Reader
zur Lehrveranstaltung
"Entwicklungspsychologie für Lehramtsstudierende"

606 152, anrechenbar als Allg. LA §3(2)1)e

Sommersemester 1997

(Blockveranstaltung vom 9. und 10. Mai 1997)

Lehrveranstaltungsleiter und Herausgeber
Univ.-Lektor Mag. Dr. Harald WERNECK

Abteilung für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie
des
Instituts für Psychologie der Universität Wien

Wien, Juni 1997



Vorwort

Der vorliegende Reader beinhaltet die gesammelten schriftlichen Berichte, die von Studierenden im Rahmen der Lehrveranstaltung "Entwicklungspsychologie für Lehramtsstudierende" (am Institut für Psychologie der Universität Wien) verfaßt wurden.

Behandelt werden dabei verschiedene ausgewählte Themenbereiche aus der Entwicklungspsychologie, die für die Zielgruppe dieser Lehrveranstaltung - angehende Lehrerinnen und Lehrer an höheren Schulen - auch im Berufsalltag von praktischer Relevanz sind.

Aufgrund der gemeinsamen theoretischen Ausgangsperspektive der einzelnen Themen, eben der Entwicklungspsychologie, kommt es gelegentlich zu gewissen Überschneidungen zwischen den einzelnen Beiträgen, was das gedankliche Spektrum aber durchaus auch erweitern kann.

Die Berichte wurden nahezu unverändert (von den jeweiligen Diskettenversionen) übernommen - abgesehen von gewissen Veränderungen im Layout bzw. Korrekturen, betreffend die Rechtschreibung.

Auf eine inhaltliche Überarbeitung bzw. eine komplette Vereinheitlichung des Layouts, aber auch beispielsweise der Literaturverzeichnisse mußte aus Zeitgründen verzichtet werden.

Die inhaltliche Verantwortung bleibt dementsprechend bei den einzelnen Autoren bzw. Autorinnen.

Dieser Reader versteht sich in erster Linie als Service für die Teilnehmenden an der ihm zugrundeliegenden Lehrveranstaltung, aber auch als Basisinformation bzw. Anregung für (aus verschiedenen Gründen) am Thema Interessierte.

Wien, Juni 1997 Univ.-Lektor Mag. Dr. Harald Werneck


 
 

INHALTSVERZEICHNIS
 

  1. Eriksons Modell der psychosozialen Entwicklung (Julia Lanzdorf)
  2. Körperliche und psychosexuelle Entwicklung in der Pubertät (Elke Hollarek)
  3. Koedukation - pro und kontra (Birgit Wodaczek)
  4. Werthaltungen der heutigen Jugend (Markus Gonaus)
  5. Sekten und Schule (Thomas Pleyer)
  6. Kognitive Psychologie (Barbara Achammer)
  7. Sprachentwicklung, Sprach- und Sprechstörungen (Andrea Köck)
  8. Motivationspsychologie (Birgit Wolf)
  9. Kreativität (Elisabeth Breier)
  10. Hochbegabung (Manuela Slany)
  11. Verhaltensauffälligkeiten und psychosom. Störungen im Jugendalter (Veronika Markl)
  12. Drogen (Michael Tichacek)

 
 

Inhaltsverzeichnis

1) Eriksons Modell der psychosozialen Entwicklung (Julia Lanzdorf)

 

 

Einleitung

Erik H. Erikson hat zur psychosozialen Entwicklung ein Modell entworfen, in welchem er das menschliche Leben in acht Phasen unterteilt. Es sollen Urvertrauen, Autonomie, Initiative, Leistung, Identität, Intimität, Zeugende Fähigkeit und Ich-Integrität aufgebaut werden, um Hoffnung, Willenskraft, Zweckhaftigkeit, Können, Treue, Liebe Fürsorge und Weisheit zu ermöglichen.

Die acht Phasen des Menschen

1. Vertrauen gegen Ur-Mißtrauen

Der früheste Beweis für das Vertrauen des Kindes zur Gesellschaft ist das Fehlen von Ernährungsschwierigkeiten, Schlafstörungen und Spannungszuständen im Verdauungstrakt. Die Abenteuer, die durch die Sinne vermittelt werden, erwecken im Kind immer mehr das Gefühl des Vertrauten und der Koinzidenz mit etwas das sich im Inneren gut anfühlt. Zustände des Wohlbehagens und die damit in Beziehung stehenden Personen werden ihm ebenso vertraut wie die nagenden Unlustgefühle in seinen Verdauungsorganen. Daher kann man es als die erste soziale Leistung des Kindes bezeichnen, wenn es die Mutter aus seinem Gesichtsfeld entlassen kann, ohne übermäßige Wut oder Angst zu äußern, weil die Mutter inzwischen zu einer inneren Gewißheit geworden ist. Das Erleben des Konstanten, Kontinuierlichen und Gleichartigen der Erscheinungen liefert dem Kind ein rudimentäres Gefühl von Ich-Identität : das Kind "weiß" eine innere Welt erinnerter und voraussehbarer Empfindungen in fester Korrelation mit der äußeren Welt vertrauter, zuverlässig wiedererscheinender Dinge und Personen.

Die feste Prägung dauerhafter Verhaltensformen ist die erste Aufgabe des Ich und daher auch die vornehmste pflegerische Aufgabe der Mutter. Dazu muß gesagt werden, daß die Summe von Vertrauen, die das Kind seinen frühesten Erfahrungen entnimmt, nicht absolut von der Quantität an Nahrung und Liebesbezeugungen, sondern eher von der Qualität der Mutter-Kind-Beziehung abhängt.

2. Autonomie gegen Scham und Zweifel

Die Reifung des muskulären Systems setzt ein neues Erprobungsstadium ein, das gleichzeitig zwei soziale Modalitäten erfaßt, nämlich das Festhalten und das Loslassen. Das Festhalten kann zu einem zerstörenden Besitz- und Zwangsverhalten, aber auch zu einem vorgeprägten Verhalten von Sorge und Fürsorge führen. Auch das Loslassen kann zum böswilligen Freisetzen zerstörerischer Kräfte werden, oder es wird zum entspannten Gehen-Lassen und Sein-Lassen.

Die Erziehung in diesem Stadium muß fest und sicherheitsgebend sein. Das Kleinkind muß das Gefühl haben, daß sein Urvertrauen zu sich selber und der Welt nicht dadurch in Frage gestellt wird, daß es sich fordernd etwas aneignen oder eigensinnig etwas abweisen will. Die äußere Lenkung soll ihm dabei helfen zu lernen, mit dem richtigen Kraftaufwand festzuhalten und loszulassen. Und wenn man es ermutigt "auf seinen eigenen Füßen zu stehen", muß man es zugleich gegen sinnlose Erlebnisse von Scham und frühem Zweifel schützen.

Wird dem Kind die Autonomie der freien Wahl vorenthalten, so kehrt es seinen Erkenntnisdrang gegen sich selbst: Es wird sich übermäßig mit sich selber beschäftigen, ein frühreifes Gewissen entwickeln. Statt die Welt der Dinge in Besitz zu nehmen und sie in zielbewußter Wiederholung auszuprobieren, konzentriert sich das Kind zwanghaft auf seine eigenen, sich wiederholenden Körpervorgänge. Durch seine Selbstbezogenheit lernt es dann natürlich, seine Umgebung erneut auf sich zu lenken und durch eigensinnige Forderung pünktlicher Beachtung dort eine Macht auszuüben, wo es die größere wechselseitige Regulierung nicht erreichen konnte.

Diese Phase wird daher entscheidend für das Verhältnis von Liebe und Haß, Zusammenarbeit und Eigensinn, Freiheit der Selbstentfaltung und ihrer Unterdrückung. Aus dem Gefühl der Herrschaft über sich selbst ohne Verlust der Selbstachtung stammt ein dauerhaftes Gefühl des guten Willens und des Stolzes; aus dem Gefühl verlorener Selbstkontrolle und fremder Oberherrschaft erwächst ein dauernder Hang zu Zweifel und Scham.

3. Initiative gegen Schuldgefühl

Die Initiative fügt zur Autonomie die Qualität des Unternehmens, Planens und "Angreifens" einer Aufgabe um der Aktivität und der Beweglichkeit willen hinzu. Das "Machen" und zwar in dem Sinne des "Sich-an-etwas-Heranmachens" kommt in dieser Phase der freien Fortbewegung und der infantilen Genitalität beim Knaben in phallisch-eindringenden Verhaltensweisen, beim Mädchen mehr in Verhaltensweisen des Bekommens, und zwar entweder in der aggressiven Form des Wegnehmens und eifersüchtiger in Besitznahme oder in der milderen Form des Schmeichelns und Sich-Liebkind-Machens, zum Ausdruck.

Das Kind neigt jetzt dazu, sich selbst zu lenken, allmählich ein Gefühl elterlicher Verantwortlichkeit zu entwickeln, ersten Einblick in Institutionen, Funktionen und Rollen zu gewinnen und wird sich daher gern mit sinnvollen Spielzeugen, Werkzeugen und mit der Fürsorge für kleinere Kinder beschäftigen.

Die Gefahr dieser Phase ist das Schuldgefühl in bezug auf Unternehmungen, die die Leistungsfähigkeit von Körper und Geist weit übersteigen und daher der Initiative ein energisches Halt entgegensetzen. Während ein Kind in der Autonomie-Phase auf seine jüngeren Geschwister eifersüchtig sein mag, sieht es in der neuen Phase seine Rivalen in denjenigen, die schon vorher da waren und dadurch das Feld, auf das sich seine eigene Initiative richtet, mit überlegenen Kräften besetzt halten. Es kämpft um die Vorrangstellung im Herzen der Mutter. Die unvermeidliche Niederlage führt zu Resignation Schuldgefühlen und Angst. Dies ist die Phase des "Kastrationskomplexes", der Furcht, zur Strafe für die mit den genitalen Erregungen verknüpften Phantasien die Genitalien zu verlieren.

4. Leistung gegen Minderwertigkeitsgefühl

Das Leben muß erst einmal Schulleben sein, sei die Schule nun der Acker, der Dschungel oder das Klassenzimmer. Ehe das Kind, das psychologisch schon ein rudimentärer Vater oder eine rudimentäre Mutter ist, auch biologisch in diese Rolle hineinwachsen kann, muß es noch lernen auch in der Arbeitswelt und als potentieller Ernährer seinen Platz zu finden. Mit Herannahen der Latenzperiode vergißt es den Drang, die anderen Menschen seiner Umwelt durch direkten Kontakt zu erobern oder jetzt auf der Stelle Papa oder Mama zu werden; stattdessen lernt es sich Anerkennung zu verschaffen, indem es etwas leistet.

Die Gefahr dieser Phase liegt darin, daß sich ein Gefühl der Unzulänglichkeit und der Minderwertigkeit bilden kann. Wenn das Kind verzweifelt, weil es mit den Werkzeugen und Handfertigkeiten nicht zurechtkommt oder weil es unter den seinen Werk-Gefährten keinen eigenen Stand finden kann, so kann es die Hoffnung aufgeben, sich schon mit den Großen identifizieren zu können, die sich im gleichen allgemeinen Rahmen der Werkzeugwelt betätigen. Wenn das Kind die Hoffnung auf so eine "werkmäßige" Anlehnung verliert, so wird es auf die isolierte, weniger werkzeugbewußte, familiäre Rivalität der ödipalen Periode zurückfallen. Das Kind verliert so das Vertrauen sowohl zu seinen Fähigkeiten in der Werkzeugwelt wie in der Anatomie und glaubt sich zur Mittelmäßigkeit oder zu einem Krüppeldasein verdammt.

5. Identität gegen Rollenkonfusion

Mit der Aufrichtung eines guten Verhältnisses zur Welt der Handfertigkeiten und Werkzeuge und mit Eintritt der sexuellen Reife ist die eigentliche Kindheit zu Ende. Die Jugendzeit beginnt. Aber das rasche Körperwachstum, das fast dem der frühen Kindheit gleichkommt, und das völlig neue Hinzutreten der körperlichen Geschlechtsreife stellen alle vorher schon als zuverlässig empfundenen Werte der Gleichheit und Kontinuität in Frage. Die Jugendlichen sind angesichts der psychischen Revolution in sich selber vor allem daran interessiert, wie sie in den Augen anderer erscheinen, verglichen mit ihrem eigenen Gefühl, das sie von sich haben. Sie suchen, wie sie ihre früher geübten Rollen und Geschicklichkeiten mit den augenblicklich herrschenden Idealtypen in Verbindung setzen können. Auf der Suche nach einem neuen Kontinuitäts- und Gleichheitsgefühl muß der Jugendliche viele Kämpfe der früheren Jahre noch einmal durchkämpfen.

Die Gefahr dieses Stadiums liegt in der Rollenkonfusion. Es ist hauptsächlich die Unfähigkeit, sich für eine berufsmäßige Identität zu entscheiden, was die jungen Menschen beunruhigt. Um sich selbst zusammenzuhalten, überidentifizieren sie sich zeitweise scheinbar bis zum völligen Identitätsverlust mit den Cliquen- und Massen-Helden. Damit treten sie in die Phase der "Schwärmerei", was keineswegs ganz oder auch nur vorwiegend etwas Sexuelles ist. Die Liebe des Jugendlichen ist weitgehend ein Versuch, zu einer klaren Definition seiner Identität zu gelangen, indem er seine diffusen Ich-Bilder auf einen anderen Menschen projiziert und sie in der Spiegelung allmählich klarer sieht. Darum besteht junge Liebe so weitgehend aus Gesprächen.

6. Intimität gegen Isolierung

Jeweils die Stärke, die in der vorhergehenden Phase besonders verletzlich kostbar war, muß in der nächsten eingesetzt und riskiert werden. Aus der Suche nach - und aus dem Beharren auf - seiner Identität geht ein junger Erwachsener hervor, der nun bereit ist, seine Identität mit der anderer zu verschmelzen. Er ist bereit zu Intimität, d. h. er ist fähig, sich echten Bindungen und Partnerschaften hinzugeben und die Kraft zu entwickeln, seinen Verpflichtungen treu zu bleiben, selbst wenn sie gewichtige Opfer und Kompromisse fordern. Körper und Ich müssen nun ohne Furcht vor einem Ich-Verlust Situationen begegnen können, die Hingabe verlangen : in Orgasmus und geschlechtlicher Vereinigung, in enger Freundschaft und physischem Kampf, in Erlebnissen der Inspiration durch Lehrer und der Intuition aus der Tiefe des Selbst. Wenn der junge Mensch aus Furcht vor dem Ich-Verlust diesen Erlebnissen ausweicht, so führt dies zum Gefühl tiefster Vereinsamung und schließlich zu einer

gänzlichen Beschäftigung mit sich selbst, zu einem Verlust der Umwelt.

Die Gefahr dieses Stadiums ist die Isolierung, d.h. die Vermeidung von Kontakten, die zur Intimität führen. Andererseits gibt es Bindungen, die zu einer Isolierung zu zweit werden und beide Partner vor der Notwendigkeit bewahren, der nächsten kritischen Entwicklungsphase entgegenzugehen - der zeugenden Fähigkeit.

7. Zeugende Fähigkeit gegen Stagnation

Die zeugende Fähigkeit ist in erster Linie das Interesse an der Stiftung und der Erziehung der nächsten Generation und schließt auch Produktivität und Schöpfertum ein. Sie ist eine wesentliche Phase des psychosexuellen wie des psychosozialen Entwicklungsplans. Wo diese Bereicherung völlig entfällt, tritt eine Regression zu einem zwanghaften Bedürfnis nach Pseudointimität ein, oft verbunden mit einem übermächtigen Gefühl der Stagnation und Persönlichkeitsverarmung. Die Individuen beginnen dann oft, sich selbst zu verwöhnen, als wären sie ihr eigenes - oder eines anderen - einziges Kind. Die bloße Tatsache, Kinder zu haben oder sogar sie sich zu wünschen, reicht aber nicht dazu aus, zeugende Fähigkeiten zu "erlangen". Tatsächlich scheinen manche junge Eltern unter der Retardierung der Fähigkeit zu leiden, dieses Stadium zu entwickeln. Gründe dafür können exzessive Eigenliebe oder das Fehlen eines "Vertrauens in die menschliche Spezies" sein, das ein Kind als ein willkommenes Pfand der Gemeinschaft erscheinen läßt.

8. Ich-Integrität gegen Verzweiflung

"Ich-Integrität" ist die wachsende Sicherheit des Ichs hinsichtlich seiner natürlichen Neigung zu Ordnung und Sinnerfülltheit. Es bedeutet die Hinnahme dieses unseres einmaligen und einzigartigen Lebensweges als etwas Notwendigem und Unersetzlichem. Obwohl der integere Mensch sich der Relativität all der vielen verschiedenen Lebensformen bewußt ist, die dem menschlichen Streben einen Sinn verleihen, ist er bereit die Würde seiner eigenen Lebensform gegen alle physischen und wirtschaftlichen Bedrohungen zu verteidigen.

Mangel oder Verlust dieser gewachsenen Ich-Integrität ist durch Todesfurcht gekennzeichnet : der einzige, einmalige Lebenslauf wird nicht als die ultima ratio des Lebens anerkannt. Verzweiflung entspricht einem Gefühl, daß die Zeit zu kurz ist, zu kurz für den Versuch, ein anderes Leben zu beginnen und andere Wege der Integrität zu suchen.

Zusammenfassung

Die Beziehung zwischen Integrität der Erwachsenen und dem Vertrauen des Kindes läßt sich am besten ausdrücken, indem man sagt, daß gesunde Kinder das Leben nicht fürchten, wenn ihre Eltern genug Integrität besitzen, den Tod nicht zu fürchten.

Persönliche Stellungnahme

Meiner Meinung nach ist das richtige Durchlaufen dieser psychosozialen Phasen für die gesunde Entwicklung eines menschlichen Individuums von größter Bedeutung. Trotz dieser Einsicht sehe ich mich jedoch nicht imstande die nötigen Maßnahmen zu finden, wenn in einer persönlichen Entwicklung diese positiven Gefühle als die der jeweiligen Phase entsprechenden Errungenschaften nicht realisiert werden können.

Literatur

Erikson, E.H. (1979). Kindheit und Gesellschaft. Stuttgart : Klett
 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis
 
 

2) Körperliche und psychosexuelle Entwicklung in der Pubertät (Elke Hollarek)

Einleitung:

In welcher schwierigen Situation sich ein Schüler befindet, der gerade die Pubertät durchlebt, zeigt uns ein sich erst vor kurzen ereigneter tragischer Zwischenfall, bei dem eine Lehrerin tödlich und eine zweite schwer verletzt wurde.

Grund dafür, so vermutet man, war eine zu starke Überbelastung in dieser Zeit.

Jugendliche sollen lernen Verantwortung zu tragen, sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen und seinen Körper, der sich gerade besonders schnell entwickelt, zu akzeptieren und mit diesen umzugehen.

Dies sind nur einige markante Merkmale der Pubertät, die es für einen Jugendlichen besonders schwer machen, sich in seinem "neuen" Leben zurechtzufinden.

Die Familie, Freunde und auch die Pädagogen können den Jugendlichen bei diesem schwierigen Schritt helfen. Voraussetzung dafür, ist das Wiederentdecken oder das Kennenlernen dieser Zeit, sowohl die körperliche wie auch die psychosexuelle Entwicklung.

1. Die körperliche Entwicklung:

In der Physiologie wird unter den Begriff Pubertät die Reifung zur Fortpflanzungstätigkeit verstanden. Über das Signal für den Beginn der Pubertät ist noch sehr wenig bekannt. Schon beim Neugeborenen sind Hormone der Hypophyse, die angeregt werden durch Hormone des Hypothalamus, meßbar. Dadurch wird auch die Tätigkeit der Gonaden und der Geschlechtsdrüsen angeregt. Diese Sekretion des Hormons vom Hypothalamus hört beim Säugling bald auf, und dadurch sinkt der Spiegel der Hormone der Hypophyse in den ersten 3 bis 6 Lebensmonaten auf fast nicht mehr meßbare Werte ab.

Erst mit Beginn der Pubertät (bei Mädchen zwischen 8 und 10 Jahren, bei Jungen zwischen 9 und 11 Jahren) fangen die hypothalamischen Neurone wieder an, synchronisiert und phasisch aktiv zu werden. Diese Aktivierung erfolgt zunächst schlafabhängig innerhalb der Tiefschlafphasen. Damit ist die Gonadotropinsekretion (= Hormone der Hypophyse) nächtlich erhöht und regt die gonadale Tätigkeit und die Tätigkeit der Geschlechtsdrüsen an. Damit kann das Wachstum reifer Samen beim Mann sowie reifer Eizellen bei der Frau beginnen. Mit fortschreitender Pubertät wird die Sekretion des Hormons vom Hypothalamus unabhängig von den Schlafphasen und werden in zunehmenden Maße auch tagsüber beobachtet. Das entspricht dem Erwachsenenzustand.

Hormon des Hypothalamus
Hormone der Hypophyse (LH und FSH)

Burschen: Androgen (Testosteron - Hormon der Nebennierenrinde)
Mädchen: Östrogen

Tab. 1: Entstehung und Stimulierung der Hormone kurz, vereinfacht aufgezeigt

1.1. Männliche Pubertät:

Die Einschätzung des pubertären Entwicklungsstandes bei Jungen orientiert sich in den meisten Studien an den äußerlichen wahrnehmbaren körperlichen Veränderungen; Wachstum des Penis und der Hoden, Wachstum der Scham- und Axillarbehaarung, Entwicklung des Bartwuchses, Stimmveränderungen und Längenwachstumsschub.

Der Beginn der Sekretion der Hormone im Hypothalamus des männlichen Kindes bewirkt eine langsame Erhöhung der Gonadotropine LH und FSH (= Hormone der Hypophyse). Durch FSH wird die Reifung der Samen, durch LH die Produktion der Androgene (= männliche Geschlechtshormone) stimuliert. Testosteron ist das häufigste und bekannteste Hormon mit anaboler Wirkung. Die Androgene (werden in der Nebenniere produziert) maskulinisieren das Individuum psychisch und somatisch. Die vermehrt ausgeschütteten Androgene bewirken in der Pubertät die Entwicklung des Jungen zum Mann.

Die erste äußere Veränderung ist das Wachstum der Hoden. Es beginnt mit 11.6 Jahren (Variationsbreite des Beginns 9.5 bis 13.5 Jahre) und hat etwa nach vier Jahren das erwachsene Entwicklungsstadium erreicht. Das Wachstum der Schambehaarung beginnt kurze Zeit nach dem Beginn der Veränderung der Hoden und zieht sich auch etwa über vier Jahre hin. Das Wachstum des Penis beginnt etwa ein Jahr nach dem Beginn des Hodenwachstums und dauert etwa zwei Jahre bis das erwachsene Stadium erreicht ist.

Ganz global wirken alle Androgene eiweißanabol, d.h. sie stimulieren die Eiweißsynthese. Deshalb ist auch nach der Pubertät der Habitus eines Mannes in der Regel größer und muskulöser ausgeprägt als der weibliche. Androgene bewirken durch Stimulation der Eiweißmatrix eine verstärkte Knochenbildung. Auch die Muskelmasse ist durch Androgene stimulierbar. Diese beiden Effekte werden durch Muskeltraining besonders deutlich. Im Blut zirkulierendes Testosteron wird in vielen Anhangsorganen der Haut umgeformt. dieses ist dann für den maskulinen Behaarungstyp (Bartwuchs,...) und die vermehrte Fettproduktion und -sekretion der Haut verantwortlich.

Die intrapubertär vermehrt gebildeten Androgene bewirken auch einen Schub des Längenwachstums. Die vermehrte Androgenproduktion bewirkt aber nach diesem Wachstumsschub, daß die für das Längenwachstum wichtigen Wachstumszonen (Epiphysen) der Röhrenknochen verknöchern. Damit ist ein weiteres Längenwachstum unmöglich gemacht.

Durch den Wachstum des Kehlkopfes werden die Stimmbänder länger und die Stimme sinkt um ca. eine Oktave.

1.2. Weibliche Pubertät:

Die frühpubertierende Phase beginnt gleich wie beim Jungen, nur bilden Frauen zum Teil andere Hormone, z.B. Östrogen, aus als Männer.

Die zunächst nur nächtlich vermehrt produzierten Östrogene bewirken die somatische Differenzierung des Mädchens zur jungen Frau. Mit fortschreitender Pubertät funktioniert dieser Regelkreislauf auch tagsüber, was schließlich zu den regelmäßigen Menstruationszyklen führt.

In diesem Zusammenhang sei auf die Gefahr der Anabolika hingewiesen, die für androgene Nebenwirkungen bekannt sind. Die vor allem im Sportbereich verwendeten Dopingmittel führen nicht nur zu dem erwünschten Muskelaufbau, sondern üben tiefgreifende Einflüsse auf den ganzen Hormonregelkreislauf bei Mann und vor allem bei Frau aus.

Die Östrogene sind wichtig für die Ausbildung der sekundären Geschlechtsorgane, die sich bei der Frau in Form von Behaarung und Brüsten zeigen. Beim Mädchen ist die gering ausgebildete eiweißanabole Wirkung der Östrogene wichtig für den milden Wachstumsschub und die anschließende Verknöcherung der Epiphysen, so daß gegen Ende der Pubertät das Längenwachstum abgeschlossen ist. (Siehe Schmidt/Thews, Physiologie des Menschen, 1995, S. 370-389)

1.3. Der pubertäre Wachstumsschub:

Bei Mädchen ist das erste Zeichen des Eintritts in die Pubertät der Wachstumsschub, während bei Jungen dieses Nachaußen sichtbare Zeichen der Reifezeit erst später auftritt; an einem Punkt, an dem sie schon einige Zeit die für andere nicht direkt sichtbare Wachstum der Genitalien und der Schambehaarung erlebt haben. (Siehe Kracke, Probleme und Problemverhalten bei Jungen, 1993, S.7)

Der Beginn, die Intensität und die Dauer ist jedoch von Kind zu Kind verschieden, da das Alter in dem die ersten Anzeichen der Pubertät auftreten, sowohl familiär als auch rassisch bedingte Unterschiede aufweist. Der individuelle Beginn und die Dauer der Pubertät hängt von Erbfaktoren, Umweltbedingungen, wie beispielsweise dem Grad der Urbanisierung, der Ernährung und von der individuellen Lebensgeschichte ab.

Bei den Knaben kann der Wachstumsschub schon mit 10.5 Jahren oder auch erst mit 16 Jahren einsetzen. Der Junge wächst ungefähr 20 Zentimeter (zwischen 10 und 30 cm) und wiegt schlußendlich zirka 20 kg (zwischen 7 und 30 kg) mehr als vor dem pubertären

Wachstumsschub. Am Punkt der höchsten Wachstumsgeschwindigkeit wachsen Jungen zirka 9.3 cm pro Jahr.

Bei den Mädchen setzt der Wachstumsschub zirka zwei Jahre früher ein. Der Wachstumsschub ist bei ihnen meistens weniger stark ausgeprägt. In dieser Phase nehmen die Mädchen zirka 16 cm an Größe und 16 kg an Gewicht zu.

An dieser Stelle soll erwähnt werden, daß die Angaben und Untersuchungen längere Zeit zurückliegen. Im Zuge der Akzeleration ist anzunehmen, daß sich das Alter vorverlegt hat, d.h. das Jugendliche immer früher in die Pubertät kommen. Eine Untersuchung über das Menarchealter für Westeuropa zeigt, daß sich das Menarchealter alle 10 Jahre um zirka 4-5 Monate zeitlich vorverschiebt. Daraus kann man schließen, das sich der Wachstumsschub sowohl bei Knaben als auch bei Mädchen 12 - 15 Monate früher anzusetzen sein wird.

Am Wachstumsschub sind praktisch alle Skelett- und Muskelpartien, so wie auch die inneren Organe beteiligt. Die einzelnen Körperteile beginnen in einer genau festgelegten Ordnung zu unterschiedlichen Zeiten zu wachsen und deren Wachstumsverläufe vollziehen sich außerdem mit unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Zu Beginn des pubertären Wachstumsschubes vergrößern sich bei beiden Geschlechtern die unteren Extremitäten. Bereits drei Monate nach Beginn des Wachstumsschubes wird die höchste Wachstumsgeschwindigkeit der Füße erreicht. Die Waden und Schenkel erreichen sechs Monate später das Maximum der Wachstumsgeschwindigkeit und nach weiteren 4 Monaten ist es für das Breitenwachstum von Hüften und Brustkorb, gefolgt von den Schultern ausgestanden. Am schnellsten wachsen der Kopf, die Hände und die Füße, deshalb scheint es verständlich, daß diese Körperteile auch als erstes den Erwachsenenstand erreichen.

Die Folge der nicht synchron ablaufenden Wachstumsprozesse einzelner Körperteile ist, daß der Körper den Eindruck einer somatischen Disharmonie erweckt. Für die Jugendlichen stellt diese Phase unter anderem eine Zeit der körperlichen Umstellung dar. Sie müssen die neuen Körperdimensionen erst motorisch beherrschen und koordinieren lernen und deshalb wirken ihre Bewegungen oft ungeschickt und eckig. (Siehe Winkler-Hermaden, Die Sexualität als pädagogische Herausforderung, 1994, ab S.40)

Jungen sind mit dem Einsetzen der körperlichen Veränderung zum großen Teil sehr zufrieden. So haben Jungen, die bereits die pubertären Veränderungen erfahren, ein positives Körperbild als Jungen, die noch nicht in der Pubertät sind. Sie sind auch zufriedener mit ihrer Körperkraft und Leistungsfähigkeit als präpubertäre Jungen. (Siehe Kracke, Pubertät und Problemverhalten bei Jungen, 1993, S.10)

Zur Frage, was Jugendliche an sich selbst nicht mögen, wurden, bei einer anderen Befragung, die körperlichen Merkmale weit vor intellektuelle Fähigkeiten und sozialen Verhaltensweisen genannt. Anscheinend spielt für das Selbstwertgefühl die äußere Erscheinung eine zunehmend wichtige Rolle.

