowohl aus der Sicht der Tochter als auch des Vaters beschrieben.

Dadurch wird auch gleich deutlich, daß wir neben personenspezifischen auch geschlechtsspezifische Aspekte finden.

b) Dyadische Beziehungskonstellation:

Aus den Beziehungen Vater-Mutter und Mutter-Kind kann, wieder aus der Sicht jedes Beteiligten, der elterliche Erziehungsstil erhoben werden. Fremdperzeption entspricht der Sicht des Kindes und Selbstperzeption die der Eltern. Hier sind drei Komponenten zu unterscheiden.

1) Erziehungseinstellungen: Dies bezieht sich auf die Erlebnisdispositionen der Eltern, die sie hinsichtlich der Realisierung bestimmter erzieherischen Verhaltensformen besitzen.

2) Erziehungsziele: Darunter werden Vorstellungen und Forderungen der Eltern an ihre Kinder bezüglich deren Verhalten verstanden.

3) Erziehungspraktiken: Dazu werden alle verbalen und nonverbalen Verhaltensäußerungen der Eltern gegenüber ihren Kindern gezählt.

Diese drei Komponenten können ebenfalls aus der Sicht des Kindes wie auch der Eltern erhoben werden. Weiters ist es möglich mit einem anderen Fragebogen des FDTS die Ehepartnerbeziehung zu erfassen, aus der Sichtweise des männlichen und weiblichen Ehepartners.

Allgemein ist noch zu sagen, daß sich die erhobenen Beziehungsaspekte (Erziehungsstil, Ehepartnerbeziehung) jeweils auf eine bestimmte Person beziehen. Weiters ist es wichtig, über die Qualität des gesamten innerfamiliären Beziehungsgefüge Bescheid zu wissen. Dazu werden Familienklimaskalen verwendet.

2.2. Aufbau des FDTS

Das FDTS ist ein auf Fragebogenbasis aufgebautes modulares Testsystem, das für Eltern mit Kindern zwischen neun und vierzehn Jahren konstruiert wurde.

Unter modularem Aufbau des Testsystem wird die Möglichkeit nur bestimmte oder mehrere Einzeltests aus dem gesamten Testsystem zu verwenden, verstanden.

Das FDTS umfaßt acht Teiltestsysteme, die sich aus einer Kombination der Subsystem- und Systemkonstellationen einer Familie und der inhaltlichen Beziehungsaspekte auf Subsystem-und Systemebene ergeben. Sechs dieser acht Teilsysteme orientieren sich am Geschlecht des Kindes und den drei Komponenten des elterlichen Erziehungsstils. Es ergeben sich dann weiters unter der Berücksichtigung jeder Sichtweise der Personen jeweils vier Einzeltests.

Die Testsysteme kurz zusammengefaßt

1) ES-Testsystem: Dieses hat die Erziehungseinstellungen der Eltern gegenüber ihrem Sohn zum Inhalt.

2) ET-Testsystem: Dieses erhebt die Erziehungseinstellung der Eltern gegenüber ihrer Tochter.

3) EZS-Testsystem: Dieses erfaßt die Erziehungsziele der Eltern gegenüber ihrer Tochter.

4) EZT-Testsystem: Dieses erhebt die Erziehungsziele der Eltern gegenüber dem Sohn.

5) EPS-Testsystem: Dieses hat die Erziehungspraktiken der Eltern gegenüber ihrem Sohn zum Gegenstand.

6) EPT-Testsystem: Entspricht EPS-Testsystem jedoch bezogen auf die Tochter.

Weiters gibt es das

7) FK-Testsystem: Dieses ermöglicht die Erfassung des Familienklimas. Im Gegensatz zu den ersten sechs erwähnten Testsysteme werden beim Siebten auf ein Geschlechtsdifferenzierung auf der Kinderseite verzichtet.

8) EB-Testsystem: Dieses befaßt sich mit Subsystem der Ehepartner innerhalb der Familie.

Allgemein: Wie schon erwähnt, werden in jedem Teiltestsystem alle möglichen Perspektiven berücksichtigt. Weiters sind pro Teiltestsystem zwei Berichte vorgesehen. Der erste Bericht enthält das Testmanual, welches die Beschreibung der Testskalen, psychometrische und teststatistische Kennwerte, Durchführung, Auswertung, Normen etc. enthält. Der zweite Bericht beinhaltet die Testauflagen, also die Instruktionen und eine Auswertungshilfe.

2.3. Skalenstruktur des FDTS

Ziel des FDTS ist eine möglichst differenzierte Erfassung unterschiedlicher Dimensionen des Beziehungsverhaltens und Beziehungserlebens.

Die inhaltliche Festlegung und Operationalisierung der Skalen stellt, ausgenommen das FK-Testsystem, eine methodische Neuentwicklung dar. Als Orientierungshilfe dienen bereits veröffentlichte Verfahren. Weiters wurden zusätzlich bedeutende familiäre Beziehungsaspekte mittels offenen Interviews eruiert und in Folge dann inhaltsanalytisch aufbereitet. Daraus ergaben sich verschiedene inhaltliche Beziehungskonstrukte, für die anschließend nach dem Prinzip der rationalen Skalenkonstruktionen Items formuliert wurden. Nach einem ersten empirischen Überprüfungsverfahren wurden jene Skalen behalten, die sich als unabhängige Dimensionen des familiären Beziehungsverhaltens und -erlebens erwiesen.

Das Resultat:

1) Je nach Beziehungsaspekt, Beziehungskonstellation und Perzeptionsmodus ergeben sich unterschiedliche Itemszusammenstellungen, jedoch auf das selbe Beziehungskonstrukt bezogen.

2) Es ergaben sich auch spezifische Beziehungskonstrukte, die bei anderen nachweisbar waren.

Weiters wurden Faktoren zweiter Ordnung bestimmt, ausgenommen vom EB-Testsystem, um die Inhaltsstruktur der Beziehungsaspekte auf einer allgemeinen Ebene zu erfassen. Die dabei gefundenen Sekundärfaktoren führen zu generellen Beziehungsstrukturdimension.

3) Anwendungsgebiet des FDTS

3.1. Anwendungsfeld Familienberatung

Das FDTS kann hier dazu dienen, um zusätzlich zu sonstigen diagnostischen Verfahren ergänzende und präzisierende Informationen über einzelne Beziehungskonstellation sowie individuelle Sichtweisen der einzelnen Mitglieder zu erhalten.

3.2. Anwendungsfeld Familientherapie

Die aus dem FDTS gewonnenen Informationen hinsichtlich Beziehungsaspekten, Beziehungskonstellationen und Perzeptionsmodus werden zum therapeutischen Zwecke genutzt.

3.3 Anwendungsfeld Familienforschung

In diesem Bereich findet das FDTS eine Reihe von Anwendungsmöglichkeiten. Auszugsweise wären hier folgende zwei Beispiele zu nennen: Studien zur Analyse innerfamiliärer Interaktionsgepflogenheiten bei traditionellen und nicht traditionellen Familienformen, sowie Studien zur Analyse der familiären Beziehungsmuster zu unterschiedlichen Phasen des Familienzyklus, sowie bei der Entwicklung und Evaluation von Elterntrainingsprogramm.

4) Kritik

4.1. Als erstes sind die allgemeinen Problem bezüglich des Informationsgewinnes mittels Fragebögen zu nennen, wie zum Beispiel Antwortstile. Diese Probleme sind jedoch nicht spezifisch, sondern bei allen Testsystemen auf Fragebogenbasis zu finden. Aufgrund dessen werden auch andere diagnostische Verfahren in die Untersuchung miteinbezogen.

4.2 Auch gilt es Kritik bezogen auf bestimmte Einzeltests beziehungsweise Testskalen des FDTS zu üben. Verbesserungen sind hinsichtlich Erhöhung der Konzeptvalidität einzelner Skalen, Überprüfung der Skalenstabilität über längeren Zeitraum hinweg, sowie Verzerrungen durch Antworttendenzen nötig, um nur einige zu nennen.

4.3 Zuletzt ist zu erwähnen, daß das FDTS keine bestimmte psychologische Theorie als Grundlage hat, sondern sich auf eine Beschreibung verschiedener Beziehungsaspekte innerhalb der Familie.

5) Praktische Anwendung des FDTS

Es werden dazu zwei Familien B und R miteinander verglichen. Beide haben einen neunjährigen Sohn, leben in vergleichbaren Städten in Eigenheimen und werden der oberen Mittelschicht zugeordnet.

Dazu gibt es zwei Hypothesen:

1) Es sind Unterschiede hinsichtlich ihrer intrafamiliären Beziehungen erkennbar. Diese Unterschiede manifestieren auf unterschiedlichen Ebenen des Familiensystems und seiner Subsysteme.

2) Differentielle Familiendiagnose wird durch sinnvolle Verknüpfungen verschiedener Systemebenen innerhalb einer Familie möglich.

5.1. Wahrgenommene Beziehungen auf der Familiensystemebene

Die beiden Familien nehmen ihr Familienklima unterschiedlich wahr. Dies wurde über die Familienskalen des FDTS erfaßt und die Daten zusammengefaßt. Das Profil der Familie B läßt erkennen, daß Zusammenhalt und Offenheit auf niedrigen Niveau sich bewegt, kulturelle Orientierung sowie aktive Freizeitgestaltung auf Mittleren. Allgemein liegt eine konfliktgeladene und emotional negative Familienatmosphäre vor, mit einem hohen Maß an Kontrolle. Bei Familie R wird das Gegenteil deutlich. Alle Skalen sind stark ausgeprägt, abgesehen von Kontrolle und Leistungsorientiertheit. Hier finden wir ein zufriedenstellende und ausgeglichene Familienatmosphäre, wo man füreinander da ist.

5.2. Wahrgenommene Beziehungen auf der Ebene des Ehe Subsystems

Herr und Frau B empfinden ihre Beziehung weitgehend als unbefriedigend. Dies läßt sich aus der Skala ganz deutlich erkennen, da sich der Zärtlichkeitswert, bei beiden Eheleuten, auf extrem niedrigen Niveau bewegt, Ebenso sind hohe Werte an Konfliktgeladenheit, Unzufriedenheit wie auch Unterdrückung aus der Skala erkennbar. Dies laßt allgemein auf eine emotional unbefriedigende Beziehung schließen. Im Gegensatz dazu wird die Beziehung von Herr und Frau R als emotional befriedigend erlebt. Dies erkennt man daran, daß sich die Kennwerte auf mittleren Niveau bewegen und in keine extreme Richtung tendieren. Das bedeutet aber nicht, daß die beiden Eheleute ihre Beziehung als perfekt wahrnehmen, sondern diese im wesentlichen ausgeglichen ist, gekennzeichnet durch wechselseitige Akzeptanz.

5.3. Wahrgenommene Beziehung auf der Ebene des Eltern-Kind-Subsystems

Bei Herrn und Frau B wird deutlich, daß sie sich uneinig sind bezüglich der Erziehung ihres Sohnes. Weiters gibt es Unterschiede hinsichtlich der Beziehung zu ihrem Sohn. Zwischen Herrn B und seinem Sohn wird eine emotionale Distanz deutlich, ganz im Gegensatz zu Mutter und Sohn. Die Ehepartner R haben dagegen keine Probleme ihre erzieherischen Einstellungen sowie Erwartungen aufeinander abzustimmen, wobei aus der Skala zu erkennen ist, daß die Mutter die Beziehung zu ihrem Sohn belastender erlebt als der Vater. Das heißt, im Gegensatz zu Familie B wird hier eine emotionale Distanz zwischen Sohn und Mutter erkennbar.

5.4. Die Ebene des intrapsychischen Systems

Zur Erfassung der Persönlichkeit der beiden Kinder wurde ein mehrdimensionaler Persönlichkeitsfragebogen verwendet. Wie zu erwartend, lassen die Ergebnisse bei dem Sohn der Familie B wesentlich mehr Anzeichen für eine problematische Persönlichkeitsstruktur erkennen als bei Sohn R. Dieses Ergebnis läßt sich eindeutig aus der familiären, ehelichen und Eltern-Kind-Beziehung ableiten.

Allgemein festgehalten: Es ist klar, daß die Entwicklung der Persönlichkeitsstruktur eines Kindes unproblematischer verläuft, wenn es, in einer Atmosphäre geprägt von emotionaler Nähe sowie Offenheit aufwächst, als wenn Eltern Kontrolle auf ihr Kind ausüben, Konflikte nicht besprochen werden und eine emotionale Distanz in der Eltern-Kind-Beziehung vorherrscht.

6) Persönliche Stellungnahme

6.1. Das Familiendiagnostische Testsystem kann in den verschiedensten Bereichen genutzt werden und ist außerdem sehr vielfältig bezüglich der Verwendungsmöglichkeiten. Dies wird meiner Meinung nach vor allem durch den Aufbau des FDTS möglich, nämlich der Einzeltests. Dadurch kann ein Test entsprechend dem spezifischen Problem beziehungsweise der spezifischen Fragestellung gewählt werden. Die Ergebnisse betreffen dann ausnahmslos dem Gesuchten und umfassen nicht auch unnötige, zusätzliche Informationen. Dies wäre nicht gegeben, müßte man den ganzen FDTS anwenden. Das heißt, daß die Anwendung eines einzelnen Tests aus dem gesamten Testsystems Zeit ersparen kann. Weiters ermöglicht der FDTS Einblick in die verschiedensten Subebenen des Familiensystems. Der Tester erhält somit die vielfältigsten Informationen über die Familie unter Anwendung eines einzigen Testsystems.

6.2. Weiters findet das Familiendiagnostische Testsystem in den verschiedensten Bereichen Anwendung. Es wird nicht nur eingesetzt um Informationen über die einzelnen innerfamiliären Beziehungskonstellationen zu erhalten und dann weiters zu Familien therapeutischen Zwecken sowie zur Familienberatung verwendet, sondern wird auch in der Familienforschung genützt. Dies bedeutet, daß hier eine Konstruktion eines Testsystems gelungen ist, das sehr vielseitig einsetzbar ist. Das ist aber auch vor allem durch seine, wie oben beschrieben, Vielfältigkeit möglich.

6.3. Durch die Berücksichtigung der Insiderperspektive sowie Outsiderperspektive bei der Datengewinnung, werden die gewonnenen Informationen automatisch objektiver. Zumindest mehr als würden die Informationen nur von Beteiligten stammen. Durch die gewonnenen objektiveren Daten kann der Therapeut oder Forscher sicher besser agieren.

6.4) Ich möchte nun noch kurz daran Kritik üben, daß der Test nur für Familien mit bestimmten Alter konstruiert wurde. Das heißt, dieses Testsystem kann ausnahmslos nur dann angewendet werden, wenn die Kinder zwischen neun und vierzehn Jahren alt sind. Ein mögliches Ziel könnte in Zukunft sicher die Erweiterung des Testsystems sein und dadurch generell nutzbar für Familien.

7) Schlußwort

Zuletzt möchte ich noch sagen, daß mir dieser Artikel Einsicht in das Familiendiagnostische Testsystem gab. Schlußfolgernd dazu glaube ich, daß das FDTS durch seine Vielfältigkeit sowie seine Vielseitigkeit als sehr nutzvoll für viele Bereiche in der Psychologie angesehen werden kann. Weiters bedarf das FDTS wenig Aufwand bezüglich Anwendung sowie Auswertung und ist damit auch zeitsparend. All das sind sicher Gründe warum das FDTS häufig und in den verschiedensten Bereichen seine Anwendung findet.
 
 

Literaturverzeichnis

Schneewind, K. (1991). Familiendiagnostisches Testsystem, S.265-306.
 
 

Inhaltsverzeichnis

 8) Familienberatung und Familientherapie (Doris Wölbitsch)

Einleitung

In einer Zeit, wo wir es mit hochkomplexen Lebensverhältnissen, die zusätzlich noch einem raschen Wandel unterliegen, zu tun haben, wird es immer schwieriger für die Familien und für den einzelnen Krisen und Herausforderungen zu meistern.

Somit steigt der Bedarf an angemessener Unterstützung bei der Bewältigung von Problemen.

Man kann hier zwei Formen der Unterstützung unterscheiden:

Familienberatung und Familientherapie sind als Instrumente der formellen Familienunterstützung zu sehen.

Ich möchte an dieser Stelle noch eine kurze Definition von " Familie" einfügen.

In seinem Buch (Schneewind, 1991, S.17) faßt Schneewind familiäre und quasi-familiäre Personengruppen zusammen zu intimen Beziehungssystemen, die durch folgende vier Punkte gekennzeichnet sind:

Nach einem Modell von Morrill, Oeting und Hurst 1974 (Schneewind, 1991, S.266) lassen sich 3 Dimensionen der Intervention darstellen:

a.) Adressaten der Intervention

Diese können sein: das Individuum, die Primärgruppe (Familie, Gleichaltrigengruppen), informelle Gruppen, Institutionen und Gesellschaften (Schulen, Betriebe, Gemeinden, Parteien etc.).

b.) Ziele der Intervention

Diese unterteilen sich in: Entwicklungsoptimierung, Prävention, Remediation.

c.) Methoden

Diese beinhalten: Direkte Dienstleistung (hier ist der unmittelbare Kontakt der Berater, Therapeuten mit einem oder mehreren Klienten gegeben z. B. im Rahmen der Familientherapie); Konsultation und Training (hier geht es primär um die Vermittlung von Kompetenzen z. B. im Rahmen eines Elterntrainings); Medien (hierzu gehören interventionsunterstützende Hilfen wie Bücher, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehsendungen).

Bei einer systematischen Verknüpfung dieser Untergruppierungen ergeben sich insgesamt 36 Einheiten. Durch dieses weite Spektrum ergeben sich verschiedene Ansätze und Vorgehensweisen der Familienberatung und -therapie.

Es gibt verschiedene Umstände, die eine Familie in die Rolle des Adressaten bringen:

Dies ist z. B. bei Partnerschafts-, Erziehungs- und Scheidungsproblemen der Fall. Zur historischen Entwicklung der Familienberatung und Therapie:

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden die ersten Erziehungsberatungsstellen mit dem Ziel der Behandlung verhaltensauffälliger Kinder auf Basis tiefenpsychologischer Ansätze. Ein Beispiel dafür ist die 1906 in Berlin gegründete Medico-pädagogische Poliklinik für Kinderforschung, Erziehungsberatung und ärztliche erzieherische Behandlung.

Bis 1922 waren in den Bezirksjugendämtern in Wien 23 Erziehungsberatungsstellen gegründet worden. Um die selbe Zeit wurden in den USA die sogenannten Child-Guidance-Kliniken gegründet. Es handelt sich hierbei um ein interdisziplinäres Modell, bei dem ein Arzt, ein Psychologe und ein Sozialarbeiter zusammenarbeiten. In Deutschland erfolgte die gesetzliche Basis für die Aktivitäten der Beratungseinrichtungen 1953 mit der Novellierung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes (von 1923). Aber erst 20 Jahre später erfolgte die schriftliche Festlegung.

Es entstand eine neue Argumentationslinie, wo nun nicht mehr ausschließlich Verhaltensauffälligkeiten von Kindern- und Jugendlichen im Vordergrund standen, sondern auch Erziehung und Sozialisationsfähigkeit der Familien (vom identifizierten Patienten zum Patient Familie).

1968 wurde auf dem Hintergrund der Systemtheorie die Familiensystemtheorie entwickelt.

Institutionalisierte Beratungsdienststellen haben sich in Deutschland zum DAK (= Deutscher Arbeitskreis der Jugend-, Ehe- und Familienberatung) zusammengeschlossen.

Familienberatung und Familientherapie im Kontext

Das Modell von Bronfenbrenner (Rödler, 1993) zeigt deutlich, daß man die Familie nie isoliert betrachten darf, sondern auch außerfamiliäre Lebenskontexte berücksichtigen muß. Die einzelnen Systeme stehen in ständiger Wechselwirkung zueinander, sowie auch innerhalb jedes Systems Wechselwirkungen stattfinden.

Mikrosystem: wechselt nach unmittelbaren Lebensbereich; inkludiert Personen, Situationen, materielle Begebenheiten

Mesosystem: z. B. Schule und Familie - Wechselwirkungen treten auch unabhängig vom Individuum in Kraft

Exosystem: z. B. Unterrichtsministerium und Sozialamt

Makrosystem: Beeinflussungsgrößen wie Religion und Kultur, die auf alle 3 Systeme einwirken.
 
 

In dem Modell von Markman, Floyd, Stanley und Lewis (Schneewind, 1991, S.273) werden diese kontextbezogenen Aspekte berücksichtigt. Es wurde ursprünglich für den Bereich der Prävention beim Übergang zur Ehe entwickelt, ist aber auch allgemeiner anwendbar. Die Autoren definieren hier vertikale Stressoren und Ressourcen und horizontale Stressoren.

Vertikale Stressoren und Ressourcen beziehen sich auf historisch gewachsene in die Gegenwart hineinwirkende Gegebenheiten. Dazu gehören Gegebenheiten des sozialen Systems (ökonomische Bedingung von Familien, Werthaltungen, ...), Gegebenheiten des transgenerationalen Systems (Beziehung zu Eltern, Schwiegereltern, ...), Gegebenheiten des gegenwärtigen Familiensystems (familiäre Kommunikations-, Interaktions- und Problemlösungsmuster) und Gegebenheiten des Persönlichkeitssystems (physische, psychische Gesundheit, personale Kontrolle, soziale Kompetenzen).

Die horizontalen Stressoren lassen sich grob in normative (dazu gehören Übergänge und Phasen im Familienlebenszyklus; z. B. Übergang zur Elternschaft, leeres Nest, ...) und nicht-normative (unvorhergesehene Ereignisse wie z. B. Trennung, Scheidung, Todesfall) unterteilen.

Die Balance Stressoren - Ressourcen hat einen großen Einfluß auf die Verletzlichkeit einer Familie. Je stärker das Potential vertikaler Ressourcen, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Familie mit Stressoren erfolgreich fertig wird.
 

Ansatzpunkte der Familienberatung und Familientherapie

Dieses oben dargestellte Modell (vgl. Schneewind 1991, S.275) geht von der These aus, daß die Interventionsbedürftigkeit einer Familie mit dem Verletzlichkeitsniveau steigt.

Es wird angenommen, daß nach einer erfolgreich verlaufenen Phase der Entwicklungsoptimierung bzw. nach der Prävention eine Phase der Prävention bzw. Remediaton auszuschließen ist.

Die Wahrscheinlichkeit eines erneuten Anstiegs des Verletzlichkeitsniveaus wird auch dadurch gesenkt, indem man an eine erfolgreich abgelaufene Remediation eine Phase der Prävention und eine Phase der Entwicklungsoptimierung anhängt.

Nun Genaueres zu den einzelnen Interventionsmöglichkeiten:

Remediation

Die Remediation betrifft speziell Familien mit einer sehr hohen Verletzlichkeit, diese Familien werden auch als "auffällig" bezeichnet. Hier geht es um Symtome, die von der Familie selbst oder von anderen Bereichen des gesellschaftlichen Systems als dysfunktional und Behandlungsbedürftig gesehen werden. (Hier wäre eine umfassende systemische Diagnostik wesentlich, um eventuelle Ettikettierungen zu vermeiden.)

Diese Symptome können sein:

auf der Individualebene:

- Alkohol und Drogenmißbrauch

- kriminelles Verhalten

- Depressionen

- Phobien

auf Familienbeziehungsebene:

- Chronische Partnerschaftskonflikte

- manifeste sexuelle Probleme

- Mißhandlungen von Kindern, Frauen, älteren Menschen

Die Behandlung dieser Symptome fällt in den Bereich der klinischen Familienpsychologie und das Behandlungskonzept wird als familientherapeutisch bezeichnet.

Prävention

Die primäre Zielgruppe dieser Art der Intervention sind die Risikofamilien. Hier ist die Wahrscheinlichkeit des Auftretens bzw. des Wiederauftretens von behandlungsbedürftigen Symptomen (auf Individual- oder Familienbeziehungsebene) hoch. In diesen Bereich fällt die Rückfallsprophylaxe bei psychischen Störungen und massiven Beziehungsproblemen, sowie die Abwendung von voraussehbaren Fehlentwicklungen aufgrund normativer und nicht-normativer horizontaler Stressoren im Familienlebenszyklus wie Erziehungsschwierigkeiten oder Übergang zu Scheidungsphase.

Auszüge aus dem Therapieangebot:

a) Einüben von Kommunikationsfertigkeiten

b) Lösung von Problemen und Konflikten

c) Kontrolle personeninterner Zustände, die einer guten Kommunikation im Wege stehen (Selbstbehauptung, Selbstbeherrschung).

Die Prävention läßt sich in drei Bereiche teilen:

Die primäre Prävention: Hier geht es um eine Verknüpfung von Entwicklungsoptimierung und Prävention mit dem Hauptziel der Stärkung vertikaler Ressourcen.

Die sekundäre Prävention: Diese besteht aus einer Verbindung von Prävention und Remediation mit dem Ziel der Verhinderung erwartbarer Symptome. In diesen Bereich entfällt auch Gordon´s Familienkonferenz (vgl. auch Schneewind, 1991,S. 284).

Ich möchte dieses in den 70-er Jahren entstandene Programm hier nur grob umreißen.

Es besteht aus einem Kurs zu 8 Wochen und beinhält Kurzvorträge, Rollenspiele, Diskussionen und Hausaufgaben.

Die Ziele dieses Programms sind:

- aktives Zuhören (einfühlsame, akzeptierende Haltung gegenüber dem Kind)

- Ich-Botschaften (klare und direkte Vermittlung von Gefühlen)

- Konfliktlösungen nach der "keiner- verliert- Methode"

Überprüfungen des Programms ergaben allerdings nur eine mittlere bis schwache, über die Zeit rasch abnehmende Effektivität.

Die tertiäre Prävention:

Auch hier besteht die Intervention aus einer Verbindung von Prävention und Remediation, jedoch erfolgt sie in zwei Schritten. Der erste Schritt besteht aus einer remedialen Intervention zur Verringerung der Verletzlichkeit und durch anschließende präventive Maßnahmen soll der therapeutische Effekt gefestigt werden.

Entwicklungsoptimierung

Dieser Schritt der Intervention kommt oft bei unauffälligen Familien zur Anwendung mit dem Ziel der Steigerung und Entfaltung der Möglichkeiten der Einzelperson und der Beziehungspartner. Es soll eine Verbesserung des Beziehungsklimas und der Beziehungsfertigkeiten erreicht werden.

Empirische Überprüfungen verschiedenster Programme hiezu ergaben jedoch nur eine mittlere bis schwache Effektivität und eine rasche Abnahme über die Zeit. Auffrischungskurse wären hier nützlich.

Wie schon weiter oben erwähnt, wäre es von Vorteil, alle Lebensräume einer Familie in das Behandlungskonzept mit einzubeziehen Þ

Beratungsfelder für eine integrative Familienberatung:

1. Familie und Gesundheit: In diesen Bereich fallen medizinische Gesundheitsberatung (Hygieneberatung, Krankheitsprävention, genetische Beratung) und psychosoziale Gesundheitsberatung (Beratung bei psychischen Problemen, Erziehungsberatung und Partnerschaftsberatung).

2. Familie und Ernährung: In engem Zusammenhang mit dem Gesundheitsbereich; familienorientierte Ernährungsberatung (Beratung im Sinne einer gesundheitsförderlichen Kostgestaltung, Beratung bei medizinischen Indikationen).

3. Familie und Ökonomie: Beschäftigt sich mit Belangen des Familienbudgets (Konsumberatung, Altersvorsorgeberatung)

4. Familie und Wohnumwelt: Hier geht es um Unterstützung beim Erwerb und bei der Gestaltung von Wohnraum für Familien (Sicherheitsberatung); familienorientierte Umweltberatung (Beratung zur Infrastruktur der Nahumgebung und ihrer Nutzungsmöglichkeiten).

5. Familie und soziale Netzwerke: Die Familie sollte hier aufmerksam gemacht werden auf soziale Unterstützungssysteme bzw. noch nicht vorhandene sollen initiiert werden (Selbsthilfegruppen, kirchliche Unterstützungsangebote).

6. Familie und Bildungssystem: Hier sollen alle Fragen behandelt werden, die das Bildungssystem betreffen (Schul- und Laufbahnberatung, berufliche Weiterbildung).

7. Familie und Beschäftigungssystem: Das Ziel der Beratung ist hier die Integration von Familien bzw. deren Mitgliedern in das Beschäftigungssystem (Berufsberatung, Beratung im Zusammenhang mit Arbeitsplatzverlust).

8. Familie und Freizeit: Hier werden Fragen der Ferien- und Freizeitgestaltung behandelt (Nutzung von Massenmedien, Möglichkeiten von Sport, Spiel und kulturellen Betätigungen).

9. Familie und Rechtssystem: Betrifft alle Fragen, bei denen die Familien mit dem Rechtssystem in Berührung kommen (Familienrecht und andere Rechtsbereiche).

10. Familie und Staat: Hier geht es um das Angebot von monetären und nicht-monetären Angeboten der Familienpolitik auf Ebene von Bund, Ländern und Gemeinden.

Da dieses reichhaltige Angebot von Beratungsmöglichkeiten nicht von einer Institution alleine getragen werden kann, sind zur Verwirklichung dieses Konzepts die folgenden 5 Punkte wesentlich:

  1. Systematische Dokumentation von Beratungsangeboten:

  2.  

     

    Eine systematische Dokumentation als hilfreiche Informationsquelle in regionaler und überregionaler Ausgestaltung;
     

  3. Vernetzung von Beratungsangeboten:

  4.  

     

    Voraussetzung hiefür ist 1.); Ziel ist eine stärkere Verknüpfung und Koordination von Beratungsangeboten zur Informationsvermittlung und zur Stärkung der Zusammenarbeit auf persönlicher und institutioneller Ebene zwischen den einzelnen Beratungsfeldern.
     

  5. Informationsabruf von Beratungsangeboten:

  6.  

     

    Hier gibt es mehrere Formen (z. B. Massenmedien), es sollten aber neben nicht-personalen Informationsquellen auch persönliche Beratung und Information angeboten werden. Ideal hierfür wäre eine Anlaufstelle auf regionaler Ebene.
     

  7. Inanspruchnahme von Beratungsleistungen
  8. Forschung im Bereich der Familienberatung
Beratungsformen

Man unterscheidet zwischen nicht-personaler und personaler Familienberatung.

1. Bei der nicht-personalen Familienberatung besteht kein unmittelbar persönlicher Kontakt zwischen dem Klienten und den Beratern. In diesen Bereich fallen alle einschlägigen Angebote der Medien (z. B. Beratungsliteratur, Hörfunk, Fernsehen, neue Medien). Es geht hier primär um die Vermittlung von Sachwissen und praktischen Kenntnissen. Der Nachteil dieser Form der Beratung ist, daß kaum eine Einstellung auf die spezifische Problemlage möglich ist und daher keine Rückmeldungen gegeben werden können. Zwischen den Angeboten gibt es außerdem teils beträchtliche Qualitätsunterschiede.

2. Bei der personalen Familienberatung ist der persönliche Kontakt gegeben. Es gibt eine Vielfalt von Gestaltungsmöglichkeiten (Setting, Zeit, Profesionalität, Schulenzugehörigkeit, Beratungsumfang, Kosten).

Obwohl der Bedarf an Familienberatung groß ist und eine hohe Nachfrage herrscht (Wartezeiten bei institutionellen Anbietern bis zu 7 Wochen), gibt es eine noch verhältnismäßig geringe Zahl von institutionellen Anbietern in Deutschland und Österreich. Im Gegensatz zu den USA, wo es bereits auf Universitäten viele Programme für Graduierte und Postgraduierte gibt, fehlt in Deutschland "ein akademisches Gegengewicht" (Schneewind, 1991, S. 298) zu den in den letzten Jahren zahlreich entstandenen nicht-institutionalisierten selbsternannten Familienberatungsstellen. Ein großes Problem besteht darin, daß es weder in Österreich noch in Deutschland professionelle Maßstäbe für die Ausbildung und Praktizierung von Familienberatung und Familientherapie gibt.