Jungen werden neben der Kleinwüchsigkeit auch noch durch zu klein empfundene Geschlechtsteile, spärlich beunruhigt. Bei Mädchen wird eine Beunruhigung neben der durch Übergewicht, noch durch einen stämmigen Körperbau, große Hände und Füße, wenig entwickelte Brüste, Magerkeit, starke Behaarung an Beinen und Armen hervorgerufen. Daß eine Körperbehinderung in dieser Entwicklungsstufe zu bedeutenden psychischen Begleiterscheinung führen kann, läßt sich der obigen Darstellung leicht Schlußfolgern. (Siehe Winkler-Hermaden, Die Sexualität als pädagogische Herausforderung, 1994, ab S. 47)

2. Psychosexuelle Entwicklung:

2.1. Sexuelles Verhalten und die Beziehung zum anderen Geschlecht

Die Pubertät ist eine Zeit des Lernens. Die Jugendzeit in höherentwickelten Kulturen ist ein Lebensbschnitt des Suchens und Vorbereitens auf die Erwachsenenwelt. Dies gilt natürlich auch für das psychosexuelle Verhalten

In der Pubertät erlangt die Sexualität eine neue Dimension, da die Jugendlichen biologisch gesehen geschlechtsreif geworden sind und sie damit den Erwerb der vollen sexuellen Funktionsfähigkeit erlangt haben. In vielen Kulturen spricht man erst dann von einer reifen Sexualität, wenn der soziale Bezug des Sexualität hergestellt wird, da die Sexualität ein intimes soziales Verhalten zwischen zwei Personen darstellt.

Es gibt im Jugendalter eine Vielzahl von sexuellen Praktiken, wobei die Masturbation (Selbstbefriedigung) bei den Jugendlichen weit verbreitet ist. Masturbation leitet sich vom lateinischen Zeitwort "masturbare" ab. Darunter wird nicht nur eine manuelle Stimulation bei Mann oder Frau verstanden, sondern vielmehr jede bewußte körperliche Selbststimulierung, die eine sexuelle Reaktion hervorruft.

Für den Jugendlichen ist die Masturbation meisten die erste bewußte erlebte sexuelle Praktik.

Trotz des Normenwandels ist die masturbatorische Betätigung noch immer mit Schuldgefühlen verbunden. Man kann es darauf zurückführen, daß die Masturbation noch immer tabuisiert wird. 57% der Mädchen und 45% der Jungen geben an aufgrund der Masturbation Schuldgefühle zu haben. An dieser Entwicklung sind die Familie, die Schule und das weitere sozialisierende Umfeld wesentlich beteiligt.

Untersuchungen zeigen, daß Burschen mit 14 Jahren mindestens zu 60% und mit 16 Jahren zu 90% Masturbationserfahrung haben.

Mädchen masturbieren seltener. Im Alter von 16 Jahren gaben nur 50% der Mädchen an, masturbiert zu haben.

Heterosexuelle Beziehungen bauen sich stufenweise auf. In einer Untersuchung wird folgende Einteilung für die psychosexuelle Entwicklung getroffen:

-) erstes Mal verliebt sein

-) die erste Verabredung

-) die/der erste/r Freund/in

-) das erste Petting

-) das erste homosexuelle Petting

-) der erste Geschlechtsverkehr

Die Jugendlichen wurden dazu befragt, wobei in Geschlecht, Bildung und Schulart unterschieden wurde. 44% sind Burschen, 56% Mädchen. 39% der befragten Jugendlichen besuchen die AHS, 36% eine BHS und zirka 25% sind Lehrlinge.
 
Psychosexuelle Entwicklungsstufen
%
Alter
1. Mal Verliebtsein
94
12.9 (14)
1. Verabredung
91
13.1 (14)
1. Kuß
89
13.1 (14)
1. fester Freund
72
14.3 (14)
1. Petting
62
14.9 (15)
1. homosexuelles Petting
4
13.4 (13)
1. Geschlechtsverkehr (heterosexuelle Partner 
43
15.5 (16)

Tab. 2: Psychosexuelle Entwicklungsstufen (siehe Ebenda, S. 74)

Die erste Verabredung ist ein einschneidendes Erlebnis für die Jugendlichen. Die Jugendlichen, die sich bis jetzt vorwiegend im gleichgeschlechtlichen Bekannten- und Freundeskreis aufgehalten haben, beginnen, aufgrund der Zunahme des sexuellen Interesses und dem sozialen Druck, sich mit einer gegengeschlechtlichen Person zu treffen. Mit Hilfe der Verabredung kann der Umgang mit dem anderen Geschlecht erprobt und erlernt werden.

Der Kuß ist bei den meisten Heranwachsenden der erste spezifische sexuelle Kontakt. Dieser sexuelle Kontakt wird im allgemeinen von den meisten Leuten in der Öffentlichkeit akzeptiert oder zumindest geduldet. Deshalb scheuen sich die Jugendlichen auch nicht, sich in der Öffentlichkeit zu küssen.

Sexuelle Verhaltensformen, die oft nur einen kleinen Schritt vom Koitus entfernt sind, werden als Petting bezeichnet. Der Geschlechtsverkehr wird dabei nicht vollzogen. In der Literatur wird zwischen aktiven und passiven Petting unterschieden.

Aktives Petting bedeutet, das Streicheln der Genitalien von einer anderen Person, und das passive bedeutet das Gestreicheltwerden der Geschlechtsteile durch eine andere Person.

Jugendliche betätigen sich mit zunehmenden Alter immer mehr sexuell. Dies beruht auf des sexuellen Veränderungen im physischen Reifezustand unmittelbar nach der Pubertät.

Das durchschnittliche Alter für den ersten Geschlechtsverkehr beträgt 15 Jahre. Als häufigster wurde 16 Jahre angegeben
 
Alter
gesamt
Mädchen
Burschen
13 oder jünger
3.5
4
3
14
14
15
13
15
28
31
27
16
34
32.5
36
17
14
15
14
18
4
2
6

Tab. 3: Altersverteilung beim ersten Geschlechtsverkehr (siehe Ebenda, S .78)

2.2. Jugendliche Partnerschaftsbeziehung

Man muß den festen Bindungscharakter jugendlicher Partnerschaft betonen. Die meisten Jugendlichen sprechen von Liebe in der Partnerschaft und beurteilen diese als sehr stabil. Dennoch würde nur ein kleiner Teil der Jugendlichen etwas wirklich Unangenehmes auf sich nehmen, um den Partner zu halten. (Siehe Ebenda ab S. 80)

2.3. Das sexuelle Erleben der Jugendlichen:

Um die emotionale Seite des Erlebnisses, zum ersten Mal mit einem Partner zu schlafen, im Detail zu erfassen, wurden die Jugendlichen noch einmal gesondert zu ihren Gefühlen gefragt.
 
Gefühle beim ersten Mal
gesamt
Burschen
Mädchen
war nicht besonderes 
23
19
26
machte Spaß 
34
43
27
hatte ein schlechtes Gewissen 
8
10
tut es nur dem Partner zuliebe 
3
4
war lustvoll und befriedigt 
31 
40
24
hoffentlich war Partner zufrieden 
15 
19
12 
war angenehm 
11
war glücklich 
46 
47 
45
bedauerte, es getan zu haben 
10
wollte es bald wieder machen 
31 
39 
24
fand es widerlich 
1
war besorgt, mich ungeschickt angestellt zu haben 
19
23 
16
konnte Partner danach nicht mehr leiden
4
fühlte mich als Mann/Frau bestätigt 
4
hat weh getan 
25
16 
33
war ein großes Ereignis 
36
36 
36

Tab. 4: Das "erste Mal" (siehe Ebenda S. 84)

Prinzipiell läßt sich sagen, daß Sexualität von den Jugendlichen als etwas Positives empfunden wird. Bei des meisten stehen Gefühle, wie Liebe oder für andere Zeit haben, im Vordergrund. Der Großteil der Jugendlichen möchte in einer festen Partnerschaft leben.

3. Schule und Pubertät:

"Die Schule müßte ein Bildungswesen für Adoleszente sein. Sie Müßte Jugendliche auf dem Wege ihrer Identitätsfindung begleiten und könnte durch abgestimmte Bildungsangebote diese persönlichen Entwicklungswege bereichern" (siehe Fend, 1994, S.8)

Die Pubertät beschäftigt zwar sehr viele Lehrerinnen und Lehrer. Und vieles, was die Schul-Arbeit in all ihren Facetten gerade in den "wilden Jahren" so herausfordernd macht, wir - zumindest begrifflich - mit "der Pubertät" in Verbindung gebracht.

Dennoch ist es eher so, daß die Pubertät als biographische "Katastrophenphase" angesehen Wird, als Naturereignis, das man halt hinnehmen muß, durch das man "durch" muß, das den Ansprüchen der Schule aber eher ablenkt, anstatt daß die Schule auf einen pubertätsadäquaten Lern-, Lebens- und Erfahrungsraum hinlenkt (siehe Aschoff, Pubertät, 1996, ab S. 77).

Die Sexualerziehung ist eine Geschlechtserziehung. Der Begriff Sexualerziehung beschränkt sich meist nur auf die Beschreibung und Benennung der Geschlechtsorgane, sowie deren Funktion und gewisser Themenkreise.

Geschlechtserziehung umfaßt sowohl das oben genannte, soll aber auch die Förderung von Liebes- und Genußfähigkeit beinhalten, wie auch eine positive Einstellung zum anderen Geschlecht fördern. Das Kind soll Kreativität und Phantasie entwickeln und einen anderen vertrauen lernen. Ein weiterer Punkt der Geschlechtserziehung stellt die Förderung der Kommunikationsfähigkeit dar. Die Geschlechtserziehung ist verantwortlich für die Entwicklung menschlicher und moralischer Einstellungen.

Das sexuelle Verhalten eines jungen Menschen ist das Produkt seiner ganzen Erziehung.

Riccabona beschreibt eine der bedeutendsten Aufgaben der Sexualerziehung und die Möglichkeit, diese zu lösen folgendermaßen: " Mehr noch als in anderen Erziehungsbereichen besteht eine wesentliche Aufgabe der Sexualerziehung darin, junge Menschen zur Achtung vor dem Du des Mitmenschen zu führen. Einen anderen Menschen achten, schätzen, lieben kann nur, wer diese Gefühle an sich selbst erfahren hat."

Daraus würde folgen, daß die Familie den größten Teil der geschlechtserziehenden Aufgabe zu erfüllen hat. Ihre Aufgabe beschränkt sich nicht nur auf die sexuelle Aufklärung, sondern muß vielmehr auch die Vermittlung von Liebesfähigkeit, Genußfähigkeit, Leibfreundlichkeit, eigene und fremde Bedürfniserkennung und -befriedigung usw. als Ziel anstreben. Da die Geschlechtserziehung einen Teil der Gesamterziehung darstellt, und die Schule einen Bildungs- und Erziehungsauftrag hat, ist die Geschlechtserziehung folglich auch eine Aufgabe der Schule. Um den Schülern und Schülerinnen neue Denkanstöße zu bieten, muß neben der sexuellen Aufklärung auch das Thema Sexualität aus den Blickwinkeln verschiedener Sittenkodizes betrachtet werden. Die schulische Geschlechtserziehung hat also eine die Eltern unterstützende Funktion, ersetzen sie aber keineswegs (siehe Winkler-Hermaden, Die Sexualität Pubertierender als pädagogische Herausforderung, 1994, ab S. 89).

Zusammenfassung:

Um die Probleme, Sorgen und auch Freuden unserer Schüler zu verstehen, ist es besonders wichtig, sich mental in die Zeit unserer Pubertät zurückversetzen zu können. Dadurch werden manche Reaktionen der Jugendlichen viel leichter verständlich. Diese Zeit stellt ja nicht nur für den Schüler eine schwierige Zeit dar, sondern auch für den Lehrer, der die Launen und Ansichten manchmal nicht verstehen kann.

Deshalb ist es für einen Pädagogen unerläßlich, sich mit der Pubertät als Thema auseinanderzusetzen. Sei es einerseits physiologisch, d. h. die körperliche Entwicklung in den Grundzügen zu verstehen, andrerseits emotional, darunter fällt auch die psychosexuelle Entwicklung.

Persönliche Stellungnahme:

In meinem Lehramtsfach "Musikerziehung" muß man die Pubertät besonders beobachten, da wie schon oben erklärt, sich im Zuge des Längenwachstums natürlich auch die Stimmbänder und der Kehlkopf mitverändern. Dem eigentlichen Stimmbruch (= Mutation), der deutlich zu hören ist, geht die Prämutation voraus, wo die Stimme für Überforderung im gesanglichen besonders empfindlich ist. Diese Phase ist jedoch nur sehr schwer zu hören, da die Entwicklung individuell verschieden ist.

In der gesamten Mutation muß man mit der Stimme sehr sorgsam umgehen, um Spätfolgen, wie zum Beispiel funktionelle Stimmstörungen zu vermeiden. Es stellt sich für den Musikpädagogen eine besonders schwierige Aufgabe den Schülern die richtige Stimmhygiene beizubringen, da sie mit ihren Körper so wenig wie möglich konfrontiert werden möchten.

Die Pubertät bedeutet im Falle der Musik nicht nur für den Schüler eine Einschränkung, sondern auch für den Lehrer, der das große Thema "Singen im Unterricht" für ein bis zwei Jahre ruhen lassen muß. Somit fällt ein wichtiger Teil des " Aus-sich-Herausgehens" weg, den man in dieser Zeit vorwiegend durch Tänze oder andere Bewegungen kompensieren sollte.

Diese Phase stellt für jeden Lehrer eine besondere Herausforderung dar. Dabei sollte jeder Pädagoge versuchen, mit den Problemen der Schüler umzugehen und sie gemeinsam mit ihnen zu bewältigen lernen.

Literaturverzeichnis:

-) Schmidt / Thews.(1995). Physiologie des Menschen. Springer-Verlag Berlin Heidelberg.

-) Kracke, B. (1993). Pubertät und Problemverhalten bei Jungen. Weinheim :Beltz, Psychologie-Verlags-Union.

-) Winkler-Hermaden, S. (1994). Die Sexualität Pubertierender als pädagogische Herausforderung. Universität Wien

-) Baacke, D. (1994). Die 13- bis 18 jährigen. Beltz Grüne Reihe.

-) Aschoff, W.(1996). Pubertät. Zürich: Vandenhoeck und Ruprecht.
 
 

Inhaltsverzeichnis
 
 

3) Koedukation - pro und kontra (Birgit Wodaczek)

 

 

1. EINLEITUNG

Vorab möchte ich mit einem kurzen historischen Überblick die Entwicklung der Erziehung/Schule hinsichtlich eines getrennten/gemeinsamen Unterrichts darstellen. Aufgrund der verfügbaren Literatur erfolgt dieser Rückblick in Anlehnung an die deutsche Entwicklung, die, wie ich glaube, auch Parallelen mit dem hiesigen Verlauf aufweist.

Weithin bekannt ist die Tatsache, daß Bildung und wissenschaftliche Belange die längste Zeit den männlichen Mitgliedern der Gesellschaft vorbehalten waren, und nur wenige Frauen in diesen Bereich eindringen und bestehen konnten.

Trotz der Einführung der allgemeinen Schulpflicht Ende des 18. Jahrhunderts durch Maria Theresia wurde keine gleichwertige Bildung von Mädchen und Jungen erreicht.

Erst Ende des 19. Jahrhunderts machten Frauenbewegungen mobil gegen den Ausschluß von den Universitäten, sie forderten freien Zugang auch für Frauen.

Um die Zugangsbestimmungen erfüllen zu können war eine Reform der Mädchenschulbildung, in Richtung wissenschaftlicher Unterricht von Nöten, da in den damals gebräuchlichen höheren Töchterschulen das Hauptaugenmerk noch auf Haus- und Handarbeit lag.

Die gewünschte Ausbildung erfolgte zu Beginn nur durch Männer, da Frauen keine Studien- oder Lehrberechtigung erhalten konnten, was die weiblichen Schüler wieder nicht zufrieden stellte und die Forderung nach einer geeigneten Lehrerinnenbildung laut werden ließ.

Eine Forderung von Gertrude BÄUMER (1906.S 160) lautet:

Natürlich muß eines dazu kommen: Das Prinzip der gemischten Schule darf nicht nur in Bezug auf die Schüler gelten, sondern muß auch auf den Lehrkörper ausgedehnt werden. Soll die Schule ihr Vorbild, die Familie, erreichen, so ist es selbstverständlich, daß das männliche gleichwertig neben dem weiblichen Prinzip vertreten sein muß, nur dadurch wird Einseitigkeit und die Schädigung einer Hälfte zugunsten der anderen vermieden. (KREIENBAUM, 1992.S 15ff)

Es waren vorwiegend auf Gleichberechtigung beharrende Frauenrechtlerinnen, die einen gemeinsamen Unterricht von Mädchen und Jungen anstrebten um die Anerkennung der intellektuellen Gleichwertigkeit der Geschlechter zu erreichen.

Um die Jahrhundertwende gab es dann auch die ersten Gymnasialkurse und koedukative Reformschulen, deren Entwicklung jedoch durch die beiden Weltkriege gestoppt und zum Teil rückgängig gemacht wurden.

Diese ersten Schritte in Richtung Koedukation basierten auf dem Leitmotiv der pädagogischen Diskussion des Themas, auf der Ansicht, daß beide Geschlechter voneinander lernen könnten.

Der gemeinsame Unterricht der komplementären Geschlechter wird als Mittel betrachtet um die Andersartigkeit gegenseitig fruchtbar zu machen. STOEHR (1985.S14) sah darin die "Koedukation als Instrument gegenseitiger Korrektur"

Diese positiven Anfänge wurden jedoch durch den 2. Weltkrieg zunichte gemacht, denn zur Zeit des Nationalsozialismus hatte Geschlechtertrennung wieder oberste Priorität.

Der Weg zurück zur Koedukation nach Kriegsende dauerte einige Zeit, wobei einige höhere Schulen zunehmend koedukativ geführt wurden. Ende der Sechziger Jahre untersuchte DALE (1969/71) die Auswirkungen der verschiedenen Schultypen auf die Leistung der Schüler, er fand heraus, daß sowohl Mädchen als auch Jungen in geschlechtshomogenen Schulen die besseren Ergebnisse erzielten, was eigentlich gegen die Fortführung koedukativer Klassen sprechen würde. Jedoch ergaben seine Untersuchungen auch, daß Jungen mehr von gemischtgeschlechtlichen Schulen profitieren als Mädchen, welche aber positive zusätzliche soziale Erfahrungen machten.(KREIENBAUM,1992.S 25)

Obwohl heute größtenteils koedukativ unterrichtet wird, lassen Erhebungen wie diese die Diskussion um Vor- und Nachteile des gemeinsamen Unterrichts wieder aufleben, auch heute sind Pädagogen der Ansicht, daß "... die Verfechter eines undifferenziert-koedukativen Unterrichts erkennen lassen, daß sie auch den Unterricht - bewußt oder unbewußt- vorrangig in den Dienst einer Gesellschaftsveränderung stellen. Dadurch werden die Schüler und ihre persönliche Entfaltung unzulässigerweise zweitrangig eingestuft"(VkdL,1983.S 4).

Es gibt also auch wieder einen Trend Mädchen und Jungen in einer, voneinander unberührten Umgebung zu bilden, um ihre Vorzüge und Talente ungestört erfassen und fördern zu können, ohne Ablenkung und Diskriminierung.

Ob diese Entwicklung Erfolg haben wird, oder die eisernen Vertreter der Koedukation sich in allen Bereichen des Unterrichts (auch Leibeserziehung) durchsetzen werden, ist noch nicht abzusehen.

Der folgende Überblick über Einflußfaktoren, sowie vor- und nachteilige Entwicklungen aufgrund koedukativen Unterrichts, soll einen Einblick in die Problematik des Themas vermitteln.

2. BEGRIFFSBESTIMMUNG

Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich den Begriff Koedukation und vor allem seine Bedeutung klären. Zu diesem Zweck habe ich Begriffserklärungen verschiedener Autoren herangezogen, sowie ein Lexikon.

+) Wahrig-Fremdwörterlexikon.(1993).Gütersloh, Bertelsmann Lexikon Verlag. S 376:

K. = gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen in Schulen und Internaten;

= Gemeinschaftserziehung

+) Beyer, E.(Hg.)(1987).Wörterbuch der Sportwissenschaften. Schorndorf, Hoffmann. S. 317:

K.= gemeinsame Erziehung beider Geschlechter

+) Söll, W.(1981).Betrachtungen zum Problem der Koedukation im Sportunter-richt.Sportunterricht,30(1),S 267

"Ziel der Koedukation bestehe darin, das andere Geschlecht in seiner Andersartigkeit zu verstehen und zu akzeptieren..."

+) Ricksal 1988 in: Redl, S.(Hg.)(1992).Sport in der Schule. Wien: ÖBV.S 36.

"Koedukation liegt vor, wenn die gemeinsame Erziehung und Unterrichtung von Jungen und Mädchen mehr ist als eine bloße organisatorische Maßnahme, wenn Lernziele und Lerninhalte, wenn Methoden und Unterrichtsstile auf die Bedürfnisse von Jungen und Mädchen eingehen, und ihre je eigenen Entwicklungen, Prägungen, Defizite und Fähigkeiten berücksichtigen. Der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen kann eine Bereicherung sein, wenn er dazu beiträgt, das eigene und das andere Geschlecht als anders, aber gleichwertig zu erkennen, wenn er zu mehr Verständnis und Rücksichtnahme erzieht, wenn Einstellungen korrigiert und verändert werden, wenn neue Verhältnisse erprobt und erworben werden, wenn Jugendliche in ihrer Geschlechtsidentität nicht verunsichert, sondern ihnen geholfen wird, zu einer eigenen Identität zu finden."

Wenngleich sich die sachlich kurzen Erklärungen der Lexika nur auf die gemeinsame Erziehung ganz allgemein beschränken, so ist aus den anderen beiden Begriffserklärungen schon mehr zu erfahren.

Erstere bestätigt die natürliche Gegebenheit des Unterschiedes und fordert aber gleichzeitig auf, diese anzunehmen und nicht die Unterschiede zu betonen.

Rickal hingegen führt noch deutlicher aus wie er sich die Koedukation vorstellt, welche Maßnahmen ergriffen werden müssen, um die gemeinsame Erziehung ganz erfolgreich zu machen, indem Jugendliche eine eigene Identität erfahren, ohne andere auszuschließen.

3. GESCHLECHTSSPEZIFISCHE VERHALTENSMUSTER

Ein Blick auf die gesellschaflich geprägten, und durch deren Entwicklung veränderten Verhaltensmuster beider Geschlechter, ist meiner Ansicht nach wichtig für das Verständnis der Probleme und Vorzüge eines gemeinsamen Unterrichts.

Durch das kulturelle System der Zweigeschlechtlichkeit kann gleiches Verhalten unterschiedliche Bedeutung haben, beziehungsweise wird aufgrund des Geschlechtes eine bestimmte Bedeutung angenommen. Wenngleich man darauf hinweisen muß, daß es keine Verhaltensweise gibt, die monopolistisch nur bei männlichen oder weiblichen Menschen vorkommt. Im folgenden ist zu berücksichtigen, daß nur die auffälligsten Elemente angeführt sind, die auf eine Vielzahl der Mitglieder einer Gruppe zutreffen, jedoch Ausnahmen außer Acht lassen.

3.1. Mädchen

Das weibliche Geschlecht kämpft immer noch damit, aus dem stiefmütterlichen Dasein im Schatten der Männerwelt auszubrechen und seine Qualitäten ungehindert zur Schau stellen zu können. Mädchen werden von klein auf, schon durch das Angebot an mädchen-spezifischem Spielzeug, an die Frauenrolle herangeführt, es dominieren sozialerzieherische Spielwelten.

Auch hinsichtlich der Konfliktlösung und Aggression werden Mädchen schon früh darauf hin trainiert Wutausbrüche zu unterdrücken und Streit diplomatisch, verbal zu lösen.

Der Interaktionsstil der Mädchen ist bilateral, sie versuchen ihre Interessen einzubringen und die gemeinsame Aktion aufrechtzuerhalten.

Die Taktik der Beeinflussung kann jedoch nur bis zum Schulalter mit allen Spielkameraden erfolgreich eingesetzt werden, da ab dann vornehmlich die männlichen Spielpartner seltener auf freundliche Vorschläge eingehen, Mädchen ziehen sich aus Situationen, in denen sie sich nicht durchsetzen können, zurück.(KREIENBAUM,1992.S 43 ff)

Dieses Verhalten zieht eine erste Distanzierung zum anderen Geschlecht nach sich.

Aber auch von den Lehrern werden Schülerinnen durch geschlechtsstereotype Vorstellungen beurteilt. Mädchen gelten als fleißig, ordentlich und angepaßt, sowie diszipliniert im Verhalten. Durch diese eher farblosen Eigenschaften, die ihnen zugeordnet werden, gelten sie nebenbei noch als langweilig, und in gewissem Alter auch als typisch "zickig". (KREIENBAUM,1992.S 54 ff)

Sue Lees (1986) verweist auf die Ehrgeizigkeit der Mädchen, die unter einer Zurücksetzung seitens der Lehrer leiden, aber dem nichts entgegenzusetzen haben um ihre Leistung zu offenbaren. Sie ortet bei Mädchen eine zunehmende Tendenz zur Aggression, und zum Versuch durch Hervorheben der Weiblichkeit und Sexualität Aufmerksamkeit zu erregen.

Da sie erleben, daß ihre Interessen von Lehrern selten wahrgenommen werden, verlieren viele bald das Interesse an dem Fach, da sie sich übergangen fühlen, oder glauben ganz einfach keine Begabung auf diesem Gebiet zu haben. Diese ungerechte Behandlung seitens der Lehrer vermittelt den Mädchen immer wieder, daß sie weniger wert sind als die männlichen Kollegen. Durch diese unterschwelligen Vorkommnisse, die zumeist unbewußt erzeugt werden, leidet das Selbstbewußtsein und Mädchen suchen daher nach SCHUCH/HOFMANN

(1979.S 18) folgende Gründe für Erfolg und Mißerfolg:

"Zur Aufrechterhaltung des Rollenstereotyps und der Weiblichkeit, haben Mädchen eine Mißerfolgserwartung: erwartungskonsistente Ergebnisse (Erfolg) werden variablen Größen zugeschrieben. Da aber nur Fähigkeitsattribuierungen bei Erfolg, hinsichtlich zukünftiger Leistungen die Erwartung in positivem Sinne verändert, bleibt das Erwartungsniveau niedrig und wirkt stabilisierend auf das Selbstwertgefühl ein."

Nur durch eine höhere Selbsteinschätzung kann jedoch die Wahrscheinlichkeit zum Erfolg gesteigert werden.

Das Selbstbewußtsein fehlt vielen Mädchen auch in Bezug auf Auseinandersetzungen mit Jungen, wobei sie oft Rückzieher machen, da sie es selten gelernt haben einem kämpferischen Angriff zu widerstehen. Diese Unterwerfung oder Flucht aus der Situation bedeutet eine erneute Erniedrigung und Fügung in das vorgegebene Rollenbild.

Diese Vorgaben werden maßgeblich durch die "Sozialisatoren", Mutter, Vater, später auch der Lehrer, geprägt, welche auch bei vorsätzlicher Gleichbehandlung und Erziehung zur Durchsetzungsfähigkeit durch ihr gelebtes Vorbild alle Bemühungen zunichte machen können.

Aus dieser Auflistung ist ersichtlich, daß immer noch der Mythos vom "schwachen Geschlecht" vorherrscht und in der Gesellschaft tief verankert ist, wenngleich ich einräumen möchte, daß seit der Generation meiner Großmutter und der meinigen sich einiges zum positiven verändert hat, und die Frauen und Mädchen heutzutage schon viel stärker sein dürfen.

3.2. Jungen

Die Schulung der richtigen Verhaltensweisen beginnt auch bei männlichen Kindern schon in jungen Jahren, wo ein "rough and tumble playstyle" sich an Wettbewerb und Dominanz orientiert.(KREIENBAUM,1992.S 43)

Technikinteresse und -kompetenz wird mit dem passenden Spielzeug angeeignet, ebenso die Streitkultur in fiktiven, abenteuerlichen Umgebungen, wo Gut gegen Böse mit geeigneten Waffen kämpft, bis einer übrigbleibt. Unter anderem bereiten diese Spiele die Jungen darauf vor auch in der Realität mit allen möglichen kämpferischen Mitteln bis zur Entscheidung zu gelangen, wobei sie dem gesellschaftlichen Zwang unterstehen gewinnen zu müssen.

Sie lernen ihre Stellung in der Gesellschaft durch die Dominanz des Männlichen in vielen Bereichen des Lebens kennen, und damit auch, daß sie gewisse Vorrechte haben, aber auch Pflichten. Diesem "besser sein müssen", zumindest gegenüber dem weiblichen Geschlecht, aber auch durch die Konkurrenz im eigenen Lager, sind Jungen auch in der Schule ausgesetzt, wo sie dadurch Nachdruck verleihen, daß sie Teilnahme und Interesse der Mädchen am Unterricht stören, um den Mädchen keine Chance zum Leistungsvergleich zu geben.

Vom Lehrer werden Jungen zunächst als klug, phantasievoll, kreativ, aber auch faul und chaotisch gesehen. Auch ruhigere Jungen erlangen generell früher die Aufmerksamkeit des Lehrers als Mädchen.

" Wenn Jungen nicht bekommen was sie wollen, dann neigen viele von ihnen zu unkooperativem Verhalten, und in einer sexistischen Gesellschaft äußert sich diese mangelnde Kooperation oft auf sexistische Weise. In einer Gesellschaft, in der von Männern erwartet wird aggressiv, herrisch, energisch und despotisch aufzutreten, tun Jungen gewissermaßen nur das, was von ihnen erwartet wird, wenn sie ihre Proteste in aggressiver Weise vorbringen" (SPENDER,1985.in:KREIENBAUM, 1992.S 42ff).

Aufgrund der vermehrten Aufmerksamkeit des Lehrers gelingt es den Jungen auch mit Störaktionen das Unterrichtsgeschehen und die -inhalte zu beeinflussen.