Zusammenfassung

In meinem Referat habe ich drei Formen der Intervention bei Familienberatung und Familientherapie vorgestellt: Entwicklungsoptimierung, Prävention und Remediation.

Für jede Form gibt es verschiedene Ausgestaltungsmöglichkeiten.

Ideal wäre es, den Familien ein umfassendes Beratungsangebot alle Lebensbereiche betreffend bieten zu können. Man darf die Familie nie isoliert betrachten, denn auch außerfamiliäre Ereignisse können einen großen Einfluß auf ihre Befindlichkeit haben.

Es muß aber in den folgenden Jahren noch sehr viel in Richtung Ausbildung geschehen, um eine professionelle Beratung bieten zu können, was meiner Meinung nach sehr wesentlich ist. Von vielen derzeit angebotenen alternativen Formen bin ich nicht immer so ganz überzeugt (z. B. Bioresonanz- Methode ...– ich lasse mich aber gerne überzeugen).

Literatur:

Schneewind, K. (1991). Familienpsychologie. Stuttgart: Kohlhammer.

Rödler, P. (1993). Menschen, die Lebenslang auf die Hilfe anderer angewiesen sind – Grundlagen einer allgemeine basalen Pädagogik. Frankfurt/Main: AFRA-Verlag.
 
Inhaltsverzeichnis

 9) Einstellungen zur Familie (Anita Wisberger)

Einleitung

Im Europa der letzten 20 - 30 Jahre zeichnen sich aufgrund der statistischen Daten zwei wesentliche Trends in der Entwicklung der Familien ab. Einerseits hat sich die Geburtenrate bei durchschnittlich zwei Kindern pro Familie (oft auch nur Frau) eingependelt. Das heißt, es ist im Vergleich zu früher von einem Geburtenrückgang auszugehen. Andererseits nimmt die Anzahl der Scheidungen zu und (angeblich) auch die Anzahl der Eheschließungen ab.

Allgemein werden diese Trends, vor allem von den Medien, als ein Bedeutungsverlust der Institution der Ehe und Familie interpretiert.

Wie sehen nun die Betroffenen selbst dieses Phänomen? Hat die Familie tatsächlich durch die vielfältigen Beziehungsformen und Lebensstile, die derzeit in vielen Ländern bereits nebeneinander bestehen und auch im wesentlichen toleriert werden, an Bedeutung verloren?

Im folgenden möchte ich einen kleinen Überblick über die wesentlichsten Ergebnisse verschiedener Studien geben, die sich mit der Einschätzung bzw. Einstellung der Befragten beschäftigen. Auch die laienhafte Interpretation statistischer Daten soll kurz problematisiert werden, ebenso die Vergleichbarkeit der Ergebnisse verschiedener Studien miteinander. Zu guter letzt soll noch eine Interpretation der Statistiken über die Ehescheidungen und den verringerten Kinderwunsch im Zusammenhang mit den bekundeten Einstellungen der Befragten versucht werden.

Anmerkung zur Interpretation der Daten

Was können uns die Statistiken tatsächlich mitteilen?

Ein wesentliches Faktum, das meines Erachtens oft übersehen wird, ist, daß Statistiken über Daten wie Scheidungen, Verehelichung und Kinderanzahl qualitative Merkmale erheben. Das heißt, wir können maximal die Häufigkeit, mit der etwas eingetreten ist oder eben nicht eingetreten ist, feststellen. Wir können jedoch nichts über die Ursachen, warum etwas eingetreten ist, aussagen. Es ist unter anderem auch eine Aufgabe von Psychologen, darauf hinzuweisen, daß auf Grund von Häufigkeiten keine Motivanalysen durchgeführt werden können (wir bewegen uns auf Nominalskalenniveau!). Im Falle der Interpretation der vorweg genannten Scheidungs- und Geburtenstatistiken als "Bedeutungsverlust", findet dies jedoch statt. Tatsache ist, daß ein Phänomen auftritt. Dieses Erkennen eines Phänomens kann Grundlage für weitere Forschung sein. Das Phänomen an sich kann uns jedoch keinerlei Aussagen über die Ursachen, die dazu führten, mitteilen.

Probleme der Einstellungsforschung

Diese Probleme sind bei der Interpretation der Ergebnisse immer auch mit zu bedenken.

Einige Ergebnisse zum Thema Familie, Ehe und Kinder

Etliche empirische Erhebungen, oft im Rahmen der Familiensoziologie, befaßten sich bereits mit der Erforschung von Fragestellungen zur Bedeutung von Familie, Zufriedenheit mit Familie, Bewertung der aktuellen Trends. Die dargestellten Ergebnisse wurden im Zuge umfassenderer Fragestellungen erhoben, sie befaßten sich also nicht ausschließlich mit obigen Fragestellungen.

Folgende Einstellungen/Einschätzungen werden kurz dargestellt:

  1. Bewertung der derzeitigen Trends (Geburtenrückgang, Scheidungshäufigkeit)
  2. Gründe (nach Einschätzung der Befragten) für den Geburtenrückgang – allgemein

  3.  

     

    Persönliche Gründe gegen (weitere) Kinder

  4. Subjektive Bedeutung von Familie und Kindern
  5. Gründe für Eheschließung
  6. Zufriedenheit mit der bestehenden Ehe
  7. Vereinbarkeit von Familie und Beruf
Ad 1) Bewertung der derzeitigen Trends (Geburtenrückgang, Scheidungshäufigkeit)

Die allgemeine Meinung zu den aktuellen Trends ist überwiegend negativ. Dies ist auch das Ergebnis in internationalen Studien. Das heißt, es wird als "bedenklich" empfunden, daß immer weniger Kinder pro Familie geboren werden und daß immer öfter Ehen geschieden werden. Auch die Zunahme an Alleinerziehern wird nicht gutgeheißen. Man steht jedoch den verschiedenen Lebensformen zunehmend toleranter gegenüber. Die Toleranz ist allerdings abhängig von der Verbreitung der jeweiligen Lebensformen in einem Land (Gewöhnungseffekt).

Ad 2) a) Gründe (nach Einschätzung der Befragten) für den Geburtenrückgang - allgemein

b) Persönliche Gründe gegen (weitere) Kinder: Ad 3) Subjektive Bedeutung von Familie und Kindern

Die subjektive Bedeutung von Familie und auch von Kindern ist allgemein sehr hoch. Auch im internationalen Vergleich wird der Wert einer eigenen Familie, und für Jugendliche als Zukunftsperspektive, der Wert eigener Kinder, als wesentlicher Wert im eigenen Leben betrachtet und auch angestrebt. Die Ehe wird keineswegs als überholte Einrichtung empfunden.

Vor allem Kinder sind nach wie vor ein vorrangiger Wert im Leben der Menschen.

Die überwiegende Mehrheit hat Kinder gerne um sich und gibt auch an, daß die engste Beziehung, die man haben kann, jene zu den eigenen Kindern ist (Ausnahme: NL mit nur 36% Zustimmung).

Ad 4) Gründe für Eheschließung

Als einer der häufigsten Gründe für die Entscheidung zu einer Ehe wird nach wie vor ein vorhandener Kinderwunsch bzw. eine bestehende Schwangerschaft genannt.

Wobei vieles darauf hinweist, daß nicht so sehr auf Grund äußerer Faktoren (Meinung der anderen, Benachteiligung von unehelichen Kindern und ledigen Müttern,..) eine Ehe geschlossen wird, sondern, daß man die Ehe als die richtige Sozialisationsinstanz für Kinder ansieht. Weiters erwartet man zunehmend die Erfüllung grundlegender emotionaler Bedürfnisse im Zusammenhang mit der Ehe. Ein Zeichen für den Bedeutungswandel, dem die Institution der Ehe in den letzten 20 Jahren unterlegen ist. Waren früher hauptsächlich externe Faktoren ausschlaggebend, so nehmen derzeit die persönlichen (internen) Gründe zu. Das heißt aber auch, daß es zu einer sehr hohen Erwartung an die Ehe kommt, welche sich bei Frustration in der Zunahme der Scheidungshäufigkeiten niederschlägt. Auch wirkt sich die veränderte rechtliche Lage, die eine leichtere Revision dieser Entscheidung zuläßt, auf die Anzahl der Scheidungen aus.

Ad 5) Zufriedenheit mit der bestehenden Ehe

Ein interessantes Ergebnis liefert die Befragung nach der Zufriedenheit mit der bestehenden Ehe. Die Mehrheit aller Befragten, sowohl Männer als auch Frauen, gibt an, mit ihrer bestehenden Ehe zufrieden zu sein. Und, auch im internationalen Vergleich, sind Männer sogar noch zufriedener als Frauen. Die Konfliktwahrnehmung ist zwar gestiegen und viele haben bereits Krisen in ihrer bestehenden Ehe erfahren, die positive Bewältigung solcher Krisen scheint sich jedoch in der Folge auf die Zufriedenheit auszuwirken. In diesem Zusammenhang dürfen jedoch die eingangs erwähnten Probleme bei der Interpretation solcher Ergebnisse nicht vergessen werden. Die Unterscheidung, ob es sich um eine kurzfristige Reaktion auf äußere Faktoren (bzw. einen aktuellen Zustand) oder um ein überdauerndes Merkmal handelt, ist schwierig und wahrscheinlich auf Grund dieser Daten nicht eindeutig möglich.

Ad 6) Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist, wie könnte es anders sein, vorwiegend ein Problem der Frauen. Sie sind nach wie vor mehrheitlich davon betroffen, das "time-management", welches in zunehmenden Ausmaß mit der Kindererziehung verbunden ist, im Griff zu haben. Es wurden daher in einer internationalen Erhebung (1) Frauen zwischen 20 und 39 Jahren zu diesem Thema befragt. Die Mehrheit hält Kinder und einen Vollzeitjob nicht für vereinbar. In den ehemaligen Ostblockländern (CZ, SL) sind sogar 67% der befragten Frauen dafür, daß frau keinen Job haben sollte, wenn Kinder vorhanden sind. Dies dürfte unter anderem auf die zunehmend gespannte Lage am Arbeitsmarkt zurückzuführen sein. Diese begünstigt die "Zurück-an-den-Herd-Mentalität". Die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß nach einer Kinderpause ist dadurch erheblich erschwert. Lediglich bei den Italienerinnen können sich 11% vorstellen, sogar einen Vollzeitjob mit mehreren Kindern in Einklang bringen zu können. Allgemein wird Teilzeitarbeit für die Mütter als Lösung des Konfliktes "Familie - Beruf" angesehen und von der Politik werden mehr und innovative Maßnahmen erwartet, welche diesen Konflikt entschärfen.

Zusammenfassung

Die aktuellen Trends in der Entwicklungen der Ehe- und Geburtenstatistiken werden allgemein negativ bewertet, trotzdem nimmt die Toleranz gegenüber anderen Lebensstilen zu.

Als Gründe für die Geburtenrückgänge werden sowohl persönliche Gründe ("Egoismus"), als auch allgemeine Faktoren genannt (ökonomische, soziale, politische) gesehen. Für die persönliche Entscheidung gegen (weitere) Kinder ist, vor allem in den Wohlstandsländern (Ö, D, NL, CH) ausschlaggebend, daß die gewünschte Kinderanzahl bereits erreicht ist. In den ärmeren Ländern wird vor allem der eigene (schlechte) Gesundheitszustand und die Wohnverhältnisse als Grund gegen (weitere) Kinder angegeben. Bei allen Befragungen konnte festgestellt werden, daß Ehe, Familie und Kinder keineswegs an Bedeutung verloren haben - eher im Gegenteil. Allerdings haben sich die Ansprüche, welche an eine Ehe und auch an die Kindererziehung gestellt werden, geändert. Standen früher vorwiegend materielle Gründe für eine Ehe und auch für Kinder im Vordergrund, und war die Familie ein multifunktionaler Ort, so sind derzeit sehr hohe emotionale Erwartungen an die Ehe geknüpft, und die Aufgabe der Ehe wird vorwiegend in der Sozialisation der Kinder gesehen. Das heißt, es kommt zu einer zunehmenden Spezialisierung der Funktion der Familie. Die Innenzentrierung der Ehepartner auf die Familie nimmt zu, gleichzeitig nimmt aber auch die Wichtigkeit von äußeren Sozialkontakten des einzelnen Ehepartners zu. Vor allem Frauen betonen die Bedeutung von eigenen Sozialkontakten. Möglicherweise entsteht so eine Wechselwirkung zwischen dem "In-System" (Familie) und dem "Out-System" (restliche Beziehungen), welche zu den bekundeten hohen Zufriedenheitswerten beiträgt (2). Politische Maßnahmen, welche die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern würden, wären nach Sicht der Betroffenen wünschenswert. Allgemein dürften die hohen Erwartungen an die Ehe und die Ansprüche im Zusammenhang mit der Kindererziehung, aber auch die zunehmende Sensibilisierung für Konflikte häufig zu einer Überforderung des Systems "Familie" führen.

Stellungnahme

Vor allem die Interpretation des Bedeutungswandels der Ehe und die damit zusammenhängenden Ansprüche, die an eine Lebensgemeinschaft gestellt werden, scheinen mir beachtenswert. Wie sich in den Untersuchungen zeigt, ist die Aufmerksamkeit für Konflikte gestiegen. Dies geht aber nicht zwangsläufig einher mit einer gestiegenen Konfliktfähigkeit. Es ist anzunehmen, daß über die tatsächlichen Erwartungen, mit denen in eine Ehe hineingegangen wird, vorher nur äußerst selten explizit gesprochen wird. Da viele Ehen in jungen Jahren eingegangen wird, stellt sich die Frage, ob sich die Betroffenen überhaupt selbst im klaren sind, welche Ansprüche sie haben. In einer Gesellschaft, deren Werte wesentlich auch von den Medien mitbestimmt werden, spukt das Modell der Familie als Ort der Geborgenheit und des emotionalen Rückhaltes in den Köpfen der Leute. Dies ist nicht gleichbedeutend mit konfliktfreiem Raum. Nichtsdestotrotz scheint dies aber oftmals stillschweigend angenommen zu werden. Konflikte können sowohl innerhalb des Systems auftreten, als auch in der Interaktion des Systems mit der Außenwelt und auch des einzelnen als Teils sowohl inner- als auch außerfamiliärer Systeme. Es kommt also in der Realität zu vielfältigen Wechselwirkungen, welche wiederum Anlaß für Konflikte sein können und diese finden auch ihren Niederschlag in der Familie. Problematisch erscheint vor allem die überwiegend negative Konnotation von Konflikten. Häufig werden sie als Bedrohung für das bestehende System empfunden. Es wäre daher eine Umdeutung von "Bedrohung" zu "Herausforderung" notwendig, um das produktive Potential, welches Konflikte auch beinhalten, mehr herauszustellen. Allerdings scheint derzeit noch ein Mangel an Modellen (Vorbildern) im Umgang mit Konflikten zu herrschen. Die Neigung, eher die Flucht (in die nächste Beziehung) zu ergreifen, statt sich einer Herausforderung zu stellen, ist groß. Ein weites Betätigungsfeld für systemische Familientherapeuten steht also offen.

Ein weiterer Faktor, der durchaus bezeichnend für unsere derzeitige Lebensform ist, ist die Kurzlebigkeit. Diese symbolisiert sich auf den Ebenen des familiären Geschehens ebenso, wie im Umgang mit den Dingen des Alltags. Alles scheint austauschbar, auch die Familie. Die rechtlichen Erleichterungen in bezug auf Trennungen und also einer Revision der Entscheidung zur Ehe sind "Gott sei Dank" ein gegebenes Faktum. Vielleicht sollte man aber für die Zukunft doch einen Ehevertrag, der bewußt von den Partnern mit gestaltet wird, als Grundlage jeder Ehe einführen. Es könnte (sollte) zu einer Auseinandersetzung (im Sinne des Wortes: sich mit etwas/jemanden auseinandersetzen, unterschiedliche Einstellungen klären) der Partner bereits im Vorfeld der Ehe kommen. Vielleicht sollten Mediatoren nicht erst im Zuge der Scheidung eingesetzt werden, sondern bereits bei "Vorbereitungslehrgängen" zu einer Ehe als "Katalysator" dienen. Sie könnten die Möglichkeit zur Kommunikation über die jeweiligen Erwartungen an die Ehe schaffen und so vielleicht einiges vorweg klären.

Faktoren wie die festgestellte Kurzlebigkeit, aber auch ein Mangel an traditionellen Werten und Umgangsformen führen auf der emotionalen Ebene zu Bedürfnissen, welche sich unter anderem auch in den Erwartungen an die Ehe äußern. Auch die hohe Bedeutung, die Kinder derzeit haben, spiegelt diese Bedürfnisse wieder. Diese hohe Wertigkeit von Kindern in unserer Zeit findet jedoch auch ihren Niederschlag in den Ansprüchen, welche Mütter/Väter an ihr eigenes Erziehungsverhalten haben. Sie sind sich zunehmend ihrer Bedeutung als Sozialisationsinstanz bewußt, was aber oft Verunsicherung zur Folge hat (Pädagogisierung der Kindheit). So müssen sie oft die Erfahrung machen, daß hohe Ansprüche mit großem Zeitaufwand und auch mit hoher psychischer und physischer Belastung einhergehen. Die Konsequenz aus dieser Erkenntnis: viele empfinden ein Kind als anstrengend genug und wollen kein weiteres mehr.

Zusammenfassend kann vielleicht gesagt werden, daß überhöhte Ansprüche, sowohl im Zusammenhang mit der Kindererziehung als auch mit der Institution Ehe in Kombination mit erhöhtem Problembewußtsein und mangelnder Konfliktfähigkeit eine Mischung ergeben, welche unter anderem auch zur erhöhten Scheidungsrate und Geburtenrückgängen führt.
 
 

Literaturverzeichnis

Gisser, R., Holzer, W., Münz, R & Nebenführ, E. (1995). Familie und Familienpolitik in Österreich. Wissen, Einstellungen, offene Wünsche, internationaler Vergleich. Wien: Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie.

Nave-Herz, R. (1989). Zeitgeschichtlicher Bedeutungswandel von Ehe und Familie in der Bundesrepublik Deutschland. In R. Nave-Herz & M. Markefka (Hrsg.), Handbuch der Familien- und Jugendforschung (Bd. 1) (S. 211 - 221). Neuwied: Luchterhand.
 
 
 

Inhaltsverzeichnis

10) Nichteheliche Lebensgemeinschaften(Petra Stögerer)

Einleitung

In meinem Referat beschäftigte ich mich mit der Thematik der "nichtehelichen Lebensgemeinschaften" sowie mit "nichtkonventionellen Lebensformen".

Die Ehe als soziale Institution ist sehr alt. Das Ziel dieser Institution scheint zu sein, der Gemeinschaft gegenüber zu betonen, daß eine Frau mit einem Mann eine Einheit bildet und daß die Kinder, die von der Frau geboren werden, ebenso zu dieser Gemeinschaft zählen.

Heutzutage gibt es eine Vielzahl nichtehelicher Lebensgemeinschaften mit eheähnlichem Charakter, zum Beispiel in Südamerika, der Karibik und den USA. Dort findet oftmals aus ökonomischen Gründen keine Heirat statt. Das Fest selbst und die Einladung von Freunden etc. sind zu teuer beziehungsweise ist kein eigener Haushalt vorhanden. Wenn dann zu einem späteren Zeitpunkt mehr Geld vorhanden ist, verbleiben die Paare oft aus Gewohnheit in der eheähnlichen Gemeinschaft.

In Schweden zogen Ende des 19. Jahrhunderts viele Menschen aufgrund der starken Industrialisierung nach Stockholm, wo großer Wohnungsmangel herrschte. Viele hatten keinen eigenen Haushalt, konnten deshalb nicht heiraten, sondern es lebten mitunter mehrere Paare unverheiratet in einem Haushalt zusammen. Diese Lebensform genoß allerdings kein besonderes Ansehen und wurde nur als Durchgangsstadium bis zur Eheschließung betrachtet. Außerdem gab es in Schweden um 1900 nur die Staatskirche, wodurch eine Heirat nur kirchlich möglich war. Die Forderung nach Einführung der standesamtlichen Eheschließung brachte den Wunsch nach Entscheidungsfreiheit zwischen kirchlicher und standesamtlicher Trauung zum Ausdruck. Eine weitere Form von nichtehelicher Lebensgemeinschaft stellt das sogenannte "Living Apart Together" dar, das vor allem in den Niederlanden praktiziert wird. Beide Partner haben eine eigene Wohnung und wohnen teilweise zusammen.

Hauptteil

Veränderung der Heiratsquoten

In der Folge möchte ich den rapiden Rückgang der Eheschließungsquoten anhand der beiden Staaten USA seit Mitte der siebziger Jahre und Schweden seit 1966 veranschaulichen. Dieser Rückgang ist in ganz Europa zu beobachten, wobei aber Dänemark, Schweden, die Niederlande sowie Deutschland führend sind. Außerdem zieht sich der Rückgang quer durch alle Altersgruppen, jedoch kann man folgende Aussage ziehen: je jünger die Paare sind, desto größer ist der Rückgang.

Allerdings bedeutet der Rückgang der Eheschließungsquote keinen Anstieg der Quote der Alleinlebenden, da dieser Rückgang durch den Anstieg der nichtehelichen Lebensgemein

schaften quantitativ mehr als ausgeglichen wird. Nun möchte ich anhand von zwei Tabellen die Eheschließungsquoten illustrieren.
 
 

Eheschließungsraten auf 1000 nichtverheirateter Frauen in Schweden und USA
 
 
USA
Schweden
Alter
1966
1983
Differenz (in %)
1966
1983
Differenz (in %)
18 - 19
163
75
-54
39
4
-90
20 - 24
262
116
-56
194
41
-79
25 - 29
189
127
-33
175
72
-59
30 - 34
135
98
-27
87
55
-37

Eheschließungsquoten lediger Frauen
 
 
1965
1970
1875
1980
1981
Diff. (%)*
Belgien
100
98
89
79
75
-25
Dänemark
97
81
66
53
50
-48
England u. Wales
101
105
88
77
71
-30
Finnland
93
94
71
67
68
-27
Frankreich
99
92
86
71
67
-32
BRD
110
97
76
66
64
-43
Italien
102
101
93
77
73
-28
Niederlande
113
106
83
69
65
-42
Norwegen
93
96
80
65
65
-30
Spanien
98
100
102
74
68
-31
Schweden
96
62
63
52
53
-45
* Unterschied 1965 - 1981

Begriff der nichtehelichen Lebensgemeinschaft:

In der Folge möchte ich einige Definitionen über nichteheliche Lebensgemeinschaften zitieren, so zum Beispiel jene von Macklin (1972), der diese Lebensform folgendermaßen beschreibt: Jemand teilt mit einer Person des anderen Geschlechts mindestens vier Nächte pro Woche innerhalb einer Zeitspanne von mindestens drei aufeinanderfolgenden Monaten das Schlafzimmer. Diese Definition, ebenso wie die von Brunborg (1978), Montgomery (1975) und viele andere mehr wählen eindeutig als zentrales Kriterium ihrer Begriffsbestimmung das Sexualverhalten.

Im Vergleich zur Ehe wird die nichteheliche Lebensgemeinschaft zumeist als "das Zusammenleben von zwei erwachsenen Personen verschiedenen Geschlechts in einem gemeinsamen Haushalt unter eheähnlichen Bedingungen, jedoch ohne ihre Beziehung durch Heirat legitimiert zu haben" beschrieben (siehe Alnebring, 1973 und Näsholm, 1972). Die Begriffsbestimmung erfolgt meist über die Festlegung bestimmter Merkmale, wie sexuelle Beziehung, gemeinsames Wohnen, Essen beziehungsweise gemeinsame Haushaltskassa.

Entwicklung von nichtehelichen Lebensgemeinschaften:

Vor der Christianisierung war die Eheschließung alleinige Angelegenheit der Familien, ohne Bedeutung für den Staat. Während der Verbreitung des Christentums forderte die Kirche die religiöse Trauung als ausschließlich konstituierende Form der Eheschließung; trotzdem blieb es weiterhin Tradition, daß das Händeschütteln als Zeichen gültiger Eheschließung galt.

Heute handelt es sich bei vielen nichtehelichen Lebensgemeinschaften genau genommen um voreheliche Lebensgemeinschaften, das heißt diese Paare heiraten zu einem späteren Zeitpunkt. In Dänemark und Schweden haben fast 100 Prozent der Paare vor der Ehe eine nichteheliche Lebensgemeinschaft, in den USA nur fünf Prozent; aber auch dort nahm die Anzahl der vorehelichen Lebensgemeinschaften seit 1970 stark zu. In Dänemark und Schweden haben 45 Prozent der nichtehelich zusammenlebenden Paare Kinder, in Deutschland verzichtet man eher innerhalb einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft auf Kinder beziehungsweise heiratet bei Kinderwunsch oder Schwangerschaft.

Frauen in nichtehelichen Lebensgemeinschaften in % zu allen Frauen
 
 
20 - 24
25 - 29
30 - 34
Dänemark 1981
65
29
13
Frankreich 1980/81
16
6
2
Großbritannien 1980
11
6
2
Schweden 1980
75
40
17
Das Zusammenziehen der Paare erfolgt entweder zu einem im voraus bestimmten Zeitpunkt, oder es handelt sich um einen sukzessiven Prozeß, bei dem der einzelne im nachhinein nur schwierig einen bestimmten Zeitpunkt angeben kann.

Gründe für und gegen eine Eheschließung

Früher wurde eine nichteheliche Lebensgemeinschaft häufig als Protest gegen die Ehe als soziale oder religiöse Institution begründet. Auch spielte die Ideologie der Privatheit eine Rolle. Heutzutage wird Heirat nicht mehr als Notwendigkeit bewertet; dennoch gehen viele bereits länger zusammenlebende Paare aus traditionellen Gründen eine Ehe ein. Schwangerschaft und Kinderwunsch sind noch immer gute Gründe für eine Eheschließung, während Faktoren wie "Abschluß der Ausbildung und Übernahme einer beruflichen Tätigkeit" sowie "günstige Wohnungsangebote" keine wesentliche Bedeutung mehr zukommt. Die Vermutung, daß voreheliches Zusammenleben eine selektive Wirkung hätte, ist nicht haltbar, da eine negative Korrelation zwischen der Zeitspanne des vorehelichen Zusammenlebens und der Scheidungsrate nicht nachgewiesen werden konnte.

Trennung

Da keine gravierenden Unterschiede zwischen ehelichem und nichtehelichem Zusammenleben bestehen, gibt es auch keine Unterschiede zwischen einer Ehescheidung und der Auflösung einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Juristische Unterschiede bestehen allerdings hinsichtlich Vermögensteilung, Erbschaft und Pensionsansprüchen. Immer mehr Staaten sind bestrebt, die nichteheliche Lebensgemeinschaft auch hinsichtlich der rechtlichen Aspekte der Ehe gleichzustellen.

Bis jetzt habe ich mich zwar mit Ehe und nichtehelichen Lebensgemeinschaften auseinandergesetzt, bin aber noch nicht näher auf andere nicht traditionelle Lebensformen eingegangen. Zu den nichtkonventionellen Lebensformen werden außer nichtehelichen Lebensgemeinschaften auch noch Singles, Alleinerzieher und Stieffamilien etc. gezählt. Definitionsgemäß ist eine konventionelle Lebensform nämlich eine "durch Eheschließung legitimierte, auf lebenslange Dauer angelegte, sexuell exklusive Partnerschaft zwischen einem Mann und einer Frau mit Kindern und einer klaren geschlechtsbezogenen Rollenteilung mit dem Mann als Ernährer und höchster Autorität". Demgemäß sind bereits Familien mit einer voll berufstätigen Mutter, sogenannte "dual career families", nichtkonventionell.

Man muß bei dieser Definition von Lebensformen zwei Kriterien beachten: einerseits die Binnenstruktur, das heißt die Beziehungsmuster zwischen Geschlechtern und Generationen einer Lebensform, Arbeitsteilung, Macht- und Entscheidungsstrukturen, Partnerschaftstyp, Bildungsunterschiede, Nationalitäten, und andererseits die Entstehungskontexte der jeweiligen Lebensform, das heißt Grad der Freiwilligkeit des Zustandekommens, Zeithorizont, Hintergründe und Motive sowie die an die Lebensform gerichteten subjektiven Erwartungen und Sinnzuschreibungen. Wenn man Familien anhand ihrer äußeren Strukturmerkmale betrachtet, sagt es immer weniger über das tatsächliche Leben der Personen aus, wenn man weiß, in welcher Lebensform diese Person lebt. Wenn man die individuellen Kontexte nicht kennt, kann dies leicht zu falschen Schlußfolgerungen führen. Die beiden traditionellen Merkmale, Familie und Blutsverwandtschaft, verloren stark an Bedeutung für den Lebensvollzug vieler Menschen.

Lebensformen mit äußerlich gleichen Strukturmerkmalen differieren also hinsichtlich ihrer Binnenstruktur, ihrer Entstehungszusammenhänge, aber auch betreffend ihre subjektiven Sinnzuschreibungen so erheblich, daß eine solche Kategorisierung fast zwangsläufig zu unrichtigen Schlußfolgerungen führen muß. Die Motive und Umstände des Zustandekommens von Lebensformen müssen berücksichtigt werden.

Die nichtkonventionellen Lebensformen sind strukturell betrachtet nicht neu, sondern nur ihre Entstehungskontexte und gesellschaftliche Akzeptanz. Heute entstehen diese Lebensformen infolge einer freien Wahl, und sie sind nicht mehr diskriminiert. Der Trend zu nicht-konventionellen Lebensformen setzt ökonomische Unabhängigkeit der Frau vom Mann voraus. Stichworte sind Autonomie, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung. Variiert wird hinsichtlich des Familienstandes, der Elternschaft, des biographischen Timings und der Dauer der Lebensformen, nicht aber hinsichtlich der Partnerschaft; hier ist weiterhin die dyadische heterosexuelle Partnerbeziehung vorherrschend. Alternative Lebensformen mit mehr als zwei Partnern sowie homosexuelle Paare kommen nach wie vor relativ selten vor.

Allerdings führte der gesellschaftlicher Modernisierungsprozeß zur Individualisierung der Lebensverläufe. Es gibt fast überhaupt keine erweiterten Familien- haushalte mehr, das heißt Haushalte mit Personen, die nicht zur Kernfamilie gehören, kaum Familien mit mehr als zwei Kindern. Die Binnenstruktur der Familie änderte sich durch die wachsende Emanzipation von Frau und Kindern. Nur während der Karenzzeiten kommt es in meisten Familien zu einer dauerhaften Retraditionalisierung der Geschlechterrollen.

Die Familie kann gleichzeitig moderne und traditionelle Merkmale aufweisen, etwa in Form von Gleichberechtigung der Geschlechter bei gleichzeitig eingeschränkten Scheidungsmöglichkeiten. Solche Muster sind instabil, sie treten als Zwischenstufen im Verlauf sozialen Wandels auf. Man kann sagen, daß die gesellschaftliche Modernität mit den gesellschaftlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten variiert, individuelle Modernität mit den individuellen Fähigkeiten, sich selbstbestimmt und reflektiert für bestimmte Alternativen zu entscheiden, und diese kreativ gestalten zu können, und familiale Modernität mit dem Maß an Gleichberechtigung aller Familienmitglieder. Biographische Entscheidungen werden häufig nur für begrenzte Lebensabschnitte getroffen, regel- mäßig überprüft und gegebenenfalls revidiert. Die Elternschaft allerdings stellt, besonders für die Frauen, eine schwer revidierbare und zumeist langfristig bindende Entscheidung dar. Elternschaft durchdringt modernes Leben

mit traditionellen Momenten und führt zu Widersprüchlichkeiten und Inkompatibilitäten im Kontext des Lebensvollzuges. Nichtkonventionelle Lebensformen sind dann als modern zu betrachten, wenn es sich um eine Lebensform handelt, in der kein Partner strukturell benachteiligt wird. Daher muß man auch Ehe und Familie als moderne Lebensform bezeichnen.
 

Zusammenfassung

Resumierend möchte ich nochmals auf die Abnahme der Heiratsquoten in den letzten 30 Jahren hinweisen, und darauf, daß es dadurch zu keiner wirklichen Zunahme der Singles kam, sondern zu einer stark steigenden Zahl von nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Immer mehr Paare, die heiraten, leben zuvor in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft zusammen, entschließen sich später dann häufig doch zur Eheschließung als Bestätigung der Paarbeziehung. Kinderwunsch und Schwangerschaft spielen dabei eine zentrale Rolle.

Nichteheliche Lebensgemeinschaften werden immer mehr als "normal" betrachtet, diese Lebensform wird von ihrer Bedeutung her allmählich der Ehe angeglichen in vielen Staaten der westlichen Welt. Es ist das Bestreben vieler, auch die noch bestehenden Unterschiede, zumeist juristischer Natur, bei Auflösung, Trennung oder Tod eines Partners betreffend das Sorgerecht für die Kinder, die Aufteilung des Besitzes und das Wohn- und Erbrecht allmählich zu egalisieren.

Persönliche Stellungnahme

Ich möchte zu diesem Thema gerne Stellung nehmen, da mich ein großes persönliches Interesse mit der Fragestellung verbindet. Nach meiner elfjährigen, mittlerweile geschiedenen Ehe, aus der auch meine beiden Kinder, sieben und fünf Jahre alt, stammen, lebe ich seit ungefähr einem halben Jahr mit einem neuen Partner zusammen, sozusagen in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft. Ich kann im Alltagsleben keinen Unterschied feststellen zu einer ehelichen Lebensgemeinschaft und finde auch, daß man nichteheliche Lebensgemeinschaften immer mehr, auch rechtlich, an Ehe angleichen sollte. Dies würde für alle Beteiligten Vorteile und neue Rechte bringen, ein Faktum, was vor allem für etwaige der Beziehung entstammende Kinder hinsichtlich Erbrecht, Pensionsansprüchen etc. wichtig wäre. Klarerweise würden die Partner allerdings auch mehr Verpflichtungen eingehen.

Prinzipiell glaube ich, daß der Ehe immer mehr ideelle Bedeutung als rechtliche und gesellschaftlich notwendige zukommt. Persönlich gibt es für mich im Stellenwert zwischen Ehe und nichtehelicher Lebensgemeinschaft keinen Unterschied.

Literaturverzeichnis

Schneider, N. (1996). Familien im Modernisierungsprozeß. Soziologische Betrachtungen. Bamberg: Universität, Staatsinstitut für Familienforschung.

Trost, J. (1989). Nichteheliche Lebensgemeinschaften. In R. Nave-Herz & M. Markefka (Hrsg.), Handbuch der Familien- und Jugendforschung. Familienforschung (Bd. 1) (S. 363-373). Neuwied: Luchterhand.
 
 
 

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11) Grundlagen der Bindungstheorie (Brigitta Wiesmüller)

1. Einleitung

Die moderne Bindungsforschung hat das von Sigmund Freud entworfene Bild des Neugeborenen und Kleinkindes teilweise ad absurdum geführt. Das menschliche Neugeborene ist weder eine "tabula rasa" d.h. ein "unbeschriebenes Blatt" noch das "polimorph-perverse Triebbündel", das Freud in ihm sah. Außerdem entsprach es diesem Zeitgeist, das Neugeborene als ein eigensüchtiges, gieriges Wesen anzusehen, dessen Triebe durch Erziehung gezähmt werden müssen, damit es ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden könne.

Hierzu ist interessant, was Anna Freud 1952 meinte:

Wenn der kleine Säugling über eine entsprechende Muskelkraft verfügte, wäre er das gefährlichste Individuum, das man sich vorstellen kann. Er wäre eine Art Orang-Utan, der durch die Gegend streift, nach allen Seiten Schläge austeilt und sich nimmt, was immer er haben will. Vor diesem gefährlichen Individuum sind wir nur durch die Tatsache geschützt, daß es sich nicht bewegen, nicht gehen und nicht greifen kann und keine Kraft hat. Es ist ein Glück, daß wir mit wachsender Körperkraft auch ein zunehmend funktionsfähiges Ich erwerben, das diese Kraft automatisch kontrolliert. (Freud, 1993, in Spangler und Zimmermann, 1995) 2. Innere Arbeitsmodelle von Bindung

2.1 Allgemeine Beschreibung von Bindung

Bindungsverhalten begleitet den Menschen von der Geburt bis zum Tod (Bowlby, 1979, zitiert nach Spangler & Zimmermann, 1995). Schon das Neugeborene ist mit einem Verhaltensrepertoire ausgestattet, das dazu dient, die Nähe zur Pflegeperson aufrecht zu erhalten. Durch das Pflegeverhalten der Eltern bildet sich das Bindungsverhalten des Kindes. Das Bindungsverhalten entwickelt sich stufenweise. Mit etwa sechs Monaten formt sich das Kind ein Bild von seiner Bezugsperson. Es hat bereits die Fähigkeit entwickelt, auch dann nach seiner Bindungsperson zu suchen, wenn diese nicht anwesend ist. Mit dieser Errungenschaft treten nun Kummergefühle bei einer Trennung auf. Ab diesem Zeitpunkt ist das Kind zu einer festen Bindung fähig. Über das Bindungsverhalten und die Reaktionen der Bindungspersonen entwickelt das Kind eine innere Repräsentation von Bindung, das sogenannte innere Arbeitsmodell von Bindung.

2.2 Aufbau innerer Arbeitsmodelle

Viele Autoren gehen davon aus, daß die inneren Arbeitsmodelle von Bindung aktive Konstruktionen sind, die im Prinzip auch jederzeit wieder neu umstrukturiert werden können.

Solche Neuorganisationen sind aber sehr schwierig, da ein einmal strukturiertes Modell dazu tendiert, auch unbewußt zu wirken und Veränderungen zu widerstehen. Es stellt sich nun die Frage, wie ein Kind sein eigenes Beziehungsmodell konstruiert. Man geht davon aus, daß das Arbeitsmodell einer konkreten Eltern-Kind-Beziehung sich aus Handlungen des Kindes, den folgenden Konsequenzen und den Eltern-Kind-Interaktionen heraus entwickelt.

Man geht davon aus, daß schon sehr kleine Kinder ihre Bindungsmodelle entwickeln. Da jedes Bindungsmodell von der Bindungsfigur und von bindungsrelevanten Ereignissen abhängig ist, entwickeln sich von Anfang an unterschiedliche Modelle bei Kindern. Jedoch führt dies nicht, wie theoretisch möglich, zu einer unendlichen Varianz von Bindungsmodellen, es lassen sich vielmehr die wesentlichen Unterschiede der Modelle zu einigen wenigen zentralen Kategorien zusammenfassen.

  1. Differentielle Beschreibung innerer Arbeitsmodelle von Bindung
Bindungsmodelle in ihren entwicklungsbedingt unterschiedlichen Ausprägungen lassen sich recht genau beschreiben. In den entwicklungsbedingten Unterschieden der verschiedenen Altersstufen lassen sich dennoch immer wieder die gleichen zugrundeliegenden Strukturen finden. Ein einjähriges Kind setzt sein Arbeitsmodell direkt in Verhalten um, ein sechsjähriges Kind verschlüsselt sein Arbeitsmodell bereits in die Art des Dialogs, den es mit seiner Mutter führt. Beim Erwachsenen läßt sich das Arbeitsmodell am besten daran erkennen, wie er über bindungsrelevante Themen spricht, wenn er aufgefordert wird, sich an seine Bindungserfahrungen zu erinnern.

2.3.1 Das sichere Modell

Ein sicher gebundenes Kind bringt Vertrauen in die Verfügbarkeit seiner Bindungsperson. Das Kind kann die Bindungsperson als sichere Basis benützen um beispielsweise eine fremde Umgebung zu erforschen. Auch wenn die Bezugsperson den Raum verlassen hat, empfindet es sie noch als anwesend und beginnt sich erst allmählich zu sorgen, wenn sie länger nicht zurückkommt. Kommt sie zurück, sucht das Kind Trost bei ihr, läßt sich schnell wieder beruhigen, und kann so sein Erkundungsverhalten fortsetzen. Die Rückkehr der Bindungsperson bestärkt das Kind also im Glauben an ihre Verläßlichkeit. Allgemein gesagt werden negative Gefühle, in diesem Fall die Trennung, mit diesem Modell in insgesamt positive übergeleitet, in diesem Fall die Bestätigung eines guten Ausganges.

Entsprechende Verhaltensweisen lassen sich auch bei sicher gebundenen älteren Kindern und Erwachsenen finden.

2.3.2 Das unsicher-ambivalente Modell

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder erleben ihre Bindungsperson als nicht berechenbar. Diese Kinder sind unruhig, ihr Bindungssystem ist chronisch aktiviert. Aufgrund ihrer Erfahrungen suchen sie die Nähe ihrer Bezugsperson schon vor deren Abwesenheit. Durch diese permanente Aktivierung ihres Bindungssystems ist ihr Erkundungsdrang stark eingeschränkt. Verläßt die Bindungsperson den Raum, erleben diese Kinder die Trennung als sehr stark belastend. Die Kinder werden in der Erwartung bestärkt, daß die Bezugsperson wieder nicht verfügbar ist. Kehrt die Bezugsperson nun zurück, zeigen die Kinder ein ambivalentes Verhaltensmuster. Einerseits suchen sie die Nähe zur Bindungsfigur, andererseits reagieren sie wütend und verärgert. Da nie eine positive Erwartungshaltung aufgebaut wurde, können die negativen Gefühle nicht in positive transferiert werden. Die Unberechenbarkeit der Bezugsperson läßt unsicher-ambivalent gebundene Kinder aufgrund ihrer Anhänglichkeit lange als unreif erscheinen. Selbst eine einstündige Trennung wirkt als Bedrohung auf die Kinder.

Unsicher-ambivalent gebundene Erwachsene sind charakterisiert durch Verwirrtheit, Widersprüchlichkeit und besonders wenig Objektivität, wenn sie über ihre Beziehungen Auskunft geben sollen. Sie sind in früheren Bindungserfahrungen gefangen, dabei aber passiv, ängstlich oder ärgerlich den Bezugspersonen gegenüber.

2.3.3 Das unsicher-vermeidende Modell

Unsicher-vermeidend gebundene Kinder wirken in fremden Situationen wenig beunruhigt, sie vermeiden sogar die Nähe zur wiederkehrenden Bindungsfigur. Dieses Bindungsmodell hat sich durch frühere oftmalige Zurückweisung durch die Bezugsperson entwickelt. Um nun die Wahrscheinlichkeit für eine solche schmerzhafte Zurückweisung zu verringern, machen sich diese Kinder die Strategie der Vermeidung zu Nutze. Sie versuchen ihre Verunsicherung nicht mehr zu zeigen und suchen auch nicht mehr die Nähe der Bezugsperson, da sie von ihr keine Auflösung dieser Verunsicherung mehr erwarten. Auch hier ist keine Umwandlung negativer Gefühle in eine positive Erwartungshaltung möglich, die Kinder versuchen aber, im Gegensatz zum ambivalenten Modell, negative Gefühle gegenüber der Bezugsperson nicht zum Ausdruck zu bringen.

Bei älteren Kindern äußert sich das Modell folgendermaßen: Sie sprechen zwar höflich, aber sehr distanziert zur Bindungsperson. Die Antworten sind kurz und auf das Nötigste beschränkt. Seitens des Kindes besteht kein Interesse an einem Dialog, da es mögliche abwertende Reaktionen der Bezugsperson vermeiden will. Das Kind wirkt, als hätte es eine unsichtbare Mauer um sich aufgebaut.

Entsprechend entwickeln sich solche Kinder zu zurückgezogenen distanzierten Erwachsenen.

2.3.4 Das unsicher-desorganisierte Modell

Über das unsicher-desorganisierte Modell gibt es noch wenig konkrete Aussagen. Zu erwähnen wäre jedoch, daß unsicher-desorganisierte Kinder nicht in der Lage sind, eine klaren Bindungsstrategie zu entwickeln und ihre Erwartungen an die Bindungsperson in einem Arbeitsmodell abzubilden. Diese Kinder entwickeln im Laufe der Zeit eine Art kontrollierende Strategie, die sich in vielen Fällen als Rollenumkehr äußert. Die Kinder fühlen sich für die Bezugsperson verantwortlich, was sich in einem überfürsorglichem oder bestrafenden Verhalten zeigt.

Bei Erwachsenen zeigt sich diese Desorganisation in verbalen und gedanklichen Irrationalitäten bei bestimmten Bindungsthemen wie Tod oder Trennung.

3. Bindung, Emotionen und Persönlichkeitsentwicklung

Mittlerweile ist klar, daß die Fähigkeit, bei Angst, Ärger oder Kummer die negativen Gefühle der Bindungsperson zu zeigen, für die Entwicklung einer sicheren Bindung ganz entscheidend ist. Studien haben gezeigt, daß unsicher-vermeidende Kinder in nicht belastenden Situationen durchaus in einer angemessenen Art und Weise mit der Bezugsperson kommunizierten können, daß aber die Kommunikation in belastenden Situationen erheblich eingeschränkt ist. Es konnte gezeigt werden, daß diese frühen Kommunikationsprobleme äußerst bedeutsam sind für die spätere Persönlichkeitsentwicklung.

Untersuchungen von unsicher-vermeidend gebundenen Kindern konnten nachweisen, daß die Kinder bei emotionaler Belastung Strategien zur Unterdrückung von negativen Gefühlen wie Angst oder Kummer entwickeln. Auf der anderen Seite ist bei unsicher-ambivalent gebundenen Kindern ein erhöhtes Maß an Ärger und Kummer in ihrem Verhalten zu erkennen. Es zeigten sich also deutliche Unterschiede in der Kommunikation und in der Art des Umgangs mit Gefühlen.

Einer der beeindruckendsten Befunde bezüglich unsicher-ambivalent und unsicher-vermeidend gebundener Kinder ist die Erkenntnis, daß Ärger einen ganz besonderen Einfluß auf die Persönlichkeitsentwicklung hat. Beide entwickeln bei Ärger ein bestimmtes Reaktionsmuster, das sich später auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirkt und sich im Verhalten widerspiegelt.

Ein unsicher-vermeidend gebundenes Kind verdrängt oder verschiebt seinen Ärger vorerst, jedoch können später oft spontane Aggressionsausbrüche beobachtet werden. Ein unsicher-ambivalent gebundenes Kind dagegen drückt seinen Ärger offen aus und verstärkt ihn oft sogar.

Diese unterdrückten bzw. verstärkten Verhaltenstendenzen tragen zur Entwicklung von spezifischen Strategien bei, die dann bei ärgerlichen Gefühlszuständen je nach Typ eingesetzt werden. Ebenso beeinflusse sie die Entwicklung von Kommunikationsmustern.
 

3.1 Einfluß elterlicher Verhaltensweisen auf das Bindungsverhalten

3.1.1 Unsicher-vermeidende Bindung

Eltern von unsicher-vermeidend gebundenen Kindern werden als unfeinfühlig gegenüber den Signalen des Kindes beschrieben, als überstimulierend und als verdeckt feindselig. Diese elterlichen Charakteristika führen bereits zu einem vermeidenden Interaktionsstil. Sie werden zu aversiven Partnern, aber das Kind kann sich kaum leisten zu protestieren, weil es dadurch den Ärger der Bezugsperson auslösen würde. So muß das Kind alternative Strategien im Umgang mit Unbehagen erwerben, wie zum Beispiel die Vermeidung.

3.1.2 Unsicher-ambivalente Bindung

Eltern von unsicher-ambivalenten Kindern zeigen bestimmte Verhaltensweisen wie Inkonsistenz und Vernachlässigung. Inkonsistenz elterlichen Verhaltens bedeutet, daß einmal aufgebaute kindliche Erwartungen stets wieder enttäuscht werden und somit die Grundlage für Frustration, dem klassischen Auslöser für Ärger, geschaffen wird.

3.2 Bindungsqualität und Persönlichkeitsentwicklung

Es stellt sich nun die Frage, wie die verschiedenen Bindungsmuster mit der späteren Persönlichkeit zusammenhängen.

Ein Persönlichkeitsansatz besagt, daß Emotionen Wünschen und Zielen dienen und, daß bestimmte Emotionen im Verlauf der Entwicklung Bestandteile der Persönlichkeit werden können. Das heißt, daß Kinder im Verlauf der Entwicklung lernen, emotionale Zustände bei anderen zu identifizieren und ihren eigenen emotionalen Erfahrungen Bedeutung zuzuordnen.

Mit fortschreitender Entwicklung rücken bestimmte Emotionszustände in den Erfahrungsmittelpunkt. Durch Wiederholungen und thematische Veränderungen entstehen nun Verbindungen zum Selbstwertgefühl und zur Selbstidentität, die dann Einfluß auf die jeweilige Persönlichkeitsentwicklung haben. So kristallisieren sich bestimmte Persönlichkeitscharakteristika heraus, die dann Auswirkungen für vielfältige Verhaltensbereiche haben.

4. Zusammenfassung

Das jeweilige Bindungsverhalten eines Kindes entwickelt sich aus dem Pflegeverhalten der Bezugsperson. Über das Bindungsverhalten und das Verhaltensmuster der Bezugsperson entwickelt das Kind sogenannte innere Arbeitsmodelle von Bindung. Es wird angenommen, daß das Arbeitsmodell einer Eltern-Kind-Beziehung aus Handlungen des Kindes, den folgenden Konsequenzen und der Eltern-Kind-Interaktion heraus entsteht.

Es werden im allgemeinen vier verschiedene Bindungsmodelle unterschieden:

* das sichere Modell

* das unsicher-ambivalente Modell

* das unsicher-vermeidende Modell

* das unsicher-desorganisierte Modell

Sicher gebundene Kinder bringen der Bindungsperson Vertrauen entgegen. Sie haben die Erfahrung machen können, daß sie von der Bezugsperson nie im Stich gelassen werden.

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder erleben ihre Bindungsfigur als unberechenbar. Entsprechend reagieren diese Kinder mit gegensätzlichen, das heißt ambivalenten Gefühlen der Bezugsperson gegenüber. Unsicher-vermeidend gebundene Kinder vermeiden die Nähe zur Bindungsperson. Das vermeidende Modell hat sich aus oftmaliger Zurückweisung der Bezugsperson entwickelt. Bei unsicher-desorganisiert gebundenen Kindern findet eine Art Rollenumkehr statt. Die Kinder schlüpfen in die Rolle der Erziehungsperson. Die Fähigkeit negative Emotionen wie Trauer und Ärger der Bezugsperson zu zeigen, ist für die Entwicklung einer sicheren Bindung entscheidend. Es konnte gezeigt werden, daß vermeidend gebundene Kinder in belastenden Situationen negative Gefühle unterdrücken. Bei ambivalent gebundenen Kindern hingegen ist ein erhöhtes Maß an Ärger und auch Aggression in ihrem Verhalten beobachtbar. Es ist nachgewiesen, daß sich die verschiedenen Bindungsmodelle auf die spätere Persönlichkeitsentwicklung auswirken. Es bilden sich bestimmte Persönlichkeitscharakteristika heraus, die sich auf viele Verhaltensbereiche auswirken.

5. Persönliche Stellungnahme

Aus eigener Erfahrung innerhalb der Familie kann ich die Einteilung in ein sicher gebundenes, ein unsicher-ambivalentes, ein unsicher-vermeidendes und ein desorganisiertes Modell nur bestätigen. Bei genauer Betrachtung zeigt mein siebenjähriger Neffe die klassischen Anzeichen eines unsicher-vermeidenden Kindes. Man findet bei ihm die typischen Verhaltensweisen, wie sie oben beschrieben wurden. Wenn man nun seine Entwicklung und seine damalige Situation zurückverfolgt, scheint es sonnenklar, warum aus diesem Kind ein vermeidend gebundenes wurde. Der Bub wuchs ohne Vater auf, er lebte mit seiner Mutter bei den Großeltern. Obwohl die Großeltern der Mutter (d.h. ihrer Tochter) tatkräftig zur Seite standen, fühlte sie sich die meiste Zeit überfordert und von ihrem Sohn genervt. So suchte sie nach anderweitigen Beschäftigungen außer Haus und ließ den Buben bei den Großeltern. Wenn sie dann nach Hause kam, und der Bub ihre Nähe suchte, wies sie ihn zumeist zurück, da sie nach dem langen Tag müde war und ihre Ruhe haben wollte. Zudem konnte sie nicht verstehen, warum sie sich noch um den Jungen kümmern sollte, wo er doch ohnehin die Großeltern um sich hatte. Dazu kam noch, daß sie zu dieser Zeit ihren jetzigen Mann kennen gelernt hatte, der den Buben nie so richtig akzeptieren wollte und mit dem sie seit kurzem noch ein Kind hat. Außerdem leben sie jetzt einige hundert Kilometer von den Großeltern weg, die für das Kind den einzigen Trost bedeuteten. Der Junge bekommt diese Situation natürlich mit und fühlt sich von der Mutter noch mehr verlassen. Das ist soweit grob die Geschichte meines Neffen. So ist es wohl nicht mehr verwunderlich, daß er alle Anzeichen eines vermeidend gebundenen Kindes zeigt. Er scheint seine Kummer in sich hineinzufressen, der sich immer wieder in enormen Aggressionsausbrüchen zeigbar macht.

Jetzt, wo die Ehe zu scheitern scheint, löst sich die Mutter mehr von ihrem Mann und versucht nun verstärkt, spät aber doch, um das Vertrauen ihres Sohnes zu kämpfen.
 

Literaturverzeichnis

Spangler, G. & Zimmermann, P. (Hrsg.). (1995). Die Bindungstheorie, Grundlagen, Forschung und Anwendung. Stuttgart: Klett-Cotta.
 
Inhaltsverzeichnis

12) Pubertät als Herausforderung für die Familie (Sabine Nimmervoll und Irene Hanke)

Einleitung

Im psychologischem Alltagsverständnis versteht man unter Pubertät eine Phase der körperlichen Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen, die von extremen Gefühlsschwankungen und der Rebellion gegenüber Sitte und Moral der Erwachsenen begleitet ist. Auch in den traditionellen Theorien zur Pubertät wurde dieses Bild übernommen, wobei man Krisen und abweichendes Verhalten als Kennzeichnung dieses Entwicklungsabschnittes in den Vordergrund stellte.

Heute sieht man in dieser Phase, bei der körperliche, intellektuelle und soziale Veränderungen zusammenspielen, eine Zeit, die mit vielfältigen Erfahrungen einhergeht und für den einen Jugendlichen positiv verlaufen kann, für den anderen jedoch mit Problemen, persönlicher, familiärer oder außerfamiliärer Art einhergeht. Die Forschung konzentriert sich bei der Betrachtung dieser Phase der Entwicklung heute vor allem auf die unterschiedlichen Anforderungen, die altersspezifischen Entwicklungsaufgaben, die an den Jugendlichen in dieser Epoche gestellt werden und die Bewältigungsstrategien, die dieser dabei einsetzt. Er muß die Verhaltensformen eines Kindes aufgeben und Kompetenzen erwerben, die den Status der Erwachsenen begründen.

Unter diesem Blickwinkel kann man die Zeit der Pubertät als eine turbulente und herausfordernde Phase betrachten, die an den Jugendlichen aber auch an seine Eltern verschiedene Anforderungen stellt. Das Eltern-Kind-Verhältnis ändert sich notwendigerweise in der Zeit der Adoleszenz. Dieser Wandel in der Beziehung zueinander muß jedoch nicht unbedingt besonders krisenhaft vorsichgehen, sondern kann, wenn Eltern ihre Aufgabe ernst nehmen, eine Chance für ein gleichgestelltes und freundschaftliches Verhältnis zwischen dem Jugendlichen und dessen Eltern darstellen.

Im Rahmen dieser Arbeit gehen wir nun kurz auf die verschiedenen Theorien des Jugendalters und die Entwicklungsaufgaben in dieser Lebensphase ein und beschäftigen uns dann hauptsächlich mit der Veränderung in der Interaktion zwischen dem Pubertierenden und seiner Familie.

Theorien des Jugendalters

Anlagetheorien der Adoleszenz

Die erste Theorie, aus dem Bereich der biogenetischen Erklärungsansätze, geht auf Granville Stanley Hall (1846-1924) zurück.

Der Ansatz beruht auf Grundideen der Evolutionstheorie von Charles Darwin und dem daraus abgeleiteten biogenetischen Grundgesetz von Ernst Haeckel (1834-1919).

Entwicklungsprozesse des Wachstums und der Reifung beruhen demnach im wesentlichen auf physiologischen Faktoren, unabhängig von der soziokulturellen Umgebung.

Nach Halls Auffassung ist die Adoleszenz eine "Sturm-und-Drang-Periode" (auch "Stör-Reiz-Modell" genannt), eine Zeit extremer Ausprägungen des Erleben und Verhaltens, die von innerpsychischen Spannungen und interpersonellen Konflikten begleitet ist. Die Universalität und Unvermeidbarkeit dieser Phänomene sieht er darin begründet, daß die körperliche Entwicklung sprunghaft verlaufe und diese Diskontinuität ihr Pendant in der psychischen Organisation finde.

Trotz Relativierung und Kritik hat Halls Adoleszenztheorie nachhaltigen Einfluß auf spätere Entwicklungskonzeptionen gehabt.

 Umwelttheorien der Adoleszenz

Kulturanthropologischer Ansatz:

Die schärfste Kontrastierung zur biogenetischen Adoleszenztheorie geht von der Kulturantropologie aus. Margaret Mead erforschte Riten und Gebräuche im Kontext von Themen des Erwachsenwerdens.

Ihre Ergebnisse zeigten, daß die Adoleszenz in anderen Gesellschaften eine der freudvollsten Perioden persönlicher und sozialer Entwicklung ist; negative Charakteristika von Übergangsphasen, vergleichbar denen der westlichen Welt blieben aus. Während für Jugendliche in statischen Kulturen (postfigurative Kultur) Identität aus der Zugehörigkeit, den Sitten und Handlungsformen ihres Volkes erwächst, wird die Identitätssuche vor allem in komplexen, sich rasch wandelnden Gesellschaften (kofigurative Kultur) zum Problem.

Eine Unterstützung seitens der Erwachsenen wird in der Fähigkeit gesehen, Bindung zu lehren. Als wesentliche Kritikpunkte an Meads jugendtheoretischem Konzept des Identitätsaufbaues durch die umgebende Kultur hebt Griese hervor, daß von einer einheitlichen Jugendgeneration ausgegangen wird, d.h. subkulturelle Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft werden ausgeklammert. Ferner werden Generationskonflikte pauschaliert.

Lerntheoretische Ansätze:

Speziell zwei Ansätze beschäftigen sich mit Prozessen des sozialen Lernens, die zum Verständnis von Entwicklungsphänomenen der Adoleszenz beitragen können:

1. Die Theorie der sozialisierten Angst von Davis (1944):

Bei Davis gilt als Basisannahme seiner Theorie, daß menschliches Verhalten auf dem Erlernen der Regeln einer Gesellschaft beruht.

In unserer Gesellschaft sind die Rollenerwartungen Jugendlichen gegenüber unklar und insofern ist sich der Jugendliche nicht sicher, welches Verhalten für ihn Akzeptanz und Belohnung oder Mißbilligung und Strafe mit sich bringt. Daraus folgt, daß ihm die Reduktion der sozialisierten Angst schwer fällt.

Er sieht sich nicht in der Lage, das Ausmaß emotionaler Belastung zu verringern und infolgedessen bringt diese Periode emotionale Beeinträchtigung mit sich.

2. Die drive theory adoleszenten Verhaltens von McCandless (1970):

Die Theorie von McCandless geht davon aus, daß Verhalten durch Triebe ausgelöst wird.

Triebreduzierendes Verhalten hat Belohnungscharakter, während Verhalten, das Triebspannung nicht reduziert, Bestrafungsqualitäten aufweist und daher nicht wiederholt wird. Wiederholungen habituieren Verhalten (bauen Gewohnheiten auf). Das Auftreten einer bestimmten Triebspannung erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß habituierte Verhaltensmuster ausgeübt werden. Die Zeitdauer der Habituierung und des Aufbaus einer neuen Selbstdefinition kann für den Jugendlichen eine Periode unverminderter Treibspannung darstellen und von daher Streß und emotionale Belastung mit sich bringen.

 Interaktionstheorien der Adoleszenz

Die Interaktionstheorien betonen die Anlage-Umwelt-Dynamik.

Unterschiede zwischen Interaktionstheorien beruhen darauf, wie stark Anlage und Umwelt jeweils gewichtet werden und in welchen Konzepten die Interaktion erklärt wird.

Psychodynamische Ansätze:

Die klassische Psychoanalyse Sigmund Freuds weist der Adoleszenz relativ wenig Gewicht zu. Anna Freud betrachtet den Lebensabschnitt der Adoleszenz als eine notwendige und universell entwicklungsbedingt turbulente Periode. Ihrer Auffassung nach beruht die Konflikthaftigkeit auf gesteigerten internalen Anforderungen, die aus der sexuellen Reifung und der damit verbundenen Intensivierung des Sexualtriebes hervorgehen.

Der Entwicklungsfortschritt in der Adoleszenz wird im wesentlichen in der Bewältigung der neuen Triebkonflikte gesehen, die darauf beruht, daß gestärkte Ich-Funktionen den Ansturm libidinöser Energien balancieren können. Gelingt dies nicht, so treten Störungen auf, die zu Regressionen auf frühere Entwicklungsstufen führen.

Ebenso wird das Ausbleiben von Konflikten als eine Störung aufgefaßt, im Sinne eines pathologischen Gleichgewichts, das auf einem Übermaß an Abwehr beruht.

Psychosozialer Ansatz:

Nach der psychosozialen Entwicklungstheorie von Erik H. Erikson (1902-1994) beruht der Gewinn von Identität auf der Bewältigung von Anforderungen, die aus der Einbettung des Individuums in eine Sozialordnung resultieren.

Die Bewältigung von Krisen kennzeichnet die wachsende Persönlichkeit, die der Umwelt aktiv begegnet und deren Kernbereich (Ich) eine gewisse Einheit aufweist.

Die Ausbildung von Ich-Identität entspricht dem Aufbau von Selbstkonsistenz (man weiß, wer man ist und worin über Zeit, Situationen und soziale Kontexte hinweg die Einheitlichkeit und Unverwechselbarkeit der eigenen Person, die Individualität, begründet ist).

Für den Verlauf und das Resultat des Entwicklungsprozesses spielt das Identifikationsverhalten eine bedeutende Rolle.

Dynamischer Interaktionismus

Die Interaktion wird als ein Prozeß einer wechselseitigen Beeinflussung verstanden, so daß jedes Element innerhalb des Systems zugleich Produkt und Produzent des jeweils anderen ist. Für die Anwendung dieser Modellkonzeption wird speziell die frühe Adoleszenz als geeigneter Abschnitt innerhalb der Lebensspanne erachtet, da das Spektrum der Veränderungen den Einfluß unterschiedlicher Ebenen umfaßt.