In Hinsicht auf die Leistungserwartung ist zu sagen, daß Jungen Mißerfolge auf externale Faktoren zurückführen, Erfolge aber ganz für sich verbuchen, in dem sie ihre Erwartungen in Richtung Erfolg ausrichten und ihn der eigenen Intelligenz und ihren Fähigkeiten zuschreiben.

Ganz allgemein gesehen stellen sich Jungen wesentlich selbstbewußter dar als Mädchen, andererseits müssen sie ständig danach trachten nicht in Stolz und Ehre verletzt zu werden, und daher Mittel und Wege benutzen, die nicht allgemein förderlich sind.

3.3. LehrerInnen

Das Verhalten der LehrerInnen gegenüber der SchülerInnen kann man auch nicht geschlechtsneutral bezeichnen, männliche Lehrer wirken anders auf gleichgeschlechtliche Schüler wie auf Mädchen, und umgekehrt kämpfen weibliche Lehrer bei Mädchen mit anderen Problemen als bei Jungen.

Generell kann man sagen. daß von Seiten der LehrerInnen gleichermaßen sogenannte "heimliche Lernziele der Geschlechtererziehung" oft unbewußt verfolgt werden. Nach A.PRENGEL (1986. in: KREIENBAUM, 1992.S 27)stellen sich diese folgendermaßen dar:

"Die im Unterricht und in den Pausen innerhalb institutioneller Lehrpläne und Erlasse real stattfindenden Interaktionen, und die in den Lehrmitteln neben offiziellen Themen und Stoffen "zwischen den Zeilen" transportierten Botschaften, bilden zusammen das dichte und hochwirksame Geflecht einer anderen Realität. Im heimlichen Lehrplan lernen Mädchen von Jungen kognitiv, aber vor allem auch emotional und physisch durch die reale Prägung des gelebten Schullebens, daß Frauen und Männer nicht gleichwertig sind, sondern, daß ihr Verhalten ein von Unter- und Überordnung geprägtes, hierarchisches Verhältnis ist."

Eine weitere Ungerechtigkeit widerfährt den, vor allem weiblichen Schülern durch die ungleichmäßige Verteilung der Aufmerksamkeit der Lehrer, wonach den Mädchen nur 1/3 der Zeit gewidmet wird im Gegensatz zu den Jungen. Mädchen werden zu 15% weniger oft aufgerufen und nur halb sooft gelobt wie Jungen. Ebenso erfolgt eine Rückmeldung zur Leistung bei Mädchen seltener, und wenn überhaupt, dann häufiger zu schlechten Beiträgen.

Jungen wird es auch leichter gemacht das Interesse der Lehrer zu wecken, für Ansprüche der Schülerinnen sind LehrerInnen weniger leicht zu interessieren.

Wie bereits erwähnt können Jungen durch ihr Verhalten während des Unterrichts auch die Stoffauswahl und das Lerntempo beeinflussen, sie stellen ihre Interessen in den Mittelpunkt und verhindern damit oft eine "weiblichere" Sichtweise.

Auch für den zukünftigen Weg der SchülerInnen haben LehrerInnen eine Prognose parat: während für Mädchen nicht allzu wichtige Jobs und vor allem die Familiengründung vorausgesagt wird, sehen sie die Jungen, je nach Leistung, in mehr oder weniger lukrativen Berufen und führenden Positionen, ohne familiäre Verpflichtung.

Mit SchülerInnen wird ständig unter Ansehen des Geschlechtes kommuniziert, die Unterschiede manifestieren sich auch schon in kleinen Dingen wie geschlechtsgetrennten Namenslisten, oder unterschiedlichen LehrerInnen-Hilfsdiensten wo Mädchen saubere Arbeiten wie das Führen des Klassenbuches erhalten, und Jungen für Videogeräte und ähnliches zuständig sind.

Diese ungleiche Behandlung kann nicht nur einem Geschlecht zugeordnet werden, männliche, wie weibliche Lehrkräfte handeln hier größtenteils unbewußt, auch kann man nicht davon ausgehen, daß dieses Verhalten eine bestimmte Generation betrifft. Es wäre jedoch wünschenswert sie darauf aufmerksam zu machen, und diese Mißstände zu beseitigen.

4. PRO KOEDUKATION

Für die Koedukation in der Schule spricht das Bestreben nach Gleichberechtigung der Geschlechter in allen Bereichen, wobei zu beachten ist, daß angelernte Verhaltensmuster von LehrerIn und SchülerIn auf die neue Situation eingestellt, und zum Teil revidiert werden müssen.

Dieses Vorhaben verlangt ein gemeinsames Unterrichtskonzept, das Gemeinsamkeiten wie Unterschiede von Mädchen und Jungen fruchtbar macht.

Der Grundgedanke der Koedukation ist auch heute noch darin begründet, daß Mädchen und Jungen voneinander lernen sollen, jedes Geschlecht Schwächen und Besonderheiten des anderen sinnvoll ergänzt. Nicht das Gegeneinander, der Kampf um Anerkennung soll im Vordergrund stehen, sondern das gemeinsame Lösen der gestellten Aufgaben unter Zuhilfenahme aller Qualitäten ist das Ziel.

Dafür genügt es nicht Mädchen und Jungen nebeneinander, koinstruktiv, zu unterrichten, sondern beide Gruppen müssen für die jeweils andere sensibilisiert werden.

Um eine möglichst gute Basis für dieses Vorhaben zu schaffen, ist ein früher Start der Koedukation wünschenswert, da jüngere SchülerInnen noch weniger durch die Geschlechtsrollenentwicklung beeinflußt sind.(K.KLEINER,1992.S 47)

Koedukation ermöglicht im gemeinsamen Unterricht von Mädchen und Jungen, anders nicht erreichbare pädagogische Zielsetzungen zu verwirklichen, die sich auf das Verhältnis der Geschlechter zueinander, und das geschlechtsspezifische Selbstverständnis beziehen.(BRODTMANN,1979.S 158)

Der SchülerIn muß sich durch Koedukation langfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen anpassen, dadurch wird es möglich Widersprüche und Diskrepanzen zwischen dem schulischen und außerschulischen Leben zu beseitigen. Die Kinder werden durch den täglichen Umgang mit Andersgeschlechtlichen, im Umgang mit ihnen geschult und auf die Situation nach der Schule vorbereitet.

Es gilt auch nicht die Ausrede der LehrerInnen, daß eine dermaßen inhomogene Klasse schwerer zu führen sei, da auch in geschlechtshomogenen Klassen eine Leistungsheterogenität vorhanden ist, die durch einen differenzierenden Unterricht ausgeglichen werden sollte.

Es muß für alle verständlich werden, daß die Unterschiede zwischen Männern und Frauen (außer den biologischen Faktoren) eine Folge gesellschaftlicher Normen sind, und nicht natürlich gegeben.

Aber nicht nur in Bezug auf kognitiv orientierte Fächer ist Koedukation wünschenswert, auch in der Leibeserziehung stehen nur wenige Hindernisse im Weg. Die motorische Lernfähigkeit ist bei Mädchen und Jungen gleich, lediglich die Beweglichkeit ist bei Mädchen besser ausgeprägt, bei den Jungen steigt die Kraft in der Pubertät mehr an. Die Differenzen der Leistungsfähigkeit sind demnach in der unterschiedlichen Sozialisation zu suchen. (K.KLEINER,1992.S41)

5. CONTRA KOEDUKTION

Gegner des gemischtgeschlechtlichen Unterrichts sehen die jeweiligen Vorzüge und Begabungen durch die Koedukation gefährdet.

Betrachtet man die Untersuchung von Dale Ende der sechziger Jahre, so müßte man den Mädchenschulvertretern recht geben, andererseits stellt sich die Frage, ob diese Abkapselung von der Realität wünschenswert ist, und der Vorbereitung späterer gemeinsamer Arbeitsteilung und Lebensgestaltung dienlich ist.

In geschlechtshomogenen Schulen können aber wiederum ungerechte Verhaltensweisen der LehrerInnen minimiert werden, da sich zum Beispiel bei einer Mädchenklasse die Aufmerksamkeit auf alle Schülerinnen richtet, und diese nicht durch Störungen von Jungen beeinträchtigt werden. Ist auch noch ein ausgewogenes Verhältnis im LehrerInnenkollegium vorhanden, kann man annehmen, daß auch der Unterrichtsstoff von verschiedenen Seiten beleuchtet wird.

Von Gegnern wird auch angeführt, daß Jungen und Mädchen anders lernen, und sich in affektiven und emotionalen Bereichen unterscheiden. Frauen sind demnach für Arbeiten, die besondere Geschicklichkeit, Geduld und Konzentration erfordern besser geeignet als Männer. Frauen kämen in koedukativem Unterricht zu kurz und würden nur lernen, daß sie weniger wert seien als die männlichen Kollegen, sie werden mit ihren Schwächen konfrontiert, Jungen mit ihren Stärken.

Durch die Aufhebung der geschlechtsspezifischen Differenzierung, zum Beispiel im Sport, ist die Geschlechtsidentifikation gefährdet (moralisch bedenklich), was möglicherweise die kindliche Entwicklung beeinträchtigt.

Außerdem wird von Gegnern des koedukativen Turnunterrichtes die unterschiedliche Entwicklung der motorischen Grundeigenschaften und Bewegungsfertigkeiten bei Mädchen und Jungen ins Treffen geführt, denen man im Rahmen des Unterrichts gerecht werden muß.(Redl,S.1992.S 41)

Es ist also ersichtlich, daß hier die überzeugten Geschlechtshomogenitäts-Vertreter auf die gesellschaftlichen Verhaltensmuster vertrauen und diese durch den getrennten Unterricht weiterverfolgen und ausbauen wollen.

Eine Frage stellt sich aber doch auch in Bezug auf die Zukunft, wo ich keine klare Aussage finden konnte, die das Leben nach der Schule beschreibt. Es ist klar, daß die SchülerInnen nicht in einer völlig geschützten Umgebung aufwachsen, und in ihrer Freizeit mitunter die Erfahrungen machen können, die in der Schule fehlen, aber dennoch passiert das unter anderen Bedingungen.

RESÜMEE

Ich möchte mich an dieser Stelle als Befürworterin der Koedukation deklarieren, vornehmlich wegen dem Hauptargument, daß beide Geschlechter voneinander lernen und profitieren können. Dieser Prozeß, der sich durch die Aspekte des sozialen Lernens und der Sozialerziehung manifestiert ist ein wichtiger Beitrag, der zu einem geänderten Wertverständnis aller menschlichen Individuen führen könnte. Soziale Lernimpulse sollen zum Erwerb sozialer Kompetenz, in Anbetracht auf andere Subjekte bezogenes Handeln, führen.

Durch die ständige Konfrontation mit den jeweils anderen Verhaltensweisen kann es, mit Hilfe des gleichbehandelnden Lehrers zu einem Ausgleich kommen. Warum soll nicht auch ein Junge nähen lernen und Stoffe entwerfen, ebenso wichtig wäre es, daß Mädchen mit Hammer und Zange umgehen können.

Ich finde es wichtig möglichst jede Begabung zum Vorschein zu bringen und zu unterstützen, bei beiden Geschlechtern, ungeachtet gesellschaftlicher Normen und Wertvorstellungen. Aber auch Erfolge von Jungen und Mädchen müssen gleich bewertet (nach Können) und anerkannt werden. Ich trete nicht für eine vollständige Beseitigung der Unterschiede zwischen Mann und Frau ein, denke aber, daß diese verständlich und begreifbar gemacht werden sollten, und das am besten durch die Konfrontation mit ihnen.

Literatur

BEYER, E. (1987).Wörterbuch der Sportwissenschaft. Schorndorf, Hoffmann. S 317.

BRODTMANN,D. (1979).Sportunterricht und Schulsport. Heilbronn: Klinkhardt.

KLEINER, K. (1992).Koedukation im motorischen Unterrichtsfach. In: Sport in der Schule. Wien: ÖBV.

KREIENBAUM, M.A. (1992). Erfahrungsfeld Schule: Koedukation als Kristallisationspunkt. Weinheim: Deutscher Studien Verlag.

REDL,S.(Hg.)(1992).Sport in der Schule. Wien: ÖBV.

RICKAL,E.(1988).in: Sport in der Schule.Wien,ÖBV.114.

SÖLL,W.(1981).Betrachtungen zum Problem der Koedukation im Sportunterricht.Sportunterricht,30(1),S 267.

WAHRIG-FREMDWÖRTERLEXIKON.(1993).Gütersloh, Bertelsmann. S 376.


 
 

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4) Werthaltungen der heutigen Jugend (Markus Gonaus)

Einleitende Bemerkung:

Aktuelles Datenmaterial gibt es zwar, ist aber leider nicht in Buchform zusammengefaßt und ausgewertet veröffentlicht. Zur Ausforschung von aktuellen Daten in (Fach) Zeitschriften fehlte mir die Zeit. Da es anders als in der Chemie z.B. die CA keinen Gesamtindex über sämtliche Publikationen des Faches gibt ist die entsprechende Suche auch überproportional aufwendig. Ich habe sie deshalb unterlassen.

Entsprechende Erhebungen werden zwar auch immer wieder in den diversen Tageszeitungen bzw. politischen Wochenmagazinen veröffentlicht, aber diese wollen genauso wie die Institute die professionell diese Datenerfassung betreiben Geld - und das gar nicht so wenig - sehen bevor man die gut indizierten Archive nutzen kann. Die Daten und Studien auf die ich mich beziehe sind daher bereits ein wenig historisch, aber für das was ich hier in diesem Referat vortragen möchte völlig ausreichend. Im wesentlichen sind es folgende Punkte, die ich kurz ansprechen will.

  1. Mögliche Bedeutung derartiger empirische Studien für in sozialen Berufen Tätige (exemplarisch)
  2. Für (meine) politische Arbeit interessante Aspekte
  3. Was und über wen sagen solche Studien wirklich etwas aus
ad 1.) Immer wieder gibt es spektakuläre Fälle von Gewaltverbrechen, ausgeführt von Jugendlichen, und mit schöner Regelmäßigkeit fragt sich ganz Österreich, wird die Jugend gewalttätiger? Und die einzig richtige Antwort auf diese Frage nicht zur Kenntnis nehmend, sofort: Woran liegt es denn? Natürlich eignen sich solche spektakulären Vorfälle zwar als spektakulärer Einstieg, aber für die Betrachtung, was kann ich daraus für den Umgang mit Kindern und Jugendlichen lernen, völlig unbrauchbar.

(Tabelle aus/Jugend zu Beginn der achtziger Jahre- Österr. Jugendbericht 1, Österr. Institut f. Jugendkunde, im J&V Verlag)

Was ist nun in so einer Datenreihe sichtbar. Zuerst einmal offensichtliches. Durch die Jahrzehnte praktisch konstante Jugendkriminalität. Sinkende Zahlen bei den Erwachsenen.

Auch die Schlußfolgerung, die man nach Aufgliederung nach Schwere der Delikte gezogen wird, daß je näher man zur Gegenwart kommt immer mehr Bagatelldelikte angezeigt werden, wird wohl in diesem Raum niemanden wirklich neu vorkommen. Was aber durchaus interessant ist, und für jemanden der einen sozialen Beruf anstrebt durchaus Bedeutend ist, ist die Frage, wie hat man sich im Laufe dieser Zeit kriminelles Verhalten erklärt, wie ist man damit umgegangen, und kann man das vielleicht mit diesen oder anderen Zahlen korrelieren?

Bis zu den frühen fünfziger Jahren hat man Jugendkriminalität vorwiegend als ein Mangelsymptom angesehen. Als in den späten 50ern bei steigendem Wohlstand die Kriminalität konstant blieb, hat man angefangen nach psychischen oder psychosozialen Besonderheiten bei den Straffälligen zu suchen. In den sechziger Jahren begann dann einerseits das Resozialisierungskonzept Platz zu greifen (Bewährungshilfe), andererseits begann erstmals eine differenzierte Betrachtung des Phänomens der Jugendkriminalität. Da nämlich die Zahl der Gewaltverbrechen bei Jugendlichen stark sank, bei gleichzeitig steigender Zahl der Jugenddelinquenz, kommt ein Konzept auf, daß Jugendkriminalität als eine normale Entwicklungserscheinung ansieht, die mit den normalen Reifungsvorgängen im Alter von 14 bis 25 in engem Zusammenhang steht. Eine Periode des sozialen Experimentierens, wo es auch öfter zu fehlgriffen kommt. Bezeichnend ist, daß diese Ansicht über 20 Jahre Reifezeit gebraucht hat, bis sie in den praktischen Umgang mit straffällig gewordenen Jugendlichen Einzug gehalten hat. Der außergerichtliche Tatausgleich ist erst vor wenigen Jahren eingeführt worden.

Was können wir daraus für unsere Arbeit mit Jugendlichen lernen?

In erster Linie beruhigendes. Wenn einer unserer Schüler eine kriminelle Kariere einschlägt, so ist das nicht notwendigerweise unsere Verantwortlichkeit.

Zweitens: Wir sind gefordert, unseren Teil dazu beizutragen, daß dieses soziale Experimentieren in einer Art und Weise stattfinden kann, in der die Folgen tragbar bleiben.

Es gibt aber auch viel trivialere Daten, die im täglichen Berufsleben eines Lehrers durchaus bedeutend sind.

(Tabellen aus/Jugend zu Beginn der achtziger Jahre- Österr. Jugendbericht 1, Österr. Institut f. Jugendkunde, im J&V Verlag)

Wenn man sich die Zahl der Zeitungsleser ansieht, hat man einen Eindruck davon, von welchem Vorwissen man ausgehen kann, wenn man politische Bildung (Unterrichtsprinzip) betreibt.

ad2) Wer hat nicht die berühmt gewordenen Ausdrücke von der 68er Generation, oder von der Generation-X gehört. Es ist - so finde ich - durchaus wert einen Blick darauf zu werfen, was denn tatsächlich hinter solchen Schlagworten steckt. Tatsächlich scheint es so etwas wie eine Wellenförmige Entwicklung von angepaßter und revolutionärer Jugend zu geben.

Tatsächlich scheint es so etwas wie eine Generationenfolge in der Jugendkultur zu geben.

Generation als ein bestimmtes Verhältnis der Gleichzeitigkeit von Individuen: Diejenigen, welche in den Jahren der Empfänglichkeit dieselben leitenden Einwirkungen erfahren, machen eine Generation aus (Josef Hochgerner Politik und politische Beteiligung/Jugend zu Beginn der achtziger Jahre- Österr. Jugendbericht 1, Österr. Institut f. Jugendkunde, im J&V Verlag)

Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die oft gehörte Behauptung, daß die Jugend generell gegen die Elterngeneration revoltiert, es also eine Art tradierten Generationenkonflikt gibt, falsch ist. Ganz im Gegenteil. Die politischen Grundwerte werden in überraschend hohem Ausmaß von der Elterngeneration übernommen. Faktum ist, daß diese Jugendgenerationen immer nur von einem relativ kleinen Teil (10 - 15%) der jugendl. Bevölkerung getragen wird.

Für mich als Funktionär einer Partei heißt das: Mein Wählerpotential zu entwickeln oder zu verspielen, ist eine Aufgabe, die mehrere Menschenleben dauert. Meine Aktivistinnen zu rekrutieren, da muß ich aber in regelmäßigen Abständen meine Methoden an die aktuellen Tendenzen anpassen. (eher über Vorfeldorganisationen / oder direkt als Partei)

ad3) Empirische Studien können fürchterlich manipulativ sein. Das fangt an damit, daß praktisch immer exakte Angaben über Grundgesamtheit, Art und Größe der Stichprobe, Varianz,... fehlen. Daß sich damit nicht überprüfen läßt, welche Relevanz derartige Studien und daraus gewonnene Aussagen sind, ist noch das geringste was da passiert. Im folgenden ein paar schöne Beispiele.

(Tabelle aus/Jugend zu Beginn der achtziger Jahre- Österr. Jugendbericht 1, Österr. Institut f. Jugendkunde, im J&V Verlag)

Was sagen uns solche Kommentare? Wohl doch mehr über die Geisteshaltung des Autors, als über die Österreichische Jugend.

Zum Abschluß gebe ich hier noch die aktuellen Megatrends an, wie sie einerseits regelmäßig in diversen Medien zu lesen sind, andererseits im Buch "Wartezeit Studien zu den Lebensverhältnissen Jugendlicher in Österreich, Herbert Janig, Bernhard Rathmayr 1994 Österreichischer Studienverlag" zusammengefaßt.

Jugend als Ausbildungssituation und Abhängigkeit von den Eltern definiert, ist eine Lebensphase die sich zunehmend verlängert. Individualisierung ist nach wie vor der vorherrschende Megatrend, d.h. Werte aus der Privatsphäre (Familie, Freizeit, Freunde,...) stehen viel höher in der Gunst als alle Institutionen (Religion, Politik,...). Die Lebenswelt von Jugendlichen und Erwachsenen ist zwar nicht mehr räumlich getrennt, aber es ist ein nebeneinander und kein miteinander, daraus resultieren Konflikte. Die Emanzipation der Frauen beschränkt sich nach wie vor auf den Bildungsbereich, Arbeitswelt oder gar privates Umfeld sind patriarchalisch wie eh und je....Bei den Lehrlingen halten sich jene die Ausgebildet werden mit jenen die Ausgebeutet werden die Waage. Trotz zunehmenden Angebotes bleibt der prozentuelle Anteil der Drogenkonsumenten konstant - paradoxerweise übertitelt die Autorin dieser Studie Irmgard Eisenbach Stangel dies als neue Nüchternheit. Computer üben nach wie vor vorwiegend auf männliche Jugendliche eine hohe Faszination aus, vorwiegend wird gespielt.
 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis
 
 

5) Sekten und Schule (Thomas Pleyer)

 

 
 
 

Was sie über Sekten wissen sollten!

1. Hintergrund und rechtliche Situation

1.1 Was ist eine "Sekte"?

Der Begriff "Sekte" wird heute umgangssprachlich oft als Sammelbegriff für religiöse und pseudo-religiöse Gruppen, Psychokulte oder Guru-Bewegungen verwendet, die nicht zu den staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften gehören.

1.2. Wodurch lassen sich diese Gruppen und Organisationen charakterisieren?

- die Geschlossenheit der Gesellschaft, die klaren Grenzen zwischen Anhängern und Außenstehenden, die normierte Lebenspraxis im Inneren;

- die abseitigen und/oder kulturell fremden Ideen, die nicht vermittelbaren Glaubenswelten und Lebensorientierungen, die fanatisch vertreten werden;

- die Konflikte mit der Umwelt, vor allem persönliche Konflikte mit Angehörigen von Mitgliedern und juristische Konflikte mit Behörden;

- die Abhängigkeit der Mitglieder von einer charismatischen Führungsfigur bzw. von einer Hierarchie, die Lehre und Praxis autoritär bestimmen.

Die Merkmale sind aber nur dann relevant, wenn mehrere von ihnen zusammentreffen.

In der heutigen Zeit werden mit dem Negativ-Begriff "Sekte" oft vollkommen unterschiedliche Gruppen als mehr oder minder gleich "gefährlich" qualifiziert. Dieses Pauschalurteil ist natürlich unzutreffend, und es ist eine differenziertere Betrachtungsweise notwendig. Deswegen spricht man auch immer häufiger von "Weltanschauungsgruppen".

1.3. Rechtlicher Rahmen für Religionsgemeinschaften

Wichtige Grundlagen unserer staatlichen Rechtsordnung sind das demokratische Prinzip und das Prinzip der religiösen Neutralität. Das demokratische Prinzip bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die Rechtsstellung von Kirchen von der staatlichen Rechtsordnung abzuleiten ist. Das Prinzip der religiösen Neutralität verbietet es dem Staat, sich mit einer oder mehreren bestimmten Kirchen oder Religionsgemeinschaften zu solidarisieren.

Im Artikel 15 des Staatsgrundgesetz steht geschrieben: "Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgemeinschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsausübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, ... ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen. D. h.: Das Grundgesetz bezieht sich nur auf die "gesetzlich anerkannten" Religionsgemeinschaften. Allen anderen Gemeinschaften ist die sogenannte "häusliche Religionsausübung" gestatten, "insoferne diese weder rechstwidrig noch sittenverletzend ist".

1.4. Wer als Religionsgemeinschaft gesetzlich anerkannt ist

Eine Vereinigung, die gesetzlich anerkannt werden will, muß auf Basis des Gesetzes verschiedene Kriterien wie folgt erfüllen:

- eine Mehrheit von Gläubigen, wobei die Praxis darunter mindestens 2000 Anhänger versteht

- einen positiven Gottesglauben

- eine definierte Glaubensquelle oder -lehre, die sich von bisher anerkannten Gruppen unterscheiden muß

- eindeutige innere Regeln, eine "Verfassung", die nichts Gesetzwidriges oder "sittlich Anstößiges" enthalten darf und

- die wirtschaftliche und personelle Fähigkeit, wenigstens eine Kultusgemeinde zu errichten und zu erhalten.

Es gibt heute zwölf Kirchen und Religionsgemeinschaften, die diese Kriterien erfüllen:

* die katholische Kirche * die evangelische Kirche

* die griechisch-orientalische Kirche * die altkatholische Kirche

* die armenisch-apostolische Kirche * die neuapostoliche Kirche

* die mormonische Kirche * die Methodistenkirche

* die israelitische Religionsgemeinschaft * die buddhistische Religionsgemeinschaft

* die mormonische Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage

* der Islam

1.5. Was die staatliche Anerkennung bedeutet

- Die staatliche Anerkennung bedeutet für Religionsgemeinschaften, daß sie über einen verfassungsrechtlich geschützten Freiraum innerer Autonomie verfügen. Sie erhalten dadurch die Freiheit, ihre eigene Religion auch öffentlich und gemeinsam auszuüben.

- Sie bestimmen das Mitgliedschaftsrecht, die Bestellung der Seelsorger oder die Glaubenslehre selbst.

- Weiters werden Anhänger einer anerkannten Religionsgemeinschaft zu einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft zusammengeschlossen, die im öffentlichen Interesse ihre Aufgaben erfüllen, und daher nur dort steuerpflichtig sind, wo sie mit Wirtschaftsunternehmen in Konkurrenz treten können.

- Nicht anerkannte Gruppierungen haben daher auch ein klares materielles Interesse an ihrer Anerkennung: Wer etwa mit Seminaren, Kursen oder Zeitschriften hohe Umsätze erzielt, kann im Fall einer Anerkennung auf seine religiöse Tätigkeit hinweisen - und muß jene Steuern nicht zahlen, die für eine gewerbliche Betätigung normalerweise zu zahlen wären.

- Die Absetzbarkeit der Mitglieds-(Kirche-)Beiträge bei der Lohn- und Einkommenssteuer gilt nur für Mitglieder gesetzlich anerkannter Religionsgemeinschaften.

- Weiters erhalten gesetzlich anerkannte Kirchen oder Religionsgemeinschaften leichter das Öffentlichkeitsrecht für ihre Privatschulen.

Organisationen, die nicht als gesetzliche Religionsgemeinschaften anerkannt werden oder anerkannt werden wollen, haben sich als Vereine mit dem Anspruch auf Gemeinnützigkeit konstituiert. Damit ist es auch für scheinreligiöse Gruppen möglich, in der großen Zahl der gemeinnützigen Vereine "unterzutauchen" und so z.B. ihre eigentlichen wirtschaftlichen Interessen zu verschleiern.

Vorteil: Bei registrierten Vereinen ist es relativ leicht möglich, über die Vereinsbehörden bei den Polizeidirektionen oder Bezirkshauptmannschaften die Namen und Adressen der verantwortlichen Personen herauszufinden oder in die Satzungen Einblick zu nehmen. Dies ist oft der erste Schritt dazu, um Rechtsansprüche gegen "Sekten" oder sektenähnliche Vereinigungen durchzusetzen.

1.6. Wer sich angesprochen fühlen kann

Weit verbreitet ist zunächst die Ansicht, daß nur "schwache" oder "labile" Menschen gefährdet sein könnten. In Wirklichkeit ist dies aber anders, denn vor allem idealistische und reflektiert lebende Menschen interessieren sich oftmals für neue Sinn-Anbieter.

Experten meinen, daß generell Menschen, die vor wichtigen Lebens-Entscheidungen stehen, potentielle Adressaten dieser Gruppierungen sind. Personen, die über eine gefestigte Lebenseinstellung verfügen, sind im Gegenzug weniger "anfällig". Junge Menschen gelten deshalb als gefährdet, weil sie in den Jahren der Pubertät und der Adoleszenz wichtige Weichen für ihr Leben stellen müssen.

Interesse für solche Sinn-Anbieter können Menschen unterschiedlichen Alters sein:

* Erwachsene, die hohen Anforderungen in Beruf und Privatleben ausgesetzt sind;

* Menschen, die gesellschaftliche Gefahren wie Drogenmißbrauch, Umweltzerstörung oder Gewalt nicht tatenlos hinnehmen wollen.

Ob und in welcher Form man diese Angebote wahrnimmt, hängt von verschiedenen persönlichen und externen Umständen ab. Das können z.B. folgende Faktoren sein:

- das Gefühl der Einsamkeit und das Bedürfnis nach Freunden oder einer Gruppe, zu der man dazu gehören kann;

- Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und das Gefühl, unbefriedigt zu sein;

- das Leiden unter Mißerfolgen in Schule und Beruf;

- ein starker Leistungsdruck, den man auf Dauer nicht mehr auszuhalten glaubt;

- das Gefühl, daß eigene Leistungen nicht anerkannt werden;

- der Wunsch nach (mehr) Zuwendung und Geborgenheit;

- Enttäuschung durch eine zerbrochene Bindung im privaten Bereich;

- das Problem, als Jugendlicher Schwierigkeiten mit der Ablösung von den Eltern zu haben;

- der Wunsch nach einer neuen Elternfigur oder Bezugsperson;

- die Angst davor, Verantwortung zu übernehmen, die zum Wunsch führt, diese Verantwortung auf eine Gruppe zu übertragen

- das Bedürfnis nach dem echten, tiefen Sinn des eigenen Lebens;

- die Sehnsucht nach spirituellen Erlebnissen, die die Oberflächlichkeit der Realität übersteigen;

- der Wunsch nach möglichst perfekten Antworten auf persönliche und gesellschaftliche Probleme;

- das Bedürfnis nach einer geistlichen Führung und nach Autorität;

- das Interesse an psychologischen Fragen und psychologischen Problemlösungen;

usw...