Das Modell spezifiziert also, in welcher Weise der Jugendliche Produzent seiner eigenen Entwicklung werden kann.

Entwicklungsaufgaben des Jugendalter

Das Konzept der Entwicklungsaufgaben stammt ursprünglich von Havighurst (1948), der die Entwicklung als einen Lernprozeß auffaßt, der sich über die gesamte Lebensspanne erstreckt und dazu dient, Kompetenzen und Fertigkeiten zu erwerben, die für ein zufriedenstellendes Leben in der Gesellschaft notwendig sind. Eine Entwicklungsaufgabe stellt somit ein Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und den individuellen Bedürfnissen dar. In jeder Lebensperiode gibt es eine sensitive Phase für spezifische Entwicklungsaufgaben, in der der Lernprozeß zur Bewältigung dieser den geringsten Aufwand mit sich bringt und in der externe Hilfestellungen am meisten Erfolg erwarten lassen. Die Bewältigung von Aufgaben in früheren Lebensperioden wirkt sich auf die nachfolgenden aus. Man muß jedoch unterscheiden zwischen Aufgaben, die zeitlich begrenzt sind (z. B. der Erwerb von grundlegenden Kulturtechniken) und solchen, die sich über mehrere Lebensperioden erstrecken (z. B. Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen).

Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz sind nach Havighurst:

  1. Neue und reifere Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufbauen;
  2. Übernahme der männlichen / weiblichen Geschlechtsrolle;
  3. Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung, effektive Nutzung des Körpers;
  4. Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und von anderen Erwachsenen;
  5. Vorbereitung auf Ehe und Familienleben;
  6. Vorbereitung auf eine berufliche Karriere;
  7. Werte und ein ethisches System erlangen, das als Leitfaden für Verhalten dient; Entwicklung einer Ideologie;
  8. Sozial verantwortliches Verhalten anstreben und erreichen.
Dreher und Dreher (1985) haben die Entwicklungsaufgaben von Havighurst für die Jugendlichen, die heute in unserer Kultur leben, modifiziert, indem sie Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren den Aufgabenkatalog von Havighurst vorlegten und sie befragten welche Thematiken bzw. Formulierungen sie bei der Schaffung eines Befragungsinstrumentes für Jugendliche wählen würden. Dabei wurden von den Jugendlichen als fehlende Thematiken Partnerbeziehungen, Selbstkenntnis und Zukunftsplanung angegeben. Auch wurden die Thematiken Werte und sozial verantwortliches Verhalten nach Havighurst als integrierte Entwicklungsaufgabe betrachtet.

Die Familie als Umwelt des Jugendlichen

Bei der Betrachtung der Identitätsentwicklung des Jugendlichen ist es wichtig die verschiedenen Umweltbereiche miteinzubeziehen. Lewin (1963) nennt vier Lebensregionen, nämlich Schule, Beruf, Peergruppe und die Familie. Die Familie übt zeitlebens einen Einfluß auf die Entwicklung des Jugendlichen aus, muß ihn jedoch im Jugendalter mit der Schule und der Peergruppe teilen. Diese Distanzierung, die im Zuge des Ablösungsprozesses erfolgt, darf jedoch nicht über die Wichtigkeit eines grundlegenden Gefühls von Akzeptanz, Aufgehobensein und Ernstgenommen-werden seitens der Eltern hinwegtäuschen.

Baumrind (1991) unterscheidet drei Sichtweisen bei der Eltern-Kind-Beziehung im Jugendalter:

Baumrind unterscheidet weiters vier elterliche Erziehungsstile, die einen maßgeblichen Einfluß auf die Entwicklung im Jugendalter ausüben, nämlich den autoritativen, den autoritären den permissiven und den zurückweisenden-vernachlässigenden Stil. In einer Längsschnittuntersuchung zeigte sich, daß die günstigsten Entwicklungsbedingungen in Familien mit autoritativem und demokratischem Interaktionsstil und die schlechtesten in Familien mit autoritärem und desinteressiertem Erziehungsstil vorzufinden sind.

Die affektive Qualität der Familienbeziehungen ändert sich, sobald der Jugendliche in die Pubertät eintritt. Zur Erklärung der Familiendynamik dieser affektiven Änderung benutzt Steinberg (1989) die Hypothese der emotionalen Distanzierung. Diese behauptet, daß der Höhepunkt des pubertären Wachstumschubes mit einer Zunahme der emotionalen Distanzierung zwischen dem Jugendlichen und den Eltern einhergeht. Während dieser Zeit lockern sich also die Bindungen und die emotionale Ausdrucksfähigkeit in der Familie verändert sich. Dies führt beim Jugendlichen zu Gefühlen von sozialer Angst und Depression. Diese Hypothese konnte durch bisherige Untersuchungen bestätigt werden (Papini & Sebby, 1987; Steinberg, 1988, 1989;).

Die Dämpfungshypothese (buffering hypothesis) von Armsden und Greenberg (1987) besagt nun, daß die Qualität der Bindungsbeziehungen zu den Eltern einen Puffer für Streß und Angst bildet. Hat der Jugendliche also die Möglichkeit unter Streßbedingungen Zuflucht im Bindungsverhalten zu suchen, so dämpft dies seine Ängste.

Auch diese Hypothese konnte bestätigt werden (Papini, Roggman & Anderson, 1991). Jugendliche, die eine stärkere Bindung zu den Eltern ausdrückten, waren weniger depressiv und sozial ängstlich und schätzten den Zusammenhalt in der Familie positiv ein.

Es konnte jedoch auch gezeigt werden, daß sich diese beiden Hypothesen nicht direkt in Beziehung bringen lassen. Es scheint kein Zusammenhang zwischen Pubertät - Hang zu Depression durch emotionale Distanzierung und Variation durch unterschiedlich starke Bindung zu bestehen.

Förderliche und hemmende Faktoren zur Bewältigung der Entwicklungsaufgaben von Familien mit Pubertierenden

Janig und Wilk (1997) führten eine qualitative Pilotstudie an 26 Familien, in denen jeweils das älteste Kind zwischen 13 und 15 Jahre alt war, durch. In dieser ging es darum, empirisch zu erfassen, wie Jugendliche und ihre Eltern die Pubertät erleben und wie sie die an sie gestellten Herausforderungen bewältigen. Es wurden dabei Einzelinterviews mit den Müttern, Vätern und den Jugendlichen, gemeinsame Familiengespräche und Gruppendiskussionen über fiktive Situationen durchgeführt.

Dabei stellten sich spezifische innerfamiliäre Dynamiken als hinderlich heraus:

Weitere hemmende Faktoren in der Bewältigung dieser Entwicklungsphase durch Eltern und Jugendliche sind: Die Elternbildung stellt eine Möglichkeit dar, Eltern mit Pubertierenden zu unterstützen förderliche Faktoren auszubauen, bzw. hemmende Faktoren zu minimieren. Diese versucht, durch Beratungen und Vorträge, Eltern bei der Bewältigung der Herausforderungen, die sich ihnen in der Erziehung stellen, nach dem Grundsatz "Hilfe zur Selbsthilfe", zu unterstützen.

Zusammenfassung

Es scheint in der Literatur über die Pubertät unumstritten zu sein, daß die Familie in dieser Entwicklungsphase eine wichtige Rolle spielt. Die Jugendlichen sind mit körperlichen Veränderungen, ihrer Geschlechtsrolle und der Suche nach der eigenen Identität konfrontiert und benötigen gerade in dieser Zeit, in der sie sich von den Eltern distanzieren, ein grundlegendes Gefühl von Akzeptanz und Aufgehobensein. Dies stellt auch große Anforderungen an die Eltern, die beim Loslösungsprozeß die nötige Balance zwischen den eigenen Ängsten und dem Vertrauen gegenüber den Kindern finden, und ihre bisherige starke Orientierung am Leben der Kinder schön langsam aufgeben müssen. Die Pubertät stellt somit eine große Herausforderung für die Familie dar, durch Abstimmungs- und Aushandlungsprozesse, einen zufriedenen Verlauf dieser Entwicklungsphase zu gewähren.

Eine persönliche Stellungnahme

Rückblickend gesehen, war meine eigene Pubertät mit extremen Gefühlsschwankungen verbunden (von "keiner hat mich lieb" bis hin zu "das Leben ist so wunderbar").

Meine Eltern zeigten sehr viel Geduld, diskutierten mit mir, versuchten mir zu helfen und mich zu verstehen, aber auch Schreiduelle blieben nicht aus. Trotzdem war ihr Rückhalt sehr wichtig für mich und auch wenn es Zeiten gab, in denen wir viel stritten, so waren es meine Eltern, bei denen ich mich ausweinte, wenn sich die ganze Welt gegen mich verschwörte.

In der Schule bekam ich zu dieser Zeit große Schwierigkeiten, da ich mich gegen die Lehrer auflehnte, wann immer ich mich ungerecht behandelt fühlte, aber auch hier standen meine Eltern immer hinter mir. Ich hatte zwar einen Freundeskreis, der aber für mich zu dieser Zeit nicht wirklich an Bedeutung gewann, denn wir verbrachten auch vor meiner Pubertät sehr viel Zeit miteinander und es änderten sich weder die Mitglieder noch die Freizeitgestaltung.

Das Zurechtfinden in seinem "neuen Körper" ist zwar oft mit Schwierigkeiten verbunden, fördert aber auch das Selbstwertgefühl und den Aufbau einer eigenständigen Persönlichkeit wenn man diese Phase des Lebens positiv bewältigt. Abschließend ist zu sagen, daß die Pubertät eine große Herausforderung für den Jugendlichen und seine Familie ist, die gemeinsam positiv bewältigt werden kann.

Literaturverzeichnis

Janig, H. & Wilk, L. (1997). Pubertät - Herausforderung für Eltern und Jugendliche. Wien: Österreichisches Institut für Familienforschung.

Oerter, R. & Dreher, E. (1995). Jugendalter. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.). (1995). Entwicklungspsychologie (S. 310-395). Weinheim: Beltz.
 
 
 

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13) Geschwisterforschung (Barbara Klaus)

1. Einleitung

Ziel dieser Arbeit soll es sein, den Themenbereich der Geschwisterforschung näher zu beleuchten. Um jedoch auf die Forschung und deren Ergebnisse eingehen zu können, ist es zu Beginn notwendig, den Begriff der Geschwisterbeziehung und -bindung zu erläutern. Anschließend gehe ich kurz auf die Entstehung dieser besonderen Art der Bindung ein. Der zweite Teil befaßt sich mit der Forschung. Obwohl Geschwister im Alltag für viele eine mehr oder weniger wichtige Rolle spielen, hat sich die Wissenschaft erst recht spät mit diesem komplexen Themenbereich auseinandergesetzt. Zunächst behandle ich die Anfänge der Geschwisterforschung und gehe dann auf die Erhebungsmethoden, die im Rahmen dieser Verwendung finden, ein. Die eigentlichen Forschungsergebnisse zum Thema Geschwister sollen in dieser Arbeit nicht zu kurz kommen. Ich gebe einen, wenn auch sehr komprimierten, Überblick über die zum Teil recht widersprüchlichen Ergebnisse diverser Studien. Dabei komme ich auf unterschiedliche Forschungsfelder, die mit unterschiedlicher Intensität behandelt wurden, zu sprechen. Die Geschwisterbeziehung über die Lebensspanne betrachtet, Einflüsse von Geburtsrangplatz, Geschlecht und Altersabstand gehören hier zu den wesentlichen Punkten. Abschließend finden auch noch Geschwisterbeziehungen besonderer Art, wie Zwillinge, Stief- und Halbgeschwister, Eingang in diese Arbeit.

2. Geschwister - Geschwisterbeziehung - Geschwisterbindung – Theorie und begriffliche Klärungen

Mit dem Begriff Geschwister bezeichnet man in den meisten Kulturen Personen, die über eine (zumindest) teilweise identische genetische Ausstattung verfügen, weil sie dieselben Eltern oder dieselbe Mutter oder denselben Vater haben. Darüber hinaus werden aber auch Individuen als Geschwister bezeichnet, die ein spezifisches, kulturell bestimmtes Verwandtschaftsverhältnis zueinander aufweisen. In den meisten Gesellschaften werden auch Cousins und Cousinen in die Kategorie Geschwister eingruppiert. Erstaunlich ist, daß weniger als 20% der Weltbevölkerung die Verwandtschaftsbegriffe Bruder und Schwester verwendet; in ungefähr 10% der Gesellschaften differenziert man lediglich zwischen älteren und jüngeren Geschwistern (vgl. Kasten, 1994, S. 14 f.).

Die klinisch-psychoanalytisch orientierten Autoren Bank und Kahn (1989) sehen nicht die gesellschaftlich anerkannte, allumfassende Geschwisterbeziehung, sondern eher eine Vielzahl von Bindungen, die sich zu einer bestimmten Anzahl vorhersagbarer Muster formen. Sie sehen "...die Geschwisterbindung als - intime wie öffentliche - Beziehung zwischen dem Selbst von zwei Geschwistern: die ‚Zusammensetzung‘ der Identitäten zweier Menschen. Die Bindung kann sowohl warm und positiv als auch negativ sein" (Bank & Kahn, 1989, S. 21). Auch bei rivalisierenden Geschwistern, die sich gegenseitig hassen, kann man von Bindung sprechen, wenn sie sich auf der Identitätsebene beeinflussen.

Intensive Geschwisterbindungen mit Konsequenzen für die Persönlichkeitsentwicklung entstehen, wenn Geschwister in Kindheit oder Adoleszenz miteinander sehr viel Kontakt haben und ihnen zuverlässige elterliche Zuwendung vorenthalten wird. In dieser Situation sind Geschwister füreinander ein wesentlicher Einflußfaktor auf der Suche nach persönlicher Identität. Es hängt von den Umständen in der Familie, den Persönlichkeiten der Kinder und den Handlungen oder Einstellungen der Eltern ab, ob diese Intensivierung konstruktiv oder destruktiv ist. Emotional befriedigende Beziehungen (zu Eltern, eigenen Kindern oder Partnern) lassen die Geschwisterbeziehung schwächer und unwichtiger werden (vgl. Bank & Kahn, 1989, S. 24f).

3. Geschwisterforschung - Einführung in den Forschungsbereich

3.1 Anfänge der Forschung

Seit Kain aus Eifersucht die Hand gegen seinen Bruder Abel erhob und ihn erschlug, haben Geschwister in fast allen schriftlichen Überlieferungen der zivilisierten Menschheit immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. Das Thema Geschwisterrivalität ist auch heute noch in der Literatur evident. Es scheint also die Menschen zu bewegen. Erstaunlicherweise haben Geschwister in den Sozial- und Humanwissenschaften der Neuzeit als Forschungsthema lange Jahrzehnte kaum eine Rolle gespielt. Dies ist verwunderlich angesichts des Stellenwertes, welcher der Geschwisterbeziehung im Bereich der Sozialbeziehungen im allgemeinen beigemessen wird. Ihre Bedeutung für die individuelle Sozialisation und Persönlichkeitsentwicklung, besonders innerhalb der Familie und während der Kindheit und der Jugendjahre, ist evident. Die empirische Psychologie hat das Thema Geschwisterbeziehung relativ spät entdeckt. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es vor allem Psychoanalytiker und Soziologen, welche sich, meist nur am Rande und ohne systematischen und theoretischen Anspruch, mit der Thematik befaßten (vgl. Kasten, 1993, 10ff).

Alfred Adler lenkte in seiner in den 20er Jahren geschaffenen Individualpsychologie die Aufmerksamkeit auf mögliche Verbindungen zwischen Geburtsrangplatz und Eigenschaften des Individuums. Darauf bezogene Fragestellungen bildeten im wesentlichen für fast ein halbes Jahrhundert das Ausgangsmaterial für immer wieder ähnlich aufgebaute Geschwisterkonstellationsuntersuchungen. Erst in den letzten 25 Jahren weitete sich allmählich das Interesse der Forschung aus (vgl. Kasten, 1993, S. 4).

Während in früheren Arbeiten zur Geschwisterbeziehung häufig die Frage im Mittelpunkt des Interesses stand, welchen Einfluß eine spezifische Geschwisterbeziehung auf andere Variablen, wie Persönlichkeitseigenschaften der Geschwister zu einem späteren Zeitpunkt, ausübt, befassen sich jüngere Arbeiten auch mit der umgekehrten Fragerichtung: Welche Einflüsse sind es, die die Qualität einer Geschwisterbeziehung ausmachen (vgl. Kasten, 1993, S. 17)? Das heißt, "Geschwisterbeziehung muß zum einen analysiert werden als abhängige Variable, d.h. als etwas, das seine Ursachen und Hintergrundbedingungen hat; gleichzeitig ist es aber auch notwendig, Geschwisterbeziehung als unabhängige Variable zu betrachten, die ihrerseits Ursache und Hintergrundbedingung für zahlreiche individuumsbezogene, zwischenmenschliche und soziale Variablen ist" (Kasten, 1993, S. 18).

3. 2 Überblick über die Erhebungsmethoden, die im Bereich der Geschwisterforschung Verwendung finden

Im Rahmen der Geschwisterforschung ist eine theoretische und praktische Ausdifferenzierung von spezifischen Forschungsperspektiven zu konstatieren. "Diese Forschungsperspektiven sollten prinzipielle und idealtypische und methodologische Zugangswege zur Verfügung stellen, mit deren Hilfe Geschwisterbeziehungen empirisch untersucht werden können. Aus jeder Forschungsperspektive können durch den Einsatz von Informanten Daten über den Forschungsgegenstand zutage gefördert werden. Durch Installation dieser Forschungsperspektiven wird angestrebt, die Determinanten und Ausprägungsformen von Geschwisterbeziehungen möglichst vollständig zu erfassen und differenziert zu rekonstruieren." (Kasten, 1993, S. 14) Kasten (1993) unterscheidet drei Forschungsperspektiven:

1) Die Forschungsmethode der aufeinander Bezug nehmenden Geschw. = Erhebungsmeth.1

2) Die Forschungsperspektive der teilnehmenden Interaktionspartner = Erhebungsmethode 2

3) Die Forschungsperspektive der außenstehenden Beobachter = Erhebungsmethode 3

Die drei Forschungsperspektiven werden gleichberechtigt behandelt und keine davon darf bevorzugt werden. Die Informationen werden in der Regel durch Interviews, Explorationen, Fragebögen, Checklisten und Verhaltensbeobachtung gewonnen (vgl. Kasten, 1993, S. 24f). Fehlende Übereinstimmung der erhobenen Daten muß nicht auf Unzulänglichkeiten der Erhebungsmethode zurückzuführen sein, sondern kann damit zusammenhängen, daß einfach verschiedene Sichtweisen von ein und derselben Beziehung existieren.

3.3 Forschungsergebnisse

3.3.1 Unterschiede zwischen Geschwistern

Geschwister sind sich meist im Hinblick auf äußere Merkmale sehr ähnlich. Untersuchungen belegen jedoch, daß sich Geschwister im Hinblick auf Merkmale wie Intelligenz, Gedächtnis oder bestimmte Persönlichkeitseigenschaften nicht ähnlicher sind als zufällig ausgewählte, nicht miteinander verwandte Kinder (desselben Alters, Geschlechts und derselben Schichtzugehörigkeit). Geschwister also, die so vieles gemeinsam haben - dieselbe Gebärmutter, dasselbe Zuhause und 50 Prozent ihrer Erbanlagen - sollen sich dennoch ungleich verhalten? Geschwister wollen sich nicht gleichen, sie wollen sich deutlich vom anderen abgrenzen und eigene Wege gehen. Die amerikanische Psychologin Schachter (1982) bezeichnet diesen Prozeß der Abgrenzung, der schon früh einsetzt, als "De-Identifikation" (vgl. Schachter, 1982 zitiert nach Kasten, 1994, S. 29f). Vor allem eineiige Zwillinge sind darauf besonders erpicht, eine eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Interessen und Vorlieben zu entwickeln.

3.3.2 Veränderung der Geschwisterbeziehung im Laufe der Zeit

3.3.2.1 Geburt des zweiten Kindes und frühe Kindheit

Erst seit gut 15 Jahren werden Beobachtungsstudien durchgeführt, die ihre Aufmerksamkeit darauf richten, was in der Familie vom Zeitpunkt der Geburt eines zweiten Kindes an passiert. Simmel (1983) geht davon aus, daß die Ein-Kind-Familie soziologisch gesehen eine Zweiergemeinschaft ist - Elternpaar mit einem Kind. Ein zweites Kind wirkt sich auf die Gemeinschaft wie ein drittes Mitglied aus (vgl. Simmel, 1983, zitiert nach Schütze, 1989, S. 313).

Die Geburt des zweiten Kindes bringt aus der Sicht der Eltern weniger Umstellungen und Veränderungen mit sich, als die Geburt des ersten Kindes. Der Rollenwechsel vom Ehe- zum Elternpaar ist bereits erfolgt. Für das ältere Kind kommt es jedoch zu massiven Umstellungen (vgl. Kasten, 1993, S. 19f; Kasten, 1994, S. 99f). Aus Sicht der Psychoanalyse hat die Geburt des zweiten Kindes für das erstgeborene immer traumatische Qualitäten. "Es fühlt sich entthront, beraubt, in seinen Rechten geschädigt, wirft einen eifersüchtigen Haß auf das Geschwisterchen ... ." (Freud, 1972, zitiert nach Schütze, 1989, S. 315). Der Aspekt der Rivalität ist sowohl im Alltag als auch in Wissenschaft und Forschung ein wesentlicher. Grundsätzlich kann man Veränderungen der Geschwisterbeziehung in der frühen Kindheit anhand eines 3-Phasen-Modells erläutern (vgl. Kasten, 1993, S. 19ff, 1994, S. 101ff; Schütze, 1989, S. 314ff):

1. Phase (bis etwa 8. Lebensmonat des nachkommenden Kindes): Etwa die Hälfte der Kinder reagieren auf die Ankunft des Babys mit negativen Verhaltensänderungen wie Schlafprobleme, Anklammern, Trotz und dergleichen mehr. Gleichzeitig machen Kinder aber auch Entwicklungsfortschritte. Die Kontakte zwischen den Kindern werden primär von den Eltern stimuliert, wobei das Verhalten des ersten Kindes gegenüber dem Baby durchaus positiv ist. Besonders interessiert und liebevoll erwiesen sich Kinder, deren Mütter das Kind ermutigten, sich an der Pflege des Babys zu beteiligen (vgl. Schütze, 1989, S. 316).

2. Phase (8. bis ungefähr 16. Lebensmonat des nachkommenden Kindes): Die zweite Phase der Geschwisterbeziehung ist einerseits durch die Rivalität (sowohl körperlich wie verbale Aggressionen), die das ältere Kind gegenüber dem jüngeren demonstriert, gekennzeichnet. Das konfliktreiche Verhältnis entsteht vor allem dadurch, daß der Aktionsradius des Kleineren beträchtlich zunimmt. Auch durch die etwas einseitige Parteinahme der Eltern für das zweite, "noch schützenswerte" Kind. Andererseits darf man nicht übersehen, daß in dieser Phase auch erstmals wechselseitige Interaktionen zwischen den Geschwistern in Gang kommen (vgl. Kasten, 1994, S. 101f; Schütze, 1989, S. 317f).

3. Phase (17. bis 24. Lebensmonat des nachkommenden Kindes): Diese Phase, in der das jüngere Kind über passives Sprachvermögen verfügt, ist durch zunehmende Konsolidierung und Unabhängigkeit von den Eltern gekennzeichnet. Es gibt zwar zwischen den Geschwistern nicht weniger Konflikte, die Eltern sehen sich aber nicht mehr genötigt, ständig einzugreifen (vgl. Kasten, 1993, S. 21; Kasten, 1994, S. 103; Schütze, 1989, S. 318).
 

3.3.2.2 Geschwisterbeziehung in der mittleren und späten Kindheit

Studien zu qualitativen Veränderungen der Geschwisterinteraktionen in dieser Entwicklungsphase belegen, daß sich zwischen den Geschwistern, natürlich in Abhängigkeit von Geschlechtskombination und Altersabstand, typische Rollenstrukturen herausbilden. Erstgeborene nehmen häufig die Rolle des Lehrers oder Modells ein. Die jüngeren Geschwister sind Lernende, akzeptieren aber dominante geschwisterliche Vorbilder eher, wenn es sich um eine große Schwester handelt (vgl. Kasten, 1993, S. 43). Über das Ausmaß der Rivalität zu diesem Zeitpunkt liegen widersprüchliche Untersuchungsergebnisse vor (vgl. Kasten, 1994, S. 117). In vielen Kulturen übernehmen die älteren Kinder die Versorgungs- und Betreuungsaufgaben der Geschwister, was in den modernen Industrienationen jedoch kaum mehr anzutreffen ist (vgl. Kasten, 1993, S. 47).

Für den Psychologen Hartup (1978) ist die Geschwisterbeziehung ein günstiges Übungsfeld für Aggressionskontrolle. Geschwister sind einander sozusagen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert und letztlich darauf angewiesen, Lösungs- und Kontrollmöglichkeiten für ihre gegenseitigen Aggressionen zu finden (vgl. Hartup, 1978, zitiert nach Kasten, 1994, S. 120).
 

3.3.2.3 Geschwisterbeziehung in Adoleszenz und frühem Erwachsenenalter

Um mehr Selbständigkeit und Unabhängigkeit zu erwerben, ist es für Jugendliche und junge Erwachsene besonders wichtig, sich allmählich von ihren Geschwistern und anderen Familienmitgliedern innerlich und äußerlich abzugrenzen und zu distanzieren. Es werden jetzt auch gefühlsmäßig intensive Beziehungen zu Personen außerhalb der Familie aufgebaut. Geschwister verlieren an Bedeutung (vgl. Kasten, 1994, S. 122f). Bezüglich Ausmaß der Geschwisteraggression liegen widersprüchliche Ergebnisse vor. In einer Reihe von Studien wurde dokumentiert, daß der Geschwisterbeziehung ein beträchtlicher Stellenwert bei der individuellen Sexualentwicklung beizumessen ist (vgl. Kasten, 1993, S. 87). Ebenso wurde der Einfluß von älteren Geschwistern bei der Ausbildung devianten und pathologischen Verhaltens vielfach belegt (vgl. Kasten, 1993, S. 98).

 3.3.2.4 Die Geschwisterbeziehung im Erwachsenenalter und höheren Alter

Die Geschwisterbeziehungen treten vermehrt in den Hintergrund, da andere Beziehungen z. B. zum Partner oder zu den eigenen Kindern in den Vordergrund rücken. Ereignisse wie Wohnortwechsel und Heirat eines Geschwisters spielen dabei eine wesentliche Rolle (vgl. Kasten, 1994, S. 138ff). Im späteren Erwachsenenalter muß mit dem Tod der Eltern gerechnet werden, der, wenn damit gerechnet wurde, die Geschwister wieder näher zusammenbringt. Durch das gemeinsame Trauern entsteht meist wieder Nähe und Verbundenheit (vgl. Kasten, 1993, S. 140f). Studien zeigen, daß Geschwister im Alter "einander häufig mehr oder weniger intensiv wiederentdecken und ihre Beziehung in mehrfacher Hinsicht, z. B. auf den Dimensionen emotionale Nähe und instrumentelle Unterstützung, reaktivieren und teilweise auch neu gestalten" (Kasten, 1993, S. 165).

Geschwisterbeziehungen sind, von der Zeitdauer her betrachtet, die längsten Beziehungen, die es überhaupt gibt. Sie sind jedoch auch die Beziehungen mit den größten Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Zwiespältigkeiten. Das gleichzeitige Vorhandensein von Zuneigung und Abneigung begleitet Geschwisterbeziehungen über die gesamte Lebensspanne (vgl. Kasten, 1994, S. 175).

3.3.3 Einfluß von Geburtsrangplatz

Der Wegbereiter der Geschwisterkonstellationsforschung war Alfred Adler, der als erster einen Zusammenhang zwischen dem Platz eines Menschen in der Familie und seiner Lebenseinstellung sah. Auf ihn geht auch die Annahme vom Entthronungstrauma des erstgeborenen Kindes zurück. (vgl. Leman, 1995, S.13) Das gesamte Sozialverhalten von Erstgeborenen wird demnach durch diese traumatische frühkindliche Erfahrung geprägt. Zeitgenössische Vertreter dieser Auffassung bedenken jedoch auch die Wirksamkeit diverser anderer Faktoren (vgl. Kasten, 1994, S. 44f). Es darf nicht vergessen werden, daß ein Erstgeborener die Zuwendung seiner Erzeuger zunächst für sich allein genießen kann. Kein Bruder und keine Schwester kann diesen "Vorsprung" jemals aufholen.

Von Toman (1988) stammt das Verdopplungs- und Dublikationstheorem. Er geht von der Annahme aus, daß die Erfahrungen in der Herkunftsfamilie die Gestaltung neuer Beziehungen in zukünftigen Partnerschaften maßgeblich bestimmen. Je stärker die späteren Beziehungen den Beziehungen in der Herkunftsfamilie gleichen, um so glücklicher verlaufen sie. Das bedeutet für Ehepartner, daß sie besser miteinander auskommen, wenn ihr Partner dem eigenen Geschwister ähnelt. Sichere Belege gibt es für diese Theorie jedoch nicht (vgl. Kasten, 1994, S. 45ff).

Erstgeborene werden häufig als introvertiert, leistungsorientiert und perfektionistisch bezeichnet. Letztgeborene gelten im Alltag oft als extravertiert, spontan und unkompliziert. Dem mittleren Kind in der "Sandwich-Position" werden häufig die schlechtesten Ausgangsbedingungen zugeschrieben, denn sie haben die Eltern nie für sich allein. Einige Untersuchungen zeigen auch, daß mittlere Kinder häufig aggressiv, asozial und delinquent sind (vgl. Kasten, 1994, S. 52). Tatsache ist jedoch, daß Zusammenhänge zwischen Geburtsrangplatz und Persönlichkeitsmerkmalen nur sehr vage nachgewiesen werden können. "Es ist nicht die Geschwisterposition an sich, die eine Wirkung ausübt, sondern es sind die mit der Geschwisterposition verbundenen sozialen, ökologischen, ökonomischen, zwischenmenschlichen und individuellen Verhältnisse, welche letztlich bestimmen, was für Persönlichkeitseigenschaften entwickelt werden" (Kasten, 1994, S. 39).

3.3.4 Rolle des Geschlechts der Geschwister

Einflüsse der Geschlechtszusammensetzung der Geschwisterreihe konnten in einigen Persönlichkeitsbereichen, wie Intelligenz, Kreativität, Leistung und Berufsinteressen nachgewiesen werden. Man darf hier jedoch andere Einflußfaktoren wie Altersabstand, Geburtsrangplatz, Familiengröße, den elterliche Erziehungsstil usw. nicht vergessen. Diese wesentlichen Einflußfaktoren können die Wirkung des Geschwistergeschlechts abschwächen, neutralisieren, aber auch verstärken. Die meisten Untersuchungen sind in 2-Geschwister-Familien durchgeführt worden. Die Ergebnisse sind daher auch nur beschränkt verallgemeinerungsfähig (vgl. Kasten, 1994, S. 76f). Die Studien zeigen, daß männliche Geschwister ihre nachfolgenden Brüder und Schwestern in Richtung des traditionellen Geschlechtsrollenstereotyps beeinflussen. Buben fördern also bei ihren Geschwistern das mathematisch-technische Verständnis, regen schriftstellerische und schauspielerische Fähigkeiten an und begünstigen den beruflichen Erfolg. Bei weiblichen Geschwistern profitieren die anderen vor allem in schulischer Hinsicht und im Hinblick auf Kreativität und sprachabhängige Fähigkeiten. Kinder, die mit älteren andersgeschlechtlichen Geschwistern aufwachsen, übernehmen mehr typische Interessen und Beschäftigungsvorlieben des anderen Geschlechts. Sie verhalten sich in geringerem Umfang rollenklischeehaft. Gleichgeschlechtliche Geschwister, vor allem wenn sie altersgemäß eng beieinander liegen, verstärken hingegen das rollenkonforme Verhalten (vgl. Kasten, 1994, S. 63ff).
 