Alle diese Wünsche, Ziele und Sehnsüchte sind in jedem von uns vorhanden. Vor allem in Zeiten persönlicher Krisen kommen sie verstärkt zum Ausdruck. Wird man dann mit einem entsprechenden neuen Sinn-Angebot konfrontiert, ist das Interesse gegenüber diesem Angebot nicht verwunderlich. Dies auch nur unter der Voraussetzung, daß man über die einzelnen Bewegungen nicht oder nur unzureichend informiert ist.

2. Methoden und Praktiken

2.1. Praktiken und Einstellungen

Im folgenden möchte ich die Praktiken und Einstellungen der verschieden Sekten kurz erläutern:

1) Der Wert des Lebens

In Einzelfällen scheint der Wert des Lebens dem Nutzen für die jeweilige Organisation untergeordnet sein. So enthielten bis Ende der 60erJahre die internen Anweisungen von "Scientology"-Gründer Hubbard folgende Passage: "Er (d.h. der Feind) darf seines Eigentums beraubt werden, er darf auf jede Weise durch einen Scientologen geschädigt werden, ohne Strafverfahren durch Scientologen. Man darf Streiche spielen, ihn belügen, betrügen oder vernichten" (Hubbard Communication Office Policy Letter, 18.10.1966).

Diese Art des "Fair Game" hat zu Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit geführt und wurde schließlich durch den Hubbard Communication Office Policy Letter vom 21.10.1968 aufgehoben. Äußerst problematische Einstellungen zum Wert des Lebens zeigten die Massen(selbst)morde der Volktempel-Sekte des Jim Jones (Jonestown/Guyana; 1978), der Davidianer-Sekte des David Koresh (Waco/USA; 1993) oder der Sonnentempler (Cheryl/Schweiz; 1994).

Katastrophale Ausmaße erreichten die Terroranschläge der Aum-Sekte des Aum Shinri Kyo in Tokio/Japan Dort wurden tausende völlig Unbeteiligte und Unschuldige verletzt und einige sogar getötet.

Die meisten übrigen Gruppierungen lehnen Gewalt ab.

2) Gesundheit und Krankheit

Einzelne Gruppierungen vertreten eine grundsätzlich andere Sicht von Gesundheit und Krankheit. Daraus folgt meist die strikte Ablehnung der Schulmedizin. Einige Gruppen bieten sogar ohne entsprechende medizinische Ausbildung alternative Behandlungsmethoden an:

Darunter fallen spezielle Meditationsübungen ("Sahaja Yoga") und zum Teil auch eigene Präparate, für die es keinen wissenschaftlichen Wirkungsnachweis gibt ("Fiat Lux").

Die "Zeugen Jehovas" und das "Universelle Leben " sprechen sich gegen Bluttransfusionen aus.

3) Sexualität und Familie

Im Bereich der Sexualität finden sich bei einigen Gruppen oft Extremeinstellungen: So wird von einzelnen Gruppen selbst in der Ehe sexuelle Enthaltsamkeit gefordert ("Fiat Lux", "Brahma Kumaris"), während andere das offene Ausleben von Sexualität propagieren ("Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung"). Im Extremfall führte dies sogar bis zum sexuellen Mißbrauch von Kindern ("Kinder Gottes", "Aktionsanalytische Organisation").

Tiefgreifende familiäre Konflikte treten meist dann auf, wenn sich nur ein Familienmitglied einer derartigen Gruppierung zuwendet. Gelingt die "Bekehrung" der restlichen Mitglieder nicht kommt es zur Scheidung.

4) Kinder und Erziehung

Die Methoden und Praktiken einer solchen Weltanschauungsgruppe kann natürlich auch Konsequenzen für die Kinder ihrer Mitglieder haben. So müssen Kinder eigene "Schulen" besuchen, wo sie nach den Methoden dieser Gruppierung unterrichtet werden ("Scientology", "Hare-Krishna-Bewegung").

Besuchen Kinder von Mitgliedern eine öffentliche Schule, so können erfahrungsgemäß Konflikte entstehen: Etwa im Bereich der Bekleidungsvorschrift für den Turnunterricht ("Palmarianer") oder bei Verboten für die Teilnahme von bestimmten Festen oder Feiern ("Zeugen Jehovas").

Problematisch wird es, wenn bereits Kleinkinder und Babys stundenlang "meditieren" müssen ("Holo-sophische Gesellschaft") oder durch eine sehr einseitige Ernährung in ihrer Entwicklung gefährdet werden können ("Fiat Lux").

5) Arbeit und Finanzgebarung

Im Normalfall sind die Mitglieder solcher Bewegungen berufstätig. Viele Gruppierungen versuchen Geld in erster Linie durch Spenden zu erhalten. Weiter wird Geld durch Kursangebote eingenommen ("Scientology", "Landmark Education"), was für die Teilnehmer oft die Zahlung vier- bis fünfstelliger Beträge bedeutet. Auch durch Schenkungen und Erbschaften kann die finanzielle Situation verbessert werden.

6) Transparenz und Identifizierbarkeit

Einige Gruppierungen treten öfters unter verschiedenen Bezeichnungen auf. So ist die eigentliche Identität für Außenstehende schwer festzustellen. Andere Organisationen haben eine Netz von Unterorganisationen gegründet, die unterschiedliche Namen tragen, aber eben doch in einem engen Naheverhältnis zur Mutterorganisation stehen.

Wichtig ist es, sich möglichst umfassend über die entsprechende Organisation zu informieren wie z.B. Informationen über den Gründer, die Glaubensinhalte, Lebenspraxis, Entwicklungstendenzen oder Erfahrungen von Betroffenen und Mitgliedern.

Ist eine Person einmal Mitglied geworden, so werden verschiedene Methoden angewendet, um die einzelnen Mitglieder zu kontrollieren. Im folgenden die diversen Methoden kurz erläutert:

- Verhaltenskontrolle: Die Lebensordnung wird oft streng normiert. D.h. zum Teil strikte Speise- und Bekleidungsvorschriften ("Fiat Lux") oder entsprechende Anweisungen für Riten und Meditationen ("Hare-Krishna-Bewegung"). Der individuelle Lebensraum kann dadurch immer stärker beschnitten werden.

- Gedankenkontrolle: Neue Mitglieder übernehmen oft kritiklos und unreflektiert das Lehr- und Sprachsystem. Lektionen wie z.B. "Du bist niemand, der Meister ist alles" ("Osho-Bewegung") gilt es zu lernen und zu befolgen.

- Gefühlskontrolle: Mit der Erzeugung von Schuld- und Angstgefühlen wird versucht, das einzelne Mitglied an die Gruppe zu binden ("Vereinigungsbewegung"). Dafür sind gerade sensible, idealistische Menschen sehr empfänglich.

Gründe, warum Menschen an solchen Gruppen immer wieder gefallen finden, sind z.B. Zuwendung, die sie früher nicht bekommen haben und jetzt im Überfluß bekommen ==> "Love-bombing". Das Gefühl, endlich gebraucht zu werden und eine Heimat zu haben, ist ebenfalls sehr wichtig für sie.

Verschiedene Organisationen bieten spezifische Konzept zur Erhaltung der Gesundheit an und vertreten alternative Heilungsangebote, wobei die Schulmedizin abgelehnt wird ("Fiat Lux").

Menschen, die an Zweifeln und an Unsicherheit leiden, fasziniert die Sicherheit, die manche Gruppen versprechen.

3. Mögliche Konsequenzen für Individuum und Gesellschaft

3.1. Mögliche Gefahren für den einzelnen

- Einengung der Persönlichkeit auf wenige Bereiche der Lebensmöglichkeit und -gestaltung

- Psychischer Rückschritt in kindliche Entwicklungsphasen

- Verlust der Berufsfähigkeit und Selbständigkeit

- Verlust lebensnotwendiger Finanzen und Eigentumswerte

- Verlust des Freundeskreises außerhalb der Organisation

usw.

3.2. Mögliche Gefahren für die Gesellschaft

- Verfolgung gruppenegoistischer, gewinnorientierter oder totalitär vereinnahmender Ziele

- Einschränkung der demokratischen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit

- Ausbleiben einer soliden Berufsausbildung und damit in der Folge:

- Mangel bzw. Fehlen von sozialer Sicherheit (Versicherungsschutz, pensionsrechtliche Regelungen fehlen häufig)

- bei Kindern, die isoliert, unausgebildet, desintegriert oder gar mißbraucht in derartige Gruppen aufwachsen.

usw.

Selbstverständlich sind nicht alle Probleme bei allen Mitgliedern jeder "Sekte" anzutreffen, doch schon die Existenz einiger dieser Faktoren kann das Leben eines Menschen und sein soziales Umfeld nachhaltig beeinträchtigen oder schädigen.

4. Sekten und Schule

4.1. Spezialfall Jugendliche

Zu einem Problem wird das Thema "Sekten", wenn Jugendliche betroffen sind. Die Einfluß- und Veränderungsrate durch derartige Organisationen sind bei Heranwachsenden potentiell größer als bei Erwachsenen, die über eine mehr oder minder gefestigte Lebenseinstellung verfügen. Jugendliche sind nach den Befunden der Jugendpsychologie nicht nur in bezug auf ihre Körperlichkeit verunsichert, sondern auch hinsichtlich ihrer intellektuellen Verfassung. Kritische Distanz gegenüber neuen Ideen und Ideologien kann bei Heranwachsenden nicht immer erwartet werden.

4.2. Welche Probleme "gelöst" werden

Auf der Suche nach der eigenen Persönlichkeit sind Jugendliche bestrebt, Vorbilder und Leitbilder auszusuchen, aber auch Idealen und Ideologien nachzuhängen.

Maslow (1954) stellte eine hierarchische Klassifikation von Bedürfnissen fest, deren Befriedigung im Laufe der Adoleszenz eingefordert wird. Garrison und Garrison (1975) leiteten, von Maslow ausgehend, folgende Bedürfnisse für die Adoleszenz ab:

1. Physiologische Bedürfnisse: Es steht das Bedürfnis nach körperlicher und sexueller Betätigung sowie der Wunsch nach Anerkennung der eigenen körperlichen Bedürfnisse im Vordergrund.

2. Sicherheitsbedürfnis: Die durch die körperliche und seelische Reifung bedingten Veränderungen akzentuieren den Wunsch nach Sicherheit.

3. Unabhängigkeitsbedürfnis: In dieser Altersstufe setzt ein Unabhängigkeitsdrang ein, der gepaart ist mit Widerstand gegen alles Herkömmliche, gegen Autoritäten sowie der Tendenz, Normen, Regeln und Gewohnheiten in Frage zu stellen.

4. Gleichzeitig wächst das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Zuneigung, was u.a. ein Ergebnis der verstärkten Fähigkeit zur Introspektion ist. Das Streben nach Autonomie führt vielfach zu einer Isolierung des Jugendlichen, was wiederum sein Bedürfnis nach Liebe und Zuneigung mobilisiert.

5. Ein Leistungsbedürfnis und der Wunsch, gebraucht zu werden, etwas bewirken zu können, sind entweder offen oder verdeckt ein wesentlicher Zug des jungen Menschen.

6. Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Ich-Entwicklung in der Adoleszenz ist in allen Kulturen sichtbar.

Typische emotionale Reaktionsmuster in der Adoleszenz sind Impulsivität und emotionale Instabilität, die bedingt werden durch das Wahrnehmen neuer Gefühle. Jugendliche und Adoleszente neigen zum Experimentieren, zum Ausprobieren, sind risikofreudig und wollen Grenz- und Tiefenerfahrungen erleben.

Diese besonderen Grundbedürfnisse und Erlebnisweisen Heranwachsender haben zur Folge, daß bestimmte Formen von "Erlebnisreligionen" für Jugendliche und Adoleszente besonders attraktiv sind. (Klosinski, S. 29f)

Besonders gefährdet und "sekten-anfällig" sind nach den Erkenntnissen der Jugendpsychologie Jugendliche,

- die Autoritätskonflikte, Arbeitsplatz- und Schulprobleme oder Partnerschaftsprobleme haben

- die unter Ängsten, Zwängen, Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen leiden

- die von Persönlichkeitsentwicklungsstörungen betroffen sind, die sich unter dem Begriff der Luxus- und Mangelverwahrlosung, der Exzentrik und der Experimentierfreudigkeit des Jugendlichen zusammenfassen lassen.

4.3. Wie kann man betroffenen Jugendlichen helfen?

Für die betroffenen Jugendlichen ist das Erlebnis des Angenommen-Werdens am Wichtigsten. Vorwürfe und Kritik sind hingegen fehl am Platz. Vor allem ein eigenes "Ich" und ein "Wir-Erlebnis" in einer neuen sozialen Gemeinschaft muß aufgebaut werden, um ein Gemeinschaftsgefühl außerhalb der Organisation zu ermöglichen.

Die betroffenen Jugendlichen müssen zu einem neuen Lebensstil, zur Befreiung aus ihrer Abhängigkeit und zu neuer Gemeinschaft ermutigt werden. Das stellt nicht nur Anforderungen an professionelle Psychologen, sondern auch an Eltern und Bezugspersonen: Es geht nicht darum, Jugendliche vor bestimmten ideologischen Richtungen zu bewahren, sondern sie so zu erziehen, daß sie Ideen und Ideologien selbst hinterfragen können. Das ist langfristig der beste Schutz gegenüber manipulativen Einflüssen.

4.4. Was tun, wenn andere betroffen sind?

Wenn man eine betroffene Person kennt, ist es wichtig, folgende Ratschläge zu beachten:

- Machen Sie sich keine Selbstvorwürfe! Vor allem, wenn es sich um das eigene Kind oder den Partner handelt, sind Selbstvorwürfe vorprogrammiert. Experten bezeichnen diese Situation als "Ko-Abhängigkeit". Die Beziehung zur betroffenen Person ist dadurch auf das Schwerste gefährdet: Verlust, Trennung oder Scheidung sind die unvermeidbaren Konsequenzen.

- Ihre Zuneigung ist wichtig! Zeigen Sie der Person, daß Sie nie aufhören werden, ihr Zuneigung zu schenken bzw. sie zu lieben. Achten Sie darauf, daß der Kontakt nicht abreißt. Wenn die betroffene Person Ihr Kind und minderjährig ist, sollten Sie rasch und konsequent von Ihren elterlichen Rechten Gebrauch machen.(Polizei ==> Anzeige).

- Geben Sie die betroffene Person nie auf!

- Beziehen Sie Position! Im Gespräch mit der betroffenen Person sollten Sie immer Ihren Standpunkt darlegen. Schwammige Zustimmung nützt niemandem. Bleiben Sie dialogfähig, und sagen Sie klar und ehrlich Ihre Meinung. Vermeiden Sie dabei aber Vorwürfe.

- Niemals "umpolen"! Hüten Sie sich vor Maßnahmen, die die betroffene Person "umpolen" sollen ("Deprogrammierung). Die Person hat ja nicht gemerkt, wie sie in den Einfluß der betreffenden Gruppe hineingeraten ist und wie sie ihre eigene Individualität sukzessive abgelegt hat. Die damit äußerst gefährdete Individualität der betroffenen Person könnte durch "Deprogrammierung" restlos zerstört werden. Vermeiden Sie jeglichen Druck, falls ihre Bemühungen nicht erfolgreich sein sollten: Je stärker der von Ihnen verursachte Druck ist, desto stärker wird auch die Abwendung der betroffenen Person von Ihnen sein.

- Vorsicht bei Geschenken! Vermeiden Sie Schenkungen an betroffene Personen. Derartige Geschenke gelangen fast immer in die Hände der Gruppe.

- Sammeln Sie Informationen! Bemühen Sie sich, möglichst viele Informationen über die betreffende Gruppe zu sammeln. Nehmen Sie unbedingt das Informationsangebot der Beratungsstellen wahr.

- Dokumentieren Sie alles! Dokumentieren Sie alle Ereignisse und Daten, die in Zusammenhang mit der betroffenen Person und der Gruppe stehen (erste Kontaktaufnahme, Anwerbung, Umzug etc.) Weiters sind alle Namen, Adressen und Telefonnummern, die mit den Aktivitäten der betroffenen Person in der Gruppierung zu tun haben. Dies kann eine wichtige Hilfe für gerichtliche und behördliche Aktivitäten sein.

5. Dialog mit Jugendlichen, die Sekten-, Okkult- oder Esoterikerfahrung hatten

Entscheidend ist die Ausgangslage, die der Berater vorfindet: Warum, wie, wann kommt der Betreffende in die Beratung? Der Berater wird den Jugendlichen anhören und versuchen, bei ihm Vertrauen zu finden bzw. aufzubauen; er wird nicht vorschnell werten, sondern sehr genau hinhören, was der Ratsuchende für ein Anliegen hat, was ihn bewegt, welche Fragen er mitbringt. In dieser Phase muß der Jugendliche entlastet werden, indem man ihm erklärt, daß psychische Verwerfungen, Regressionen, Einbrüche und Verhaftungen im Magisch-Mystischen zum Menschensein schlicht dazugehören, daß die von der entsprechenden Gruppe ausgehende Faszination auch damit zu tun hat, daß in ihm, dem Jugendlichen, irgend etwas aktiviert wurde und sich angezogen fühlt.

Erst zu diesem Zeitpunkt ist das Anführen von Aussteigerbeispielen aus der entsprechenden Bewegung möglich, wie auch eine eventuelle Vermittlung zu einem speziellen Experten für die betreffende Sekte oder Gruppierung.

Nützlich ist auch der Hinweis, daß nach einer Hinwendung (Konversion) in eine Bewegung folgende drei Wege möglich sind:

1) Eine fanatisch-blinde Entwicklung

2) Eine kritische Stellungnahme innerhalb der Sekte oder des Kults mit der Unterscheidung zwischen negativen und positiven Entwicklungen.

3) Die Möglichkeit des Ausscheidens, so wie es ja auch Aussteiger aus der ev./kath. Kirche gibt.

5.1. Empfehlungen bezüglich der Haltung des Beratenden gegenüber Eltern und Angehörigen

Wichtig ist, zu verstehen, daß Eltern häufig aufgrund einer Eltern-Kind-Problematik nicht dazu in der Lage sind, mit Argumenten den Konvertierten davon zu überzeugen, daß er auf einem "Holzweg" sei. Kämpfende Eltern laufen Gefahr, ihre Kinder immer stärker in die Abhängigkeit von der betreffenden Sekte zu treiben, vor allem dann, wenn die Hinwendung zur Sekte psychodynamisch etwas mit einem Autoritätskonflikt gegenüber den Eltern zu tun hatte. Ein Nachgeben des Jugendlichen würde dann seine Abhängigkeit von den Eltern noch unterstreichen, was er schon allein aus diesem Grunde häufig nicht zulassen kann.

Die Eltern sollten nicht verdammen, sondern versuchen, eine "Restkontakt" und ein Restvertrauen zu halten bzw. aufzubauen, indem sie sich für die "Sektenkarriere" ihres Familienangehörigen interessieren.

Gewaltsames Entführen der betreffenden Jugendlichen oder ein "Befreiungsgespräch" ist weder ein adäquater noch ein erfolgversprechender Weg.

Der Jugendliche soll nicht vorschnell "umgekehrt werden", sonder behutsam und allmählich befähigt werden, selbst relativieren zu können und nicht verabsolutieren zu müssen.

Eltern und Berater müssen darüber informiert werden, daß es aufgrund von religiösen Konfessions- oder Sektenübertritten oder durch Hinwendung zu Psychokulten gelegentlich zu schweren psychischen Krisen kommen kann, die das ganze Spektrum psychiatrischer Erkrankung aufweisen.

Deshalb sollten sich Jugendliche und ihre Eltern, auch wenn sie oft große Hemmungen haben, vertrauensvoll an Beratungsstellen wenden.

6. Zusammenfassung und eigene Meinung

Die Frage, die es nun zu beantworten gilt, lautet:

Sind Lehrer in der Schule berechtigt, Schülern zu helfen, die Mitglied einer Sekte sind.

Meiner Meinung nach kommt es darauf an, ob sich der jeweilige Lehrer schon mit diesem Thema beschäftigt hat oder nicht. Ist er Laie auf diesem Gebiet sollte er lieber die Finger davon lassen und nichts unternehmen. Er sollte sich lediglich mit den Eltern in Verbindung setzen und erkunden, ob sie wissen, daß ihr Kind Sektenmitglied ist. Alles weitere sollte er den Eltern überlassen oder er könnte ihnen seine Hilfe anbieten.

Falls der Lehrer bereits Informationen über Sekten gesammelt hat und sich mit diesem Thema beschäftigt hat, könnte er versuchen, ein Gespräch mit dem Schüler führen. Dabei sollte er sich so verhalten, wie es im Kapitel 5.1. beschrieben wurde. Wenn der Schüler nun zustimmt, kann sich der Lehrer mit den Eltern in Verbindung setzen und mit ihnen reden, wie es weitergehen soll. Zeigen sich diese auch gesprächsbereit, so steht einer Beratung bei professionellen Beratungsstellen nichts mehr im Weg.

Zeigen sich die Eltern nicht bereitwillig etwas dagegen zu tun, sind meiner Meinung nach die Vollmachten des Lehrers erschöpft, und er sollte sich aus weiteren Aktionen heraushalten.

Bevor ich mir als Lehrer unsicher wäre, was zu tun ist, halte ich mich lieber aus diversen Hilfeleistungen heraus, da Konsequenzen nicht ausgeschlossen werden können.

7. Literaturliste

Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie: SEKTEN, Wissen schützt!

Klosinski, Gunther: Psychokulte; Was Sekten für Jugendliche so attraktiv mach!
 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis
 
 

6) Kognitive Psychologie (Barbara Achammer)

Einleitung - Begriffsbestimmung

Es gibt verschiedene Arten von Lerntheorien, die Verhaltenstheorien, die kognitiven Lerntheorien und die Handlungstheorien. In dieser Arbeit möchte ich mich auf die kognitiven Lerntheorien beschränken.

Um diese Lerntheorie besser verstehen zu können, ist es vielleicht hilfreich den Begriff ´kognitiv´ genauer zu erklären. Das Duden-Fremdwörterbuch (1990) berichtet folgendes:

kognitiv:(lat.) die Erkenntnis betreffend; erkenntnisgemäß. kognitive Entwicklung: Entwicklung all der Funktionen beim Kind, die zum Wahrnehmen eines Gegenstandes od. zum Wissen über ihn beitragen.(405)

Im Gegensatz zu den behavioristischen Lerntheorien, die sich schwerpunktmäßig mit den äußeren Bedingungen des Lernens auseinandersetzen, man denke nur an die Reiz-Stimulus-Theorie, und dem klassischen und operanten Konditionieren, beschäftigt man sich ab den sechziger Jahren hauptsächlich mit der inneren Repräsentation der Umwelt.

Unter Kognition versteht man jene Vorgänge, durch die ein Organismus Kenntnis seiner Umwelt erlangt. Im menschlichen Bereich sind dies besonders: Wahrnehmung, Vorstellung, Denken, Urteilen, Sprache. Durch Kognition wird Wissen erworben. Kognitive Prozesse lassen sich von emotionalen und motivationalen unterscheiden. (Edelmann 1993, 9)

1. Der Gegenstand der zeitgenössischen kognitiven Psychologie

Das Hauptinteressensgebiet der kognitiven Psychologie sind die höheren kognitiven Prozesse, wie die Wahrnehmung, das Gedächtnis, Sprache, Denken, Problemlösen und Entscheidungsprozesse. Alle setzen eine kognitive Repräsentation oder besser eine Metapher voraus, d.h. der Zustand wird nicht mehr wörtlich beschrieben, wie bei den Behavioristen, sondern durch einen Als-ob-Vergleich.

Leider gibt es nur wenige bemerkenswerte Versuche zur Bildung von systematischen und umfassenden kognitiven Theorien, wenn es auch eine Hand voll wichtiger und bekannter Ansätze gibt. (Lefrancois, 1994, S. 109)

Das Schwergewicht in den letzten Jahren lag mehr auf intensiver Forschung in spezifischen Gebieten als auf der Konstruktion eines Systems, das so allgemeine Gültigkeit hätte, daß es eine Vielzahl von Beobachtungen umfaßte.

Zu den wichtigsten Beiträgen zur Entwicklung der zeitgenössischen kognitiven Psychologie gehört der von Jerome Bruner, der in dem folgenden Kapitel kurz beleuchtet werden wird. Eine große und für den Unterricht prägende Rolle für die kognitive Psychologie spielte Jean Piagets Entwicklungspsychologie, auf die in dieser Arbeit aber nicht eingegangen wird.

2. Bruners Theorie der Kategorisierung

Bruners Lerntheorie ist hauptsächlich von der Auffassung geprägt, daß der Mensch die Welt hauptsächlich durch Ähnlichkeiten und Unterschieden von Ereignissen und Objekten interpretiert. Ähnliche Objekte wirken wie ein Reizinput und werden gleich einer Kategorie zugeteilt, die alle Objekte umfaßt, die gewisse ähnliche Eigenschaften (Attribute) aufweisen. Lefrancois erklärt dies mit einem schönen Beispiel von einem Mann, der einen Kopf mit langen blonden Haaren und einem hübschen Gesicht sieht, das ihn über ein Meer von Schaum hinweg aus einer rosaroten Badewanne anlächelt. Nun geht Lefrancois davon aus, daß sich der Mann gleich schon viel mehr vorstellt. Da er die Kategorie Mädchen kennt, kann er auch bei dieser Information Schlüsse ziehen, die den Regeln seiner Kategorie entsprechen. (Mädchen = lange Haare, schönes Gesicht, Körperteile- obwohl nicht sichtbar, erotische Gedanken- aus früheren Erfahrungen) Dabei wird natürlich über die gegebene Information hinausgegangen. Der Mann macht in diesem Beispiel Vorhersagen auf der Grundlage einer Kategoriezugehörigkeit.

Bei der Wahrnehmung ist es nicht nur wichtig, eine angemessene Kategorie zu haben, sondern diese muß auch zugänglich sein, d.h. der Betroffene muß auch bereit sein, die Information aufzunehmen. Andauernd finden Entscheidungsprozesse statt, die eine Aufnahme der Information entweder gutheißen oder ablehnen. Die Aufnahmebereitschaft wird sehr stark von den jeweiligen Bedürfnissen und Erwartungen beeinflußt. Je zugänglicher eine Kategorie, desto weniger Input ist für die Wahrnehmung erforderlich. Die Gefahr von zu offenen Kategorien ist aber die, daß eine Information rasch akzeptiert wird, und Kategorien, die vielleicht passender wären, von den allgemeineren Kategorie verdeckt und deshalb schlechter verfügbar werden. Folglich wird die Information unter einem falschen bzw. zu ungenauen Bezugssystem gespeichert. Die Art von Kategorisierung spielt auch bei der Informationsverarbeitung und den Entscheidungsprozessen eine wichtige Rolle.

Da die Bildung von Kodierungssystemen die Entdeckung von Beziehungen fordert, tritt Bruners stark für entdeckungsorientierte Lernmethoden ein.

3. Die Rolle des Gedächtnisses beim Lernen

Um das Gedächtnis beim Lehren und Lernen wirkungsvoll zu nutzen, wäre es hilfreich das Wesen und die Funktion dieses Mechanismus besser zu verstehen.

Was das Wesen des Gedächtnisses angeht, so ist den meisten Verfassern bekannten Definierungsversuchen die Aussage gemeinsam, daß es eine psychische Fähigkeit ist, vergangene Erfahrungen bei der Verarbeitung gegenwärtiger Erfahrungen zur Neuordnung vergangener Erfahrung und beide, vergangene und gegenwärtige Erfahrungen, zur leichteren Verarbeitung zukünftiger Erfahrungen zu nutzen. In anderen Worten, Gedächtnis ist im weitesten Sinn die Fähigkeit zu lernen. (Rohrer 1993, 12f.)

Diese Aussage Rohrers mag zwar ziemlich oberflächlich erscheinen, doch scheint es unmöglich die komplexen Vorgänge, die einmal als Gedächtnis, dann als Denken oder als Intelligenz oder wiederum als Lernen bezeichnet werden genauer zu beschreiben.

Wenn wir nun vom Aufbau des Gedächtnisses sprechen, so vom sensorischen Speicher, dem Kurzzeitgedächtnis und dem Langzeitgedächtnis, so muß uns klar sein, daß es sich hier nur um metaphorische Strukturen handelt, die uns, indem das Gedächtnis in seine verschiedenen Funktionen, aber auch Prozesse wie Lernen und Erinnern geteilt wird, helfen sollen, das Phänomen genauer zu erfassen. Das bedeutet, daß die einzelnen Teile nicht als identifizierbare, neurologische Strukturen existieren müssen, sondern einfach darstellen, was sein könnte.

Von der Speichertheorie ausgehend, soll nun das Gedächtnis genauer beschrieben werden. Es fängt damit an, daß Informationen über alle unsere Empfangskanäle, so den Sehnerven, den Gehörnerven, den Geruchsnerven, den Geschmacksnerven und den Hautnerven, in den Ultrakurzzeitspeicher (UKZS), auch sensorischer Speicher genannt, gelangen. Dieser Speicher kann mit einer Eingangsstelle einer großen Informationszentrale verglichen werden, die auf unterschiedlichen Kanälen einem unaufhörlichen Strom von Informationen ausgesetzt ist, von welchen ein großer Teil unaufgefordert ankommen, wenige aber planmäßig beschafft werden. Das Phänomen der Aufmerksamkeit spielt dabei eine große Rolle. Im sensorischen Speicher werden nun diese große Menge an Daten grob vorsortiert, wobei auf die aktuelle und mögliche Brauchbarkeit geachtet wird. Alle unbrauchbaren und unabsichtlich empfangenen Informationen, wie die Gesichtszüge von Straßenpassanten, Vogelgezwitscher, die Druckempfindung beim Berühren eines Klingelknopfs, aber auch Buchstaben und Laute eines gelesenen oder gehörten Textes, manche Wörter oder gar ganze Sätze, die für das Verständnis nicht so wichtig sind., werden sofort vernichtet und somit gleich vergessen. Der Rest wird an die entsprechenden Sachgebiete weitergegeben. Die Verbleibdauer im UKZS ist sehr kurz, sie beträgt ungefähr 200 Millisekunden. Viele Wissenschaftler glauben, daß das völlige Vergessen dieser unwichtigen Informationen die Hauptaufgabe des UKZS ist. Somit hat das Gedächtnis die Möglichkeit sich mit wichtigeren Informationen intensiver zu befassen.