3.3.5 Rolle des Altersabstandes

Ein Altersabstand von weniger als zwei Jahren wird als klein, einer über zwei Jahre als groß bezeichnet. Zwischen Geschwistern mit wenig Altersdifferenz entwickelt sich häufiger eine enge, gefühlsintensive, aber nicht unbedingt konflikt- und widerspruchsfreie Bindung, als zwischen Geschwistern mit einem größeren Altersabstand. Geschwister, die fast gleich alt sind, sind sich oft bezüglich ihrer äußeren Merkmale recht ähnlich, was eine Identifikation erleichtern kann. Sie haben mehr Gemeinsamkeiten als altersmäßig weit auseinanderliegende Geschwister und beschäftigen sich daher auch häufiger miteinander. Trotzdem spielt sich weitaus mehr Aggression zwischen Geschwistern mit wenig Altersabstand ab. Grund für diese Aggression scheint Eifersucht und Neid von seiten des älteren Geschwisters, das sich bei geringem Altersabstand meist in einer ungünstigeren Position befindet, gegenüber dem kleinen Geschwisterchen zu sein. Die Anfänge der Ausbildung einer eigenen, von der Mutter abgegrenzten Identität spielen sich nämlich im zweiten und dritten Lebensjahr ab und können dann durch die Geburt des jüngsten Geschwisters massiv beeinträchtigt werden (vgl. Kasten, 1994, S. 79ff).

3.3.6 Einfluß der Geschwisterzahl

Mit diesem Thema hat sich vor allem der klinische Psychologe Langenmayr (1985) auseinandergesetzt. Er versucht zu zeigen, daß die Geschwisterzahlendifferenz (unterschiedliche Anzahl von Geschwistern bei Ehepartnern in ihrer Herkunftsfamilie) ein wesentlicher Einflußfaktor für partnerschaftliche Zufriedenheit ist (vgl. Langemayr, 1985, zitiert nach Kasten, 1994, S. 95f). Ältere Studien zur Geschwisterzahl berücksichtigen den Einfluß anderer Faktoren nicht.

3.4 Geschwister besonderer Art

3.4.1 Geschwisterbeziehung von Zwillingen

Die Zwillingsforschung wurde schon früh zur Klärung der Anlage-Umwelt-Problematik verwendet. Erst in den 80er Jahren gab es dann Studien, die sich mit der besonderen zwischenmenschlichen und sozialen Situation von Zwillingen befaßten (vgl. Kasten, 1993, S. 53f).

Zwillinge konkurrieren miteinander schon im Mutterleib, um den zunehmend engeren Raum. Nachgeburtliche Trennungen können sich jedoch ungünstig auswirken und das Verhältnis zum Zwillingspartner beeinträchtigen. Der von außen und innen wirkende Individualisierungsdruck führt dazu, daß sich Zwillinge im Laufe der Zeit auseinander entwickeln und unterschiedliche Persönlichkeitsstrukturen ausbilden. Es wurde vielfach nachgewiesen, daß getrennt aufgewachsene Zwillinge sich in vielen Bereichen ähnlicher bleiben als zusammen aufgewachsene (vgl. Kasten, 1993, S. 53ff). Schave und Ciriello (1983) sind zusammenfassend der Ansicht, daß die Zwillingssituation die Ausbildung besonderer Empathiefähigkeiten begünstigt, welche die Beziehungsgestaltung und eventuell auch berufliche Orientierung im späteren Leben beeinflussen (vgl. Schave & Ciriello, 1983, zitiert nach Kasten, 1993, S. 100). Zwillinge können sich lieben oder hassen, eine besondere Bindung besteht jedoch lebenslänglich zwischen ihnen.
 

3.4.2 Geschwisterbeziehung und Behinderung

Im Mittelpunkt vieler empirischer Untersuchungen stehen die nicht behinderten Geschwister und ihre Anpassungsleistungen. Behinderte (vor allem ältere) Geschwister stellen eine Belastung für die anderen Kinder in der Familie dar. Spannungen und Konflikte können aber mit der Zeit abgebaut werden. Vielfach werden sogar positive Persönlichkeitseigenschaften, wie Einfühlungsvermögen, Verantwortungs- und Hilfsbereitschaft, die durch das Aufwachsen mit einem behinderten Geschwister gefördert werden, erwähnt. Relativ selten wurde das Verhalten und Erleben behinderter Geschwister untersucht. Die meisten Autoren sind sich jedoch einig, daß behinderte Kinder profitieren, wenn sie mit nicht behinderten Geschwistern aufwachsen (vgl. Kasten, 1993, S. 101ff).
 

3.4.3 Geschwisterbeziehung von Stiefgeschwistern und Halbgeschwistern

Aufgrund der immer steigenden Scheidungsrate kommt es neben der Kernfamilie zu neuen Familienformen. Stief- und Halbgeschwister sind heute keine Seltenheit mehr. Stiefgeschwister kennen sich oftmals kaum, wenn sie beginnen, in einem gemeinsamen Haushalt zu leben. Außerdem haben sie vorangehende Erlebnisse (Scheidung) zu bewältigen. Dennoch untermauern empirische Befunde, daß sich ganz normale geschwisterliche Beziehungen entwickeln, wenn bestimmte Mindestvoraussetzungen, wie vergleichbares Alter und Kontakthäufigkeit, erfüllt sind (vgl. Kasten, 1993, S. 147ff). Die Geburt eines Halbgeschwisters stellt in der Regel ein kritisches Ereignis dar, da sich die älteren Stiefkinder meist ablehnend gegenüber dem kleinen Geschwister verhalten. "Typische Stiefgeschwisterprobleme entstehen vor allem dann, wenn die neue Familie zum Zeitpunkt der Geburt des Halbgeschwisters in sich noch nicht gefestigt ist und den mitgebrachten Kindern noch keine Geborgenheit vermittelt" (Kasten, 1994, S. 186).
 

3.4.4 Geschwisterbeziehungen von Adoptiv- und Pflegekindern

Geschwisterbeziehungen von Adoptiv- und Pflegekindern sind von der empirischen Forschung so gut wie gar nicht als eigenständiges Thema behandelt worden. Verschiedene Autoren betonen jedoch, daß sich nach der manchmal komplizierten Eingewöhnungsphase zwischen Kindern in Adoptiv- und Pflegefamilien ganz normale geschwisterliche Beziehungen entwickeln. Empirische Nachweise fehlen jedoch bislang (vgl. Kasten, 1993, S. 174ff; 1994, S. 205f).

4. Zusammenfassung und persönliche Stellungnahme

Die Aufgabe der vorliegenden Arbeit bestand darin, einen kurzen Überblick über den Bereich der Geschwisterforschung zu geben. Die empirischen Sozialwissenschaften haben sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Thema Geschwister und dessen Einflüsse auf die Persönlichkeit nur wenig befaßt. Dies ist verwunderlich, angesichts des Stellenwertes, welcher der Geschwisterbeziehung im Alltag beigemessen wird. In den letzten Jahren sind jedoch vermehrt Arbeiten zu registrieren. Die Geschwisterbindung ist durch Konflikte in allen Lebensphasen geprägt, egal ob das Geschwisterchen gerade auf die Welt gekommen ist oder ob man im Alter den verlorengegangen Kontakt wieder sucht. Fest steht, daß die Geschwisterbeziehung von Ambivalenzen geprägt ist. Eifersucht, Neid, Haß und Bestrebungen, sich weg vom Geschwister zu bewegen, sind Gefühle, die Geschwister kennen. Andererseits ist die Geschwisterbeziehung aber auch durch Wärme, Hilfsbereitschaft, Kooperation und Nähe gekennzeichnet. Sie ist eine schwierige, aber auch einzigartige Bindung, die uns unser ganzes Leben lang begleitet. Jeder, der Brüder oder Schwestern hat, wird von ihnen geprägt und beeinflußt.

Forscher haben Einflüsse, wenn auch sehr vage, sowohl des Geburtsrangplatzes als auch der Geschlechtszusammensetzung der Geschwisterreihe und der Geschwisterzahl, auf die Persönlichkeitsentwicklung festgestellt. Vergessen darf man dabei jedoch nicht, daß andere Faktoren, wie die Eltern-Kind-Beziehung, der elterliche Erziehungsstil und sozioökonomische Bedingungen neben den Einflüssen der Geschwisterbeziehung, wesentlich für die Ausbildung spezieller Persönlichkeitsmerkmale sind. Die spätere Partnerbeziehung wird zwar von den Geschwisterbeziehungen in der Herkunftsfamilie mitgeprägt, hat aber, wie alle Bereiche des Lebens, eine eigene Dynamik. Besondere Arten der Geschwisterbeziehung, wie die von Zwillingen, Stief- und Halbgeschwistern oder Adoptiv- und Pflegekindern, sind teilweise stärker problembehaftet. Es ist aber durchaus möglich, daß sich eine, für beide Geschwisterseiten befriedigende Bindung entwickelt.

Ich habe einen sieben Jahre älteren Bruder. Seine damalige Reaktion auf meine Geburt: "Kann man die nicht gegen einen Hund austauschen". Ich wurde also von meinem lieben Geschwisterchen sehr herzlich empfangen. Unsere "Liebe" breitete sich in unser beider Kinderjahre noch aus. Mein Bruder Martin steckte mich in die Klomuschel, ich steckte ihm den schmutzigen Besen ins Gesicht und hin und wieder störte ich die traute Zweisamkeit mit seinen neuen Freundinnen. Wir verstanden uns also alles in allem prächtig und mußten uns auch noch ein gemeinsames Zimmer teilen, was zur Vertiefung unserer Gefühle beitrug. Mit der Zeit erkannte ich aber, daß es auch gewisse Vorteile bringt, einen großen Bruder zu haben. Auch mein Bruderherz entdeckte Seiten an mir, die ihm nicht lästig erschienen. Aus dem Haß der Kindheit wurde eine tiefe, ehrliche und harmonische Beziehung. Mein großer Bruder wurde ein wertvoller Freund.

Die Behandlung des Themas Geschwisterforschung hat meine Erinnerungen an meine Kindheit mit meinem Bruder wieder aufgefrischt. Ich erlebte unsere Geschwisterbeziehung als eine wichtige Erfahrung, die die Entwicklung meiner eigenen Persönlichkeit mitprägte. Der Literatur kann entnommen werden, daß die Forschung auf diesem Gebiet erst am Beginn steht, und daß in den nächsten Jahren zahlreiche Studien folgen werden.
 
 

Literaturverzeichnis

Bank, S. P. & Kahn, M. D. (1989). Geschwister-Bindung. Paderborn: Junfermann Verlag.

Haberkorn, R. (Hrsg.). (1991). Als Zwilling geboren. Über eine besondere Geschwisterkonstellation. München: Kösel-Verlag.

Kasten, H. (1993). Die Geschwisterbeziehung (Bde. 1 und 2). Göttingen: Hogrefe.

Kasten, H. (1994). Geschwister: Vorbilder, Rivalen, Vertraute. Berlin: Springer.

Leman, K. (1995). Füreinander geboren. Wie die Geschwisterreihe unsere Partnerwahl prägt. Freiburg: Herder Verlag.

Schenk-Danzinger, L. (1993). Entwicklungspsychologie (22., unveränderte Aufl.). Wien: Österreichischer Bundesverlag.

Schütze, Y. (1989). Geschwisterbeziehungen. In R. Nave-Herz & M. Markefka (Hrsg.), Handbuch der Familien- und Jugendforschung. Familienforschung (Bd. 1) (S. 311-324). Neuwied: Luchterhand.
 
 

Inhaltsverzeichnis

14) Scheidung und ihre Folgen für die betroffenen Kinder (Carina Kreuzinger)

1. Einleitung

"Scheidung ist ein dermaßen streßgeladenes Problem, daß es gesunde Menschen für eine unterschiedlich lange Zeit zu funktionsgestörten Personen macht" (BEAL, 1994).

"SCHEIDUNG" - mit diesem Wort assoziiert man Schmerz, Leid, Einsamkeit, Streit, Depression, neuer Anfang, Erlösung; letztendlich eine Trennung, die endgültig und unwiderruflich ist. Welche Gefühle wirklich damit verbunden sind, wird nur der nachvollziehen können, der mit einem solchen Konflikt bereits konfrontiert worden ist. Eine Scheidung kann als kritisches Lebensereignis gesehen werden, das für alle Beteiligten sehr schwer verarbeitbar ist.

Grundsätzlich gilt, daß eine Scheidung kein punktuelles Ereignis ist. Einer Scheidung gehen meist Jahre des Konfliktes voraus, und diese Jahre waren für alle Betroffenen sehr belastend. Auf jeden Fall sollte unterschieden werden zwischen juridischem und psychologischem Zeitpunkt der Scheidung. Der juridische Zeitpunkt bezeichnet den Tag, an dem die Scheidung rechtskräftig wird. Psychologisch gesehen handelt es sich um einen Prozeß, an dessen Beginn konflikthafte Auseinandersetzungen zwischen den Ehepartnern stehen, die auch den Kindern nicht verborgen bleiben. Der psychologische Prozeß setzt sich fort über die tatsächliche Trennung, bis zu dem Zeitpunkt, an dem alle Beteiligten ihre Beziehungen neu strukturiert haben, d. h bis sie den Bewältigungsprozeß hinter sich gebracht haben, was 1-1,5 Jahre dauern kann.

Warum kommt es zu Scheidungen ?

Ein Grund ist, daß sich die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau verändert hat, denn es ist heutzutage keine Seltenheit mehr, daß eine Frau berufstätig ist. Diese Vorstellung einer gleichberechtigten Partnerschaft bietet ausreichend Hürden. Andere wieder möchten aus einer Beziehung fliehen, die unerträglich geworden ist. Für die Betroffenen einer Trennung ergeben sich Veränderungen in vielen Bereichen - in sozialen, psychischen und ökonomischen.

Mittlerweile sind Trennung und Reorganisation eines neuen Familiensystems Massen-phänomene unserer Zeit, wie es auch die psychotherapeutische Praxis zeigt. Doch im Alltag ist noch immer die subjektive Theorie vorherrschend, daß eine Scheidung für Kinder psychische Folgen nach sich ziehen muß, weil es für die psychische Gesundheit kleiner Kinder unabdingbar ist, in einer typischen Kleinfamilie aufzuwachsen. Sollte es zu einem Versagen einer Familie kommen, so könne man die delinquente Entwicklung des betroffenen Kindes bereits voraussagen.

2. Die Scheidung aus der Sicht des Kindes

Kinder sind in Fällen von Trennung oder Scheidung regelmäßig Betroffene, selten sind sie Handelnde im Sinne von Entscheidenden. Sie sind allen Auswirkungen wie familiären Spannungen (z. B. Mutter und Vater gleich viel lieben), sozialen Spannungen (wie denken andere über die Scheidung, z. B. Nachbarn) und finanziellen Spannungen (zukünftiger Wohnort) ausgeliefert. Zusätzlich bedeutet für ein Kind Scheidung die Trennung vom Vater und meistens auch den nachhaltigen Bruch in der Beziehung zum Vater. Die Väter sind meistens die nicht-sorgeberechtigten Elternteile und sie müssen den gemeinsamen Haushalt verlassen, was oft dazu führt, daß sie den Kontakt mit dem Kind abbrechen. Es ist möglich, daß längerfristige bzw. permanente Konsequenzen auftreten. Kurzfristig gesehen stellt eine Scheidung für ein Kind eine hochgradige Belastung dar, bedeutet dieser Umstand doch den Verlust des Vaters. Trotzdem kann man nicht sagen, daß es besser wäre, eine Scheidung zu vermeiden, dem Kind diese emotionale Erschütterung zu ersparen und statt dessen eine Beziehung aufrechtzuerhalten, die keine emotionale Basis mehr bietet. Die Lösung des Familiensystems führt bei allen Beteiligten zu verschiedenen Symptomen wie Schlafstörungen, psychosomatischen Erkrankungen, Depression, überdurchschnittliche Kränkbarkeit, Schulversagen, Gewalt oder erhöhte Disposition für spätere neurotische Erkrankungen als Langzeitfolge. Der Scheidungsprozeß kann sowohl eine Identitätskrise, als auch eine Erschütterung des Selbstkonzepts zur Folge haben. "Die Entscheidung, eine unglückliche Partnerschaft zu beenden, fällt Eltern besonders schwer, wenn sie an die Kinder denken. Doch die Trennung muß für Kinder keine Tragödie bedeuten" (Bernhardt, 1995, S. 6).

Man muß sich darüber im klaren sein, daß die Auflösung einer Familienkonstellation deshalb von den Ehepartnern beschlossen wird, weil sie keine andere Lösung ihrer Probleme sehen. Für die Kinder bedeutet das in der Regel neue Probleme und Veränderungen in ihrem Leben. Was für die Eltern eine Lösung ihrer eigenen Probleme bedeutet, heißt für das Kind das Entstehen von Problemen.

3. Scheidungszahlen in Österreich

4. Studien

Die folgenden Untersuchungen sollen zeigen, wie unterschiedlich die Reaktion der Kinder auf eine Scheidung sein kann.

Wallerstein et al. (1988) führten eine Langzeitstudie durch, weil sie erkannten, daß eine Scheidung kein isolierter Prozeß ist, sondern daß Auffälligkeiten erst nach einiger Zeit auftreten. Sie haben 131 Kinder aus 60 Scheidungsfamilien zum Trennungszeitpunkt und zu drei späteren Zeitpunkten untersucht (18 Monate, 5Jahre, 10 Jahre). Die Ehepaare waren durchschnittlich 11 Jahre verheiratet, das Alter der Kinder variierte vom Vorschulalter bis zur Adoleszenz. Es wurden intensive Gespräche geführt, die Kinder wurden bei Spielsitzungen beobachtet und zur Ergänzung der Daten wurden Informationen aus der Schule geholt.

Wie Wallerstein et al. herausfanden, sind die Reaktionen der Kinder altersabhängig.

Die Vorschulkinder waren stark beunruhigt hinsichtlich der Scheidung, es kam zu einer Regression und akuter Trennungsangst. Zum ersten Zeitpunkt waren die Jungen weiterhin verstört, während sich die Mädchen einigermaßen beruhigt hatten. Fünf Jahre später konnten sich die Kinder kaum noch bewußt an Familie und Scheidung erinnern. Einige waren darunter, die noch Versöhnungsphantasien hegten, ansonsten wiesen sie angepaßtes Verhalten in der Schule auf und entsprachen auch den Leistungsanforderungen.

Die älteren Kinder litten unter Gefühlen der Machtlosigkeit. Sie waren voller Wut und Aggressionen, dann kam es zu Depressionen, sozialem Rückzug und Leistungsabfall. Auch hier erholten sich Mädchen schneller, während Buben noch länger verstört waren. 10 Jahre später wurden noch starke Nachwirkungen registriert und Gefühle von Angst, die Situation könne sich im eigenen Leben wiederholen. In Folge könnte man sagen, daß die älteren Kinder mehr belastet waren als die zum Zeitpunkt der Scheidung jüngeren Kinder. Langfristige Störungen können auftreten, sind aber abhängig von der Lebensqualität und von der Beziehung zum nicht-sorgeberechtigten Elternteil.

Eine weitere Untersuchung führte Hetherington (1979) durch, und diese Studie zählt zu den bekanntesten und gründlichsten Langzeitstudien im bezug auf das Verhalten außerhalb der Familie, z. B. im Spiel, sozialen Interaktion. 48 Jungen und Mädchen wurden 2 Monate, 1 Jahr und 2 Jahre nach der Scheidung untersucht, wobei die Kinder ungefähr 4 Jahre alt waren. Informationen bekamen die Untersucher durch Beobachtung, Spiel und Interaktion im Kindergarten und in der Schule, das Verhalten wurde von Lehrern und Erziehern eingeschätzt.

In intellektueller und sozialer Hinsicht waren Kinder aus Scheidungsfamilien denen aus der Kontrollgruppe unterlegen. Sie waren ängstlicher, apathischer, litten unter Schuldgefühlen. Diese Symptome waren nach 2 Jahren bei den Mädchen verschwunden, während die Buben diese Verhaltensmuster beibehielten. In der Interaktion mit anderen Kindern waren sie sehr um Aufmerksamkeit bemüht, aggressiver und abhängiger von Bestätigung. Die Jungen waren bei anderen Kindern weniger beliebt und verbrachten mehr Zeit mit Mädchen. Hetherington (1985) untersuchte die Kinder nochmals, wobei sie zu Hause beobachtet wurden und sowohl selbst als auch Lehrer, Eltern und Klassenkameraden Fragebögen auszufüllen hatten. In Familien, wo die Mutter nicht wieder geheiratet hatte, waren Mädchen nicht auffällig, während Buben in ihrem Verhalten eher aggressiv waren. Im Falle einer Heirat, die noch keine 2 Jahre zurücklag, wiesen beide Gruppen Verhaltensprobleme auf, bei mehr als 2 Jahren zeigten sich Mädchen weniger angepaßt und die Jungen waren ruhiger. Die Folge daraus ist, daß langfristige Auswirkungen abhängig vom Geschlecht, von der Wiederverheiratung der Mutter, der Anpassung der Mutter an die neue Situation und von der ehelichen Harmonie sind.

Guidubaldi et al. (1986) führten eine landesweite Untersuchung in den USA durch. Sie untersuchten Faktoren wie soziale Anpassung und schulische Leistungen sowie die Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen. Man fand heraus, daß eine gute Beziehung zum Vater insbesondere bei Jungen zu weniger Konflikten und in Folge zu besseren schulischen Leistungen führt. Auch ein lockerer Erziehungsstil und regelmäßiger Tagesablauf wirken sich positiv aus. Der Bericht wollte aufweisen, daß man sich nicht darauf festlegen sollte, Scheidungskinder mit Kindern aus traditionellen Familien zu vergleichen, sondern auf verschiedene Reaktionen der Kinder eingehen sollte, um bessere Ratschläge geben zu können.

Kulka (1979) untersuchte das psychische Wohlergehen Erwachsener, deren Eltern geschieden worden waren, in Form von 2 Querschnittuntersuchungen in den Vereinigten Staaten 1957 und 1967. Es konnte festgestellt werden, daß Ängstlichkeit, körperliche Beschwerden und Ehe-probleme häufiger auftreten als bei Erwachsenen ohne Scheidungserfahrung. Frauen hatten tendenziell mehr Trennungen hinter sich und betonten ihre Rolle als Mutter oder im Beruf mehr als die Rolle der Ehefrau. Generell war der Grad der allgemeinen Zufriedenheit hinsichtlich der eigenen Elternrolle und der elterlichen Kompetenz bei allen gleich.

Auch Block (1986) führte zu diesem Thema Untersuchungen durch. Es wurden 128 Kinder vor und nach der Scheidung der Eltern untersucht (mit 3 und 14 Jahren). Sie wurden dann von Lehrern auf einer Persönlichkeitsskala bewertet. Grundsätzlich unterschieden sich die Kinder bereits gravierend von anderen vor der Trennung. Die Jungen wirkten schon im Alter von 3 Jahren störrisch, labil, ruhelos und in weiterer Folge waren sie aggressiv, impulsiv und sie konnten Streßsituationen nur unzureichend standhalten. Die Mädchen waren destruktiv, kamen mit anderen Kindern schlecht zurecht, waren emotional labiler. Daraus konnte Block folgern, daß Spannungen schon Jahre vorher in der Ehe spürbar sind, welche dann auf die Kinder übertragen werden. Sie wachsen in einer konfliktreichen Atmosphäre auf, die Mütter zeigen weniger Selbstwertgefühl und sind weniger auf die Kinder orientiert. Man hat jetzt gesehen, daß verschiedene Faktoren herausgearbeitet werden können, die in Folge zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Wie bereits erwähnt, ist Scheidung ein Prozeß und die jahrelangen Spannungen, der Ablauf der Scheidung, wie es den Kindern mitgeteilt wurde und vor allem "was", die Auswahl des sorgeberechtigten Elternteils, die Besuchszeitenregelung – das alles fließt auf ein Kind ein und wirkt sich dann auf seine Persönlichkeit und auf die Bewältigung aus.

5.1 Reaktionen der Kinder

Kinder reagieren immer auf die Scheidung, weil ein so einschneidendes Erlebnis für alle liebenden Personen eine Erschütterung bedeutet. Man kann die Problematik der Beteiligten oft nicht genau ermessen, weil es auf den Zeitpunkt der Untersuchung ankommt und dazu sind Langzeituntersuchungen notwendig. Die Auswirkungen einer Scheidung auf Kinder sind unterschiedlich, und sind von verschiedenen Faktoren abhängig wie man bereits an den Studien sehen konnte:

Im Kleinkindalter kommt es zu deutlich beobachtbaren Verhaltensänderungen, wie z. B. Regression in der Sauberkeit, Trennungszustände, Weinen, Angstzustände, gesteigerte Aggressivität und Trotzverhalten. Man sollte Gefühle des Kindes wahrnehmen und versuchen es zu verstehen, auch ist es wichtig eine kindgerechte Erklärung abzugeben. Bei guter Qualität der Betreuung verschwinden Symptome innerhalb eines Jahres. Die Vorschulkinder reagieren mit erhöhter Irritierbarkeit, verstärktem Weinen, aggressivem Verhalten. Sie haben Schuldgefühle, weil sie alle Probleme auf sich selbst beziehen (egozentrische Weltansicht). Kinder zwischen fünf und sechs Jahren sind bereits in der Lage, ihre Gefühle der Wut und Trauer zu zeigen und zu artikulieren. Schulkinder zeigen Gefühle starker Traurigkeit, Gefühle der Macht-, und Hilflosigkeit und ambivalente Gefühle in bezug auf eine Person. Neun- bis Zwölfjährige sind bereits in der Lage die Gründe der Eltern für die Scheidung zu verstehen. Sie wollen nach außen hin gelassen und mutig wirken, aber das deutet keineswegs auf eine gute emotionale Bewältigung hin. Kinder im Schulalter fühlen sich besonders erschüttert und alleingelassen und es kann zu Schulproblemen und depressiven Reaktionen kommen. Im Jugendalter gibt es oft Reaktionen wie Zorn, Trauer oder Schmerz. Aber sie verfügen über die Fähigkeit zur bewußten Reflexion und die ermöglicht ihnen, die Eltern als voneinander unabhängige Personen zu sehen, die unterschiedliche Interessen entwickelt haben. Die Jugendlichen können auch eigene Beziehung zu den Eltern von deren Beziehung zueinander trennen.

5.2. Reaktionen aus psychoanalytischer Sicht

Kinder sind in solchen Situationen die Hauptleidtragenden, weil sie der Willkür der Eltern ausgeliefert sind. Meist können die Kinder nicht verstehen, warum der Vater sie verläßt, sie sehen es auch als Scheidung von ihnen und reagieren mit Trauer oder auch Wut. Diese Emotionen können sich gegen beide Elternteile oder gegen den einen, dem sie die Verantwortung am Scheitern der Ehe zuweisen, richten. Ein Teil dieser Vorwürfe, der sich gegen die Eltern richtet, dient als Abwehr der eigenen Schuldgefühle, denn die Kinder geben sich oft selbst die Schuld an einer Scheidung. Sie glauben, sie seien Schuld an der Trennung, weil sie die Eltern enttäuscht haben. Solche Gedanken führen bei vielen Scheidungskindern zu einer Verminderung des Selbstwertgefühls, die Scheidung erscheint ihnen als Strafe, Vergeltung für zu geringe Leistungen und sogar für verbotene Gedanken (z. B. Ambivalenz zwischen Liebe und Haß). Solche Schuldphantasien im Sinne einer Mitschuld an der Trennung treten laut einer Schätzung von Wallerstein und Kelly in 30-50 % der Fälle auf. Zusätzlich kann es auch zu einer massiven Angst kommen, Angst vor Liebesverlust, vor den Veränderungen, die mit der Trennung einhergehen. Diese emotionale Erschütterung kann so schwerwiegender Art sein, daß sie dem Kind Schlaf und Ruhe rauben. Fragen wie -wo werden wir wohnen? werde ich den Papa je "wiedersehen"? wie soll es denn jetzt weitergehen? – beschäftigen die Kinder sehr. In weiterer Folge beginnen die Kinder sich zu fürchten, nach dem Papa auch noch die Mama zu verlieren. Das kann zu Regressionen führen oder zu einer extremen Anhänglichkeit, die soweit gehen kann, daß das Kind alleine nirgends mehr bleibt und die Mutter nicht mehr aus seiner Nähe läßt. Die Trennung von einem Elternteil kann bei manchen Kindern zu psychischen Reaktionen führen. Ein Junge, der sich mit seinem Vater identifiziert, der so sein will wie er, kann durch den Weggang des Vaters alles verlieren. Der Verlust erscheint ihm wie eine Kastration, es tritt Verzweiflung, Angst und ein Gefühl der Überwältigung auf. Das Ausmaß und die Art der unmittelbaren Reaktion auf die Scheidung hängt auch von der individuellen Disposition des Kindes ab, aber es kann passieren, daß ein Kind sein psychisches Gleichgewicht verliert.

6. Nach-Scheidungs-Krise

Diese Krise ist wesentlich von äußeren Einflüssen der Scheidung abhängig. Die negativen Auswirkungen der Scheidung auf die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern können von den Eltern reduziert werden.

7. Wie kann man auf die Kinder eingehen ?

Wichtig in der ersten Phase nach der Trennung ist vor allem die verbale Kommunikation. Man muß mit den Kindern sprechen, sie trösten, ihnen Gelegenheit geben Affekte zu äußern, auf Aggressionen nicht aggressiv antworten, ihnen zuhören und sie verstehen. Es ist wichtig mit den Kindern über die Umstände der Scheidung und die Zukunft zu sprechen, den Schmerz zu erkennen und ungewöhnliches Verhalten zu verstehen. Sie müssen wissen, daß sie von beiden Elternteilen geliebt werden. Für das Kind sollte es möglich sein, mit der Mama über den Papa sprechen zu können, ohne damit in einen Loyalitätskonflikt zu geraten. Zusätzlich sollte man hilfreiche Aktivitäten und Strategien entwickeln, um ihnen zu helfen die Krise zu bewältigen. Viele Eltern wollen für die Krise ihres Kindes keine Verantwortung übernehmen, was zu einer Verschlimmerung der psychischen Situation führt. Es treten Symptome oder sollte man es als Hilferufe bezeichnen auf wie Bettnässen, soziale Konflikte, Leistungsnachlaß, vermehrte Aggressionen, übertriebene Anhänglichkeit. Diese Zeichen werden nicht mit der Scheidung in Zusammenhang gebracht, sondern als Fehlverhalten bezeichnet. Diese Eltern erkennen die Scheidung nicht als Krise an. Sie verstehen die Reaktionen nicht, und können deswegen ihren Kindern auch nicht bei der Bewältigung helfen. Die Kinder spüren den Verlust an liebevoller Zuwendung und werden immer einsamer, ihre Angst wird größer. Sie leben in einem ständigen Hin-und-Her, die Konflikte mit den Eltern werden größer, was dazu führt, daß die zurückweisenden und kritischen Reaktionen der Eltern häufiger werden.

Wichtig ist, daß Kinder das Gefühl haben, daß es weitergeht, daß sie noch immer geliebt werden und auch lieben können. Sie müssen sich der Mutter sicher sein, nicht von ihr verlassen zu werden. Man sollte darauf achten, daß sich ein Kind auch in der neuen Beziehung sicher und geborgen fühlt. Zusätzlich sollte man ihm die Aussicht auf Freude und Befriedigung offenhalten. Die tiefgreifendste Veränderung erfahren die Kinder durch den Verlust des Vaters, deswegen sind regelmäßige Kontakte wichtig. Auf die Qualität dieser Beziehung sollte besonders Wert gelegt werden (Väter halten häufiger zu ihren Söhnen Kontakt). Eine gemeinsame elterliche Sorge wäre vorteilhaft (Kinder sollten Kontakt zu beiden Elternteilen haben). Auf jeden Fall sollte das Kind über die Tätigkeiten seines Vaters informiert sein und vice versa. Schützend können auch Persönlichkeitsfaktoren sein wie Kontrollüberzeugung, soziale Kompetenzen, Flexibilität in den Bewältigungsstrategien, geringes geschlechtsstereotypes Verhalten, überdurchschnittliche sprachliche und kommunikative Fähigkeiten.

8. Zusammenfassung

Scheidung ist manchmal die beste Lösung für Kinder, die in einer Familie aufwachsen, wo es statt Liebe nur mehr Spannungen gibt. Trotzdem kann es zu Folgeerscheinungen kommen, die das Kind in seinem Leben begleiten. Es kann zu leistungsbezogenen Beeinträchtigungen, aber auch zu emotionalen und sozialen Problemen kommen. Auf Grund der erschwerten Entwicklungsbedingungen können psychische Störungen nicht ausgeschlossen werden. Diese Kinder leiden unter Problemen der psychosozialen Anpassung, sie haben Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl und auch in Beziehungen zu anderen. Ihre Probleme im Umgang mit Aggression richten sie oft gegen sich selber, und das kann zu einer Depression führen. Leider kann es passieren, daß sich Kinder geschiedener Partner vorschnell in eine Beziehung stürzen, um dort jene Zuneigung zu suchen, die sie vermißt haben. Es kann auch so sein, daß ihnen die Ablösung vom Elternhaus sehr schwer fällt und sie sich "losreißen" müssen. Mädchen insbesondere wählen sich den erstbesten Partner, weil sie große Sehnsucht nach einer Partnerschaft haben. Und obwohl sie den Fehler der Eltern nicht wiederholen wollen, sind sie viel zu sehr geprägt von der Beziehung ihrer Eltern. "Ich weiß nicht, wie Menschen persönliche Konflikte bereinigen können, weil ich nie gesehen habe, daß meine Eltern es taten. Ich habe nie eine normale gesunde Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau erlebt" (FASSEL 1994, S. 169). Die Bewältigung ist in jedem Fall von der individuellen Persönlichkeit, von der Unterstützung der Eltern und günstigen Umweltbedingungen abhängig. Für Kinder ist es deshalb besonders schwer, weil sie in eine Situation hineingedrängt werden, die sie sich nicht ausgesucht haben und in der sie machtlos sind. Jedes Kind reagiert anders, das kann man sehr gut beobachten, aber tiefe Wunden bleiben überall zurück. Leider kommt es in Scheidungsfamilien meistens zu argen Auseinandersetzungen, wobei auf die Kinder sicher keine Rücksicht genommen wird. Diese befinden sich dann auf einer Gratwanderung. Sie wissen nicht, was sie zu wem sagen dürfen, wie sie sich verhalten sollen, wie es weitergehen soll und vor allem hängen sie mit ihren eigenen Gefühlen völlig in der Luft. Eine einverständliche und optimale Regelung zwischen den Partnern, wo besonders auf das Kind Rücksicht genommen wird, wäre wünschenswert, aber das gibt es in der Realität selten.

"Überwindung der Scheidung kann es nicht geben. Lebensgeschichte ist nicht ungeschehen zu machen. Unter guten Umständen kann es dem Kind aber gelingen, diese Geschichte so zu bewältigen, daß es sich seine Lebenstüchtigkeit und Glücksfähigkeit erhalten kann."(Figdor, 1991).
 

Literaturverzeichnis

Figdor, H. (1991). Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung. Mainz: Matthias-Grünewald-Verlag.

Hofer, M., Klein-Allermann, E. & Noack, P. (1992). Familienbeziehungen. Eltern und Kinder in der Entwicklung. Göttingen: Hogrefe.

Hörhan, P. (1997). Die Konsequenzen der elterlichen Trennung: Psychische Spätfolgen für die betroffenen Kinder. Unveröffentlichte Dissertation, Universität Wien.

Schaffer, H. R. (1992). ... und was geschieht mit den Kindern? Psychologische Entscheidungshilfen in schwierigen familiären Situationen. Bern: Huber. (Original erschienen 1990: Making Decisions about Children. Psychological Questions and Answers)
 
 

Inhaltsverzeichnis

15) Psychologie der Großelternschaft (Barbara Martl)

Einleitung

Die Mehrheit aller Menschen verbringt etwa 1/3 ihres Lebens als Großeltern. Dennoch gibt es seitens der Entwicklungspsychologie nur wenige Studien über die Bedeutung der Großeltern für die Entwicklung ihrer Enkel. Tatsächlich spielen aber Großeltern eine bedeutende Rolle hinsichtlich der zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Familie, sowie für die Entwicklung der Kinder. Die Bedeutung der Großeltern ist u. a. abhängig von der jeweiligen Familienstruktur, von sozialen Gegebenheiten, wie z. B.: Berufstätigkeit der Eltern, Gesundheit, Einstellung zur Ehe, etc. Diese Faktoren sind allerdings von Kultur zu Kultur sehr unterschiedlich. Im westlichen Kulturkreis werden ca. 70% aller Menschen mittleren und höheren Alters Großeltern. Frauen werden im Durchschnitt mit 50 Jahren zum ersten Mal Großmutter, während Männer einige Jahre älter sind, wenn sie zum ersten Mal Großvater werden. Da die meisten Menschen durchschnittlich 25 Jahre lang Großeltern sind, d.h. etwa 1/3 ihres Lebens, stellt diese Zeit einen wichtigen Lebensabschnitt dar. Viele erleben ihre Rolle als Großeltern sehr positiv. Im Schnitt haben sie etwa ein Mal pro Woche Kontakt zu ihren Enkeln, und hegen sehr zufriedenstellende Beziehungen zu ihnen.

Historisch

Aus diesem Grund erscheint es seltsam, daß diesem Thema von seiten der Entwicklungspsychologen sehr lange Zeit nur wenig Aufmerksamkeit beigemessen wurde. So gab es vor 1950 nur ganze fünf Studien die sich mit diesem Thema befaßten. Erst seit den 70er Jahren, und besonders seit den 80er Jahren hat man begonnen, sich eingehender für dieses Thema zu interessieren. In früheren Studien wurde die Rolle der Großeltern eher negativ eingeschätzt. In den jüngeren Studien wird die Bedeutung der Großeltern nun allerdings in einem positiven Licht gesehen. So haben Großeltern angeblich große Bedeutung als "unterstützende Faktoren" in gewissen Situationen. Ein Grund für diese Änderung liegt darin, daß sich verschiedene Stereotype (z. B. unflexible Großeltern mit veralteten, zu autoritären Einstellungen etc.), aber auch die Rolle der Großeltern in der Familie geändert haben. Verschiedene Studien aus den 50er Jahren zeigen, daß Großmütter im allgemeinen tatsächlich strenger und autoritärer eingeschätzt wurden als Mütter. Das kann damit zusammenhängen, daß sich damals die Meinungen über "richtige Kindererziehung" sehr schnell änderten. Im Laufe der 70er Jahre nahmen diese starken Differenzen aber ab. Heute werden Großeltern im allgemeinen als nicht streng, sondern eher verwöhnend eingeschätzt. In einer Studie von Stevens (1984), der 101 Paare von Großmüttern und Müttern (® deren Töchter) untersuchte, zeigte sich, daß Großmütter im allgemeinen ihre Enkelkinder aufgeschlossener und weniger strafend behandeln als deren Mütter. In einer anderen Studie (1980) zeigte sich, daß sich im allgemeinen Großmütter und deren Töchter in ihrem Erziehungsstil kaum unterscheiden, daß aber Großmütter doch eher noch großzügiger, und nachsichtiger als ihre Töchter sind.

Arten der Großelternschaft

Bei der Frage wovon nun die Beziehung zwischen Großeltern und deren Enkel abhängt, muß man zunächst vier Arten von Großelternschaft unterscheiden:

Sowohl das Geschlecht der Großeltern, sowie deren Erblinie ist für die Beziehung zum Enkel von Bedeutung. So ergaben viele Studien, daß Großmütter mütterlicherseits die engste Beziehung zu ihren Enkeln (d.h. den Kindern ihrer Töchter) haben, gefolgt von den Großvätern mütterlicherseits, den Großmüttern väterlicherseits und schließlich den Großvätern väterlicherseits. Dies läßt sich u. a. aus evolutionstheoretischer Sicht erklären: Die natürliche Selektion hat Organismen hervorgebracht, die versuchen, möglichst viele Kopien ihres genetischen Codes zu produzieren. Auch wir Menschen sind bestrebt, uns fortzupflanzen, und möglichst viele Nachkommen zu haben. Aus diesem Grund sind Frauen, wie auch andere weibliche Säuger, sehr besorgt um das Wohl ihrer Kinder. Männer sind im allgemeinen "elterlicher" als andere männliche Primaten. Es ist wahrscheinlich, daß im Laufe der Evolution jene Männer selegiert wurden, die engen Kontakt zu ihren Kindern hegten. Es gibt aber dennoch evolutionäre Faktoren, aufgrund derer Männer etwas weniger elterlich sind als Frauen. Einer dieser Faktoren ist die sogenannte "elterliche Ungewißheit". Darunter versteht man, daß väterliche Elternschaft nur selten 100%ig sicher ist, da die Möglichkeit besteht, daß ihre Partnerin von anderen Männern geschwängert wurde. (Der Mensch ist evolutionstheoretisch gesehen polygam, nicht monogam!) Frauen allerdings haben stets die Gewißheit, daß ihre Kinder tatsächlich die ihren sind, da sie sie selber zur Welt bringen, sie säugen, etc. Aus diesem Grund schließen nun Evolutionspsychologen daraus, daß Frauen elterlicher als Männer sind. Die Großelternschaft ihrerseits hängt nicht so stark von derartigen Faktoren ab. Es gibt aber Hinweise dafür, daß Großeltern sich im allgemeinen mehr um die Kinder ihrer Töchter kümmern, als um die ihrer Söhne. Wiederum haben sie in diesem Fall eine größere Gewißheit, daß es sich dabei tatsächlich um ihre eigenen Nachkommen handelt. Großmütter kümmern sich im allgemeinen mehr als Großväter um ihre Enkelkinder, da sie wiederum ebenfalls mehr Gewißheit haben als Großväter, daß es sich bei dem Kind um ihre tatsächlichen Nachkommen handelt. Die Großmutter kann sich sicher sein, daß sie die Mutter ihrer Tochter, und diese wiederum die Mutter ihres Kindes ist. Großmütter väterlicherseits sowie Großväter mütterlicherseits sorgen sich in etwa im gleichen Ausmaß um ihre Enkelkinder. Denn bei beiden besteht etwa eine gleich große Möglichkeit, daß ihr Enkel tatsächlich gar nicht genetisch mit ihnen verwandt ist. Großväter väterlicherseits schließlich sorgen sich am wenigsten um ihre Nachkommen, da sie weder Sicherheit haben, daß sie tatsächlich Vater ihres Sohnes, und dieser wiederum Vater seines Kindes ist.

Bedeutung der Großeltern für ihre Enkel

Großeltern können ihre Enkel sowohl direkt, wie indirekt beeinflussen.

Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln

Allgemein kann man heute sagen, daß die Beziehung zwischen Großeltern und ihren Enkeln für beide Seiten positiv und wichtig ist. Studien in Italien zeigten, daß Großelternschaft von den Betroffenen allgemein als sehr positiv empfunden wird. Man sieht darin sozusagen eine neue "Lebensaufgabe", bzw. eine neue Form der Mutter- bzw. Vaterschaft. Die Geburt eines Enkelkindes wird von vielen älteren Menschen als hoffnungsträchtig und ermutigend empfunden, da ihnen dadurch garantiert ist, daß ein Teil von ihnen in ihrem Enkel weiterleben wird. Auch in diesen Studien zeigten sich wiederum Unterschiede zwischen Großvätern und Großmüttern und deren Beziehung zu ihren Enkeln: Großmütter mütterlicherseits gaben an, daß sie stets sehr engen Kontakt zu ihren Töchtern und deren Kindern hatten. Sie empfanden diese Situation als sehr befriedigend. Großmütter väterlicherseits gaben an, daß ihre Bindung nicht so eng sei, und begründeten das mit der Anwesenheit der als Rivalin empfundenen Großmutter mütterlicherseits. Großväter beiderseits gaben an, daß sie erst viel später als die Großmütter eine Beziehung zu ihren Enkeln aufgebaut hätten, und zwar erst etwa ab dem 2. Lebensjahr des Kindes. Zu diesem Zeitpunkt war für sie die Interaktion mit dem Kind einfacher, und sie wurden v. a. zum Spielkameraden.

Zusätzlich läßt sich noch sagen, daß die Bedeutung der Großeltern für ihre Enkelkinder im Laufe ihrer Entwicklung immer mehr abnimmt. Bis zum Alter von 5 Jahren gelten die Großeltern für ihre Enkel als relevanter "Elternersatz". Sie werden zudem als angenehmer, weil weniger streng und geduldiger, empfunden. Ab dem Schulalter nimmt dann die Bedeutung der Großeltern ab, da das Kind beginnt, sich mit seiner Außenwelt zu identifizieren.

Während der Pubertät beginnen die Jugendlichen dann allgemein erwachsene Werte abzulehnen. Das führt konsequenterweise dazu, daß auch die Großeltern "verachtet" (weil erwachsen) werden. Mit Einstieg in das Erwachsenenalter wird dann der Lösungsprozeß von der Familie erneut aktiviert. Das löst z.T. Angst und Unsicherheit aus, was zu ambivalenten Gefühlen gegenüber den Eltern führt.

Die Großeltern werden nun von den Jugendlichen häufig als alt und "unfähig" angesehen, ihnen bei ihren täglichen Problemen zu helfen.

Zusammenfassend

läßt sich also sagen, daß die Beziehung zwischen Großeltern und Enkelkindern im allgemeinen sehr positiv ist, v. a. eben mit Großmüttern mütterlicherseits.

Die Beziehung änderst sich allerdings im Laufe der Entwicklung des Kindes dorthin gehend, daß sowohl Großmütter wie –väter weniger positiv beurteilt werden.

Die Beziehung zu Großeltern mütterlicherseits wird aber allgemein mit der Zeit enger als die zu Großeltern väterlicherseits, und hängt v. a. mit Erfahrungen in der frühen Kindheit zusammen.

Kommentar

Der Grund weshalb ich mich für dieses Thema entschieden habe, ist der, daß ich mich sehr dafür interessierte, einmal etwas aus wissenschaftlicher Sicht über die Großelternschaft zu erfahren. Ich persönlich interessiere mich, glaube ich, sehr für dieses Thema, weil ich selber eine sehr enge und gute Beziehung zu meiner Großmutter mütterlicherseits hatte. Aufgrund eines "Falles" in meinem Bekanntenkreis, sehe ich aber auch, daß der Einfluß von Großeltern leider nicht immer positiv für ein Kind sein muß, selbst wenn die Großeltern alles nur Erdenkliche tun, damit es ihrem Enkel gut geht.

Als persönliche Stellungnahme möchte ich sagen, daß ich mich z.T. mit den Aussagen des

Buches sehr wohl, mit anderen allerdings nicht identifizieren kann.

So gelten z. B. auch für mich meine Großeltern als Bezug zur Vergangenheit. Es ist sehr interessant, mit ihnen über "früher" zu sprechen, ihre Sicht der damaligen Situation (z. B. während des Krieges, ...) zu überdenken, etc. Auch fand ich es jedesmal sehr "spannend", wenn mir meine Großmutter von irgend welchen Verwandten und Bekannten, die schon seit Jahrzehnten tot waren, erzählte. Was ich auch noch aus persönlicher Erfahrung bestätigen kann, ist die Tatsache, daß zumindest ich persönlich den engsten Kontakt zu meiner Großmutter mütterlicherseits, die leider bereits verstorben ist, hegte.

Sehr interessant war es hier für mich die evolutionstheoretische Erklärung, welche im Buch auf sehr anschauliche Weise angeführt ist, zu lesen. In meinem Fall mag das allerdings auch damit zusammenhängen, daß meine Großmutter während ihrer letzten Lebensjahre aus gesundheitlichen Gründen bei uns zu Hause gelebt hat, und ich aufgrund ihrer Krankheit und ihres Leidens eine sehr enge emotionale Beziehung zu ihr aufgebaut habe.

Ergänzend muß ich allerdings sagen, daß meine Großmutter väterlicherseits im Krankheitsfalle sicherlich von ihrer eigenen Tochter, d.h. nicht von meiner Mutter, gepflegt werden würde.

Worüber ich auch mit dem Buch übereinstimme, ist die Annahme, daß heutzutage Großeltern eher dazu neigen, ihre Enkelkinder zu verwöhnen.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob und wie gut dieser Einfluß für das Kind ist. V. a. wenn durch diese verwöhnende Art der Großeltern für das Kind eine ambivalente Erziehungssituation zwischen strengen Eltern und sehr milden Großeltern entsteht, könnte sich das eher negativ auf das psychische Gleichgewicht des Kindes auswirken. Dies gilt v. a. dann, wenn das Kind sehr viel Zeit mit seinen Großeltern verbringt.

Eine Aussage des Buches, mit der ich mich persönlich allerdings nicht identifizieren kann, ist jene, die besagt, daß Großeltern während der Pubertät ihres Enkelkindes zu dessen "Rivalen" werden. Im Gegenteil glaube ich, daß gerade in dieser für Jugendliche und Eltern doch eher "schwierigen" Zeit gerade Großeltern eine sehr große Stütze, sowohl für den pubertierenden Jugendlichen, als auch für dessen Eltern, darstellen können.

Einerseits sind sie für den Jugendlichen, der sich von seinen Eltern unverstanden und ungerecht behandelt fühlt, ein möglicher Zufluchtsort, wo man u. a. Trost und Verständnis finden kann. Den Eltern wiederum können sie Ratschläge erteilen, wie sie in dieser Zeit am besten mit ihrem Kind umgehen, wie sie auf verschiedene Situationen reagieren sollen, etc. Schließlich haben die Großeltern bereits mit ihren eigenen Kindern einige Erfahrungen sammeln können. Hier könnte natürlich eingewendet werden, daß die Großeltern nicht mehr genügend Einblick in die heutigen Gegebenheiten haben, und somit ihre Ratschläge nicht zielführend sein können. Ob und inwiefern Großeltern den "modernen" Gegebenheiten angepaßt sind, wird natürlich individuell verschieden sein. Allerdings sollte man nicht vergessen, daß, wie auch in dem Buch erwähnt wird, Großeltern heute nicht mehr "uralt" sein müssen. Und von einem ca. 55Jährigen ist meiner Meinung nach sehr wohl noch ein gewisses Maß an "Modernheit" zu erwarten.

Literaturverzeichnis

Smith, P. K. (1991). The Psychology of Granfparenthood. London: Routledge.
 

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16) Beziehungen zwischen den Generationen (Barbara Izay)

Einleitung

Der Begriff "Generation" wird in vieldeutiger Weise gebraucht: Unter einer Generation kann eine zeitliche Abfolge von Menschen bezeichnet werden. Gesellschafts- und sozialpolitisch gesehen erscheinen Generationen als soziale Kategorie, die aufgrund der Gleichzeitigkeit des Aufwachsens oder gemeinsam erfahrener gesellschaftlicher Ereignisse soziale Gemeinsamkeiten aufweisen. Am häufigsten ist jedoch das anthropologische Konzept der Generationen, das sich auf die zeitliche Abfolge von Familienangehörigen bezieht (d.h. Enkelkinder-Kinder-Eltern-Großeltern).

Der Teil 1 dieser Seminararbeit beschäftigt sich mit Generationenbeziehungen und -verhältnissen. Im zweiten Teil gehe ich auf die verschiedenen Konfliktfelder zwischen den Generationen ein. Die Verantwortung der Generationen zueinander aus rechtlicher Sicht wird im dritten Teil erläutert. Im Teil 4 möchte ich kurz den Generationenvertrag beschreiben. Teil 5 und 6 handeln von dem kulturellen und emotionalen Transfer zwischen den Generationen.

Teil 1: Generationenbeziehungen - Generationenverhältnisse

Die Bezeichnung Generationenbeziehungen beschränkt sich auf die beobachtbaren Folgen sozialer Interaktionen zwischen Angehörigen verschiedener, in der Regel familial definierter Generationen. Die Generationenverhältnisse bezeichnet dagegen die für die Beteiligten nicht unmittelbar erfahrbaren, im wesentlichen durch Institutionen des Sozialstaats vermittelten Zusammenhänge zwischen den Lebenslagen und gemeinsamen Schicksalen unterschiedlicher Altersklassen oder Kohorten. In modernen Gesellschaften sind familialverwandtschaftliche Generationenbeziehungen und sozialpolitisch strukturierte Generationenverhältnisse wechselseitig verknüpft. So bewirkt der Ausbau sozialstaatlicher Altersversorge (ein sozialpolit. Generationenverhältnis) eine Entlastung familialer Generationenbeziehungen (sozial und emotional) und dient einem Absinken des familialen Generationskonfliktes. Anstelle der Betrachtung von Generationen als soziale Gruppierungen werden seit den letzten Jahrzehnten in der Diskussion der Generationen, Generationenbeziehungen und Generationenverhältnisse als zentrale Aspekte der gesellschaftlichen Regelung von Zeitlichkeit konzipiert (im Sinne von vorher/nachher, jünger/älter, ...). Das Generationenproblem wird nun als Problem der kulturellen Regelung von Zeitlichkeit gesehen (Fragen der lebenszeitlichen Asymmetrien von jünger/älter, früher/später;). Eine wichtige Quelle für intergenerative Spannungen liegt in der fehlenden Übereinstimmung der Lebenserfahrungen.

Es gibt 3 Modellvorstellungen bezüglich Generationenbeziehungen und -verhältnissen.

Modell A: Negative Interdependenz (Generationenkonflikt)

Das Verhältnis zwischen verschiedenen Generationen ist durch einen Interessenskonflikt charakterisiert, der mehr oder weniger ausgeprägt ist. Jede Generation hat ihre eigenen Interessen, die mit den Interessen anderer Generationen unvereinbar sind. Es handelt sich um ein sogenanntes Nullsummenspiel, da jeder Gewinn für die Generation A ein Verlust für B ist.

Modell B: Positive Interdependenz (Generationensolidarität)

Hier besteht die Annahme, daß alles was einer Generation zugute kommt auch für die jeweiligen anderen Generationen positive Folgen hat. Interessen älterer und jüngerer, nachkommender Generationen sind nicht unvereinbar, sondern positiv verknüpft.

Modell C: Unabhängigkeit/Independenz (Koexistenz der Generationen)

Es wird angenommen, daß verschiedene Generationen relativ unabhängig voneinander koexistieren. Jede Generation hat eigenen Interessen, welche wechselseitig mehr oder weniger unabhängig sind.

Teil 2: Generationskonflikte

Eine Generation ist für viele Menschen - empirischen Untersuchungen zufolge - eine Personengruppe, die circa in einem 7-8 Jahresintervall (älter oder jünger) um das eigene Alter liegen. Dieser Generationenintervall wurde mit der Zeit kleiner. Ursachen liegen möglicherweise in der schnellen Veränderungsrate unserer Zeit (schneller Wechsel von Moden - Kleidung, Musik, Sportarten ...). Es bestehen intergenerativ unterschiedliche Grundauffassungen bezüglich politischer, basaler Werthaltungen: diese müssen jedoch nicht automatisch zu Konflikten führen (im innerfamilären Bereich werden sie kaum angesprochen, in der öffentlichen Diskussion führen unterschiedliche Werthaltungen jedoch zu entsprechenden Differenzen). Untersuchungen zeigten jedoch, daß die Differenzen zwischen Älteren und Jüngeren nicht wirklich drastisch sind.

Konfliktfelder, die für den Alltag mehr oder weniger charakteristisch sind: Konkrete Konflikte setzen konkrete Kontakte voraus - abgesehen von Kontakten im Familienverband sind diese relativ gering: ca. die Hälfte der Bevölkerung hat kaum Kontakt mit viel jüngeren Personen; ca. 2/3 der Bevölkerung haben kaum Kontakt mit deutlich älteren Personen. Es zeigt sich also, daß die Kontakte, abgesehen vom Familienverband, hauptsächlich innerhalb der eigenen Alterskohorte gefunden werden und kaum Berührungspunkte mit Angehörigen anderer Generationen gesucht werden, zumindest nicht regelmäßig. Das reduziert die Chancen für Verständnis, aber auch die Chancen für die Entwicklung von Konflikten.

1. Konflikte innerhalb der Familie: Die intergenerativen Kontakte sind hier sehr häufig (wo Kontakt ist, steigt auch die Konfliktmöglichkeit). In der Familie gibt es einerseits Konflikte, andererseits wechselseitige Hilfe. Ein von vielen Menschen angestrebtes Ideal (unabhängig von der Generation) ist ein "harmonisches Familienleben" (möglicherweise gehört der intergenerative Konflikt bis zu einem bestimmten Grad zur angestrebten emotionalen Atmosphäre einer Familie). Konflikte in der Familie werden besonders häufig von den relativ jungen Eltern (20-40jährige) wahrgenommen. Häufig erfahren diese konfliktfähige Berührungen mit ihrer Kindergeneration, Elterngeneration und möglicherweise der Großelterngeneration. Die Ältesten der Gesellschaft nennen familiäre Konflikte verhältnismäßig selten. Einerseits, da sie tatsächlich nicht mehr involviert sind, andererseits wollen sie den Kindern nicht auf die Nerven gehen bzw. zur Last fallen. Die wechselseitige Hilfe, häufig durch Betreuung der Enkel/Urenkel, Mithilfe im Haushalt, regelmäßige finanzielle Unterstützung, ist oft ein Auslöser für Konflikte.

2. Konflikte in der Berufswelt: Angehörige aller Altersstufen berichten von Konflikten mit älteren bzw. jüngeren Personen in der Arbeitswelt. Die Arten der Konflikte konnten in bisherigen Untersuchungen jedoch nicht ergründet werden. Konflikte werden nämlich seltener als Generationenkonflikte wahrgenommen und gedeutet - sondern eher als Konkurrenz um Führungspositionen verstanden (z. B. jüngere Personen, die sich durchaus schon qualifiziert fühlen, sehen ihre Plätze durch Ältere besetzt und damit den eigenen Aufstieg behindert).

3. Konflikte im öffentlichen Bereich (anonym): Intergenerative Konflikte werden hier in der österreichischen Bevölkerung selten gesehen (Straßenverkehr, Einkaufen...). Jedoch treten in diesem Bereich Konflikte eher im großstädtischen Bereich auf (z. B. Wien).

In einer Untersuchung aus Bamberg (1990) wurden drei Generationen bezüglich der Frage in welchen Bereichen sie am ehesten Konflikte zwischen den Generationen sehen, befragt (jeweils aus der Sicht der Generation). Erstens zeigte sich, daß es keine hundertprozentige Übereinstimmung in den Konfliktfeldern gibt: die Generationen erleben unterschiedliche Konfliktfelder, zweitens kennt die Großelterngeneration kaum die Meinungen der Enkel. Aus der Sicht der Kinder liegen Meinungsunterschiede vor allem im Bereich der Freizeitgestaltung, Gesellschaft und Politik, Ordnung und Geldverwendung; weniger in bezug auf Kleidung. Aus der Sicht der Eltern ist ein Hauptproblem die Ordnung, danach Kleidung und Geldverwendung; nicht aber Gesellschaft und Politik. Meinungsunterschiede zwischen Eltern und Großeltern werden von Elternseite in den Themenbereichen Religion, Ordnung und Freizeit geäußert; von Großelternseite zu Politik und Kleidung.

Teil 3: Verantwortung zwischen den Generationen aus rechtlicher Sicht

Im Bereich der Verantwortlichkeit zwischen den Generationen ist gut zu beobachten, daß das Recht permanenten Veränderungen unterworfen ist. Heute wird die Verantwortung, die früher allein durch die Familie getragen wurde, zum Teil vom Staat übernommen.

Gegenseitige Verantwortung umfaßt einerseits finanzielle Aspekte (Unterhalt, Aussteuer) aber auch persönliche Aspekte (Pflege, Erziehung, gegenseitiges "sich kümmern und sich sorgen").

1. Verantwortung der Eltern gegenüber ihren Kindern Heute sind beide Elternteile verpflichtet ihrem Kind sowohl Unterhalt zu gewähren, als auch es zu pflegen und zu erziehen (früher: z. B. im letzten Jahrhundert wurde die finanzielle Verantwortung für den Unterhalt der [ehelichen] Kinder dem Vater übertragen, die Pflege und Erziehung der Mutter). Eine Aufteilung der Pflichten nach dem Geschlecht findet nicht mehr statt. Verpflichtung der Pflege und Erziehung, sowie die gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung (Obsorge der Eltern) endet mit der Volljährigkeit des Kindes, die Unterhaltspflicht mit der Selbsterhaltungsfähigkeit. Die öffentliche Hand - der Staat, die Länder und die Gemeinden - unterstützt sie dabei auf drei verschiedenen Ebenen: Unterstützung für alle (z. B. Obsorge: öffentlich geförderte Kindergärten; Unterhalt: Familienbeihilfe); Unterstützung bei Bedarf (z. B.: Obsorge: Mutter-Kind-Beratung, Erziehungsberatung; Unterhalt: Stipendium); staatlicher Eingriff bei Gefährdung der Obsorge bezw. des Unterhalts (z. B.: Obsorge: Fremdunterbringung des Kindes im Heim/Pflegefamilie; Unterhalt: Kontrolle der Höhe des Unterhaltes bei Scheidung).

2. Verantwortung der Kinder gegenüber ihren Eltern (Großeltern)

Die (erwachsenen) Kinder sind gesetzlich verpflichtet auch ihren Eltern (und Großeltern) Unterhalt zu gewähren, wenn diese sich nicht selbst erhalten können. Nur wenn die Eltern gegenüber den Kindern die Unterhaltspflicht verletzt haben, erlischt die Verpflichtung der Kinder, die Eltern zu unterstützen. Die gegenseitige Unterhaltspflicht des Eltern-Paares hat dabei Vorrang. Es gibt einerseits die Absicherung der Berufstätigkeit (durch unser derzeitiges Sozialversicherungssystem weitgehend gegeben), andererseits die Unterstützung bei Bedarf (Sozialhilfe).

Teil 4: Der Generationenvertrag

Der Generationenvertrag ist ein Lösungsversuch für das Problem, daß Gesellschaften darauf angewiesen sind, zur Sicherung ihres eigenen Fortbestands auch die Frage des Älterwerdens in ihnen zu lösen. Der wohlfahrtsstaatlich gedachte Generationenvertrag (öffentliche Sphäre) und die familialen Verhältnisse (private Sphäre) stellen verschiedene Ausdrucksformen im Generationenverhältnis dar:

öffentliche Seite des Generationenvertrages: Die Pensionsversicherung schließt einen gewissermaßen künstlichen Vertrag zwischen der Generation, die im Erwerbsleben steht, und jener, die aus diesem bereits entlassen wurde. Vertragsinhalt ist die Zuweisung eines angemessenen Anteils vom Arbeitseinkommen der Erwerbstätigen an die "ältere Generation", der dort die Funktion des "Einkommensersatzes" hat.