Wichtigere Informationen, wie der fehlende Punkt auf dem i, wenn wir Korrektur lesen, oder das plötzliche Knistern einer Neonlampe, wenn wir ein Tonband besprechen, werden nicht sofort ausgesondert, sondern in den Kurzzeitspeicher (KZS) übergeleitet, der für die Feinsortierung und der Zuordnung zu gewissen Sachgebieten oder Kategorien zuständig ist und somit eine große Rolle für die Art der Speicherung, bzw. Archivierung spielt. Diese Information wird nicht mehr vernichtet, bleibt aber auch nicht lange im KZS, sondern wird in den Langzeitspeicher (LZS) weitergeleitet, welcher in zwei Teile gegliedert ist, den aktiven Speicher, in dem jene Information gespeichert wird, die abrufbar sein muß, und den inaktiven Speicher, in welchem die Informationen gespeichert werden, die lediglich wiedererkannt werden sollen. Die Verweildauer von Informationen im LZS ist eigentlich unbegrenzt. Die Speicherkapazität ist unheimlich groß und wird nie vollends ausgenützt.

Die Hauptaufgabe des LZS ist es also die Informationen nach möglichst effektiven, immer wieder überprüften Kriterien zu speichern und aufzubewahren und die Information immer wieder auf ihre Richtigkeit zu überprüfen und notfalls auch zu revidieren. Die Informationen können zwar nicht verloren gehen, aber sie können sich ändern, indem sie Bestandteil einer neuen Information werden oder vom aktiven in den inaktiven Speicher wandern, da sie nicht häufig genug abgerufen werden .(Rohrer 1990, 12-17)

4. Kognitives Lernen (vor allem im Sprachunterricht)

Bei den kognitiven Lerntheorien wird der Lerner als aktives, informationsverarbeitendes System gesehen. Dieses System ist mit komplexen Wissenskomponenten ausgestattet, die durch mentale Operationen gesteuert werden. Neues Wissen entsteht durch Interaktion zwischen bereits vorhandenem Wissen und neuen Stimuli. Eine Optimierung des Systems wird dann erreicht, wenn durch andere mentale Operationen Wissenszuwachs, Reorganisation und Abrufbarkeit des Wissens erreicht wird.

Lernen bedeutet deshalb vor allem den Auf- und Ausbau kognitiver Strukturen. Durch bewußtes Wahrnehmen und Verstehen der Lerngegenstände kann der Lernprozeß gefördert werden.

a) Induktives vs. deduktives Lernen

Da es wichtig ist, daß der Schüler die Information versteht, braucht es ein einsichtiges (sinnvolles) Lernen, einen aktiven Konstruktionsprozeß. Dies wurde schon von Brunes verlangt, der die Notwendigkeit von selbstentdeckendem Lernen hervorhob. Dieses Vorgehen kann auch induktives Lernen genannt werden, das im Gegensatz zum deduktiven Lernen steht. In Bezug auf den Sprachunterricht sieht dies so aus, daß der Schüler mit einem Text konfrontiert wird und diesen selbst analysieren, begreifen und üben muß. Wichtig ist, daß sich der Schüler seine Erkenntnis bewußt macht, um die neue Information schließlich auch selbst anwenden zu können, d.h. es ist wesentlich, implizites Wissen in explizites zu verwandeln. Falls dies nicht gemacht wird, ist die Gefahr groß, viel Wissen zu verlieren.

b) Implizites vs. explizites Wissen

implizites Wissen x x explizites Wissen

Lerner gebraucht Lerner kann Lerner kann Lerner kann Regeln

Regeln ohne zu beurteilen, ob die Regeln in eigenen in metalinguistischer

reflektieren sprachliche Äußerung Worten darstellen Terminologie

in Übereinstimmung darstellen

mit den Regeln ist

oder nicht

Implizites und explizites Wissen sind nicht trennbar. Für den Lernprozeß ist sowohl die Bewußtmachung des impliziten Wissens wichtig, d.h. die Hinüberführung in explizites Wissen, als auch die Automatisierung des expliziten Wissens. Diese Automatisierung der Prozesse ist deshalb so wichtig, da die Aufmerksamkeit, die wir für die Wahrnehmung neuer Information brauchen, in ihrer Kapazität sehr begrenzt ist und nur wenige kognitive Prozesse zugleich verrichten kann. Automatische Prozesse brauchen weniger Aufmerksamkeit und bedeuten deshalb eine große Entlastung, während kontrollierte Prozesse die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

c) Die 3 Typen von Wissen: Deklaratives, prozedurales Wissen und metakognitives Wissen

Neben der Unterscheidung von impliziten und expliziten Wissen, kann man auch noch zwischen deklarativen, prozeduralen und metakognitiven Wissen unterscheiden. Unter deklarativem Wissen versteht man das Was- Wissen, das mit den vorhandenen Daten in einem Computer verglichen werden kann. Es geht um Tatsachen und Gegenstände. Dieses deklarative Wissen wird vom prozeduralen ergänzt, welches sich mit dem wie von Prozessen beschäftigt und mit einem Verarbeitungsprogramm des Computers verglichen werden kann und sehr wichtig für das Problemlösen ist. Dazu kommt noch das metakognitive Wissen, welches ermöglicht über das deklarative und prozedurale Wissen zu reflektieren.

deklaratives Wissen prozedurales W.

- fremdsprachliches Wissen: Regeln, Lexis - Rezeptionsprozesse

- pragmatisches Wissen: Diskussions- uns Textstrukturen - Produktionsprozesse: Hypothesen- testen

- soziointeraktives Wissen: Rollen, Institutionen - Lernprozesse

Während wir mit dem deklarativem Wissen schon ziemlich vertraut sind, ist uns sehr oft die Wichtigkeit des prozeduralen Wissens nicht bewußt, besonders im Bereich des Problemlösens.

Problemlösen

Problemlösen ist als ein zielgerichtetes Verhalten definiert. Das Ziel einer Aufgabe wird aber nur schrittweise erreicht, indem die Aufgabe so lange in Teilaufgaben und Teilzielen zerlegt wird, bis ein Teilziel direkt erreicht werden kann.

Problemlösen beinhaltet dann, eine Folge von Operationen zu finden, die den Anfangszustand in den Zielzustand überführen, der als Lösung erreicht werden soll.

(Anderson 1989, 120)

Ein Problem kann man hauptsächlich durch Einsicht und durch abermalige Bewußtmachung lösen, d.h. das Lösen von Problemen ist auch ein eigenes Wissen, das man sich erst aneignen muß.

Das Wissen, das dem Problemlösen zugrunde liegt, kann formal als Menge von Produktionen beschrieben werden, die Handlungen festlegen, mit denen die Zielzustände unter den jeweils gegebene Bedingungen erreichbar sind. (Anderson 1989, 120)

5. Tips für ein erfolgreiches kognitives Lernen

* Die Elaboration von Informationen bietet zusätzliche Abrufwege an und trägt zu einem besseren Behalten bei

* Die Absicht zu lernen allein kann die Behaltensleistung nicht sichern. Wichtig ist die Art der Informationsverarbeitung

* Je genauer der Testkontext dem Lernkontext entspricht, desto höher ist die Gedächtnisleistung

* Extensives Lernen ist besser als intensives. Durch den zeitlichen Abstand vergrößern sich die Unterschiede zwischen den Lernkontexten.

* Wichtig ist eine Differenziertheit der Regelformulierung. Dabei sollte man didaktische Regeln den sprachwissenschaftlichen Regeln vorziehen

* Bei der Bewußtmachung ist es besonders wichtig auf Kontraste aufmerksam zu machen

* Lerner sollen viele Fragen stellen: Diese deuten lernstrategische Reaktionen auf kognitive Konflikte an, signalisieren Eigeninitiative und sind bedürfnisorientiert

* Die Unterrichtende kann bei der Kognitivierung sehr behilflich sein. Es gibt verschiedene Arten der Kognitivierung: objektsprachliche, visualisierende, signalgrammatische, verbal-metasprachliche

* inhaltsbezogenes Material benutzen

* Einfluß der Emotionen

Schluß

Abschließend ist es wichtig, hervorzuheben, daß dieses theoretische Wissen auch direkt im Unterricht, aber auch für sich selbst eingesetzt werden kann. Es ist entscheidend, sich bewußt zu machen, wie das Lernen ablaufen kann, um so die eigenen Lernstrategien zu verbessern, aber auch, um unsere Schüler darauf aufmerksam zu machen. Ein Einblick in diese Materie erweitert nicht nur unser deklaratives Wissen, sondern vor allem auch das prozedurale und beansprucht vor allem das metakognitive.

Beilage: Das Lingua Puzzle

Ein theoretisches Beispiel für kognitives Lernen im Fremdsprachenunterricht

Hier wird versucht eine Passage eines inhaltlich bereits einigermaßen verstandenen Hörtextes in allen Details, d.h. wortgetreu zu rekonstruieren und anschließend schriftlich zu fixieren. Die Aufmerksamkeit der Lernenden wird auf alle Aspekte der Sprache gerichtet, wobei sämtliche Ebenen des linguistischen Systems des Textes aktiviert werden.

1. Einen Ausschnitt eines Textes, der bereits authentisch gehört wurde, auswählen. (Dauer ca. 20-30 Sekunden)

2. Die Passage mehrmals (5-10x) mit folgender Anweisung an die Lehrenden vorspielen: Versuchen Sie so viel wie möglich von dem, was Sie verstehen bzw. identifizieren können, mitzunotieren.

Nach diesen ersten Hördurchgängen wird das Notizblatt eines Lernenden einem unvollständigen Puzzle gleichen.

z.B.

...............gestern.........Gerhard gesehen?

Ja.............Kaffee geg...........8 Uhr..........

Wann..........Haus.........gang

3. Informationsaustausch: Vergleichen und vervollständigen der Notizen

4. Intensives Hören: Die Passage wird wiederum mehrmals angehört

5. Informationsaustausch: wie Punkt 3, aber in neuer personeller Zusammensetzung

6. Intensives Hören

7. Informationsaustausch: wie Punkt 3, aber in neuer personeller, auch größerer Zusammensetzung

8. Gemeinsames Klären und Aufschreiben: die Ergebnisse werden an die Tafel diktiert. Alles (auch divergierende Lösungen) wird angeschrieben und durch nochmaliges genaues Hören geklärt.

Zeit: Insgesamt 30-40 Minuten (Buttaroni / Knapp, 1988)

Bibliographie

Anderson, J.R. (1989). Kognitive Psychologie. Eine Einführung (2.Aufl.). Heidelberg: Spektrum der Wissenschaft.

Angermeier, W.F.; Bednorz, P.; Schuster, M.(1991). Lernpsychologie (2.erw. Aufl.). München; Basel: E. Reinhardt

Bausch, Christ, Hüllen, Krumm (1989). Handbuch Fremdsprachenunterricht. UTB, Große Reihe, Tübingen: Francke Verlag

Buttaroni; Knapp (1988). Fremdsprachenwachstum, Wien

Duden (1990). Das Fremdwörterbuch (5. neu bearb. u. erw. Aufl.).Mannheim; Leipzig; Wien; Zürich: Dudenverlag

Edelmann, Walter (1993). Lernpsychologie (3. neu bearb. Aufl.). Weinheim: Psychiatrische Verlags Union

Gadenne, Volker(1996). Bewußtsein, Kognition und Gehirn. Einführung in die Psychologie des Bewußtseins. Bern; Göttingen; Toronto; Seattle: Hans Huber Verlag

McLaughlin, Barry (1991). Theories of second-language learning. London; New York; Melbourne: Edward Arnold

Opwiz, Klaus; Plötzner, Rolf (1996). Kognitive Psychologie mit dem Computer. Ein Einführungskurs zur Simulation geistiger Leistungen mit Prolog . Heidelberg; Berlin; Oxford: Spektrum, Akad. Verlag

Rohrer, Josef (1990). Zur Rolle des Gedächtnisses beim Fremdsprachenlernen (3.Aufl.)Bochum: Kamp

Tönshoff, Wolfgang (1992). Kognitivierende Verfahren im Fremdsprachenunterricht. Formen und Funktion. Hamburg: Verlag Dr. Kovac
 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis
 
 

7) Sprachentwicklung, Sprach- und Sprechstörungen (Andrea Köck)

 

 

1. Einleitung

Das Thema meiner Arbeit lautet Sprachentwicklung und Sprachstörungen. Im Zuge dieses schriftlichen Berichts werde ich den Spracherwerb beim Kind, die häufigsten Arten von Sprachstörungen und schließlich - als Beispiel für eine eher schwere und seltene Sprachstörung - den elektiven Mutismus behandeln. Ich bin sehr froh, dieses Thema bearbeiten zu können, weil es in mein Fach, Anglistik und Amerikanistik und Italiensch, zwei Sprachstudien, sehr gut hineinpaßt. Aus diesem Grund habe ich in Kapitel 2 auch einen Abschnitt vorgesehen, der auf die Einblicke, die die Methodik des Fremdsprachenunterrichts von den Ergebnissen der Spracherwerbsforschung gewonnen hat.

2. Der Spracherwerb

Laut Meyers Taschenlexikon (1995) bezeichnet Spracherwerb die Aneignung der Fähigkeit, grammatikalisch richtige und semantisch verständliche Sätze zu bilden, sprachliche Äußerungen zu verstehen und situationsgerecht anzuwenden. Daß der Spracherwerb sehr systematisch vor sich geht, obwohl die Nachahmung nur eine begrenzte Rolle spielt, ist durch zahlreiche Beobachtungen erwiesen. Dieser Erwerb der Sprachregeln läuft in allen bisher untersuchten Sprachen auf der Welt gleich ab, und daher kommt man ohne die Annahme angeborener Spracherwerbsmechanismen nicht mehr aus. Der Linguist Noam Chomsky meint weiters, diese Anlage sei entscheidend für das Sprechenlernen. Aber welche Sprache gelernt wird, das hängt von der Umwelt ab. Die Intelligenz spielt beim Spracherwerb kaum eine Rolle und sogar Gehörlose erreichen einen hohen Grad an sprachlicher Leistungsfähigkeit. Der Erwerb einer Sprache steht in enger Wechselbeziehung mit der kognitiven Entwicklung da sich das Denken in und durch die Sprache vollzieht. Im Folgenden bin ich eher auf die Entwicklung grammatischer Strukturen als auf das Lernen von Bedeutungsinhalten eingegangen. Der anatomische Bau unserer Stimmwerkzeuge, also vor allem unser Mund und seine Organe, ist für die uns möglichen Sprachlaute, für die universalen, bei allen Menschen vorhandenen Merkmale unserer Sprache ausschlaggebend. Weiters muß man anmerken, daß sich zwar im Laufe der allgemeinen Reifung des Gehirns ein Sprachzentum in der dominanten Großhirnhälfte (meist links) ausbildet, aber zum Sprechen das Zusammenwirken verschiedener Hirnstrukturen unerläßlich ist.

Wie vollzieht sich nun der systematische Spracherwerb? Prinzipiell lassen sich folgende Stadien der Sprachentwicklung unterscheiden: Zwischen dem 4. und 5. Lebensmonat eines Kindes beginnt die Lallperiode. Nur bei taubgeborenen Kindern verliert sich die spontane Lautbildung wieder. Aber hörfähige Kinder bilden in spielerischen Lallmonologen immer vielfältigere Laute. Dies tun sie umso mehr, je mehr man mit ihnen spricht. Erwachsene und Geschwister gehen auf das Lallen ein, indem sie insbesondere solche Laute, die - zuerst zufällig - richtigen Wörtern ähneln, öfter wiederholen als sinnfreie Lallwörter. Im 10. Monat etwa wird das erste einfache Wort, ein Lallwort wie zum Beispiel Mama, genannt. Der Säugling ahmt die von seinem Zuhörer wiederholten Wörter wieder nach, denn es ist offenbar für ihn sehr befriedigend, das erfreute Lächeln im Gesicht über seinem Bett zu sehen. Es ist durchaus möglich, dieses erste Wortlernen auf Bekräftigung zurückzuführen, wie es die Behavioristen tun. Sie können damit den Erwerb eines Wortschatzes ganz gut erklären: Kinder lernen so, Reaktionen (Wörter) mit bestimmten Reizen (Gegenständen) zu verbinden. In weiteren Stadien werden Einwortsätze, später Zwei- und Mehrwortsätze gebildet. Die ersten deutschen Sprachentwicklungsforscher, Clara und William Stern, haben 1907 die ersten Wörter von Kindern als Sätze aufgefaßt, als Einwortsätze, die Befehls-, Affekt- und Wunschcharakter haben können. Solche Sätze sind aber nur aus dem Zusammenhang einer bestimmten Situation heraus verständlich, nicht für sich allein.

Die späteren Zweiwortsätze von Kindern weisen sogar Merkmale auf, die die Kinder von ihren erwachsenen Vorbildern nie gehört haben. Diese Sätze, beziehungsweise diese ersten Wortkombinationen haben eine eigene Grammatik, die sogenannte Angelpunkt-Grammatik. Man sagt, die Kinder sagen prinzipiell das Wichtigere zuerst. Meist handelt es sich jeweils um eine Kombination aus einem Funktionswort, auch Operator oder Pivotwort genannt, und einem sogenannten Inhaltswort. Die Funktionswörter gehören der geschlossenen Wortklasse wie Artikel, Präposition oder Hilfsverb an, während die individuell sehr variierten Inhaltswörter der offenen Wortklasse angehören (Nomen, Adjektiv, Verb,...). Beispiele für solche Zweiwortsätze aus englischen Studien von Miller und Ervin (1964) und Braine (1963) wären z.B.: more car, more sing; boot off, water off1.

Die Inhalte, die die Kinder mit diesen Wortkombinationen ausdrücken wollen, wurden von Bloom (1970) wie folgt definiert: 1. Vorhandensein: Die Kinder reden darüber, ob Objekte oder Personen vorhanden sind (there doggie, that car). 2. Nicht-Vorhandensein und Verschwinden: In Situationen, in denen gewöhnlich ein bestimmtes Objekt da, aber ein anderes Mal nicht da ist, sagen die Kinder so etwas wie no baby, no milk, no bus. 3. Wieder-Vorhandensein: Wenn ein Gegenstand verschwindet und dann wieder zum Vorschein kommt, oder ein ähnlicher Gegenstand auftaucht, dann kommentiert das Kind etwa so: more rabbit, another bubble2.

Weiters gibt es auch Zweiwortäußerungen, in denen sich nur Wörter der offenen Wortklasse kombinieren. Die Erwerbsreihenfolge grammatischer Strukturen ist bei allen Kindern recht ähnlich, bei der Schnelligkeit des Erwerbs dieser Strukturen zeigen sich jedoch beträchtliche Unterschiede. Kinder haben unterschiedliche Sprachentwicklungsraten. Beim Gebrauch von Verben sprechen Kinder zunächst über Handlungen, die Veränderungen und Bewegung im Raum involvieren, erst später über statische Zustände. Zur sprachlichen Flexion kommt es im Alter von etwa zweieinhalb Jahren. Über den Grammatikerwerb des Deutschen sind folgende Punkte festzuhalten3:

Zweiwortäußerungen:

1. Im Deutschen sind die gleichen semantischen Funktionen wie auch in anderen Sprachen vorhanden. 2. Die Endstellung des Verbs dominiert. 3. Einzelne Flexionsmorpheme sind vorhanden.

Drei- und Mehrwortäußerungen:

4. Das grammatische Geschlecht der Substantive wird schnell und fast fehlerlos erworben. 5. Der Erwerb der Kasusmarkierung verläuft langsam und mit vielen Fehlern. Nominativ und Akkusativ werden am häufigsten übergeneralisiert. 6. Der Erwerb der Verbkonjugationen verläuft sehr schnell. 7. Vergangenheits- und Zukunftsformen werden erworben. 8. Plural- und Vergangenheitsformen werden übergeneralisiert. 9. Die wesentliche Verbstellungsregeln des Deutschen werden erworben. 10. Verneinung und Frage werden formal korrekt markiert.

Komplexe Strukturen:

11. Satzgefüge mit verschiedenen Arten von Nebensätzen und das Passiv treten auf. Altersmäßig kann man sagen, daß Kindern zwischen 3 und 4 Jahren die wichtigsten syntaktischen Regeln geläufig sind. Was den Erwerb des Wortschatzes betrifft, verfügen Dreijährige bereits über ein Vokabular von 1000 Wörtern und mehr.

Wie schon erwähnt, spielt die Bezugsperson des Kindes, das die Sprache erwirbt, eine entscheidende Rolle. Wenn Kinder ihre Muttersprache erwerben, werden sie stets von ihrer Umwelt gelobt und motiviert. Eltern bessern nicht jeden Fehler aus. Worauf es ihnen ankommt ist, daß man ihr Kind versteht, das heißt, daß ihr Kind wahre Bedeutungsinhalte vermittelt. Man verbessert das Kind zunächst nur dann, wenn es Äußerungen macht, die nicht der Realität oder der Wahrheit entsprechen. Nach fehlerhaften Äußerungen produzieren Erwachsene häufiger Wiederholungen, die die korrekte grammatische Form geben, oder stellen klärende Nachfragen. Die Kinder imitieren daraufhin die korrigierenden Reformulierungen und es ist anzunehmen, daß Kinder korrigierende Reformulierungen zu Spracherwerbszwecken nutzen. Bei den Bezugspersonen unterscheidet man zwischen aufdringlichem und akzeptierendem maternalen Interaktionsstil4. Der akzeptierende Stil enthält viele Fragen, folgt dem Thema des Kindes und ist auf die Sache bezogen. Er ist - gekoppelt mit echtem Interesse an der Kommunikation mit dem Kind - stark förderlich für einen schnellen Fortschritt in der Sprachentwicklung und für die gesamte kognitive Entwicklung des Kindes. Im Gegensatz dazu ist der sogenannte aufdringliche maternale Interaktionsstil, der viele Direktiven gibt und das Verhalten des Kindes kommentiert, kontraproduktiv. Für ein kleines Kind ist das sogenannte emotionale Lernen von großer Bedeutung. Durch seinen stark emotionalisierten Zugang zur Muttersprache ist die konnotative Bedeutung eines Wortes oft viel wichtiger, als sie uns Erwachsenen zu sein scheint. Der Umwelteinfluß spielt etwa ab 1 1/2 Jahren eine Hauptrolle beim Spracherwerb. Besonders bis zum Alter von 5 Jahren werden die Weichen dafür gestellt, wie geschickt ein Kind oder ein Jugendlicher später einmal im Umgang mit der Sprache sein wird.

Die Erforschung des Erwerbs der Muttersprache hat entscheidend zur Entwicklung neuer Methoden im Fremdsprachenunterricht beigetragen. Unter einer Vielzahl an Methoden eine Fremdsprache zu unterrichten findet man auch den Ansatz des Zweit- oder Fremdsprachenerwerbs (Second Language Acquisition). Bei dieser Methode versucht man den Fremdsprachenunterricht nach den Regeln des Spracherwerbs durchzuführen. Die Schüler müssen der zu erlernenden Sprache so viel wie möglich ausgesetzt werden, damit sie die Sprache auch unbewußt "aufschnappen" können. Die Schüler sollten das Recht haben, im Anfangsunterricht

einige Wochen lang nur zuzuhören und erst später mit dem Sprechen beginnen zu dürfen. Der Input des Lehrers muß absolut verständliche Bedeutungsinhalte enthalten, denn man lernt nur Dinge, die man versteht. Und wie ich schon oben anmerkte, sollte man als Lehrer darauf verzichten, jeden grammatikalischen Fehler sofort auszubessern, solange der Schüler verständliche Bedeutungsinhalte vermitteln kann. Das Ziel im Spracherwerb ist es, sich richtig aber vor allem verständlich ausdrücken zu können. Deshalb sollte man auch im Fremdsprachenunterricht auf eine klare Aussprache achten.

3. Sprachstörungen

Sprachstörungen werden in Meyers Taschenlexikon (1995) als Abweichungen von den (alterstypischen) Normen der Sprache bzw. des Sprechens definiert. Gelegentlich werden Sprachfehler als Normvarianten ohne wesentliche Einschränkung der Mitteilungsfähigkeit der gravierenderen, langfristig behandlungsbedürftigen Sprachbehinderung gegenübergestellt. Die häufigsten Sprachstörungen sind Stammeln, bzw. Paralalie, Agrammatismus, Näseln (Rhinolalie), Stottern und Poltern:

Stammeln: Fehlerhafte Artikulation, bei der bestimmte Laute oder Lautverbindungen falsch gebildet (Dyslalie), durch andere ersetzt (Paralalie) oder ausgelassen werden (Mogilalie).

Häufigste Form des Stammelns ist die fehlerhafte Bildung des S-Lauts (Lispeln oder Sigmatismus), daneben auch des R-Lauts (Rhotazismus; vor allem Ersetzung durch /l, x, h/), des K- Lauts (Kappazismus; statt /k/ oder /g/ meist /t/ oder /d/) oder des L-Lauts (Lambdazismus; statt /l/ meist /r, j, n/). Ursachen sind anatomische Abweichungen der Sprechorgane, Schwerhörigkeit, psychische Störungen, geistige Behinderung, schlechte Sprachvorbilder. Als entwicklungsbedingtes Stadium tritt Stammeln im Kleinkindalter auf.

Agrammatismus: Unvermögen, beim Sprechen Wörter grammatikalisch richtig aneinanderzureihen. Krankhaft bei Hörstummheit, Schwachsinn oder Aphasie.

Rhinolalie: Näseln, Sprachstörung infolge funktioneller oder organischer Veränderungen im Bereich von Nase und Rachen.

Stottern: (Dysphemie). Mehrfache Unterbrechung des Redeflusses durch unkoordinierte Bewegungen der Atmungs-, Stimm-, und Artikulationsmuskulatur. Stottern ist die häufigste Sprachstörung im Kindesalter, etwa 1% der Kinder stottern. Gehäuft tritt Stottern im 3. und 4. Lebensjahr auf, wenn die Denkgeschwindigkeit schneller ist als die Entwicklung der Sprechfähigkeit. Nicht selten tritt Stottern verstärkt bei Anwesenheit bestimmter Personen oder unter Streß auf. Bei länger anhaltendem Stottern ist eine psychologische und logopädische Beratung bzw. Behandlung angebracht. Auf Grund der unterschiedlichen Lokalisation im Gehirn können Sprachverständnis und Sprechmotorik gesondert gestört sein, wie es beispielsweise bei der Aphasie der Fall ist: Hierbei handelt es sich um eine Sprechstörung infolge Schädigung des Großhirns im Bereich der dominanten Großhirnhälfte bei gleichzeitiger Unversehrtheit von Sprechorganen und Gehör.

Sprachstörungen lassen sich einteilen in Stimmstörungen (z.B. Heiserkeit bei Kehlkopferkrankungen), Sprechrhythmusstörungen, wo die Atmung wie beim Stottern unkoordiniert ist, und Artikulationsstörungen wie z.B. beim Stammeln. Die Ursachen von Sprechstörungen sind sehr verschiedener Art: Sie können auf neurologischen Schädigungen beruhen (Dysarthrie), auf Mißbildungen der Sprachwerkzeuge (Stammeln), Hörstörungen (z.B. Taubstummheit), frühkindlicher Gehirnschädigung, schwerem Schwachsinn oder schwerer sozialer Deprivation. Zu den Sprachstörungen zählen weiters die verzögerte Sprachentwicklung, die aber oftmals aufholbar ist und bedingt sein kann durch frühkindlichen Autismus oder Mutismus und schließlich Sprachstörungen bei seelischen Krankheiten (z.B. Sprechangst). Eine Reihe von Sprachbesonderheiten (z.B. Stammeln oder Schwierigkeiten beim Bilden grammatikalisch richtiger Sätze) treten auch beim normalen Spracherwerb auf und sind nur dann als abnorm zu werten, wenn sie über die übliche Altersstufen hinaus fortbestehen. Frühe Erkennung und sprachpädagogische, logopädische, medizinische oder psychotherapeutische Behandlung können häufig Spätschäden vermeiden bzw. mindern.

4. Beispiel elektiver Mutismus

Abgesehen von einer genetisch bedingten Mutismusform ("Neurotransmitter-Theorie"), ist Mutismus zunächst Stummheit bei vorhandener Sprechfähigkeit, als vollständige (zuweilen monate- oder jahrelange) Unterbrechung des Sprachkontakts, was man als totalen Mutismus bezeichnet. Beim elektiven Mutismus handelt es sich um eine Sprechverweigerung in bestimmten Situationen. Mutismus tritt bei psychischen Erkrankungen (Depressionen, Schizophrenie,

Hysterie) und neurotischer Fehlentwicklung des Kindes auf. Das Hauptmerkmal des elektiven Mutismus ist eine ständige Weigerung in nahezu allen sozialen Situationen zu sprechen, auch in der Schule, trotz der Fähigkeit, Gesprochenes zu verstehen und zu sprechen. Diese Kinder können sich durch Gesten mitteilen, indem sie nicken, den Kopf schütteln oder in anderen Fällen, durch einsilbige oder kurze monotone Äußerungen. Kinder mit dieser Störung haben im Allgemeinen normale sprachliche Fähigkeiten, obgleich bei einigen eine verzögerte Sprachentwicklung und Artikulationsanomalien vorliegen. Die Weigerung zu sprechen ist jedoch nicht auf Sprachinsuffizienz oder eine andere psychische Störung zurückzuführen. Der elektive Mutismus wird oft von Auffälligkeiten wie Konzentrations- und Leistungsstörungen, Trotzverhalten, Daumenlutschen, Nägelkauen und Ähnlichem begleitet. In manchen Fällen wird auch der Verdacht einer frühkindlichen Hirnschädigung aufrecht erhalten. Außerdem ist die durch den Abbruch verbalen Kontakts bedingte, sich immer mehr verstärkende soziale Behinderung (Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen) zu beobachten5.