Elemente der privaten Seite: Zur intergenerativen Solidarität wird international mindestens zwischen 3 Niveaus gegenseitiger Unterstützung unterschieden:

1. Niveau und Ausmaß der materiellen Unterstützung, die erwachsene Kinder ihren Eltern zukommen lassen. Mehr als 70% der über 65jährigen erhalten Hilfe von Familienmitgliedern (hauptsächlich sind Gattinnen, Töchter und Schwiegertöchter die wichtigsten Träger von Hilfeleistungen, Zuwendung, sowie emotionaler und psychischer Stützung).

2. Art der Leistung, die beide Generationen wechselseitig erbringen. Die in Tauschbeziehungen investierten Güter betreffen meist Zeit und Geld. Die Älteren verfügen über mehr Zeit und akkumuliertes Vermögen, jedoch nur im geringeren Maß über aktuelles Einkommen. Im Vergleich dazu sind bei den Jüngeren/Kindern die Zeitreserven kleiner (Erwerbstätigkeit und Kindererziehung), jedoch verfügen sie über ein besseres aktuelles Einkommen. Die erwachsenen Kinder tendieren dazu, die alten Eltern im Krankheitsfall durch Pflege, weniger durch Geldleistungen zu unterstützen; über 1/3 der Älteren unterstützt die Kinder nachhaltig in materiellen Dingen (vor allem bei der Wohnraumbeschaffung).

3. Einfluß dieser Aktivität auf die Zufriedenheit der Älteren: Der wechselseitige Austausch scheint wichtiger als einseitiges Geben oder Empfangen. Familiale Solidarität trägt weniger zu Zufriedenheit und Wohlbefinden bei als vielmehr zur Verhinderung von Einsamkeitsgefühlen.
 
 

Teil 5: Kultureller Transfer zwischen den Generationen

Kontakte zwischen den 3 Generationen: Großeltern, Eltern und Kinder kommen vor. Kontakte zwischen Eltern und Kindgeneration sind meist dicht, vielleicht in einzelnen Phasen dichter zur Mutter als zum Vater, dichter zum biologischen Elternteil als zu den Stiefeltern, und zu den Großeltern weniger. Die Qualität der jeweiligen Kontakte ist jedoch unklar.

Welche Muster zwischen den Generationen übertragen werden, sind nur vereinzelt erhaltbar. Am häufigsten liegt die Konzentration (der Studien) auf den Eltern-Kind-Beziehungen oder man geht den Inhalten der Beziehungen nach. So ergab sich in einigen Studien, daß die Einstellungsunterschiede zwischen den benachbarten Generationen sehr gering sind. In der Regel lassen sich auch die Einstellungen der Kinder aus den Einstellungen der Eltern verhersagen. Durch Schulbildung und Beruf können die Einstellungen und Werthaltungen des Elternhauses zwar modifiziert werden, doch findet meist kein deutlicher Bruch statt (Glassen, Bengston & Chorm, 1986). Es wurde auch gezeigt, daß der Einfluß der Kindereinstellungen in der jungen Erwachsenenzeit auf die Eltern besonders hoch ist. Die Familie wirkt zwar einerseits stabilisierend auf Grundhaltungen (in politischen und religiösen Werten

ist der Einfluß der Elterneinstellungen höher als bei den Geschlechtsrollenvorstellungen), andererseits stellt sie auch einen Rahmen dar, in dem Kinder auf ihre Eltern Einfluß nehmen und dadurch Wertmodifikationen in der Erwachsenenwelt bewirken können. Es ist zu sagen, daß intensive Kontakte und gemeinsame Aktivitäten innerhalb der Familie die kulturelle wechselseitige Beeinflussung verstärken. Die Frage, wie Kultur im Sozialisierungsprozeß zwischen den Generationen transferiert wird, bedarf einer tiefergehenden mikroskopischen Betrachtung. Zahlreiche Möglichkeiten liegen vor allem in Vergleichen im verbalen Bereich (Wortwahl) und im nonverbalen Bereich (Bereich der symbolischen Präsentation von Einstellungen im Alltag; z. B. Wohnungseinrichtung, Kleidung, körperliche Bewegungsmuster, ...).

Teil 6: Emotionaler Transfer zwischen den Generationen

Der unmittelbare emotionale Transfer, die Erfahrungswerte, die ein Kind durch primär kindliche Objektbeziehungen (Mutter-Kind-Beziehung) in der frühen Kindheit vermittelt bekommt, standen lange Zeit in der Mitte der Analyse von Persönlichkeitsmerkmalen sowie Störungsbildern des psychischen Erlebens. Weniger betrachtet wurde der Beziehungsaspekt aus der Mehrgenerationenperspektive. Es gibt Grundstrukturen eines Familiensystems, die konkrete Handlungsweisen oder Riten als familiäre Traditionen mehrerer Generationen erkennen lassen (z. B. Opferangebote, Betonen der Familienehre, Rachegefühle zwischen Familien) – alle Familienmitglieder eines familiären Systems sind bestimmten Riten unterworfen. So ergeben sich dann Codes, um die jeweiligen Verdienste, Guthaben, Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten im generativen System gegeneinander werten zu können. Unsichtbare Bindungen und Loyalitätsverpflichtungen summieren sich. Je stärker ein Kind mit Loyalitätsverpflichtungen an die Eltern gefesselt ist, um so schwerer wird es für den Heranwachsenden, die alten Bande durch das Eingehen einer neuen Bindung zu ersetzen. Oft entdeckt der Erwachsene erst dann, wenn er selbst Vater oder Mutter geworden ist, seinen Groll über die seinerzeit erlittene Verlassenheit, Ungerechtigkeit oder den Erwartungsdruck, usw. Symptome bei einem Kind sind daher zugleich auch repräsentativ für versteckte und ungelöste Konflikte zwischen mehreren Generationen derselben Familie oder zwischen beiden Herkunftsfamilien.

Ein Beispiel für emotionalen Transfer ist die Gewalt in der Familie. In einer Analyse von 400 Mutter-Vater-Paaren (Wimmer-Puchinger et al., 1991) über Gewalt in der Familie konnte festgestellt werden, daß unter allen gewalthaften Eltern, Vätern wie Müttern, eine Kontinuität von 40% bestand. Es konnte also gezeigt werden, daß gewalthaft erlebte Erziehung weitergegeben wird. Insgesamt hatten 80% der Eltern als Kinder Ohrfeigen am eigenen Leib verspürt. Das bedeutet, daß die Wahrscheinlichkeit, daß Eltern, die gewalthaft auf ihre Kinder reagieren, selbst Gewalt von ihren Eltern erleben mußten, sehr groß ist. Das heißt jedoch nicht, daß jedes geschlagene Kind selbst diesen Mechanismus weitergeben muß. Umstiegs- und Veränderungspotentiale sind gegeben. Bei dieser Analyse waren sie eher bei Frauen als bei Männern gegeben und korrelierten hoch mit Selbstreflexion, Einbekenntnis der Wut, Scham, Kränkung und Verletzung sowie Abgrenzung und Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern. (Der Aspekt wurde bis jetzt über längere Generationen hinweg nicht untersucht.)
 
 

Persönliche Stellungnahme

Dort, wo Menschen aufeinandertreffen, sei es im Beruf, in der Familie, ..., kommt es zu Interaktionen zwischen den verschiedenen Generationen. Diese Interaktionen können sich im Austausch von Ressourcen wiederspiegeln, aber auch in Konflikten. Bei den häufig bestehenden Unterschieden zwischen den Generationen finde ich ist vor allem Toleranz und Akzeptanz wichtig.

Ich mache derzeit mein Psychologiepraktikum in einem geriatrischen Tageszentrum. Dort bin ich mit dem Generationsunterschied direkt konfrontiert. Soweit hatte ich damit keine Probleme. Natürlich werden die Unterschiede oft deutlich, doch sobald mir bewußt wird, daß die Menschen, mit denen ich arbeite, aus einer "anderen Zeit", aus einer anderen Geschichte und Tradition kommen, kann ich die Unstimmigkeiten verstehen und mit ihnen umgehen.

Literaturverzeichnis

Badelt, C. (Hrsg.). (1997). Beziehungen zwischen Generationen - Ergebnisse der wissenschaftlichen Tagung der ÖGIF im November 1995 in Linz, Wien: Österreichisches Institut für Familienforschung, Nr. 4. [Alle anderen in dieser Seminararbeit zitierten Studien und Personen wurden ebenfalls aus der oben genannten Literatur genommen.]
 

Inhaltsverzeichnis

17) Familie und Arbeitswelt (Barbara Reithofer)

Einleitung

In der folgenden Abhandlung wird die Wechselbeziehung zwischen Familien- und Arbeitswelt näher beschrieben. Vor allem für Kinder erwerbstätiger Eltern hat die elterliche Berufsarbeit Auswirkungen. Weiters werden Probleme und dazugehörige Lösungsansätze welche bei der Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit auftreten können, diskutiert.

Die Wechselbeziehungen zwischen Beruf und Familie

Beruf und Familie stellen die zentralen Lebensbereiche des Erwachsenen dar. In den westlichen industriellen Gesellschaften ist das Verhältnis dieser beiden Bereiche durch räumliche Trennung sowie durch unterschiedliche gesellschaftliche Funktionen gekennzeichnet.

Der Beruf ist auf fremden Bedarf ausgerichtet und dient zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Dagegen ist Hausarbeit keine Leistung für Geld, sondern für die unmittelbaren, emotionalen Bedürfnisse von Personen, die vertraut und einander nahestehend sind. Einen weiteren Gegensatz stellt die Tatsache dar, daß im Beruf Freizeit institutionalisiert ist, während bei der Hausarbeit keine klar abgegrenzte Freizeit vorhanden ist. Diese Gegenüberstellung zeigt auf, wie Berufs- und Hausarbeit einander entgegensetzen, sich dabei aber gegenseitig bedingen und bestimmen.

Eine Familie ist von der Berufswelt ökonomisch abhängig, d. h. sie ist auf das Erwerbseinkommen eines oder mehrerer Familienmitglieder angewiesen. Durch Arbeitslosigkeit, unzureichendes Erwerbseinkommen sowie Arbeitsplatzunsicherheit wird die ökonomische Lage der Familie unmittelbar beeinflußt. Direkt und indirekt gestaltet die Erwerbsarbeit das Familienleben mit.

Die in der Familie erbrachte Arbeit hat andererseits für die Berufswelt eine große Bedeutung, da die Familie zentrale Sozialisationsaufgaben übernimmt und für die Berufsarbeit wichtige Normen und Werte vermittelt. Weiters wird die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich der Erwerbsarbeit von familialen Faktoren eingeschränkt.

Da sich die familialen Leistungen auf die Berufswelt längerfristig auswirken als die ökonomische Abhängigkeit der Familie von der Berufswelt, ergibt sich eine scheinbare Asymmetrie. Dies hat zur Folge, daß sich zumeist die Familien an die sich verändernden Arbeits- und Berufsbedingungen anpassen und nicht umgekehrt.

Vereinbarkeit von Familie und Erwerbsarbeit – eine Aufgabe der Frauen ?

In der Praxis stellt sich für Frauen (obwohl in den letzten Jahrzehnten ein Wandel der Geschlechterrollen stattgefunden hat) wesentlich öfter die Frage nach der Vereinbarkeit von Familien- und Berufsarbeit. Zwar ist allgemein die Einstellung zur familiären Arbeitsteilung partnerschaftlicher geworden, und immer mehr Frauen integrieren sich in den Arbeitsmarkt, doch führt der Übergang zur Elternschaft meist zur Rückkehr zur traditionellen Aufgabenteilung innerhalb der Familie. Nicht zuletzt deswegen, da Väter erst seit 1990 die Möglichkeit haben Karenz- oder Erziehungsurlaub in Anspruch zu nehmen.

Bis in die siebziger Jahre hat nur eine Minderheit der Mütter von Volkschulkindern gearbeitet. Die generell negative Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber berufstätigen Müttern führte zu enormen Schuldgefühlen der Frauen. Jahrelang herrschte in der allgemeinen Presse eine mißbilligende Haltung gegenüber mütterlicher Erwerbstätigkeit. Vernachlässigung der Kinder, Vernachlässigung des Ehemannes und Vernachlässigung des Haushaltes waren die Hauptvorwürfe. Die Individualität der Mütter wurde dabei außer acht gelassen.

Heute wird die Aufopferung für die Vollzeit- Kindererziehung (die einmal erwartet und anerkannt wurde) weniger respektiert, was die Bezeichnung der "Nur- Hausfrau" verdeutlicht. Die eigene berufliche Identität und das eigene Geld haben der Frau eine höhere Stellung innerhalb der sozialen Struktur ermöglicht. Andererseits wird sie aber für das persönliche Wohlbefinden ihrer Kinder verantwortlich gemacht. Die Mutterrolle dürfte durch diese intensiven beruflichen und familialen Verpflichtungen belastet sein wie nie zuvor.

Im Gegensatz zu den meisten Männern weisen die Berufsverläufe der Frauen keine kontinuierliche Normalbiographie auf. Um Beruf und Familie zu vereinbaren, erbringen sie die vielfältigsten beruflichen und/oder familialen Anpassungsleistungen. Weibliche Erwerbsverläufe sind von einer hohen Variationsbreite gekennzeichnet, die Ausdruck des Bemühens sind, Erwerbs- und Familienarbeit zu vereinbaren. Als Gründe für Unterbrechung oder Aufgabe der Erwerbstätigkeit werden von den Frauen an erster Stelle Kinder angegeben.

Die Entscheidung der Mutter für oder gegen Erwerbstätigkeit wird von der Anzahl und dem Alter der Kinder, aber auch von der Tatsache beeinflußt, ob sie mit einem Partner zusammenlebt oder nicht. Bei Müttern in Einelternfamilien ist die Erwerbstätigkeit schon alleine aus finanziellen Gründen meist unumgänglich.

Doch auch das Bildungsniveau nimmt auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen Einfluß. Unabhängig davon, ob sie Kinder haben oder nicht, sind Frauen mit höherer Schulbildung öfter erwerbstätig. Allgemein sind jedoch Frauen mit Kindern seltener berufstätig als Frauen ohne Kinder.

Die Bedeutung der Erwerbstätigkeit für die Kinder

Seit Jahrzehnten wird die Auswirkung der Erwerbstätigkeit der Mutter thematisiert. Lange wurden Forschungsarbeiten zu diesem Thema unter negativem Aspekt durchgeführt. Wenige Forscher fragten, welche Nutzen Töchter und Söhne von einem höheren Familieneinkommen, einem höheren Selbstbewußtsein der Mutter, einer weniger scharfen Rollentrennung zwischen Mutter und Vater etc., für ihr späteres Leben haben.

Auch Männer scheinen die alte Rollenverteilung (der Mann ist für Politik, Wirtschaft und Geld zuständig; die Frau für Familie und Kinder) zunehmend als Einschränkung ihrer Entwicklung zu empfinden. Vor allem in der Kinderbetreuung gewinnen partnerschaftlichere Formen der Aufgabenteilung an Bedeutung. Männer beschäftigen sich deutlich mehr mit ihren Kindern als die Väter der späten sechziger Generation, im Haushalt arbeiten sie jedoch nicht wesentlich mehr als damals.

Neuere Studien zeigen, daß die entsprechenden Rahmenbedingungen und nicht die Erwerbstätigkeit an sich mitbestimmen, in welchem Ausmaß sich positive oder negative Entwicklungsanreize für das Kind ergeben. Zu diesen Rahmenbedingungen zählen unter anderem die Einstellung der Eltern bzw. der Kinder zur Erwerbstätigkeit, die Gestaltung der erwerbsfreien Zeit in der Familie etc.

Ein Forschungsprojekt von Lois Hoffmann (1983) ergab, daß Töchter berufstätiger Mütter selbstsicherer waren, höhere Schulabschlüsse aufwiesen und mit höherer Wahrscheinlichkeit eine eigene Berufslaufbahn einschlugen. Er resümierte, daß Töchter in vielen Dingen tatsächlich davon profitieren, daß sie das " Modell einer kompetenten Frau" in der Familie haben. Söhne dagegen hatten diesen Vorteil nicht, da sie bereits das Modell eines berufstätigen Vaters hatten, egal ob die Mutter arbeitete oder nicht.

Gemeinsame Zeit in der Familie

Allgemein wird angenommen, daß Mütter zu Hause viel Zeit damit verbringen, ihre Kinder geistig zu fördern. In einer Studie bezüglich Zeiteinteilung fanden Hoffmann und Ziegel heraus, daß Mütter die zu Hause sind, die meiste Zeit mit dem Haushalt beschäftigt sind. Die Untersuchung ergab weiters, daß berufstätige Frauen genauso viel Zeit in direkter Interaktion mit ihrem Kind verbringen wie nicht erwerbstätige Frauen.

Männer berufstätiger Frauen und mit Vorschulkindern verbringen täglich nur zwanzig Minuten mehr im Haushalt als Ehemänner, deren Frauen ganztags zu Hause sind (Cowan, 1983). Berufstätige Mütter arbeiten dagegen durchschnittlich fünfunddreißig Stunden in der Woche im Haushalt.

In einer Gesellschaft, die durch das Vorherrschen einer rationellen Zeitorganisation gekennzeichnet ist, ist Zeit in der Familie zum Miteinander zu finden, vielfach zum Problem geworden. Die Tatsache, daß die Bedürfnisse von Kindern nicht planbar sind, stellt an die Eltern die Anforderung, ihre Zeit flexibel zu handhaben. Sie müssen die Wünsche und Bedürfnisse ihrer Kinder erkennen und sich auf ihr Tempo einlassen. Dies ist durch die durchgeplante Zeitstruktur des Arbeitsbereiches aber nur sehr beschränkt möglich. Berufsarbeit ist nach dem Prinzip der Zeit- und Kostenökonomie organisiert, während Zeit im Rahmen der Familienarbeit naturgebunden ist.

Vor allem die zeitliche Lage der Erwerbsarbeitszeit ist für den Einfluß auf das Familienleben ausschlaggebend. Nacht-, Turnus- und Schichtarbeit sowie selbständige Erwerbsätikeit wirken in die Organisation des Familienalltages hinein.

Eine österreichische Studie 10-jähriger Kinder, welche von Wilk und Bacher, 1994 durchgeführt, wurde ergab, daß Mütter, auch wenn sie vollerwerbstätig sind, ihren Kindern in einem höheren Ausmaß vermitteln, daß sie auch unter der Woche Zeit für sie haben, als dies ihre Väter tun. Jedes dritte Kind hat demnach den Eindruck, daß sein Vater ihm auch wochentags zur Verfügung steht.

Familienleben und Berufsanforderungen

Berufliche Überlastung, Streß aber auch berufliche Zufriedenheit fließen in den familialen Alltag ein. Die Berufstätigkeit kann sich aber auch positiv auf die psychische Verfassung auswirken, was natürlich auch die Familie positiv beeinflußt. Einer Studie zufolge sind erwerbstätige Mütter anpassungsfähiger, glücklicher und sie neigen weniger zu Depressionen als Vollzeit- Mütter.

Umgekehrt tangieren Zufriedenheit in der Familie, aber auch familiale Konflikte die berufliche Leistung. Vor allem bei Paaren, die Familie und Beruf gleichermaßen hoch bewerten (sogenannte "dual-career" Familien), ist die Gefahr von Doppelbelastungen sehr groß. Oft entscheiden sich Paare aus beruflichen Gründen für eine gewisse Zeit an getrennten Wohnorten zu leben, und eine "Wochenend- Ehe" zu führen, da die beruflichen Anforderungen auch geographische Mobilität erfordern. Weiters verfügen diese Familien aus Zeitknappheit vielfach nur über wenige außerfamiliale Sozialkontakte. Vorliegende Studien zeigen weiters, daß die Aufteilung der Haus- und Familienarbeit in "dual-career" Familien partnerschaftlicher ist, die geschlechtsspezifische Zuordnung von Familien- und Hausarbeit aber nicht aufgehoben ist.

Probleme, welche bei der Vereinbarkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit auftreten können und zugehörige Lösungsansätze

1) Geschlechtsspezifische Diskriminierung

Die Lohnunterschiede zwischen Frauen und Männern blieben trotz Angleichung des Bildungsniveaus erhalten. Frauen werden oft schon bei der Einstellung benachteiligt, indem sie nahezu generell finanziell niedriger eingestuft werden als Männer. Dies geschieht aufgrund der fälschlichen Annahme, daß Frauen weniger aufs Geld angewiesen sind und sie den Beruf weniger wichtig nehmen.

Männern, die gegen die sozialen Erwartungen ihre Erwerbstätigkeit reduzieren oder unterbrechen, um sich der Familienarbeit zu widmen, wird dagegen noch immer mangelnde Leistungsbereitschaft unterstellt. Oft sehen sie sich auch mit dem Vorurteil konfrontiert, daß sie gar nicht in der Lage wären Haushalt und Kinder gut zu versorgen. Gesellschaftliche Normen, verfestigte traditionelle Rollenverteilungen der Ehepartner und soziokulturelle Rahmenbedingungen erschweren die partnerschaftliche Aufteilung der Familienarbeit.

Das internationale Jahr der Frauen 1975 war in Österreich Anlaß Aktionen zu setzten, welche den Abbau geschlechtsspezifischer Sozialisation unterstützen. Berufsinformation in der Schule, Lehrbuchänderungen, Veränderungen des Frauenbildes in den Medien, interministerielle Arbeitsgruppen und einiges mehr, sollten die Chancengleichheit und Gleichbehandlung der Frauen fördern.

2) Kinderbetreuung

Vielfach sind es die mangelnden Kinderbetreuungsplätze bzw. deren Öffnungszeiten, die eine Erwerbstätigkeit beider Elternteile unmöglich machen oder zumindest erschweren. Vor allem Alleinerzieher stehen vor dem Problem der guten und zeitgerechten Betreuung ihrer Kinder, während sie arbeiten. Auch die für die Betreuung anfallenden Kosten können zum Problem werden. Die meisten Kinder unter drei Jahren werden privat (von Tagesmüttern, privaten Kinderbetreuungsstätten etc.) betreut. Der Vorteil darin besteht in der flexibleren Zeiteinteilung, da keine starren Öffnungszeiten vorliegen.

Um eine Wahlmöglichkeit zwischen den unterschiedlichen Betreuungsformen zu ermöglichen, ist der rasche Ausbau von Formen der Kindertagesbetreuung notwendig. Eine gute Betreuung bedeutet, daß Kinder ihr eigenes Selbst entwickeln dürfen. "Die früheren Behauptungen, daß eine angemessene Fürsorge nur dann möglich sei, wenn die Mutter nicht arbeiten ginge, und daß die Inanspruchnahme von Tageskrippen ... eine ernstzunehmende und auf Dauer schädliche Auswirkung auf die psychische Verfassung hätte, haben sich nicht nur als verfrüht, sondern auch als falsch erwiesen" (Rutter, 1982, S.3).

Aber nicht nur Kinderbetreuungsplätze, sondern auch flexible Arbeitszeitformen müssen vermehrt geschaffen werden. Damit der Wechsel der traditionellen Rollen überhaupt stattfinden kann, sind familienpolitische und gesellschaftliche Maßnahmen notwendig.

Vor allem Teilzeitarbeit entspricht dem Wunsch vieler Frauen, da diese als legitimste Form der Erwerbstätigkeit für Mütter gilt.

Der Nachteil der Teilzeitarbeit besteht in der geringen Bezahlung, geringer sozialen Sicherung und beruflichen Nachteilen, da die Aufstiegschancen sehr gering sind. Jobsharing, Gleitzeit, flexible Wochen- bzw. Jahresarbeitszeit wären andere Möglichkeiten von den starren Arbeitszeiten abzuweichen.

Tatsache ist aber, daß sich viele Frauen (um eine Balance zwischen Familie und Beruf zu schaffen) entschließen, Abstriche von ihren beruflichen Plänen zu machen.

Persönliche Stellungnahme

Bei der Bearbeitung des Themas Familie und Arbeitswelt fiel mir schon bei der Literatursuche auf, daß diese Vereinbarkeit fast ausschließlich Thema der Mütter zu sein scheint. Lange Zeit wurden und werden Rollenklischees in der Gesellschaft aufrecht erhalten. Ich bin aber der Meinung, daß diese sicher nur langsam abgebaut werden können. Bis in die siebziger Jahre war die Aufgabe des Mannes auf die Familienerhaltung beschränkt, während die Frau Haus und Kinder versorgte. Diese starre Rollenteilung hat sich seither sowohl von seiten der Frauen als auch der Männer stark verändert. Durch die Tatsache, daß Frauen schlechter bezahlt werden als Männer, und daß nicht genügend Kinderbetreuungsplätze vorhanden sind, wird es Paaren auch nicht leicht gemacht, von den traditionellen Rollenbildern abzuweichen. Arbeitgeber und Verwandte von Vätern, die ihren Karenzanspruch wahr nehmen, um zu Hause bei den Kindern zu bleiben, reagieren oft mit Verwunderung und Unverständnis. Wahrscheinlich ist es aber nur eine Frage der Zeit, bis die väterliche Kinderbetreuung als Selbstverständlichkeit angesehen wird.

Ich glaube, daß das Wichtigste Zufriedenheit aller Beteiligten ist. Jede Familie und jedes Familienmitglied muß individuell Bedürfnisse und Notwendigkeiten vereinbaren.
 
 

Literaturverzeichnis

Badelt, C. (1995). Die ökonomische Situation von Familien. In Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten (Hrsg.), Familie und Arbeitswelt (S. 83- 96). Wien: Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten.

Beham, M. & Schramm, B. (1995). Familie und Beruf - eine ungleiche Wechselbeziehung? In Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten (Hrsg.), Familie und Arbeitswelt (S. 1-10). Wien: Bundesministerium für Unterricht und kulturelle Angelegenheiten.

Deutsch-Stix, G., & Janik, H. (1993). Hauptberuflich Vater. Paare brechen mit Traditionen. Wien: Verlag für Gesellschaftskritik.

Scarr, S. (1987). Wenn Mütter arbeiten: Wie Kinder und Beruf sich verbinden lassen. München: Beck.
 
 

Inhaltsverzeichnis

18) Beruf – Familie – Freizeit / Zeitbudgeterhebungen (Karin Mayer)

Einleitung

1) Allgemeines

1192 lebten 7,9 Millionen Personen in Österreich, 52 % davon Frauen. Allerdings überwiegt in den jüngeren Jahrgängen der Männeranteil. Dafür sind 62 % der über-60-jährigen Frauen und 38 % Männer.

50er - 60er Jahre: "Familie" war die Gemeinschaft von Vater, Mutter und Kind(er).

In der Zwischenzeit wurde der Familienbegriff neu definiert: "Familie" = dauerhaft zusammenlebende Paare mit oder ohne Trauschein, mit oder ohne Kinder und Alleinerziehende mit einem oder mehreren Kindern.

1992: 840.000 Ein-Personen-Haushalte (55 % davon sind über 60 Jahre):

570.000 Frauen und 270.000 Männer.

2) Durchschnitt

In Österreich 1992 : Erwerbstätigkeit: 4Stunden pro Tag; unbezahlte Arbeit: 3,5 h / Tag; Körperpflege, etc.: 2, 5 h / Tag; Freizeit: 5h / Tag; Schlaf: 1/3 des Tages

Hierbei ist zu erwähnen, daß es große Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppen, z. B. zwischen Frauen und Männern gibt.
 
 
Männer
Frauen
Erwerbstätigkeit
4,75 h / Tag
2,25 h / Tag
unbezahlte Arbeit
2h / Tag
5h / Tag
Freizeit
5,5 h / Tag
4,75 h / Tag
D.h. Männer verbringen mehr Zeit bei bezahlter Arbeit und der Freizeit, verglichen mit den Frauen.

Vergleich mit letzten 10 Jahren: Kaum ein Unterschied: 1992: 20 Min. mehr für Erwerbsarbeit und Ausbildung (fast zur Gänze durch Frauen), 20 Min. weniger Freizeit und 15 Min. mehr Zeit für Betreuung von Kindern und Hilfsbedürftigen (Männer arbeiten durchschnittlich 0,5 h / Tag länger in Familie und Haushalt als 1981, trotzdem trennen noch 3h 20 Min. Arbeit in Haushalt, bei Kindern und Pflege den Mann von der Frau).

3) Beschäftigungszeiten

Nach Beschäftigungszeiten werden 3 große Gruppen unterschieden:

  1. Vollzeit-Erwerbstätige
  2. Teilzeit-Erwerbstätige
  3. Nicht-Erwerbstätige
 
Vollzeit
Teilzeit
Nicht-Erwerbstätige
 
Männer
Frauen
Frauen
Hausfr.*
Pen.**
Schüler1
Studenten2
bezahlte Arbeit
7h 10 Min
6h
3,75 h
0,5 h
0,5 h
0,5 h
1h
Haushalte
1,5 h
3,5 h
5,5 h 
8h
4,25 h
1h
1h
Freizeit
4,75 h
3,75 h
3,75 h
4,25 h
6,5 h
5,75 h
5,75 h
Persönliches
10,5 h
10,5 h
10,5 h
11,25 h
12,75 h
11,5 h
10,25 h
Schule/ Lernen          
5,25 h
6h
* Hausfr. = Hausfrauen
* * Pen. = Pensionisten
1 Schüler = 10-15-Jährige
2 Studenten = 15-20-Jjährige

Bei "Arbeiten" für Schüler und Studenten ist hauptsächlich Babysitten und Nachhilfe geben gemeint.

4) Unbezahlte versus bezahlte Arbeit

Herr und Frau Österreicher/in investieren von ihrer Gesamtarbeitszeit 51 % in unbezahlte und 49 % in bezahlte Arbeit.

Erwerbstätige Frauen: 9,75 h Arbeit allg. / Tag
Erwerbstätige Männer: 8,75 h Arbeit allg. / Tag

Durchschnitt: Beruf : Familie à bei Frauen 31 : 69; bei Männern 70 : 30
Karrierezeit (40-44 Jahre) à bei Frauen 40 : 60; bei Männern 79 : 21
50 – 59-Jährige à bei Frauen 18 : 82; bei Männern 61 : 39

unbezahlte Arbeit:

Der Mann hilft beim Haushalt durchschnittlich 2 Stunden, egal ob die Frau vollzeit-, teilzeit- oder nicht erwerbstätig ist.

Familien mit mind. 1 Kind unter 15 Jahren:
 
 
Frau: Vollzeit
Frau: Teilzeit
Frau: Nicht-erwerbstätig
 
Frau
Mann
Frau
Mann
Frau
Mann
Haushalt
4;24h
1h
4;54h
1h
6,11 h
1h
Werkzeug
3 Min
0,5 h
6 Min
0,5 h
4 Min
23 Min
Kinder
1,25 h
0,5 h
1,25 h
0,5 h
2,5 h
0,5 h
Pflege Hilfsbedürftiger
1 Min
1 Min
2 Min
2 Min
4 Min
2 Min
5) Aufteilung der Arbeit im Haushalt

Aufteilung der Arbeiten im Haushalt zwischen Männern, vollzeit-erwerbstätigen Frauen (v), teilzeit-erwerbstätigen Frauen (t) und nicht-erwerbstätigen Frauen (n):
 
 
Männer
Frauen (v)
Frauen (t)
Frauen (n)
Kochen
10 Min
1,25 h
1h 20 Min
1h 50 Min
Reinigung der Wohnung
10 Min
1h
1,25 h
1,5 h
Pflege der Kleidung
1 Min
0,5 h
50 Min
1h
Einkaufen
0,25h
25 Min
0,5 h
0,5 h
Gartenarbeit
10 Min
10 Min
6 Min
0,25 h
Männer lassen sich hierbei von der Erwerbstätigkeit der Frau kaum in der Beteiligung an der Hausarbeit beeinflussen. Veränderungen bewegen sich im Minutenbereich.

6) Aufteilung der Kinderarbeit zwischen Männern und Frauen

Männer widmen der Kinderarbeit ca. 0,5 h pro Tag und legen den Schwerpunkt der Kinderbetreuung im Bereich "Spielen", d.h. in Dinge, die Spaß machen, während die Frauen das Versorgen, Betreuen und Beaufsichtigen der Kinder übernehmen.

7) Alleinerzieherinnen

86 % der Alleinerziehenden sind Frauen, von denen fast die Hälfte mindestens ein Kind unter 15 Jahren hat. Der überwiegende Teil ist erwerbstätig (das sind 80 %). Zum Vergleich: Frauen in einer Partnerschaft sind zu 60 % erwerbstätig.
 
 
Alleinerzieherin
Frau mit Partner
Vollzeit
bezahlte Arbeit
5,25 h
4,75 h
Haushalt
4h 40 Min
5h 40 Min
Teilzeit
bezahlte Arbeit
3h 50 Min
3,5 h
Haushalt
5,5 h
6,25 h
Kinder: Für die Versorgung der Kinder mit Füttern, Baden, ins Bett bringen usw. brauchen die Alleinerzieherinnen ein paar Minuten weniger (1,25 h) als Frauen, die in einer Partnerschaft leben. Sie setzen sie dann bei Spiel, Sport und Kultur ein. Alleinerzieherinnen, die einer Teilzeit-Arbeit nachgehen, investieren die gewonnene Zeit von 0,25 h pro Tag in ihre Kinder.

Nicht-erwerbstätige Alleinerzieherinnen verbringen 2,75 h pro Tag mit ihren Kindern, das sind also 1,5 h mehr als vollzeit-erwerbstätige Alleinerzieherinnen.
(Die Daten betreffen Mütter mit mind. einem Kind unter 15 Jahren.)

Arbeitsfreie Zeit: Im Wochenschnitt gönnen sich Alleinerzieherinnen 4,25 h pro Tag, an denen sie nicht arbeiten. 1,75 h dieser Zeit verbringen sie vor dem Fernseher, 0,25 h verwenden sie, um mit Freunden und Verwandten Kontakt zu halten und etwa 0,5 h dient dem Sport.

Allerdings ist zu berücksichtigen, daß

8) Verhalten der Kinder

Die Zeiteinteilung der unter 20-Jährigen ähnelt der von Erwachsenen:
 
 
10-15-Jährige
15-20-Jährige
 
Buben
Mädchen
Buben
Mädchen
Familienarbeit
48 Min
57 Min
45 Min
1,5 h
Freizeitanteil
6,25 h
5,5 h
5,75 h
5h
Persönliches
12,25 h
12,25 h
11h
11,25 h
Erwerbstätigkeit
7 Min
3 Min
3,5 h
3h
Aus- und Weiterbildung
4,75 h
5,5 h
3,25 h
3,5 h
Fernsehen, Video
2h
1,75 h
1,75 h
1,5 h
Sport
1,25 h
0,75 h
0,75 h
0,5 h
Hobbies, Spiele
1,25 h
1h
0,5 h
0,25 h
soziale Kontakte
0,75 h
1h
1,75 h
1,5 h
9) Freizeit

Wenn man vom Wochendurchschnitt ausgeht, nehmen sich Männer 5,5 h pro Tag Zeit für sich selbst, Frauen nur 4,75 h.
 
 
Männer
Frauen
Fernsehen
2h
1,75 h
soziale Kontakte
1,20h
1,10h
Bewegung im Freien
0,75 h
0,5 h
Sport
0,75 h
0,5 h
Hobbies, Spiele
19 Min
22 Min
Samstag: Es wird aufgearbeitet, was unter der Woche liegengeblieben ist. Männer: fast 3h für Haushalt, Kinder und Pflege. Das ist eine gute Stunde mehr als unter der Woche. Für die Freizeit sind noch 6,5 h vorhanden. Frauen: Im Haushalt sind sie 20 Minuten mehr tätig, d.h. 5h 22 Min., die der Ordnung und Sauberkeit zugute kommen. Die Freizeit beläuft sich auf 5,5 h.

Sonntag:
 
 
Männer
Frauen
Berufliches (inkl. Aus- und Weiterbildung)
1h 20 Min
50 Min
Haushalt
1h 40 Min
3h 50 Min
Freizeit
8,5 h
6h 50 Min
Persönliches
12,5 h
12,5 h
Gesellschaft:

Männer begeben sich mehr in Gesellschaft, da Frauen mehr mit dem Haushalt beschäftigt sind. Freizeit in Gesellschaft: Männer 3,5 h; Frauen 2,75 h;

Männer bis 45 verbringen ihre Zeit mehr mit anderen, ab 45 (wenn sie sich mehr an der Familienarbeit beteiligen) überwiegt die Tätigkeit ohne andere. Frauen ab 30 (Familienarbeit hat den größte Teil ihrer Tätigkeit), arbeiten häufiger alleine (= eine unfreiwillige Einsamkeit, was man daran sieht, daß sie in ihrer Freizeit die Gesellschaft suchen).

Pensionisten: Über-80-Jährige verbringen weniger Zeit in Gesellschaft als 60-Jährige. Alleinlebende bemühen sich mehr als Paare darum, mit anderen Menschen in Kontakt zu bleiben. Alleinlebende zeigen auch mehr Bereitschaft Kontakte aktiv zu gestalten.

Männer und Frauen in Partnerschaft: wichtigste Ansprechpartner sind Familienmitglieder und Verwandte. Bei Alleinlebenden sind dies Freunde.

10) Abschluß

Veränderungen können nur vorgenommen werden, wenn man bei sich selber anfängt. Notwendig ist eine chancengleichere Rollenaufteilung von Mann und Frau in Familie und Erwerbsleben. Gewichte müssen in der Gesellschaft gleich verteilt werden, das heißt Erwerbsarbeit und Familienarbeit als gleichwertig anerkannt werden. Dazu zählen u. a. flexible Arbeitsformen, Ausbau der Kinderbetreuung, Anreize, daß auch Männer Teilzeit arbeiten und Abbau des unterschiedlichen Lohnniveaus. Der Trend geht sicher in Richtung Gleichstellung von Familien- und Erwerbsarbeit und man kann auch vor allen bei jungen Familien erkennen, daß bezahlte und unbezahlte Arbeit zwischen Mann und Frau aufgeteilt wird. Sicher ist allerdings auch, daß sich ein solcher Prozeß nicht von heute auf morgen vollziehen kann.

Literaturverzeichnis

Österreichisches Statistisches Zentralamt (Hrsg.). (1992). Wo kommt unsere Zeit hin? Wien: Bundesministerium für Jugend und Familie.
 
Inhaltsverzeichnis

19) Familienpolitik (Melanie Peham)

Einleitung

Familienpolitik hat einen ordnungspolitischen Charakter. Sie soll Rahmenbedingungen für Familien schaffen, ohne dabei eine bestimmte Lebensform zu forcieren. Ein weiteres Ziel besteht in einem Lastenausgleich zwischen kinderbetreuenden und kinderlosen Haushalten. Familienpolitik hat auch einen Einfluß auf die Geschlechterrollen, so ist ein ausreichendes Angebot an Betreuungseinrichtungen eine wichtige Voraussetzung damit Mütter arbeiten gehen können. Ein weiteres Beispiel wäre zum Beispiel eine noch höhere finanzielle Unterstützung, welche bewirken könnte, daß Frauen zu Hause bleiben und erst später in die Arbeitswelt zurückkehren, was auch ein Problem aufgrund der schwierigen Arbeitsmarktlage darstellt.

In Österreich gibt es 7 Ansatzpunkte zur Familienförderung, diese sind:

1. Transfereinkommen

1.1. laufende Transfers, wie z. B. die Familienbeihilfe

1.2. ereignisbezogene Transfers, wie z. B. Geburtenbeihilfe (bis 1996) oder Karenzgeld

1.3. zielgruppenspezifische Transfers, wie z. B. erhöhte Familienbeihilfe für behinderte Kinder oder die Sondernotstandshilfe für Alleinerzieherinnen

2. Erwerbseinkommen - Besteuerung

2.1. Steuerbegünstigungen für Eltern mit Kindern, wie z. B. Kinderabsetzbeträge

2.2. auf spezifische Lebenslagen bezogene Steuerbegünstigungen, wie z. B. Alleinverdienerabsetzbetrag

3. Versicherungsschutz

3.1. beitraglose Mitversicherung von Angehörigen

3.2. Berücksichtigung von Zeiten der Kindererziehung in der Altersversicherung der Frauen

3.3. Unfallversicherungschutz von Schülern und Studenten bei Schul- u. schulbezogenen Veranstaltungen

3.4. Berücksichtigung der familiären Situation bei Transferzahlungen, wie z. B. Notstandshilfe für Arbeitslose

4. Arbeitsrechtliche Ansprüche

4.1. Kündigungsschutz für Schwangere, Mutterschutz, Karenzurlaub

4.2. Anspruch auf Karenzurlaub und Pflegefreistellung

5. Sozialrechtliche Ansprüche

5.1. Berücksichtigung der familiären Situation im sozialen Wohnbau und bei der Wohnbauförderung

5.2. Berücksichtigung der familiären Situation bei der Bemessung von Sozialhilfe

5.3. Familienhärteausgleich

6. Infrastruktur- u. Sachleistungen

6.1. unentgeltliche medizinische Versorgung für Schwangere, Mütter, Kleinkinder, wie z. B. unentgeltliche Entbindung oder der Mutter-Kind-Paß

6.2. Beratungsdienste, wie z. B. Mutterberatung, Familienberatung, Frauenberatung, Erziehungsberatung

6.3. institutionelle Kinderbetreuung, wie z. B. subventionierte Kinderbetreuungsangebote

7. Leistungen für Schüler, Lehrlinge, Studenten

7.1. unentgeltlicher Besuch aller öffentlichen Schulen und Hochschulen

7.2. Schülerförderung

7.3. Familientarife bei öffentlichen Verkehrsmitteln und anderen öffentlichen Einrichtungen

Im internationalen Vergleich schneidet Österreich sehr gut ab. Laut OECD, die 1990 eine Untersuchung durchführte, liegt unser Land im Bereich der Direktzahlungen, also der Familienbeihilfe, an der Spitze, und wird nur von Belgien überboten. So liegt der Transfer in Österreich, gemessen am durchschnittlichen Bruttoeinkommen eines Industriearbeiters, bei 14,2%. In anderen Ländern liegen die Werte zwischen 5-7%, in Norwegen bei 10,2%. Bei den Steuerbegünstigungen hingegen liegt Österreich im Schlußfeld. 1990 betrug die Quote nur 3,7%, seit 1993 liegt sie bei 3,75%. Andere Länder haben in diesem Bereich höhere Steuerbegünstigungen, wie z. B. die BRD mit 9,4% oder Belgien mit 11,7%. Aber allgemein gesehen ist die Familienförderung in Österreich großzügig.

Im weiteren gehe ich nun auf familienpolitisch motivierte Transfereinkommen und arbeitsrechtliche Regelungen für Schwangere, Mütter und Väter ein.

Die Familienbeihilfe ist eine laufende Direktzahlung an Eltern mit minderjährigen bzw. noch unterhaltsberechtigten Kinder bis 27 Jahre. Sie wird seit 1950 ausbezahlt und von 1979 bis 1991 um 69% erhöht. 1955 wurde das Familienlastenausgleichsgesetz, welches Transferzahlungen für alle Bevölkerungsgruppen vorsieht, geschaffen. 1967 trat das Gesetz über den "Ausgleichsfond für Familienbeihilfe" in Kraft, welches bis heute gültig ist. Aus diesem Fond wird die Familienbeihilfe finanziert. Er besteht aus lohnsummenbezogenen Dienstgeberbeiträgen, allgemeinen Steuermitteln und Beiträgen der Länder. Der Grundbetrag der Familienbeihilfe bis 10 Jahre beträgt 1300 ÖS pro Monat, ab 10 Jahre 1550 ÖS und ab 19 Jahre 1850 ÖS. Für erheblich behinderte Kinder gibt es eine erhöhte Familienbeihilfe ohne Altersgrenze.

Seit 1992 ist die Familienbeihilfe für den Elternteil bestimmt, der überwiegend den Haushalt führt, bei Verzicht wird er dem anderen Elternteil ausbezahlt. Lebt das Kind nicht bei den Eltern, dann wird die Familienbeihilfe jenem Elternteil zugestanden, welcher die Unterhaltskosten trägt. Ausländer bekommen die Familienbeihilfe entweder, wenn sie legal beschäftigt sind oder wenn sie nicht beschäftigt, aber fünf Jahre in Österreich sind. Für im Ausland lebende Kinder gibt es eine gekürzte Familienbeihilfe. Anerkannte Flüchtlinge sind den Österreichern gleichgestellt. Die Auszahlung erfolgt über die Finanzämter.

Die Geburtenbeihilfe wurde 1955 eingeführt und seit 1974 wurden bewußt gesundheitspolitische Ziele, wie die Reduzierung der Säuglings- und Müttersterblichkeit, verfolgt. So wurde auch der Mutter-Kind-Paß eingeführt und so die medizinische Betreuung für Schwangere, Säuglinge und Kleinkinder gewährleistet. Heute (ab Jänner 1997) gibt es aufgrund von Sparmaßnahmen keine Geburtenbeihilfe mehr, aber man erhält für einen vollständigen Mutter-Kind-Paß 2000 ÖS.

Eine weitere Leistung der Familienpolitik ist der Mutterschutz. Ab dem Zeitpunkt, ab dem eine Frau schwanger ist bis vier Monate nach der Entbindung tritt ein Kündigungsschutz in Kraft. Wird der Karenzurlaub in Anspruch genommen, so endet der Kündigungsschutz vier Wochen nach Ende des Karenzurlaubes. Während der Schwangerschaft sind bestimmte Tätigkeiten, die die Gesundheit der Mutter oder des Ungeborenen gefährden könnten, nicht auszuführen. Weiters sind Überstunden verboten. Ebenso gilt das Nacht-, Sonn- und Feiertagsarbeitsverbot. Das absolute Beschäftigungsverbot, die Schutzfrist, beginnt acht Wochen vor der Geburt und endet acht Wochen nach der Geburt. Bei Frühgeburten, Mehrlingsgeburten und Kaiserschnitt wird die Schutzfrist auf zwölf Wochen nachher verlängert. Bei Frühgeburten, bei denen eben die acht Wochen Schutzfrist vorher verkürzt wurde, wird sie um diese Zeit nachher verlängert, jedoch maximal auf 16 Wochen. Im Einzelfall, zum Beispiel bei Risikoschwangerschaften, gilt das absolute Beschäftigungsverbot ab dem Zeitpunkt der ärztlichen Diagnose. Arbeitet die Mutter während der Stillperiode mehr als 4,5 Stunden am Tag, so muß ihr der Arbeitgeber Zeit zum Stillen gewähren.

Weitere Leistungen der Familienpolitik sind das Wochengeld und die Betriebshilfe. Das Wochengeld ist die Lohnfortzahlung während des Mutterschutzes für unselbständig erwerbstätige Frauen. Die Berechnung erfolgt nach dem Durchschnittseinkommen der letzten drei Monate und ist eine Leistung der Krankenversicherung.

Gewerblich selbständige Frauen und Bäuerinnen erhalten während der Schutzfrist eine Betriebshilfe, die zur Beschäftigung von Hilfskräften gedacht ist. Sie ist eine Leistung der Sozialversicherung der jeweiligen Berufsgruppe.

Eine große Errungenschaft stellt der Karenzurlaub dar. Er wurde geschaffen, um erstens die Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und Beruf zu ermöglichen und zweitens um Arbeitslosigkeit zu verhindern. 1957 gab es erstmals nach der Novellierung des Mutterschutzgesetzes einen sechsmonatigen Karenzurlaub. 1961 wurde er auf ein Jahr verlängert. Seit 1990 können auch Väter den Karenzurlaub in Anspruch nehmen, wobei auch sie einen Kündigungsschutz haben. Leider nehmen zur Zeit nur 3% der anspruchsberechtigten Väter dieses Angebot an. 1992 wurde der Karenzurlaub auf zwei Jahre verlängert, was jedoch bald wieder auf eineinhalb Jahre verkürzt wurde, wobei er zwei Jahre beträgt, wenn der andere Elternteil das letzte halbe Jahr in Anspruch nimmt. Es ist auch eine Teilung zwischen den Eltern möglich. Allerdings ist nur ein einmaliger Wechsel möglich und ein Elternteil muß mindestens drei Monate Karenzurlaub beanspruchen.

Das Karenzurlaubsgeld ist von 1979 bis 1991 um 486% gestiegen. Die Gründe dafür sind die Inflationsrate und die steigende Anzahl der Karenzurlaubsgeldbezieherinnen. Bis Ende 1995 gab es drei Sätze des Karenzurlaubsgeldes. Der Regelsatz war für Verheiratete mit ausreichendem Einkommen bestimmt. Der zweite Satz, 150% des Regelsatzes, war für Alleinstehende oder in Lebensgemeinschaft lebende und Verheiratete ohne oder mit geringem Einkommen bestimmt. Der dritte Satz war eine Mischform für Verheiratete oder in Lebensgemeinschaft lebende mit niedrigem Einkommen. Die Auszahlung erfolgt über die Arbeitsämter. Die Finanzierung erfolgt zu 70% aus dem Familienlastenausgleich und zu 30% aus der Arbeitslosenversicherung.

Ab 1996 gibt es ein erhöhtes Karenzurlaubsgeld nur, wenn der Vater des Kindes bekannt ist und wenn das gemeinsame Einkommen weniger als 11.000 ÖS brutto beträgt. Die Differenz zwischen normalem und erhöhtem Karenzurlaubsgeld wird nur mehr als Vorschuß ausbezahlt und wird später vom Vater oder von der Mutter wieder eingefordert, wenn ihr Einkommen über einer bestimmten Grenze liegt. Der Regelsatz lautet 5.439 S, die Differenz ist 2.500 S, das erhöhte Karenzurlaubsgeld beträgt also 7.939 S. Ist die Mutter erwerbstätig, aber noch nicht lange genug, so bekommt sie eine Beihilfe, die maximal 50% des Karenzurlaubsgeldes betragen kann.

Statt das Karenzjahr ganz zu beanspruchen, kann die Mutter oder der Vater Teilzeit arbeiten und so Teilkarenzgeld beziehen. Es können entweder beide Elternteile im zweiten Jahr, oder einer bis zum vierten Geburtstag des Kindes teilzeitbeschäftigt sein um das Teilkarenzgeld zu beziehen. Die Höhe orientiert sich nach der Reduktion der Arbeitszeit, kann aber maximal 50% des Karenzurlaubsgeldes betragen. Das Problem dabei ist, daß kein rechtlicher Anspruch auf diesen Teilkarenzurlaub besteht und so nur mit Einverständnis des Arbeitgebers erfolgen kann.

Die Sondernotstandshilfe wurde 1974 für alleinstehende Mütter im Anschluß an den Karenzurlaub bis zum dritten Geburtstag des Kindes eingeführt. Seit 1990 dürfen auch Verheiratete und in Lebensgemeinschaft lebende mit niedrigem oder ohne Einkommen diese Hilfe in Anspruch nehmen. Seit1992 kann auch der Vater dieses Recht in Anspruch nehmen, wenn die Mutter keinen Anspruch geltend macht. Voraussetzung ist, daß keine andere Betreuungsmöglichkeit vorhanden ist und daher die Mutter oder der Vater nicht berufstätig sein kann. Die Sondernotstandshilfe ist eine Leistung der Arbeitslosenversicherung. Die Höhe richtet sich nach dem letzten Erwerbseinkommen, kann aber nicht höher als das erhöhte Karenzurlaubsgeld sein und wird längstens bis zum dritten Geburtstag vom Arbeitsamt ausbezahlt.

Die Pflegefreistellung wurde 1975 verankert, um unselbständig erwerbstätige Frauen und Männer die Pflege erkrankter, im Haushalt lebende Angehörige (Kinder, Ehepartner, Lebensgefährte/in, eigene Eltern) zu ermöglichen. Dieses Recht gilt für eine Woche im Jahr und wurde 1993 für Kinder unter 12 Jahren auf eine weitere Woche verlängert. Während dieser Freistellung wird der Lohn in voller Höhe ausbezahlt.

Wenn die zum Unterhalt verpflichtete Person (meist der leibliche Vater) ihrer Verpflichtung nicht nachkommt, dann besteht die Möglichkeit des Unterhaltvorschußes. Minderjährige inländische und staatenlose Kinder haben Anspruch darauf. Die Kinder müssen in Österreich leben, dürfen aber nicht im selben Haushalt wie der zum Unterhalt Verpflichtete wohnen. Der Vorschuß wird für drei Jahre gewährt. Danach wird die Situation neu geprüft. Die Finanzierung erfolgt durch den Familienlastenausgleich. Gleichzeitig wird natürlich versucht, das Geld vom säumigen Zahler einzutreiben.

Der Familienhärteausgleich ist für unverschuldet in Not Geratene, Alleinerzieher/innen und Schwangere. Es kann ein Antrag auf direkte Geldzuwendungen und Hilfe bei der Kreditrückzahlung gestellt werden. Allerdings muß der Antragsteller die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, staatenlos oder anerkannter Flüchtling sein.

Der nächste Teil bezieht sich auf die steuerlichen Begünstigungen für Familienerhalter. Es sei gleich vorgemerkt, daß dies der kleinere Teil der Familiepolitik in Österreich ist, wie bereits erwähnt wurde.

Den Kinderabsetzbetrag bekommt jeder, der Familienbeihilfe bezieht. Es ist ein monatlicher Fixbetrag, der bei mehreren Kindern höher wird.

Wer für ein Kind Unterhalt bezahlt, das nicht im eigenen Haushalt lebt, und keine Familienbeihilfe bezieht, der bekommt den Unterhaltsabsetzbetrag. Die Auszahlung erfolgt aber erst beim Jahresausgleich und nicht monatlich.

Bei Familien, in denen der Unterhalt von einem Elternteil überwiegend oder ganz bestritten wird, kommt es ebenso zu einer Verringerung der Steuerschuld um einen Fixbetrag, dem sogenannten Alleinverdienerabsetzbetrag. Eine solche steuerliche Begünstigung gibt es auch für Alleinerzieher, das ist der Alleinerzieherabsetzbetrag. Das bedeutet, es kommt zu einer Reduzierung von Lohn und Einkommenssteuer. Da dies bei einem kleinen Einkommen nicht möglich ist, wird dies als Negativsteuer betrachtet und direkt ausbezahlt.

Im Bereich der institutionellen Kinderbetreuung gibt es zur Zeit einige Vorschläge von seiten der Regierungs- bzw. Oppositionsparteien. So tritt die ÖVP gemeinsam mit der FPÖ für einen Kinderbetreuungsscheck ein. Diese Änderung würde laut SPÖ wesentliche negative Konsequenzen mit sich bringen. Der Scheck würde nicht pro Kind sondern pro Familie ausbezahlt werden und etwa 5000 bis 6000 ÖS betragen. Davon müßten Kosten wie Sozialversicherungsbeträge oder Kinderbetreuung selbst bezahlt werden. Das würde die Preise für Kindergartenplätze deutlich erhöhen. Es gibt sicher auch einige Vorteile dieses Kinderbetreuungsschecks, aber es ist ganz sicher noch nicht das letzte Wort gesprochen.

Ein weiteres Kapitel meiner Arbeit beschäftigt sich mit der Kenntnis familienpolitischer Maßnahmen in Österreich. Dabei zeigt sich, daß neun von zehn Österreicher/inne/n die Familienbeihilfe nennen. Für 11% ist die Familienbeihilfe die einzige Form von Familienpolitik. Die Geburtenbeihilfe wurde von 31% genannt. Das Karenzurlaubsgeld wird von 28% genannt, wobei 34% der Frauen und 22% der Männer diese Nennung machten. Nur ein Viertel der Österreicher nannten überhaupt gesetzliche Regelungen zur Erleichterung der Kinderbetreuung für erwerbstätige Mütter oder Väter. So wurde der Karenzurlaub nur von 24%, die Teilzeitarbeit von 23% und der Pflegeurlaub von 7% genannt.

Es zeigte sich, daß, je niedriger das Einkommen, desto eher wurde die Familienpolitik als familienfördernd empfunden. Bei einem Einkommen unter 12.000 ÖS stimmten 30% dieser Behauptung zu, während bei einem Einkommen über 30.000 ÖS nur mehr 22% zustimmten.

Die Kenntnis hängt natürlich auch vom Bildungsniveau ab. Je höher die Schulbildung ist, desto eher werden Maßnahmen wie Steuerbegünstigung, Mitversicherung, Fahrtenermäßigung, Studienbeihilfe und Wohnbauförderung genannt. Auch regionale Unterschiede spielen eine Rolle. So ist in Salzburg die Kenntnis über familienpolitische Maßnahmen höher als in Kärnten.

Der nächste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der Bewertung der derzeitigen Familienpolitik. Wie schätzen die Österreicher die Auswirkungen der derzeitigen Familienpolitik in Österreich ein? Sieben von zehn Österreichern, das sind 69%, finden, daß die Familienpolitik die Lebenssituation und Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder verbessert. Für 56% bewirkt sie eine Erleichterung des Lebens für Eltern mit Kindern. 65% sagen, Mütter haben nun mehr Zeit für die Kindererziehung. Die Behauptung, Familienpolitik schaffe eine Chancengleichheit von Frauen und Männern, unterstützen 60% der Bevölkerung. 46% meinen, sie ermöglicht Paaren die gewünschte Anzahl an Kindern großzuziehen. 45% sind der Meinung, daß die Stellung von Ehe und Familie gestärkt wird. Nur 18% sehen durch die Familienpolitik eine Erhöhung der Geburtenrate. Immerhin 30% der Österreicher meinen, es sind keine Auswirkungen der Familienpolitik zu sehen.

Die gesehenen Auswirkungen variieren mit der Parteipräferenz. Das positivste Bild der Familienförderung haben die Anhänger der SPÖ. Am meisten skeptisch sind die Grünanhänger.

Bei der allgemeinen Beurteilung der derzeitigen Familienpolitik sind 29% völlig zufrieden, 11% teilweise zufrieden, 41% meinen sie sei nicht großzügig genug und 13%, sie sei insgesamt zu verschwenderisch. Die Zufriedenheit hängt von der familiären Situation, von der Parteisympathie und von regionalen Unterschieden ab. So sind die Anhänger der Oppositionsparteien unzufriedener als die Anhänger der Regierungsparteien. Die Anhänger der FPÖ meinen, die derzeitige Familienpolitik sei zu verschwenderisch. Weiters findet sich in Kärnten eine Zufriedenheit von 39%, während die Zufriedenheit in Tirol nur mehr bei 22% liegt.

Bei der Ausweitung familienpolitischer Maßnahmen und der Nennung konkreter Maßnahmen zeigt sich folgende Prioritätenliste. An erster Stelle stehen finanzielle Maßnahmen, wie vor allem: die Familienbeihilfe nach dem Einkommen zu staffeln oder Steuererleichterungen. An zweiter Stelle stehen erwerbsbezogene Maßnahmen wie flexible Arbeitszeiten, Teilzeitarbeit oder Verlängerung des Pflegeurlaubs. An vierter Stelle steht die Kinderbetreuung, wobei hier besonders auf die Betreuung der 3-6-Jährigen hingewiesen wird. An vierter und letzter Stelle steht die Wohnsituation bzw. die Verbesserung der Wohnsituation für Leute mit Kindern. Unterschiede in der Prioritäten-Reihenfolge ergeben sich aufgrund des Bildungsniveaus, des Einkommens, des Alters, dem Familienstand und der Parteisympathie.

Bevorzugte Formen der Familienbeihilfe sind nach Alter, Einkommen oder Kinderanzahl gestaffelt. Die Staffelung nach Alter wird in Städten bevorzugt. Die einkommensabhängige Staffelung wird von Männern bevorzugt. Die Staffelung nach der Kinderanzahl wird ab drei Kindern eher von Männern bevorzugt.

Addressat der Familienbeihilfe soll nach Meinung der Österreicher/innen die Mutter (mit 57%), der Vater mit 20% oder beide mit 19% sein.

Der erwartete Einfluß der Familienpolitik auf die Kinderanzahl ist eher gering, aber einige würden es sich bei einem Ausbau der familienpolitischer Maßnahmen noch einmal überlegen. So würde ein Erziehungsgeld nach Ende des Karenzurlaubs, flexible Arbeitszeiten oder Teilzeitarbeit nach Meinung der Bevölkerung die Kindererziehung sehr erleichtern.
 
 

Zusammenfassung

Ich habe nun einen Großteil der familienpolitischen Maßnahmen näher vorgestellt. Es waren dies zum Beispiel Transfereinkommen, Besteuerung, Versicherungsschutz, arbeitsrechtliche und sozialrechtliche Ansprüche, Infrastruktur und Sachleistungen und Leistungen für Schüler, Lehrlinge und Studenten. Durch Sparmaßnahmen wurden einige Vergünstigungen, wie zum Beispiel die Geburtenbeihilfe, gestrichen. Einige Veränderungen sind zur Zeit im Gespräch, wie zum Beispiel der Kinderbetreuungsscheck oder die Familienbesteuerung. Im großen und ganzen hat Österreich ein gut ausgebautes familienpolitisches System.

Meine persönliche Meinung ist, daß wir in Österreich ein gutes familienpolitisches System haben, daß es aber trotzdem noch einiger Änderungen bedürfte. So wäre die Erhöhung der Steuerbegünstigungen vorteilhaft. Ein großes Problem, welches es zu lösen gilt, stellen die Alleinerzieherinnen dar, denn die meisten der im Notstand lebenden Familien in Österreich sind Alleinerzieherinnen-Familien. Hier würden Änderungen in der Arbeitswelt einiges bewirken können. Ich glaube, Österreich ist in einigen Bereichen noch sehr schwerfällig, zum Beispiel was den Bereich der Teilzeitarbeit oder die flexiblen Arbeitszeiten betrifft. Aber ich hoffe, daß sich das bald ändern wird. Auch die Wohnumgebung spielt eine große Rolle in der Erziehung der Kinder. So ist klar, daß sogenannte Wohnsilos nicht gerade eine kindgerechte Umwelt sind. Hier entstehen Aggressionen, die nicht verarbeitet werden können und so in Gewalt enden. Solche, fast unscheinbaren "Kleinigkeiten" dürfen nicht übersehen werden. Ich bin der Meinung, daß die Familie das wichtigste Subsystem im großen System "Staat" darstellt. Sie ist sozusagen die "Keimzelle" aus der alles weitere erwächst. Sie entscheidet meistens über die weitere Zukunft der Kinder und dabei braucht sie die Unterstützung des Staates. Ich finde, im Bereich der Familienpolitik sollte man nicht sparen, oder zumindest nicht am falschen Fleck.

Literaturverzeichnis

Gisser, R., Holzer, W., Münz, R. & Nebenfuhr, E. (1995). Familie und Familienpolitik in Österreich. Wissen, Einstellungen, offene Wünsche, internationaler Vergleich. Wien: Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie.

Neues Niederösterreich Bild, Nr. 41, Seite 4.
 


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Band 2: Reader zur Lehrveranstaltung "Familienpsychologie II" (SS 1998)

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