Beim Syndrom elektiver Mutismus unterscheidet man zwischen Mutismus bei Psychosen, Mutismus bei hirnorganisch bedingten Störungen des Sprechantriebs und psychogenem Mutismus. Im Folgenden werde ich mich hauptsächlich auf die zuletzt genannte Art beziehen.

Psychogener Mutismus ist eine Störung, die psychologisch auflösbar und aus charakterologisch oder erlebnismäßig gegebenen Ursachen herzuleiten ist. Einerseits tritt dieser Mutismus wiederum elektiv auf, d.h. er wirkt sich nur einem bestimmten Personenkreis gegenüber aus oder er ist total und hat konsequentes Nichtsprechen gegenüber allen Personen zur Folge. Was sind nun die Charakteristika elektiv mutistischer Kinder? Bereits vor Manifestation der Störung werden die Kinder als kontaktempfindlich, scheu, ängstlich, eigensinnig und tyrannisch geschildert. KOLVIN & FUNDUDIS (1981) geben folgende Charakteristika an: Entwicklungsverzögerung, prämorbide Persönlichkeitszüge (Schüchternheit, soziales Rückzugsverhalten), eine höhere Quote von Verhaltensauffälligkeiten, niedrige Intelligenz und psychiatrische Auffälligkeiten in der Familie.

Häufigkeit, Geschlechterverteilung, Alter, Verlauf:

Der elektive Mutismus ist eine sehr seltene Störung und tritt im Allgemeinen bei Mädchen häufiger auf, was dem sonst im Kindesalter gültigen Verbreitungsmuster psychischer Störungen widerspricht. Am häufigsten zeigt sich ein Auftreten von elektivem Mutismus, wenn die Kinder die gewohnte häusliche Umgebung verlassen, das heißt, Kindergarten- oder Schuleintritt. Deshalb fallen die meisten Störungen in den Zeitraum zwischen 3. und 5. Lebensjahr. Nach dem 9. Lebensjahr ist ein Auftreten dieser Störung äußerst selten. Je nach Dauer der Störung unterscheidet man zwischen zwei Formen des elektiven Mutismus. Die erste Form ist der sogenannte vorübergehende Mutismus (transient), der speziell dann auftritt, wenn die Kinder das erste Mal zur Schule kommen. Dauert die Störung länger als sechs Monate, so spricht man von einer chronifizierter Störung, die sehr hartnäckig und deren Behandlung äußerst schwierig ist. Die Erfolgsquoten sind abhängig von den unterschiedlichen Mutismusformen äußerst different. Im Allgemeinen kann jedoch behauptet werden, daß die Prognose relativ gut ist. Lediglich bei Kindern, die bis zum 5. Lebensjahr noch keine Sprache entwickeln konnten, zeigen sich ungünstigere Prognosen. Oft beginnen ehemals mutistische Kinder in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter wieder zu sprechen.

Die Familien elektiv mutistischer Kinder sind meist in einem Punkt auffällig, dies kann sich sowohl in sprachlichen, psychischen oder Interaktionsproblemen manifestieren. Die Familiensituation gilt als wesentlicher Faktor für das Auftreten des Syndroms. Elternteile zeigen ernsthafte Aggression, Schüchternheit, haben Depressionen oder Neurosen. Weiters treten oft schwere eheliche Disharmonie oder bzw. und Persönlichkeitsprobleme auf. Väter und Mütter elektiv mutistischer Kinder befinden sich auch häufig in psychiatrischer Behandlung. Die Familien fallen durch abnorme Interaktionssysteme auf und meistens zeigt sich eine abnorme Mutter-Kind-Beziehung. Auf Grund von Überbehütung wird dem Kind wiederholt gesagt, daß es sich unter keinen Umständen mit fremden Erwachsenen unterhalten darf, was natürlich symptomverstärkend wirkt. Besonders negativ wirken sich auch Trennungserlebnisse vor dem 3. Lebensjahr aus. Besonders kraß ist die Situation bei Einwandererfamilien . Hier wird die für Mutisten typische Symbiose Mutter und Kind aufgrund mangelnden Beherrschens der Fremdsprache und dem Gefühl der Fremdheit noch verstärkt. Sprache: Oft hängt elektiver Mutismus mit verzögerter Sprachentwicklung zusammen. Die Hauptursache dieser verzögerten Sprachentwicklung wird aber hier keinesfalls im organischen Bereich vermutet, sondern vielmehr aufgrund einer Deprivation im sprachlichen Bereich. Defizite oder Fehlen sprachlicher Anregungen durch die unmittelbare Umgebung in einem bestimmten Entwicklungsabschnitt können zu gravierenden und teilweise irreversiblen Störungen der sprachlichen Fähigkeiten führen. Verzögerte Sprachentwicklung findet man vor allem bei Kindern aus entlegenen Gegenden mit wenig Zuwendung und sprachlicher Anregung. Eine Untersuchung (RÖSLER 1981) zeigt, daß 93% der elektiv mutistischen Kinder aus ländlichen Gegenden stammen sollen, in denen noch dazu starker Dialekt gesprochen wurde. Therapie: Heilpädagogisch empfiehlt man die Ausschaltung schädigender Umwelteinflüsse, eine langsame Gewöhnung an jedes ungewohnte Milieu und die Förderung des aktiven Sichdurchsetztens, sowie eine Nichtbeachtung der Sprechstörung.

Die therapeutische Einwirkung muß unbedingt auf mehreren Ebenen passieren. Es ist sowohl eine individuelle Therapie des Kindes als auch gezielte Einbeziehung von Eltern und Umwelt notwendig. Das Therapieangebot umfaßt neben Hypnose, Milieuveränderung, Sprachtherapie die am häufigsten angewandten Methoden der Psychotherapie, Verhaltenstherapie und Familientherapie.

5. Zusammenfassung und persönliche Stellungnahme

Der Spracherwerb beim Kind ist ein sehr vielschichtiger und schwieriger Prozeß. Das Baby ist der Muttersprache lange Zeit "nur" ausgesetzt, bevor es bereit ist, die ersten eigenen Wörter zu artikulieren. Auch die Erforschung des Spracherwerbs hat wieder einmal bewiesen, daß ein guter Kontakt zu mindestens einer Bezugsperson lebenswichtig für die Entwicklung, hier im Speziellen für eine normal verlaufende Sprachentwicklung, ist.

Eine Reihe von Sprachstörungen kann im Verlauf der Sprachentwicklung auftreten, mit irgendeiner vorübergehenden Sprachstörung, einer fehlerhaften Artikulation bestimmter Laute etwa, werden die meisten Kleinkinder und Eltern zu kämpfen haben. Nur wenn eine Sprachstörung über die jeweilige Entwicklungsstufe hinaus erhalten bleibt, oder überhaupt erst später auftritt, dann erst wird eine Sprachstörung zu einem ernstzunehmenden Problem. Sollte ein Schüler, der die AHS oder BHS besucht, beispielsweise stottern, ist es wichtig, daß man ihm Zeit gibt, sich langsam aber sicher auszudrücken. Der Lehrer sollte ihn nie drängen, denn wenn der "Stotterer" erst einmal unter Streß steht, wird es ganz sicher nicht zu einer klaren Äußerung kommen können. Ich denke, daß man ansonsten Sprachstörungen bei Schülern nicht weiter beachten sollte, soferne der betreffende Schüler mit dieser sprachlichen Behinderung zurechtkommt. Falls nötig, sollte man die Mitschüler darauf aufmerksam machen, das ein Nicht-Beachten der Sprachstörung kombiniert mit ein wenig Geduld der betreffenden Person gegenüber wahrscheinlich der beste Weg ist, das Problem zu mindern. Sollte man als Lehrer jedoch bemerken, daß eine Sprachstörung einem bestimmten Schüler schwer zu schaffen macht, ist es sicher ratsam, vielleicht nach Absprache mit Kollegen und Eltern, bzw. dem Schularzt, den Schüler zu einer Therapie zu bewegen.

Allgemein gesprochen sind Sprachstörungen nur ein Bruchteil von der Menge an Problemen, mit denen man im Schulalltag konfrontiert wird. Das Seminar hat sicher zu einer Bewußtwerdung der einzelnen Problemgebiete geführt. Es war sehr hilfreich über die verschiedensten Problematiken genaueres zu erfahren und Schule einmal mehr als Lebensraum als als bloße Bildungsstätte zu betrachten.

Anmerkungen:

1 Vgl. Szagun, G. (1996) S. 14

2 Vgl. Szagun, G. (1996) S. 18-19

3 Ebenda S. 41

4 Vgl. Szagun, G. (1996) S. 240

5 Vgl. Damisch, B. (1988) S. 82

6. Bibliographie

Damisch, B., Marothy, T. et al (1988). Elektiver Mutismus. In: P. Innerhofer, G. Weber et al. (Hrsg.), Psychische Auffälligkeiten und Probleme im Schulalter (S.80-94). Wien: Wiener Universitätsverlag.

Meyers Großes Taschen Lexikon. (1995). (5. Überarbeitete Aufl.). Mannheim; Leipzig; Wien; Zürich: BI-Taschenbuchverlag.

Popp, M. (1995). Einführung in die Grundbegriffe der Allgemeinen Psychologie (5. Aufl.). München: Ernst Reinhardt Verlag.

Szagun, G. (1996). Sprachentwicklung beim Kind (6. Überarbeitete Aufl.). Weinheim: Psychologie Verlags Union.

Wagner, I. (1983). Psychologie: Eine Einführung. Gütersloh: Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH/ Lexikothek Verlag GmbH.
 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis
 
 

8) Motivationspsychologie (Birgit Wolf)

 

 

I. Einleitung

Motiv und motivieren sind zwei Ausdrücke, die in unserer alltäglichen Sprache oft vorkommen. Motiv ist uns bekannt als dargestellter Gegenstand etwa auf einem Foto oder einem Bild, als kurze melodische Einheit in der Musik, oder auch als Grund für eine Handlung (vor allem im kriminellen Sinn). Demzufolge kann man eine Handlung motivieren, d.h. sie begründen, rechtfertigen. Im "herkömmlichen Sinn" verwendet man motivieren aber vor allem in der Bedeutung, jemanden aus seiner Lustlosigkeit zu reißen und ihn für etwas zu gewinnen, zu begeistern. In der so "motivierten" Person wirkt dann "Motivation", die sie vorantreibt und anspornt.

In einem allgemeinen Lexikon findet man unter Motiv im psychologischen Sinn die Erklärung "svw. Bestimmungsgrund des menschl. (und tier.) Verhaltens" und unter Motivation die Definition "die Summe jener Beweggründe, die bestimmten Verhaltensweisen oder Handlungen vorausgehen und sie leitend beeinflussen" (Brockhaus 1995, S 512).

Laut Heckhausen wird Motivation verwendet als "Sammelbezeichnung für Erklärungen von Wenn-Dann-Beziehungen, die vorauslaufende Bedingungen der Situation mit nachfolgendem Handeln verbinden". Motive sind hypothetische Konstrukte zur Erklärung individueller Unterschiede hinsichtlich Zielgerichtetheit, Intensität und Ausdauer des Handelns unter sonst gleichen Bedingungen. (vgl. Heckhausen 1980, 30)

So lautet also eine psychologisch-wissenschaftliche Definition von Motiv und Motivation, die, wenn auch gewisse Gemeinsamkeiten bestehen, vom alltäglichen Verständnis der Begriffe noch weiter wegführt als die allgemein-wissenschaftliche Definition. Doch sie ist auch nur eine von vielen möglichen Definitionen, da es in der Motivationspsychologie die verschiedensten Theorien gab und noch immer gibt. Im folgenden möchte ich einen kurzen Überblick über die wichtigsten dieser Theorien geben, die sich alle zum Ziel gesetzt haben, die Beweggründe menschlichen Verhaltens zu ergründen. Dabei werde ich eine Einteilung in Triebreduktionstheorien, Erwartungs-Wert-Theorien sowie kognitive Attributionstheorie vornehmen und im wesentlichen den Ausführungen Weiners folgen (Weiner 1976 und 1984). Abschließend möchte ich kurz die Motivationsförderung im Unterricht anschneiden.

II. Triebreduktionstheorien

2.1. Die psychoanalytische Theorie Freuds

Zwei Grundprinzipien der Freudschen Theorien sind Homöostase und Hedonismus. "Unter Homöostase versteht man die Tendenz zur Erhaltung eines relativ stabilen inneren Milieus; d.h. der Organismus ist bestrebt, in einem inneren Gleichgewicht zu verbleiben." (Weiner 1984, 17) "Der Hedonismus [...] behauptet, daß Lustgewinn und Glück die Hauptziele im Leben seien." (ebda. 19) Laut Freud sind im Menschen Triebe vorhanden, deren Intensität zunächst abnimmt, wenn sie befriedigt werden, dann aber wieder ansteigt. Im Unterschied zum Instinkt als "nichtgelerntes, fixes, stereotypes Verhaltensmuster" (ebda. 30) sind Triebe "Handlungspotentiale und werden als nichtgelernte 'Bedürfnisse' oder 'Impulse' betrachtet, die in die Struktur des Organismus eingebaut sind" (ebda. 31). Welches nun die Grundtriebe im Menschen sind, darüber war sich Freud selber nicht immer ganz schlüssig. Zunächst meinte er, es gäbe zwei Grundtriebe, nämlich den der Selbsterhaltung (Hunger) und den des Lustgewinns (Sexualität), später plädierte er dafür, daß es nur einen für die Selbst- und Arterhaltung zuständigen Grundtrieb gibt, und schließlich führte er als die zwei Haupttriebe den Lebens- und den Todestrieb an.

Der Mensch strebt danach, seine Triebe zu erfüllen bzw. sein Es, das Reservoir der gesamten psychischen Energie, strebt danach, unmittelbare Lust zu erreichen durch homöostatische Prozesse und Spannungsreduktion. Dafür gibt es laut Freud vier Motivationsmodelle, je nachdem, ob das kontrollierende Ich zwischen Triebreiz und Verhalten geschaltet wird (Sekundärmodell) oder nicht (Primärmodell), oder ob die Erfüllung des Triebs durch eine Handlung (primäres und sekundäres Handlungsmodell) oder durch einen gedanklichen Vorgang (primäres und sekundäres Denkmodell) erfolgt:
 
Handlung Denken 
Primärmodell Es - Handlung - Befriedigung

"Reflexbogen" 

Es - Objekt abwesend - Halluzination - Befriedigung

Phantasietätigkeit als Wunscherfüllung 

Sekundärmodell Es - Ich - Umweghandlung - 
Befriedigung

Ich verhindert unmittelbare 
Triebbefriedigung 

Es - Ich - Pläne - Befriedigung

Kognitionen helfen bei der Zielerreichung 

Freuds Modelle der Motivation (Weiner 1984, 25)

Anhand dieses einen grundlegenden Handlungsprinzip, das mit der Befriedigung sexueller und aggressiver Triebe zu tun hat, versucht Freud, eine Vielfalt von Verhaltensweisen und Phänomenen zu erklären.

2.2. Die Hull'sche Triebtheorie

Im Gegensatz dazu versucht Hull, "die wesentlichen Handlungsdeterminanten motivierten Verhaltens zu identifizieren und die mathematischen Beziehungen zwischen den motivationalen Faktoren zu spezifizieren" (Weiner 1984, 73)). In seinem rein mechanistischen Verhaltensmodell, das jeden Einfluß des Denkens auf das Handeln ablehnt, geht Hull davon aus, daß durch eine bestimmte Operation, etwa Entzug, im Menschen ein Bedürfnis oder starke interne Reize entstehen, die eine allgemein den Organismus energetisierenden Trieb erzeugen. Multiplikativ verbunden mit einer richtungsgebenden, erlernten Reiz-Reaktions-Verbindung, dem Habit, und einem entsprechenden Anreizwert kommt es zu einer bestimmten Handlung. Das läßt sich in der folgenden Formel darstellen:

Verhalten = Trieb x Habit x Anreiz

Anders gesagt, ein erlerntes Reiz-Reaktions-Schema (z.B. in Tierexperimenten das Drücken einer Taste zwecks Futterzufuhr) wird nur aktiviert, wenn auch der entsprechende Trieb vorhanden ist (die Tiere hungrig sind) und tatsächlich eine entsprechende Belohnung in Aussicht ist (genug Futter, das den Tieren auch schmeckt).

III. Erwartungs-Wert-Theorien

3.1. Kurt Lewins Feldtheorie

Lewins ahistorische Feldtheorie enthält noch viele der von Freud und Hull vertretenen Ideen der Spannungsreduktion. Doch diese Spannungsreduktion geht nicht "automatisch" vor sich, sondern es spielen auch kognitive Prozesse eine Rolle. Lewin geht davon aus, daß das Verhalten einer Person von dessen Feld abhängt, d.h. von einer bestimmten zu einem gegebenen Zeitpunkt wirkenden Beziehung oder Konstellation zwischen Person und (psychischer) Umwelt. (V = f (P,U))

In diesem Konzept ist der Mensch ein Punkt oder ein Bereich, der aus verschiedenen Bereichen besteht, die durch mehr oder weniger durchlässige Grenzwände getrennt sind, wobei benachbarte Bereiche ähnliche Bedürfnispotentiale darstellen. Entsteht in einem bestimmten Bereich eine Spannung, so kann, wenn sie nicht durch Erreichen des Ziels gleich wieder abgebaut wird, auch ein Teil der Spannung in benachbarte Bereiche fließen und so auch dort zu einem Bedürfnis führen, bzw. eine Befriedigung der Bedürfnisse in diesem Bereich auch die Spannung im ursprünglichen Bereich abbauen. Auch die Umwelt ist in Bereiche aufgegliedert, die in diesem Fall jedoch instrumentellen Handlungen entsprechen, die eine Person durchführen muß, um an ihr Ziel zu gelangen. Die Anzahl der für die Person zugänglichen Räume hängt von externen Verboten und persönlichen Grenzen (z.B. Fähigkeiten) ab.

Wie groß die Kraft ist, die eine Person zur Erreichung eines Zieles drängt, hängt von der Valenz des Zielobjekts (Va(Z)) ab, die eine Funktion der Spannung in der Person (s) und der Beschaffenheit des Zielobjekts (Z) darstellt, und von der relativen wahrgenommenen (psychologischen) Entfernung der Person vom Ziel (e):

Kraft [k] = f [Va(Z) / e] = (s, Z) / e

Erreicht die Person ihr Ziel, wird die Spannung in ihr abgebaut, das Zielobjekt verliert seine Valenz, die Handlung wird eingestellt. Ist eine Person in dem Konflikt, mehrere verschiedene Ziele vor sich zu haben, so entscheidet sie sich für das, von dem die größere positive Kraft ausgeht bzw. die kleinste negative Kraft.

3.2. Atkinsons Theorie der Leistungsmotivation

Als wichtige Vorläufer der Theorie der Leistungsmotivation sind zu nennen Henry Murray und David McClelland. Henry Murray hat in seiner Taxonomie zwanzig menschlicher Bedürfnisse auch das der Leistung behandelt und einen bis heute bedeutenden Persönlichkeitstest zur Messung von Bedürfniszuständen entwickelt (TAT = Thematische Apperzeptions-Test), in dem die Versuchspersonen zu ihnen vorgelegten Bildern die darauf dargestellte Handlung, die Gedanken der Personen, die Vorgeschichte und die mögliche Fortsetzung nennen müssen. David McClelland hat mit seinen Mitarbeitern die Leistungsmotivation systematisch weitererforscht anhand einer verbesserten Version des TAT.

1957 veröffentliche John Atkinson erstmals seine Theorie der Leistungsmotivation, die die Leistungsmotivationsforschung der nächsten zehn Jahre bestimmte. Atkinson meint, die Tendenz, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen (Erfolg anzustreben (Te) bzw. Mißerfolg zu meiden (Tm)), sei abhängig von einem relativ stabilen Persönlichkeitsmerkmal, dem Motiv (Motiv, Erfolg anzustreben (Me) bzw. Motiv, Mißerfolg zu meiden (Mm)), das anhand des TAT bzw. des TAQ (Test Anxiety Questionnaire), eines Angstfragebogens, festgestellt wird, von der Erwartung bestimmter Verhaltenskonsequenzen (subjektive Erfolgs- (We) bzw. Mißerfolgswahrscheinlichkeit (Wm)) und dem Anreizwert dieser Konsequenzen (Anreiz des Erfolgs (Ae) - Stolz - bzw. negativer Anreiz des Mißerfolgs (Am) - Scham). Die drei bestimmenden Komponenten werden dabei multiplikativ miteinander verknüpft:

Te = Me x We x Ae bzw. Tm = Mm x Wm x Am

Der Anreizwert des Erfolgs steigt mit sinkender Erfolgswahrscheinlichkeit (über die erfolgreiche Durchführung einer schwierigen Aufgabe wird mehr Stolz empfunden).

Ob eine Person sich nun einer Leistungsaufgabe zuwendet oder sie meidet (resultierende Tendenz (Tr)), hängt nun einerseits davon ab, ob die Summe von Te und Tm negativ oder positiv ist (Tr = Te + Tm), und außerdem von der Stärke sogenannter extrinsischer, von außen wirkender Motive (z.B. Belohnungen durch die Eltern, Wunsch nach guten Noten, Streben nach sozialem Anschluß,...):

Leistungsverhalten = Tr + extrinsische Motivation (Tex)

Atkinsons Theorie der Leistungsmotivation hat viele Erweiterungen und Revisionen erfahren, vor allem aber eine intensive Forschungsrichtung vorangetrieben, die als "kognitive Wende" bezeichnet wird.

3.3. Rotters Theorie des sozialen Lernens

Die sozialen Lerntheoretiker gehen davon aus, daß die wesentlichen Determinanten des Verhaltens erlernt sind und daß eine der wichtigsten Lernformen das Beobachtungslernen (an "Live-Modellen" oder symbolischen Modellen (Medien)) ist. Dabei reagieren Menschen aber nicht automatisch oder reflexhaft, durch pure Nachahmung, sondern sehr situationsspezifisch.

Rotters Theorie baut auf vier grundlegende Begriffe auf: Das Verhaltenspotential (VP) ist die Wahrscheinlichkeit, mit der ein gegebenes Verhalten in einer bestimmten Situation auftreten wird (ein Mann will auf einer Party eine Frau kennenlernen: spricht er sie direkt an? wartet er auf eine passende Gelegenheit? nimmt er an einem Gesellschaftsspiel teil, bei dem sie auch mitmacht?...); die Erwartung (E) wird definiert als "die vom Individuum vermutete Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmtes Verhalten in einer bestimmten Situation zu einer bestimmten Verstärkung führen wird" (der Mann glaubt, wenn er sich selbst vorstellt, empfindet die Frau das als unhöflich und weist ihn ab); die generalisierte Erwartung (GE) wird bestimmt durch Erfahrungen in einer ähnlichen Situation (der Mann erwartet, die Frau kennenlernen zu können, wenn er so handelt, wie er schon in anderen Situationen erfolgreich Bekanntschaften geschlossen hat); die Verstärkungserwartung in einer bestimmten Situation ist dann eine Funktion von E und GE (je neuartiger die Situation ist, umso wichtiger ist GE; hat der Mann schon viel Erfahrung in dieser spezifischen Situation (eine Frau auf einer Party kennenlernen), so wird GE das Verhalten nur wenig beeinflussen; der Verstärkungswert (VW) bezeichnet den subjektiven Wert, den eine Person einem Verstärker, gemäß ihren aktuellen Bedürfnissen, beimißt.

Daraus leitet sich folgende Formel ab:

VPx,s1,va = f (Ex,vas1 & VWa,s1)

"Das Potential eines Verhaltens x, das sich auf Verstärkung a bezieht, in Situation 1 aufzutreten, ist eine Funktion der Erwartung, daß die Verstärkung a dem Verhalten x in Situation 1 auch wirklich folgt, und eine Funktion des Wertes, den die Verstärkung a in der Situation 1 hat."

Erwartung und Wert werden dabei als voneinander unabhängig angesehen. Ihr jeweiliges Verhältnis zueinander ist jedoch von großer Bedeutung. So kann etwa eine niedrige Zielerwartung bei gleichzeitig hoher Bewertung des Ziels zu persönlichen Problemen und Verhaltensstörungen führen.

Aus Rotters Theorie haben sich mehrere Forschungsansätze entwickelt, die sich vor allem damit beschäftigen, welche Auswirkungen es auf den Menschen, seine Motivation, seine Erwartungsänderung hat, ob er Erfolg bzw. Mißerfolg als von seinem Handeln, seiner Kontrolle abhängig empfindet (internal kontrolliert) oder als zufallsabhängig bzw. von anderen abhängig (external kontrolliert), und mit der Wechselwirkung zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation.

IV. Eine kognitive Theorie - die Attributionstheorie

Attributionstheoretiker beschäftigen sich mit den wahrgenommenen Ursachen für das Eintreten eines bestimmten Ereignisses (die Betonung liegt auf wahrgenommen, im Gegensatz zu Lewins Ausgangspunkt von tatsächlichen Ursachen). Der Begründer der Attributionstheorie, Fritz Heider (Weiner hat dessen Theorie dann weiterentwickelt), geht davon aus, daß jedes Handlungsergebnis eine Funktion von (wahrgenommenen) Personenfaktoren ("Bemühen", multiplikativ verknüpft mit "Macht") und Umweltfaktoren (Umweltkraft) ist (Handlungsergebnis = f (Bemühen, Macht, wirksame Umweltkraft)). Laut Kelley, der eine Systematisierung von Faktoren vorgenommen hat danach, ob sie zu einer Kausalattribution auf Faktoren der Person oder Faktoren der Umwelt führen, ist zu dem Ergebnis gekommen, daß eher eine externale Attribution vorgenommen wird, wenn die Distinktheit einer Reaktion (in verschiedenen Situationen verschiedene Reaktionen), ihre Konsistenz (in dieser bestimmten Situation sind die Reaktionen der meisten Menschen so) und Konsequenz (in ein und derselben Situation reagiert eine Person immer gleich) gegeben sind.

Laut kognitivem Theorieansatz ist das Verhalten eine Funktion der Zielerwartung und der emotionalen Konsequenz der Zielerreichung. Es spielt nun eine große Rolle für die Bewertung eines Handlungsergebnisses und für zukünftige Erwartungen und Anreize (die zukünftige Handlungen bestimmen), auf welche Faktoren ein Mensch das Handlungsergebnis zurückführt. Vereinfacht dargestellt entscheiden (vor allem in einer Leistungssituation) vier Komponenten über Erfolg oder Mißerfolg. Diese lassen sich einerseits danach aufteilen, ob sie personenabhängig (internal) oder umweltbezogen (external) sind bzw. danach, ob sie mehr oder weniger stabil oder variabel sind:
 
Personabhängigkeit 
Stabilität internal external
stabil Begabung, Fähigkeit  Beschaffenheit der Aufgabe
variabel Anstrengung, Stimmung, Müdigkeit, Krankheit,...  Glück, Einfluß anderer Personen,... 

nach Weiner 1984, 270

Generell ist die Einschätzung der Begabung einer Person bedingt durch die Anzahl, den Prozentsatz und die Reihenfolge von Erfolgserfahrungen bei vorangegangenen Leistungen, unter Berücksichtigung der erlebten Schwierigkeit der versuchten Aufgaben. Die Aufgabenschwierigkeit ergibt sich entweder durch den sozialen Vergleich (subjektive Schwierigkeit) oder durch eine objektive Bewertung der Aufgabe. Der Hinweis auf die Glücksattribution liegt meist in der Aufgabe oder Situation selbst (Glücksspiel; zufälliges Ereignis). Auf Anstrengung läßt sich schließen durch das Leistungsergebnis oder wahrgenommene Körpersignale (Schweiß,...).

Doch im Leistungskontext lassen sich individuelle Unterschiede bei der Kausalattribuierung feststellen, bedingt durch die unterschiedliche Größe des Leistungsmotivs. Je nachdem, ob "Mißerfolgsängstliche" (niedrig Leistungsmotivierte) oder "Erfolgsorientierte" (hoch Leistungsmotivierte) ihre Leistungen einschätzen, nehmen sie unterschiedliche Attribuierungen vor. Die wichtigsten Tendenzen sind folgende:

Hoch Leistungsmotivierte schreiben Erfolge eher internalen Faktoren zu (was ihnen ein Gefühl des Stolzes, der Kompetenz und der Zuversicht gibt), Mißerfolge hingegen eher externalen Faktoren (wodurch wiederum die Hoffnung auf Erfolg und damit die Leistungsmotivation, intensives und ausdauerndes Leistungsverhalten andauert). Für sie stellt die Anstrengung eine wichtige Determinante des Leistungsergebnisses dar, weshalb sie sich auch anstrengen. Außerdem sind für sie Aufgaben mittlerer (subjektiver) Schwierigkeit am meisten motivationsfördernd, da gerade dort entsprechende Anstrengung nötig und zielführend ist (bei zu leichten oder zu schwierigen Aufgaben ist die Aufwendung von Anstrengung Verschwendung).

Niedrig Leistungsmotivierte hingegen empfinden Erfolg als vom Glück bedingt (weshalb sich die positiven Affekte des hoch Leistungsmotivierten kaum einstellen) und Mißerfolg als von mangelnder Fähigkeit bedingt (was zu Unzufriedenheit, Scham,.. führt). Sie glauben nicht an die Effektivität von Anstrengung, was dazu führen kann, daß sie in Zukunft ein wenig intensives Leistungsverhalten zeigen und Anstrengung überhaupt vermeiden.

V. Motivationsfördernder Unterricht

Wie man sieht, befinden sich solche Mißerfolgsorientierte in einem Teufelskreis, der es ihnen fast unmöglich macht, ihre Leistungen zu verbessern. Um ihnen zu helfen, muß man sie dazu bringen, ihr Leistungsmotiv zu verändern. Das Leistungsmotiv hängt jedoch nicht nur zusammen mit der Ursachenerklärung für Erfolg und Mißerfolg (Attribution), sondern auch mit individuellen Zielsetzungen (Anspruchsniveau) und dem Bewertungsmaßstab der eigenen Leistung (soziale - d.h. an der Leistung der anderen gemessene - vs. individuelle - an der eigenen Leistungsentwicklung gemessene - Bezugsnorm-Orientierung) (vlg. Weßling-Lünnemann 1985, 8).

Motivänderungsprogramme für Schüler zielen daher darauf ab, daß die Schüler lernen, sich selbst realistische Ziele zu setzen, Erfolg oder Mißerfolg nicht an der Leistung der anderen messen, sondern an ihrem eigenen Fortschritt, und daß sie eine angemessene Attribuierung vornehmen. Dazu müssen natürlich auch die Lehrer ihren Teil beitragen und ihre Wertungen und ihr Verhalten umstellen. Sie sollten etwa eine individuelle Bezugsnormorientierung verwirklichen, differenzierte Aufgabenstellungen geben, die Schüler selbst entsprechende Aufgabenschwierigkeiten wählen lassen, (Miß-)Erfolge der Schüler auf (mangelnde) Anstrengung attribuieren,... Im Anhang befinden sich Tabellen mit konkreteren Angaben zu sozialer vs. individueller Bezugsnormorientierung und zu motivationsförderndem vs. motivationshemmendem Lehrerverhalten.

VI. Zusammenfassung

Die Motivationspsychologie ist ein sehr weites und vielfältiges Feld, das sich keinesfalls auf so engem Raum zufriedenstellend darstellen läßt. So war auch in dieser Arbeit nur eine sehr grobe und übersichtsmäßige Darstellung der wichtigsten Theorien in der Entwicklung der Motivationspsychologie möglich.

Die psychoanalytische Theorie von Freud und die Hullsche Triebtheorie, die lange Zeit eine dominierende Stellung in der Motivationsforschung eingenommen haben, sind zwar sehr verschieden, gehen aber beide von Spannungs- oder Bedürfnisreduktion als grundlegendem Handlungsprinzip aus.

Unter den sogenannten Erwartungs-Wert-Theorien, die einen Übergang zwischen mechanistischer und kognitiver Theorie darstellen, sind vor allem die Feldtheorie Lewins, Atkinsons Theorie der Leistungsmotivation und Rotters Theorie des sozialen Lernens zu nennen. In ihnen ist Verhalten eine Funktion der Zielerwartung und des Anreizwerts des Zieles.

Gemeinsamkeiten zwischen der Hull'schen Theorie und der Theorie Lewins sind, daß jeweils ein motivationaler Zustand der Person (Trieb/Spannung), der Anreizwert des Ziels (Anreiz/ Attraktivität des Zielobjekts), und eine Richtungs- bzw. Steuervariable (Habit/psychologische Distanz) bestimmend für das Verhalten sind.

Bei der Leistungsmotivation bestimmen Erfolgserwartung und Anreizwert des Erfolgs, für welche von mehreren leistungsbezogenen Tätigkeiten sich eine Person entscheidet und wie sehr sie sich bei der Leistungsaufgabe anstrengt.

Die Attributionstheorie als kognitive Theorie interessieren vorwiegend die wahrgenommenen Ursachen von Ergebnissen menschlichen Handelns, vor allem in leistungsbezogenen Kontexten. Kausalattribution beeinflußt Emotion und Erwartung und trägt daher wesentlich zur Aufgabenwahl und der Intensität und Dauer des Leistungsverhaltens bei.

Angemessene Attribuierung, realistische Zielsetzung und individuelle Bezugsnormorientierung sind die wesentlichen Faktoren für Leistungsmotivation. Im Schulbetrieb liegt es nun ganz wesentlich am Lehrer, die Schüler durch entsprechende Gestaltung des Unterrichts, Äußerungen, Benotung, etc. zu einer positiven Leistungsmotivation und bestmöglichen Leistungen zu führen. Und das ist sicherlich eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, zu der nicht nur das theoretische Wissen um motivationsfördernde oder -hemmende Faktoren gehört, sondern viel guter Wille, Optimismus und die Bereitschaft, auf die Schüler einzugehen sowie seine eigenen Bewertungen immer wieder neu zu hinterfragen.

VII. Bibliographie

F.A. Brockhaus (Hrsg.). (1995). Der Brockhaus in drei Bänden. (Bd. 2). Leipzig-Mannheim: Brockhaus.

Heckhausen, Heinz. (1980). Motivation und Handeln. Lehrbuch der Motivationspsychologie. Berlin, Heidelberg, New York: Springer

Rheinberg, Falko, und Siegbert Krug. (1993). Motivationsförderung im Schulalltag. Göttingen: Verlag für Psychologie.

Rotter, J.B., Chance, J.E., & Phares, E.J.. An introduction to social learning theory. In: J.B. Rotter, JE. Chance, & E.J. Phares (Eds.). (1972). Applications of a social learning theory of personality. New York: Halt, Rinehart, & Winston. [zitiert nach Weiner 1984]

Rotter, J.B. (1954). Social learning and clinical psychology. Englewood Cliffs, N.J.: Prentice-Hall. [zitiert nach Weiner, 1984]

Weiner, Bernard. (1976). Theorien der Motivation. Stuttgart: Klett.

Weiner, Bernard. (1984). Motivationspsychologie. Weinheim und Basel: Beltz.

Weßling-Lünnemann, Gerburgis. (1985). Motivationsförderung im Unterricht. Göttingen: Verlag für Psychologie.
 
 
 
 

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9) Kreativität (Elisabeth Breier)

Was ist Kreativität?

"Kreativ sein" ist heute ein sehr häufig gebrauchtes Schlagwort. Man richtet die Wohnung kreativ ein, man gestaltet das Blumenbeet kreativ, man führt ein kreatives Gespräch, man macht einen Kreativurlaub usw. Jeder will kreativ sein, aber was heißt das eigentlich: "kreativ sein"?

Im Duden für sinn- und sachverwandte Wörter findet man:

unter "kreativ" den Verweis zu "schöpferisch", und unter "schöpferisch": kreativ, gestalterisch, künstlerisch, einfallsreich, phantasievoll, originell, produktiv, bahnbrechend, kunstvoll, richtungsweisend, selbständig,

schöpferisch sein = die ausgetretenen Pfade verlassen, - Außenseiter, Genie.

Im Grimmschen Wörterbuch findet man:

unter "schöpferisch": einem Schöpfer gemäß, fähig zu schaffen. Schöpferischer Geist und ähnl. schöpferische Kraft, Trieb u. ähnl.

Im Duden für Zitate und Aussprüche findet man:

unter "Kreativität": "Wer zu spät an die Kosten denkt, ruiniert sein Unternehmen. Wer immer zu früh an die Kosten denkt, tötet die Kreativität." von Philip Rosenthal (*1916) dt. Politiker und Industrieller.

und: "Ganz neue Zusammenhänge entdeckt nicht das Auge, das über ein Werkstück gebeugt ist, sondern das Auge, das in Muße den Horizont absucht." Carl Friedrich von Weizsäcker, Geschichte.

(Carl Friedrich Freiherr von, * Kiel 28. Juni 1912, Physiker und Philosoph)

Stellen wir uns eine Person vor, die erst mit 4 Jahren sprechen gelernt hat, mit 7 Jahren noch nicht lesen konnte, im Gymnasium Probleme hatte, die Aufnahmeprüfung für die UNI beim ersten Versuch nicht schaffte, nach Beendigung des Studiums auf der UNI keinen Job bekommen hat, dann nach längerem Suchen eine Beamtenstelle annehmen mußte.

Würde man diese Person für kreativ halten? Wahrscheinlich nicht. Es handelt sich aber um eine der schöpferischten Personen, die unserer Gesellschaft bekannt ist, nämlich um Albert Einstein.

Es stellt sich somit die Frage, welche Eigenschaften, Merkmale, Fähigkeiten braucht ein Mensch, um kreativ sein zu können? Woran kann man erkennen, daß es sich um einen kreativen Menschen handelt? Psychologen haben Testverfahren entwickelt, um Kreativität - so wie Intelligenz - zu untersuchen und zu messen, und sie zur Intelligenz in Verbindung zu setzen.

Was sagt uns die Psychologie zur Kreativität?

Die üblichste Definition von Kreativität lautet, sie sei das Auftreten ungewöhnlicher oder ungebräuchlicher, aber angemessener Reaktionen. Diese Annahme liegt den meisten Tests zugrunde, die zur Erfassung der Kreativität entwickelt wurden. Es gilt als selbstverständlich, daß Originalität ein Hauptfaktor der Kreativität ist. Hingegen wird die Bedeutung der Angemessenheit des Handelns nicht immer erkannt. Die Angemessenheit liefert jedoch das Kriterium, das zwischen kreativen und unsinnigen Handlungen unterscheidet.

Die Psychologie hat Merkmale beschrieben, die bei Kreativität - als kreativen Prozeß gesehen- auftreten:

- eine gesteigerte Sensibilität für Gegebenheiten, die andere Menschen gewöhnlich nicht bemerken,

- die Fähigkeit, Verbindungen zu knüpfen, die Beobachtungen oder Vorstellungen auf neue Weise zusammenbringen,

- die Fähigkeit, nonverbale Bilder räumlicher oder visueller Art zu erstellen.

Wenn Psychologen die Kreativität des "Durchschnittsmenschen" messen, besteht ihr Ziel darin, zu bestimmen, wie kreativ ein Einzelner im Vergleich zu einer Normpopulation ähnlicher Menschen ist.

Die Tests sind so aufgebaut, daß die Fähigkeit, ungewöhnliche, aber angemessene Antworten auf Standardfragen zu finden, untersucht wird. (Z. B. Wieviele Verwendungsmöglichkeiten fallen Ihnen für eine Zeitung ein?")

Natürlich ist es sehr schwierig, Kreativität zu bewerten und auch, sie in einen Zusammenhang mit Intelligenz zu setzen. Wie wird das versucht?

Die meisten Intelligenztests sind so aufgebaut, daß es für die Frage eine klar umrissene, allgemein akzeptierte Antwort gibt.

Psychologen haben festgestellt:

Kreativität und Intelligenz stehen in einem nicht ganz einfachen Zusammenhang. Bis zu einem gewissen Intelligenzniveau (IQ von ungefähr 110) ist die Korrelation zwischen Intelligenz und Kreativität hoch, auf höherem Intelligenzniveau gibt es eine geringe oder gar keine Korrelation. Ein Mensch mit äußerst hoher Intelligenz (sagen wir 140) ist oft nicht sehr kreativ, jemand mit niedrigerer Intelligenz (etwa 115) kann dagegen sehr kreativ sein. Ein bestimmtes Ausmaß an Intelligenz ist also notwendig, damit jemand sehr kreativ ist, aber hohe Intelligenz garantiert keine Kreativität.

Intelligenz garantiert nicht Kreativität!

Man glaubt, daß man auch Umgebungsfaktoren wie die soziale oder physikalische Umgebung untersuchen müßte, da man annimmt, kreative Menschen brauchen eine spezielle Umgebung, um kreativ sein zu können. Auch die genaue Untersuchung der Persönlichkeitsfaktoren - denn kreative Personen haben wahrscheinlich einzigartige Persönlichkeitscharakteristika - wird aufschlußreich sein. Psychologen fangen gerade erst an, den Beitrag dieser Faktoren auf den Kreativitätsprozeß zu untersuchen.

Kann man Kreativität lernen?

An einigen Universitäten der USA werden spezielle Seminare angeboten, in denen Problemlösefähigkeit und auch Kreativität erhöht werden soll. Es wurden Techniken ausgearbeitet, die natürlich eine gewisse Hilfe bei der Suche nach Problemlösungen bieten können.

Zum Beispiel:

...sollten Sie über die vermeintlichen Grenzen hinausschauen- fragen Sie sich, welche Beschränkungen Sie dem Problem auferlegen und sehen Sie, ob manche dieser Beschränkungen beseitigt werden können.

...sollten Sie Ihren Sichtwinkel der Aufgabe verändern. Versuchen Sie, Elemente in verschiedenen Beziehungen zueinander zu sehen.

...wenn das Denken in Worten nicht hilft, versuchen Sie es mit Bildern oder Skizzen des Problems.

...sollten Sie versuchen, durch Analogien auf eine Lösung zu kommen. Denken Sie darüber nach, wie etwas in einem Ihnen gut bekannten Gebiet funktioniert, und halten Sie nach Parallelen zu Ihrem Problem Ausschau.

...sollten Sie gut Buch führen. Schreiben Sie auf, was Sie getan haben und wie Sie es getan haben. Benutzen Sie Papier und Bleistift, um Ihr Gedächtnis zu unterstützen und zu verhindern, daß Ihr Informationsverarbeitungssystem überlastet wird.

...sollten Sie sich nicht an einer Strategie festbeißen. Wenn eine Strategie erfolglos bleibt, suchen Sie nach Alternativen.

...sollten Sie sich nicht vor alternativen und ungewöhnlichen Möglichkeiten bei schwierigen Problemen verschließen.

...sollten Sie sich versichern, daß Sie richtig vorbereitet sind, holen Sie alle Informationen ein, die Sie benötigen.

...sollten Sie für einige Zeit unterbrechen, wenn sonst gar nichts hilft (Inkubationsphase).

Dahinter steht die Idee, daß Problemlösen durch gewohnheits- und routinemäßige Verhaltensweisen gekennzeichnet ist, die in der Vergangenheit erfolgreich waren. Um etwas zu erreichen, das wirklich originell oder kreativ ist, muß man über Gewohnheit und Routine hinausblicken und neue Denkansätze zulassen. Die meisten der obigen Vorschläge sind dafür gedacht, diese neuartigen Denkweisen zu wecken.

Eine bekannte Technik, Hindernisse zu beheben, ist das Brainstorming. Dabei werden die Personen einer Gruppe aufgefordert, alle ihre Ideen zur Lösung eines Problems zu nennen, ohne sich über die Brauchbarkeit der Idee Gedanken zu machen. Jedes Individuum in der Gruppe stimuliert die anderen und stößt dabei manchmal auf eine wirklich kreative Idee. Damit das Brainstorming auch klappt, müssen die Gruppenmitglieder gewillt sein, sehr ausgefallene Ideen zu äußern und zu hören.

Kreativität in der Praxis

Dazu das Beispiel SANTA FE INSTITUTE:

Santa Fe ist eine kleine Stadt mit zirka 50 000 Einwohner im Staate New Mexiko im Süden der USA. Sie ist rund 80 km von Los Alamos, dem wissenschaftlichen Zentrum, an dem die Atombombe entwickelt wurde, entfernt. Los Alamos ist jetzt ein riesiges Forschungszentrum, das viele verschiedene Bereiche erfaßt.

Kreativität in der Wissenschaft:

Das Santa Fe Institut befindet sich in einer der schönsten Gegenden der USA. Es wurde aus privaten Mitteln gegründet, um die Theorie und Anwendung komplexer Systeme in allen Bereichen der Wissenschaft zu erforschen. Die Gründung des Instituts erfolgte durch einen amerik. Ölmilliardär. Jetzt wird es von verschiedenen Geldgebern für Forschungsprojekte zusätzlich unterstützt.

Komplexe Systeme: Das Studium komplexer Systeme wurde initiiert von Forschern des nationalen meteorologischen Instituts der USA, die aufgrund von Modellen zur Wettervorhersage auf die prinzipielle Nichtvorhersagbarkeit des Wetters über längere Zeiträume stießen. Das war die Geburt des Studiums komplexer Systeme und damit untrennbar mit der Chaostheorie verbunden. Die zugrundeliegenden mathematischen Formeln treten im Wettergeschehen genauso auf wie bei Schwankungen der Hormonkonzentrationen im Blut, in ökologischen Modellen sowie im Aussterben alter Kulturen. Komplexe Systeme sind gekennzeichnet durch einen "Selbstverstärkereffekt". So kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien das Wetter 2 Monate nachher in Wien beeinflussen, - "Butterflyeffekt".

Ziel war, den Wissenschaftlern eine "kreative Spielwiese" zur Verfügung zu stellen, so daß stressfrei und interdisziplinär neue Lösungsansätze gefunden werden können. Das Institut beherbergt etwa 10 Wissenschaftler, die fix angestellt sind. Zu dieser Grundmannschaft kommen etwa 40-60 meist junge Wissenschaftler von so divergierenden Disziplinen wie Medizin, Geschichte, Physik, Literaturwissenschaft, Computerwissenschaften, Jus, Chemie, Ökonomie, Biologie, Mathematik, Philosophie, Psychologie u.a. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer dieser Forscher beträgt etwa 2-3 Jahre. In dieser Zeit erhalten sie ein sehr gutes Gehalt und haben völlige Forschungsfreiheit. Die Resultate dieser Forschungsaufenthalte in dieser stimulierenden Atmosphäre sind sehr gut. Zusätzlich zu den vorher Genannten kommen immer wieder für einige Monate eine ausgesuchte Schar an führenden Wissenschaftlern ihres Fachgebietes, darunter viele Nobelpreisträger (z.B. Murray Gelman - Physik: Entdecker der Quarks, Manfred Eigen - Chemie). Die sehr entspannte Atmosphäre - so werden alle "Bewohner" ausschließlich mit dem Vornamen angesprochen, die Kleidung ist leger - ermöglicht die intensive Zusammenarbeit zwischen Etablierten und Jungen, sowie zw. den unterschiedlichsten Wissensbereichen. Zusätzlich finden täglich Gastvorträge von speziell dazu eingeladenen Wissenschaftlern statt. Dadurch kommt es zur Ausbildung von immer neuen Arbeitsgruppen und zu einem interdisziplinären Arbeitsstil.

Konkreter Ablauf eines kreativen Prozesses: Bei den täglichen Vorträgen ist es dem Vortragenden völlig frei gestellt, was er dem Publikum, das sich aus den verschiedensten Disziplinen zusammensetzt, erzählt, - eben das, was er für interessant hält. Mag es auch für manche im ersten Moment sehr eigenartig erscheinen. Das Besondere daran ist, daß alle Zuhörer bereit sind, es anzuhören, sich dafür zu interessieren, sich damit gedanklich auseinanderzusetzen, - und es eben nicht vorschnell abzulehnen. Anschließend findet eine Diskussion statt. Jeder bringt seinen Beitrag ein, auch wenn es zuerst als Nonsens erscheint, - aus seiner eigenen Sicht. Jeder Beitrag wird ernst genommen, egal ob er von einem Dissertanten oder von einem Nobelpreisträger kommt. Man geht miteinander essen oder spazieren, redet, und es ergibt sich häufig, daß dann Forschungsprojekte gestartet werden. Es finden sich neue interdisziplinäre Forschungsgruppen zusammen. Wenn jeder wieder in seinem Land ist, läuft die Kommunikation über die modernsten technischen Kommunikationsmittel wie das Internet ab.

Wie kann ein kreativer Prozeß begünstigt werden?

Der Psychologe Heinz Heckhausen (Direktor des Max Planck Institutes f. Psychologische Forschung in München) hat vier goldene Regeln aufgestellt, die geeignet sind, kreative Prozesse zu begünstigen:

1. Regel: Ist Dir das Umfeld des Problems noch nicht voll vertraut, sauge Dich voll damit, bis es wie ein Stück von Dir selbst ist.

2. Regel: Streichle Dein Problem von Zeit zu Zeit; laß es groß, schön und wichtig werden, damit Dir an seiner Lösung, so lange sie sich auch hinausziehen mag, viel gelegen ist.

3. Regel: Gib Dich Tätigkeiten hin, die aus lockerer Gespanntheit bestehen, aber die Abwesenheit Deines Geistes vertragen. In diesem Zustand laß das Problem in Dir weiter arbeiten.

4. Regel: Nimm alles, was Dir einfällt oder auffällt, gastfreundlich auf; sei neugierig darauf, was es auf den Plan ruft und womit es sich verbindet.

Ergebnisse in der Kreativitätsforschung

Der Literaturwissenschaftler Siegfried J. Schmidt faßt die Ergebnisse der Kreativitätsforschung, die am Konzept der Kreativität bislang Produkte, Prozesse und Komponenten zu unterscheiden und zu kennzeichnen versucht hat, wie folgt zusammen:

Die wichtigsten Hypothesen:

Kreative Personen müssen intelligent sein, damit sich Kreativität entfalten kann. Sie verfügen über produktives (und zwar konvergentes wie divergentes) Denken. Man schreibt ihnen Flexibilität, Originalität und Flüssigkeit zu. Sie sind fähig, Rudimentäres bzw. Fragmentarisches zu vervollständigen, Einheiten zu redefinieren, Strukturgleichheiten in verschiedenen Bereichen zu erkennen. Kreative Personen können feldunabhängig denken, sie beherrschen Perspektivenwechsel und sind problemsensibel, sie besitzen Antizipationsvermögen und verstehen sich auf die Kunst, etwas zu finden, was sie nicht gesucht haben (sog. Serendipidität). Die Fähigkeit zu Irrtumsintegration, Hochschätzung von Komplexität, Erfahrungsbereitschaft, selbst mit mystischen Erfahrungsformen, sowie hypothetisches Bewußtsein zeichnen sie nach kreativitätstheoretischer Ansicht ebenso aus wie Kritikfähigkeit, Konstruktivität, Reflexivität und ein entwickeltes Assoziations- bzw. Bisoziationsvermögen (i. S. von A. Koestler, 1981, 135).

Im Emotions- und Motivationsbereich bescheinigen Kreativitätstheoretiker kreativen Personen ein hohes Aktivitätsniveau, Neugier, Aufgabenorientiertheit und Erfolgsmotiviertheit, die gepaart ist mit Gelassenheit, Geduld, Gleichgültigkeit, hoher Frustrationstoleranz, Elastizität und einem klaren Selbstkonzept. Ich-Stärke und Angst sind in kreativen Persönlichkeiten produktiv miteinander verbunden. Kreative können Erfahrungen assimilieren; sie stellen Regression in den Dienst des Ich und sind in der Lage, die Prinzipien kreativen Denkens auf dieses Selbst anzuwenden. In der neueren Kreativitätsforschung dominiert die Auffassung, daß " ...im emotionalen Bereich nicht einzelne Merkmale entscheidend sind, sondern eine kreativitätsspezifische Spannung durch konträre Merkmalskombinationen sowie eine Polarität der Motivationsstruktur" (Wermke, 1986, 75).

Kreative Personen gelten als nonkonformistische Außenseiter, die ein hohes Maß an sozialer Unabhängigkeit und zugleich ein hohes Verantwortungsgefühl realisieren; sie sind zugleich egozentrisch und altruistisch, schwer sozialisierbar und ethisch. Wie Wermke (im Rückgriff auf N. Groeben) betont, besteht der kreativitätsspezifische Aspekt von Konstruktion in ihrer Potentialität, " ...also darin, daß ihre eigene Überholbarkeit unter veränderten Bedingungen, unter Einbeziehung neuer Erkenntnisse für sie konstitutiv ist" (a.a.O., 88)

Wermke weist zu Recht darauf hin, daß Kreativität nicht lehrbar, wohl aber lernbar ist. In diesem Zusammenhang spielt die soziale Umwelt eine besondere Rolle. In ihr entscheidet sich jeweils, ob kreatives Verhalten zugelassen, belohnt oder unterdrückt wird: ...

Rahmenbedingungen einer kreativitätsbegünstigenden Umwelt sind nach Wermke u.a.:

- eine nicht zu starke emotionale Bindung an die Eltern

- eine nicht zu weitgehende Identifikation mit Erziehern

- im kognitiven Bereich ein differenziertes "Nicht-Geben", das zwischen Verweigern, Offenhalten und Ermöglichen das jeweils günstigste Maß findet

- eine Atmosphäre, die Freiheit und Sicherheit miteinander verbindet

- Toleranz und Offenheit für divergente Problemlösungen

- Ermöglichen selbsttätigen und selbstinitiierten Lernens

- eine spannungsreiche Umwelt, in der die Befähigung zur Selbstförderung ausgebildet wird

- Anleitung zur Reflexion auf das eigene Verhalten.

Neue Wege in der Erforschung kreativer Prozesse

Der amerikanische Psychologe Howard Gardner, Autor des Buches "So genial wie Einstein. Schlüssel zum kreativen Denken" schreibt im Vorwort, daß er mit dem Buch neue Wege in der Erforschung kreativer Prozesse einschlägt.

Howard Gardner entdeckte in seiner Collegezeit Arbeiten des Schweizer Psychologen Jean Piaget und wandte sich der Entwicklungspsychologie in einem Zweitstudium zu.

25 Jahre lang hat H. Gardner im Rahmen von Project Zero an der Harvard-Universität die geistige Entwicklung normal - und hochbegabter Kinder sowie den Zusammenbruch von Fähigkeiten und Talenten als Folge von Gehirnverletzungen untersucht. Konkret gesagt, wurde untersucht, wie aus Kindern Musiker, Dichter oder Maler werden und warum die meisten es nicht werden und wie die künstlerischen Fähigkeiten zur Reife kommen.

Da in unserer Gesellschaft die Begriffe Kunst und Kreativität eng miteinander verknüpft sind, kann man diese jahrzehntelange Tätigkeit Gardners als "Kreativitätsforschung" angesehen. Obwohl diese Assoziation unbegründet ist - wie Gardner schreibt -, da man in jedem Lebensbereich kreativ arbeiten kann.

Die Beschäftigung mit Kindern und hirngeschädigten Erwachsenen hatte H. Gardner davon überzeugt, daß das menschliche Erkenntnisvermögen vielfältig angelegt ist und sich am besten als Ensemble relativ autonomer Fähigkeiten beschreiben läßt, die H. Gardner als unterschiedliche "menschliche Intelligenzen" bezeichnet hat. Die Darstellung dieser Theorie wurde 1983 mit dem Buch "Frames of Mind" (dt. Abschied vom IQ) veröffentlicht. Der Schluß daraus war für Gardner: wenn Intelligenz mehrfach zu deuten war, galt das umso mehr für die Kreativität.

Ziel der Untersuchungen war, die schöpferische Arbeit des Menschen zu verstehen.

Untersucht wurden 7 außergewöhnliche Menschen von unterschiedlichen Intelligenzen. Jede dieser Persönlichkeiten hat einen oder mehrere kulturelle Bereiche bleibend geprägt:

- Sigmund Freud, linguistische, personale und logische Intelligenz,

- Pablo Picasso, räumliche, personale und körperliche Intelligenz,

- Albert Einstein, logisch-räumliche Intelligenz,

- Igor Strawinsky, musikalische Intelligenz,

- T.S. Eliot, sprachliche, wissenschaftliche Intelligenz,

- Martha Graham, körperliche und sprachliche Intelligenz,

- Mahatma Gandhi, personale und sprachliche Intelligenz

Im Mittelpunkt der Untersuchung stand, zu einem Begriff von Kreativität zu kommen. Der systematische Ansatz war entwicklungsgeschichtlich, so wurde das Verhältnis Kindheit-Reifezeit untersucht, die Entwicklungsphasen des gesamten Lebensablaufs sowie die einzelnen Etappen, die einen Durchbruch kennzeichnen. Gardner geht von einer andauernden dialektischen Beziehung zwischen der begabten Persönlichkeit, der Domäne seines Faches und dem Feld, das die Urteilsinstanzen stellt, aus.

Es wurde bei den 7 Personen nach allgemeinen Kriterien gesucht, die auf alle (oder die meisten) anwendbar waren.

H. Gardner ist verblüfft über das Maß der Gemeinsamkeiten bei so verschiedenen Personen und Domänen.

H. Gardner hat ein hypothetisches Portrait eines kreativen Menschen, der auf den Spitznamen E.C. (=Exemplary Creator) getauft wurde, entworfen:

E.C. stammt aus einer Region, die von den kulturellen und politischen Machtzentren ihrer Gesellschaft zwar entfernt ist, doch nicht so weit, daß sie und ihre Familie jede Kenntnis des aktuellen Geschehens entbehren müßten. Die Familie ist weder vermögend, noch nagt sie am Hungertuch, und in materieller Hinsicht lebt die junge E.C. ziemlich komfortabel. Die häusliche Atmosphäre ist stärker von Korrektheit als von Wärme geprägt, so daß sie sich ihrer Familie häufig entfremdet fühlt; enge Bindungen an den Vater oder die Mutter sind nicht ohne starke Ambivalenz. Intimere Beziehungen kennt sie im Verhältnis zu einer Kinderfrau, einem Kindermädchen oder einem entfernten Familienmitglied.

E.C.s Familie zählt nicht zur höchsten Bildungsschicht, doch werden Bildung und Wissen geschätzt und mit hohen Erwartungen belegt. Es handelt sich, kurz gesagt, um die prototypische bürgerliche Familie mit dem Sinn für die Ambitionen, die Respektabilität und die Hochschätzung harter Arbeit, die diese Klasse vornehmlich im späten neunzehnten Jahrhundert auszeichnete. E.C.s besondere Stärken zeigen sich bereits in jungen Jahren, und ihre Eltern unterstützen diese Interessen, obgleich sie einer Karriere abseits der bürgerlichen Berufswelt reserviert gegenüberstehen. Die Moral, wenn nicht Religion, wird hochgehalten, und E.C.s. Gewissen entwickelt sich zu einer ausgeprägten Kontrollinstanz, die sich gegen sie selbst, aber auch gegen andere richten kann, deren Verhalten den von ihr gesetzten Maßstäben nicht entspricht. Möglicherweise durchlebt sie eine Phase der Religiosität, die sich in späteren Jahren wiederholen kann, aber nicht muß.

Es kommt eine Zeit, in der die junge Frau der heimischen Umgebung entwachsen scheint. E.C. hat bereits ein Jahrzehnt in die Erlernung ihres Metiers investiert und ist auf dem Weg zur Spitze; von ihrer Familie und von den Experten im lokalen Umkreis kann sie nichts Wesentliches mehr lernen, und ihr Bedürfnis wächst, sich mit gleichaltrigen Talenten in ihrem Fach zu messen. Als junge Erwachsene also bricht E.C. in die Großstadt auf, in der alle derzeit maßgeblichen Aktivitäten auf ihrem Gebiet zusammenlaufen. Erstaunlich schnell findet E.C. in dieser Großstadt Anschluß an Gleichaltrige, die ihre Interessen teilen; man experimentiert im gemeinsamen Tätigkeitsbereich, lotet neue Möglichkeiten aus, gründet auch Institutionen, gibt Manifeste heraus und stimuliert einander zu neuen Höhenflügen. Es kommt vor, daß E.C. sich von Anfang an für die Arbeit auf einem bestimmten Gebiet entscheidet, sie kann indes auch mit einer Reihe möglicher Laufbahnen liebäugeln, bevor ein 'Kristallisations-Punkt erreicht wird und ihre beruflichen Vorstellungen definitive Form annehmen.

Die Erfahrungen in den verschiedenen Domänen differieren, und es wäre wenig sinnvoll, hier eine simplifizierende Zusammenfassung zu versuchen. In jedem Fall aber entdeckt E.C. früher oder später einen Problembereich oder ein Segment von besonderem Interesse, das verspricht, die Domäne in unbekannte Gewässer zu steuern. Der Augenblick ist kritisch. E.C. entfremdet sich ihrer Gruppe und bleibt in ihrer Arbeit größtenteils auf sich gestellt. Sie ahnt, daß sie vor einem Durchbruch in neue Bereiche steht, die allgemein und selbst für sie noch weitgehend Neuland sind. Erstaunlicherweise ist für E.C. in diesem Moment ein kognitiver und affektiver Beistand unentbehrlich, soll sie nicht aus dem Gleichgewicht geraten. Ohne diese Hilfe wäre ein Zusammenbruch nicht ausgeschlossen.

Unter den glücklichen Umständen, über die wir berichten konnten, gelingt E.C. zumindest ein großer Erfolg, dessen Bedeutung das Feld relativ schnell anerkennt. So sehr ist sich E.C. ihrer Auszeichnung bewußt, daß sie bereit scheint, besondere Vorkehrungen zu treffen - einen faustischen Handel einzugehen, um sich das euphorisierende flow-Gefühl zu erhalten, das wirksame, innovative Arbeit mit sich bringt. Für E.C. ist dieser Pakt mit Masochismus, einem unerfreulichen Sozialverhalten und gelegentlich auch mit dem Gefühl verbunden, eine Abmachung mit Gott selbst eingegangen zu sein. E.C. ist von ihrer Arbeit besessen und verlangt von sich und anderen hohe und höchste Einsatzbereitschaft. Dem Diktum von William Butler Yeats entsprechend hat sie gewählt und das vollkommene Werk über das vollkommene Leben gestellt. Sie ist selbstsicher, von Fehlstarts nicht unterzukriegen, stolz, halsstarrig und nur ungern bereit, Fehler zuzugeben.

E.C.s immense Energie und Einsatzbereitschaft ermöglichen ihr etwa ein Jahrzehnt nach dem ersten Erfolg einen zweiten Durchbruch. Er ist weniger radikal, doch umfassender und enger mit E.C.s früherer Arbeit verknüpft. Von der Art ihres Metiers hängt ab, ob sich E.C. eine Gelegenheit für weitere Durchbrüche bietet. (In den Künsten ist eine langanhaltende Kreativität selbstverständlicher als in der Wissenschaft.) E.C. tut alles, um kreativ zu bleiben; sie sucht einen Marginalstatus zu erreichen oder setzt erhöhte Asynchronie ein, um ihre Spannkraft zu erhalten und sich die Befriedigung der flow-Erfahrung zu verschaffen, die große Herausforderungen und aufregende Entdeckungen begleitet. Unter den Werken einer intensiven Schaffensphase werden einige sowohl von E.C. als auch von den Mitgliedern des Feldes als Schlüsselwerke betrachtet.

Das zunehmende Alter setzt E.C.s schöpferischer Kraft die unvermeidlichen Grenzen. Sie kann Menschen im Alter ihrer Kinder oder Enkel als Jungbrunnen mißbrauchen. Da es schwieriger wird, originär Neues zu schaffen, wird E.C. zur geschätzten Kritikerin oder Kommentatorin. Einige Genies sterben jung, unsere E.C. indessen erreicht ein ehrwürdiges Alter, sammelt Schüler und Anhänger um sich und leistet Bedeutendes bis zu ihrem Tod.

Schlußwort: Persönliche Stellungnahme

Wie kann man nun diese Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen auf die Praxis umlegen? Wie kann man als Pädagoge mit diesen Erkenntnissen umgehen, wie kann man sie verwerten?

Man könnte zum Beispiel kreativitätsfördernde Umweltbedingungen in der Schule schaffen. Eine Atmosphäre, die Freiheit und Sicherheit bietet, Toleranz und Offenheit zeigt. Eine Atmosphäre, die selbsttätiges Lernen fördert. (!) "Selbsttätiges Lernen" sagt sich leicht, aber dahinter steht eine große Problematik. Ist unser Schulsystem nicht so aufgebaut, daß die Kinder schon von klein auf darauf gedrillt werden, das nachzusagen, was der Lehrer vorsagt? Noch dazu wird mit Zwang und Kontrolle dieses System überprüft. Es herrscht sozusagen immer ein Antrieb von außen vor. Der Schüler muß dabei das Gefühl bekommen, daß er für die Schule bzw. für den Lehrer lernt. Kennen wir nicht alle die Frage "Wozu brauch' ich das?". Selten wird sie noch gestellt, weil die Antworten unbefriedigend ausfallen, aber in den Köpfen ist sie immer vorhanden. "Selbsttätiges Lernen" würde doch beinhalten, daß es eine Neugier gibt, daß der Schüler einen Antrieb in sich selbst hat, Antworten auf Fragen zu finden.

Natürlich geht es nicht so einfach, indem man sagt, nehmen wir den Antrieb von außen weg, wird der innere Antrieb schon kommen. Leider. Meiner Meinung nach ist es Aufgabe des geschulten Pädagogen, das richtige Mittelmaß zu finden. Ich glaube, daß man schon einen Schritt vorher ansetzen müßte, nämlich bei der Neugier. Ich denke, daß zum "selbsttätigen Lernen" auch eine große Portion Neugier gehört, daher sollte man auch dieses Neugierverhalten fördern. Wie wir oben gehört haben, ist die Neugier auch ein Charakterzug des kreativen Menschen.

Ist es nicht so, daß den Kindern in der Schule sofort einmal ihre Phantasie und Kreativität ausgetrieben wird? Schreibt ein Zehnjähriger einen phantasiereichen Aufsatz, wird er vom Lehrer zurechtgewiesen, daß es "so etwas" in der Realität, im wirklichen Leben, nicht gibt. Er solle nicht so viel "erfinden".

Wir haben gehört, daß eine wesentliche Technik bei der Suche nach Problemlösungen "das Hinausschauen über vermeintliche Grenzen" ist. Ist nicht ein starkes Element in unserem Unterrichtssystem eben das Grenzen setzen? Wird nicht ein Denken nach übernommenen Normen gelehrt? Wo lernt man in der Schule einen Perspektivenwechsel? Es wird doch immer nur eine - die für richtig gehaltene - Sicht der Dinge vermittelt. Wo wird dem Schüler Mut gemacht, zu ungewöhnlichen Methoden zu greifen?

Aus den oben zitierten Untersuchungen ist auch die "Originalitat" als ein Hauptfaktor der Kreativität hervorgegangen. Fragen wir uns einmal wie unsere Gesellschaft zu Originalität steht? Fragen wir uns, wie in der Schule mit Originalität umgegangen wird? Wird denn das Finden einer originellen Lösung für die Mathematik-Aufgabe wirklich gefördert? Und wie steht es mit der Originalitat im Fach Deutsch? Der Lehrer bewertet, was richtig und falsch ist, und diese Bewertung fußt auf seiner eigenen Vorstellung davon, was ein guter Aufsatz sein soll. Muß uns das nicht bei genauerer Betrachtung absurd erscheinen, daß ein origineller Gedankengang, weil dem Lehrer nicht zugänglich, durchaus als "falsch" bewertet wird? Insofern ist es sicher von Wichtigkeit, daß einem kreativen Menschen hohe Frustrationstoleranz und Beharrungsvermögen zugeschrieben wird.

Betrachten wir ein weiteres Merkmal von Kreativität: Die Fähigkeit, Verbindungen zu knüpfen, Beobachtung und Vorstellungen auf neue Weise zusammenzubringen. Werden nicht auch hierbei ständig Grenzen gesetzt mit dem Argument "das gehört nicht hierher, nicht zum Thema"?

Wäre es nicht für unseren Blickwinkel "Entwicklungspsychologie und Schule" sinnvoll, einmal zu hinterfragen, wie weit unser Schul- und Unterrichtssystem förderlich ist für die Entwicklung kreativer Eigenschaften? Wäre es nicht unsere Pflicht, die Erkenntnisse aus der Kreativitätsforschung auf den Unterricht umzulegen und in der Schule eine Atmosphäre zu schaffen, die mehr zur Entfaltung von bestimmten Eigenschaften führt, als sich nur auf die reine Wissensvermittlung zu verlegen?

Voraussetzung dafür wäre natürlich, die Kreativität als Wert für eine Gesellschaft anzuerkennen.

Bibliographie

Bourne, L. E. & Ekstrand, B. R. (1992). Einführung in die Psychologie. Frankfurt am Main: Klotz.

Drosdowski, G. Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hrsg). (1993). Duden. Zitate und Aussprüche. (Bd. 12). Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag.

Gardner, H. (1996). So genial wie Einstein. Schlüssel zum kreativen Denken. Stuttgart: Klett-Cotta.

Grimm, J. & W. (1984). Deutsches Wörterbuch. (Bd. 15). München: DTV.

Heckhausen, H. (1988). "Kreativität" - ein verbrauchter Begriff?. In H-U Gumbrecht (Hrsg.), Kreativität - Ein verbrauchter Begriff? (S. 21-33). München: Wilhelm Fink Verlag.

Müller, W. (Hrsg.). (1986). Duden. Sinn- und sachverwandte Wörter. (2., neu bearbeitete und erweiterte Aufl.) (Bd.8). Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag.

Schmidt, S. J. (1988). Kreativität aus der Beobachterperspektive. In H-U Gumbrecht (Hrsg.), Kreativität - Ein verbrauchter Begriff? (S. 33-53). München: Wilhelm Fink Verlag.

Zimbardo, P. G. (1995). Psychologie (6., neu bearbeitete und erweiterte Aufl.) Berlin: Springer.
 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis
 
 

10) Hochbegabung (Manuela Slany)

DAS MARBURGER HOCHBEGABTEN PROJEKT

Ausgangslage

Das Projekt "Lebensumweltanalyse besonders begabter Grundschulkinder" wurde von März 1987 bis Ende 1991 von Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft finanziell unterstützt. Das Projekt lief in folgenden Phasen ab:

Allgemeine Zielsetzung

Folgende Fragen wurden gestellt:

Hauptgesichtspunkte: Das Verständnis von "besonderer Begabung"

Hier wird unter besonderer Begabung, dasselbe wie Hochbegabung verstanden.

Hochbegabung = sehr hohe einzigartige Ausprägung der allgemeinen Intelligenz

Mittels differentieller Intelligenztests kann man die unterschiedlichen Intelligenzfaktoren für "g" testen. Typische Indikatoren:

Auffällig war, daß mathematisch hochbegabte Kinder einen durchschnittlichen IQ von 144 hatten. Dies läßt vermuten, daß für eine mathematische Hochbegabung auch eine große allgemeine Intelligenz nötig ist. In diesem Intelligenzverständnis ist Kreativität nicht eingeschlossen.

Untersuchungsphase I

Von November 1987 bis August 1988 wurden 7289 Kinder aus 206 verschiedenen Schulen untersucht.

3 Tests:

CFT 20: erfaßt die grundlegende Denkkapazität und mißt die Fähigkeit zur Problemerfassung und Problemlösung in neuartigen Situationen

ZVT (Zahlenverbindungstest): Verfahren zur Messung der kognitiven Leistungsgeschwindigkeit

ANA (sprachliche Analogien)

Fragen:

"Mit wem spielst Du gerne in den Schulpausen ?"

"Mit wem spielst Du nicht gerne in den Schulpausen ?"

"Wer in der Klasse lernt besonders schnell und weiß mehr als die anderen?"

Die Lehrer:

Auswahl der Zielgruppe (151 Kinder) + der Vergleichsgruppe (136 Kinder), sowie eine Berufskategorisierung der Eltern

Untersuchungsphase II

Kontaktaufnahme mit den Eltern und den Lehrkräften, sowie Erhebung folgender Variablen:

Datenquelle "Kind"

Datenquelle "Eltern" Datenquelle "Lehrer"

FAMILIEN MIT HOCHBEGABTEN KINDERN

Bemerkungen zur Familientheorie und Familiendiagnostik

Familien (psychologischer Fachbegriff)= soziale Beziehungssysteme, die gegenüber anderen sozialen Systemen, wie etwa einer Schulklasse oder einer Arbeitsgruppe durch die Kriterien "Abgrenzung", "Privatheit", "Dauerhaftigkeit" und "Nähe" gekennzeichnet sind.

Systemische Familienbegriff: wichtigstes Kennzeichen: Ganzheitlichkeit; Prozesse sind zirkuläre Abläufe

Zusammenhang von familiärer Umwelt und kognitiven Fähigkeit des Kindes

Das ein starker Zusammenhang besteht ist unbestritten, doch in welchem Ausmaß sollte hier untersucht werden.

Fest steht: Je größer die Familie ist, desto niedriger ist das kognitive Entwicklungsniveau der Kinder.

Beispiel: Breland(1074) untersuchte über 800 000 Stipendienanwärter und zeigte, daß Erstgeborene aus kleinen Familie die höchsten Werte und Letztgeborene aus großen Familie die schlechtesten Werte aufwiesen.

Gegenbeispiel: Hayes & Brunzaft (1979) fand bei einer Vereinigung von überdurchschnittlich akademisch Leistungsfähigen, keine bevorzugte Familiengröße oder Geburtsposition.

Unklar ist: Besteht ein Zusammenhang zwischen der Geburtsposition und der Persönlichkeit ?

Confluence Theory (70er Jahre; Zajonc & Markus)

=Erklärungsmodell für den Zusammenhang zwischen Familiengröße, Geburtsposition und Altersabstand zwischen den Geschwistern:

  1. große Familien haben weniger intelligenter Kinder
  2. später geborene Kinder sind weniger intelligenter als ihre älteren Geschwister
  3. je geringer der Altersabstand zwischen den Geschwistern ist, desto geringer ist die kognitive Leistungsfähigkeit des jüngeren Geschwisters
Einzelkinder und Letztgeborene haben den Nachteil, daß sie von jüngeren Geschwistern nichts lernen können, und sie nehmen daher eine Sonderstellung ein.

Die wichtigsten Ergebnissen dieser Untersuchung:

a)Sozioökonomischer Hintergrund

Hochbegabte Kinder kommen überdurchschnittlich häufig aus Familien die einen hohen Bildungs- und Sozialstatus.

b) Erziehungsstile

Eltern die ihren Kindern ihre Interessen nicht vorschrieben, sondern sie gegebenen Falls unterstützten hatten weitaus leistungsfähigere Kinder als andere Familien.

  1. Familiäre Beziehungen
Hochbegabte Kinder haben eine negativere Beziehung zu ihren Geschwistern sowie zu ihrer Mutter

d) Effekte des Etiketts "hochbegabt"

Eltern haben eine weitaus größere Erwartungshaltung und sind sehr stark leistungsorientiert.

  1. Familiensystem
Familien mit hochbegabten Kindern sind kommunikationsfähiger, emotional reagibler und verhaltenskontrollierter.

Fragestellung und Variablen

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Begabung eines Kindes und der vom Kind wahrgenommenen Beziehung zu seinen Familienmitgliedern?

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Begabung eines Kindes und familiären Systemvariablen?

Versuchsbeschreibung:

Das Kind wählt aus Pappfiguren zwei aus die den Eltern am ähnlichsten sind und einen Herrn Niemand. Danach ordnet das Kind den Figuren 44 Karten zu die nach der Richtung der Gefühle und der Qualität der Gefühle unterschieden werden.

Ergebnisse

Schulbildung der Eltern:

Bei den Müttern konnte kein signifikanter Unterschied zwischen Müttern von hochintelligenten Kindern und denen von durchschnittlich begabten Kindern festgestellt werden. Bei den Vätern war der Unterschied jedoch zu1% signifikant.

Alter der Eltern bei der Geburt des Kindes:

Vater und Mutter besonders begabter Kinder sind im Durchschnitt älter als die Eltern der Vergleichsgruppe.

Familienstatus:

Die Eltern von hochbegabten Kindern sind viel häufiger geschieden oder leben getrennt.

Beziehungssystem:

Negative Kärtchen die den Geschwistern zugeordnet wurden, ordneten Einzelkinder dem Herrn Niemand zu. Mädchen erleben die Beziehung zu ihrer Mutter signifikant positiver als Jungen. 42% der Kinder meinen, daß ihr Vater zu wenig Zeit für sie hat und 39% der Kinder erleben ihn als manchmal schlecht gelaunt.

Familiensystem:

Die Einschätzung des Familiensystems hängt nicht von der Begabung des Kindes ab. Desto höher der Bildungsstatus, desto mehr wird ein demokratischer Stil erlebt.

Zusammenfassung

Kein Unterschied bestand bezüglich:

Familiengröße

Geschwisterposition

Unterschiede wurden nachgewiesen bezüglich:

Bildungsabschluß der Väter

Familienstatus

Alter der Eltern bei der Geburt des Kindes

FÖRDERMASSNAHMEN FÜR HOCHBEGABTE GRUNDSCHUL -KINDER

Fördermaßnahmen

1981:Christophorus-Schule in Braunschweig - erste Versuchsklasse für hochbegabte Kinder

Feger (1988): Übersicht über verschiedene Maßnahmen zur Hochbegabtenförderung:

Zusammenfassung

Desto größer der Unterschied zu einer Normalen Schulbildung finden, desto eher treffen die Vorschläge auf Abneigung bei den Eltern. Lehrer sprechen sich zu 2/3 gegen ein überspringen von Klassen aus.

Als unumstritten und sehr wünschenswert und auch relativ leicht realisierbar werden von Eltern und Lehrern diejenigen Vorschläge eingeschätzt, die die Eigenverantwortlichkeit der Eltern für die Förderung ihrer besonders begabten Kinder betonen und von ihnen persönliches Engagement und Unterstützung verlangen. Gerne angenommen wird auch der Vorschlag der inneren Differenzierung des Unterrichts, wogegen fast alle Maßnahmen der äußeren Differenzierung auf Ablehnung treffen. Alle Maßnahmen sind für Jungen und Mädchen sind gleich wünschenswert.

EIGENE MEINUNG

Da ich selbst immer sehr gut in der Schule war, interessiert mich dieses Thema auch aus persönlichen Gründen. In Österreich gibt es "Olympiaden" in den verschiedenen Fächern. Die Idee finde ich wirklich sehr gut, aber noch viel zu wenig verbreitet. Ich hätte an der Mathematik oder Physikolympiade teilnehmen können. Der Aufwand dafür ist allerdings unglaublich. Man muß an eine andere Schule fahren um dort vorher einen Vorbereitungskurs zu besuchen. Läßt sich dies z.B. mit dem Nachmittagsunterricht nicht vereinbaren, so gibt es keine Möglichkeit daran teilzunehmen.

Wenn mein Kind hochbegabt wäre, würde ich es selbst so weit als möglich fördern und darauf achten, daß es nicht zum Versuchskaninchen der Nation wird. Es soll auf jeden Fall "normal" aufwachsen. Natürlich soll eine besondere Begabung gefördert werden, aber nicht auf Kosten der Kindheit. Wenn ein Kind am Nachmittag in der Bibliothek sitzen muß so nimmt man im gegen seinen Willen seine Freiheiten. Will es jedoch aus eigenem Interesse etwas wissen, oder etwas lernen, so empfiehlt es sich dies mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu fördern.

LITERATURANGABE

Knapp, A. &Rost, D.H. (Hrsg.) (1993). Lebensumweltanalyse hochbegabter Kiner. Das Marburger Hochbegabten Projekt. Göttingen: Hogrefe
 
 
 
 

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11) Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatische Störungen im Jugendalter (Veronika Markl)

 

 

1. EINLEITUNG:

In der vorliegenden Arbeit mit dem Thema "Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatische Störungen im Jugendalter" sollen verschiedene Betrachtungsweisen des Phänomens kurz beschrieben werden. Nachdem die Forschung in den letzten Jahren immer mehr zu dem Ergebnis gekommen ist daß auffälliges Verhalten nur zu einem geringen Teil auf organische Schäden zurückzuführen ist, werde ich diese nur ergänzend und sehr kurz anführen.

Viel wichtiger im Zusammenhang mit dem vorliegenden Themen sind Störungen in der psychischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Der wichtigste Teil der Arbeit ist die zusammenfassende Anführung von Vorschlägen zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatischen Störungen in der Praxis. Als angehender Lehrer ist es "lebensnotwendig" auf auffälliges Verhalten richtig und angemessen zu reagieren. Ignoranz gegenüber auftretenden Problemen wäre genauso falsch wie eine Überreaktion, die ein vorliegendes Problem schlimmer macht als es tatsächlich ist.

Eine der wichtigen Aussagen, die ich im Lauf der Erarbeitung des Themas in der Literatur herausgelesen habe ist, daß der neue Ansatz im Umgang mit auffälligem Verhalten auf ein gemeinschaftliches Lösen von auftretenden Problemen aufbaut. Dadurch soll verhindert werden, daß einem einzelnen die alleinige Schuld an Problemen zugeschrieben wird, wie zum Beispiel dem "schlechten Lehrer", was für mich eine große Erleichterung bedeutet.

Als Lehrer ist es sicher wichtig, sich der möglichen Probleme und deren Ursachen bewußt zu sein. Dennoch sollte man sich als Lehrer nicht überfordern, und nur soweit eingreifen, als dies im eigenen Bereich liegt. Es ist daher hilfreich und notwendig, die eigenen Grenzen zu erkennen und alles, was über die Kompetenz der Lehrers hinausgeht, an die entsprechenden zuständigen Personen ruhigen Gewissens zu delegieren.

Abschließend möchte ich sagen, daß dieses Seminar mir sehr geholfen hat, einerseits die Anforderungen, die in psychologischer und menschlicher Hinsicht an Lehrpersonen gestellt werden und andererseits die dazugehörigen Grenzen zu erkennen, was ich persönlich für wichtig halte um den Lehrberuf erfolgreich ausüben zu können.

2. Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatische Störungen in Jugendalter:

2.1. Begriffserklärung und unterschiedliche Betrachtungsweisen des Phänomens der Verhaltensauffälligkeit:

Im Lauf meiner Literatursuche sind mir große Unterschiede in der Behandlung des Themas aufgefallen. Die für die Arbeit verwendete Literatur setzt sich aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammen, die die verschiedenen Perspektiven widerspiegeln und mir so einen relativ umfassenden Einblick in das Thema gegeben haben. Vorausschickend ist zu sagen, daß es keine einheitliche Definition des Begriffes Verhaltensauffälligkeit gibt. Es wird darunter ein von der Norm abweichendes Verhalten verstanden, was natürlich von den jeweiligen Normen der betreffenden Gesellschaft abhängig ist. Daher ist der Begriff ein relativer:

Sowohl Normalität als auch Auffälligkeit sind immer nur als rationale Bestimmungen in einem je spezifischen historisch - gesellschaftlichen Lebensraum möglich, der durch die dort gültigen Normalitätsnormen definiert ist. Wenn also die Verhaltensweisen eines Kindes als auffällig bezeichnet werden, so ist es notwendig, die normativen Bezugskriterien anzugeben, die dieser Bewertung zugrunde liegen. (Werning, S. 10)

In der Praxis bedeutet das, daß für einen Lehrer vielleicht noch im Bereich des akzeptablen liegt, was ein anderer schon als "verhaltensauffällig" empfindet.

Auch über die Häufigkeit des Phänomens ist daher keine genaue Angabe zu machen. Um das Thema näher zu umreißen möchte ich 2 Betrachtungsweisen, die sich im Lauf der Zeit entwickelt haben beschreiben:

1.1. DER INDIVIDUALISIERENDE ANSATZ:

Hier werden die Ursachen von Störungen in der betroffenen Person selbst gesucht. Nämlich krankhafte Strukturen, die eventuell vor, während oder nach der Geburt hervorgerufen worden sein könnten. Die Verhaltensauffälligkeit wird als Fehlleistung des Kindes gesehen und der Blick auf seine Person gerichtet:

Das sozial auffällige Verhalten wird als Zeichen einer intrapersonalen Störung oder Fehlanpassung interpretiert. Institutionelle und normative Bedingungen, die Vernetzung des Individuums mit der sozialen Umwelt, gesellschaftliche Problemlagen, die historische Gewordenheit, die aktuellen Lebensbedingungen und -möglichkeiten des Kindes/Jugendlichen werden dabei ausgeblendet." (Werning, S. 17)

Dieser Ansatz, der nach organischen Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten sucht, verliert langsam an Einfluß und muß einem neueren, den ich nachfolgend beschreiben werde, weichen:

1.2. DER VERSTEHENDE ANSATZ:

Dieser gewinnt in letzter Zeit an Einfluß und sieht die Verhaltensauffälligkeit als Ausdruck einer Störung in der Beziehung zwischen im Kind und seiner Umwelt, d.h., in der Familie, in der Schule, in der sozialen Gruppe, der der Schüler angehört:

Der einzelne ist in seinem Verhalten auf die Umwelt angewiesen, diese ermöglicht, verhindert, fördert, schränkt ein Sie hat einen modifizierenden Anteil an allem, was der Einzelne tut oder läßt. Insofern ist jede Aussage über ein verhaltensauffälliges Individuum auch eine Aussage über das System, in dem diese Auffälligkeiten sich konstellieren, ermöglicht, vielleicht sogar gefördert wurden. (Sedlak, S. 58)

Beim verstehenden Ansatz wird dieses Phänomen nicht als Krankheit, sondern als sinnvolles Signalverhalten gesehen, das zu einer Behebung der Beziehungsstörung auffordern soll.

2. Mögliche Ursachen von Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatischen Störungen:

Auf dem verstehenden Ansatz aufbauend lassen sich nun folgende mögliche Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten feststellen:

Sind organische Schäden, die im Vergleich zu sozial bedingten Ursachen relativ selten sind, auszuschließen, so ergibt sich folgendes:

Den Lehrern bzw. der Schule als gesellschaftliche Institution werden bestimmte Norm-, Wert- und Zielvorstellungen zugeschrieben, die sie an die Schüler weitergeben. Nimmt der Schüler die Werte nicht an, oder erreicht er die vorgegebenen Ziele nicht, wird das als Störung gesehen. Das heißt, bei diesem Schüler

Allgemein kann man sagen, daß der Großteil der auftretenden Verhaltensstörungen durch Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen entsteht.

Das Kind, als Teil von sozialen Gruppen: Familie, Schule, Gesellschaft, braucht die Möglichkeit und Unterstützung, sich als Individuum zu entwickeln und soll gleichzeitig innerhalb der Normen bleiben. Eine vertrauensvolle Beziehung zu den Familienmitgliedern, ansprechende Gestaltung des Schulgebäudes und des Unterrichts sind Voraussetzung dafür.

Um dem "auffälligen" Verhalten eines Schülers auf den Grund zu gehen, muß man seine verschiedenen "Lebensweltbereiche" betrachten um die Störung lokalisieren zu können:

Im Bereich der Familie können konfliktreiche Beziehungen zu den bzw. zwischen den Eltern die Entwicklung des Kindes stören. Wichtig ist genügend Zuwendung auf der einen und ausreichend Raum für Selbständigkeit auf der anderen Seite:

Nehmen wir nur die Auflösung der Familie für eine Person, deren zentraler Lebenssinn die Familie gewesen ist, ... oder das Schulversagen von Kindern, die davon überzeugt sind, daß die Wertschätzung ihrer Person in der Familie überwiegend von ihrem schulischen Erfolg abhängt. Wenn spezifische Lebensweltkonstruktionen durch solche belastenden Lebensereignisse an bedeutsamen Punkten zusammenbrechen und die Person bzw. das soziale System nicht über ausreichend personale und/oder soziale Ressourcen verfügt, neue, den veränderten Lebensweltbedingungen angepaßte handlungsleitende Orientierungen zu entwickeln, ist es wahrscheinlich, daß eine Person Signalverhaltensweisen produziert, die von der sozialen Umwelt als auffällig bzw. gestört etikettiert werden. (Werning, S. 108)

Im Bereich der Schule wirkt sich ein angenehmes Klima zwischen Schülern und Lehrern sicher förderlich aus. Aus einer meiner Quellen habe ich sehr praktische Ansätze und Tips zur Lösung und zum Umgang mit auftretenden

Problemen gefunden, die ebenfalls vom verstehenden Ansatz ausgehen, und auf die ich später näher eingehen werde.

3. Häufige Verhaltensauffälligkeiten und psychosomatische Störungen:

Um einen kurzen Überblick zu geben, möchte ich einige der bisher von mir eher allgemein behandelten Verhaltensauffälligkeiten konkret beim Namen nennen und anschließend auf den Umgang mit ihnen eingehen:

3.1. Die HYPERAKTIVITÄT:

Sie wird auch als "Hyperkinetisches Syndrom" bezeichnet, die teilweise auf Schädigungen des Gehirns, die sogenannte "MINIMALE CEREBRALE DYSFUNKTION" zurückzuführen ist. In diesem Fall ist sie sehr gut mit Medikamenten zu behandeln. Andere Theorien, die ebenfalls organische Ursachen hinter der Hyperaktivität sehen, beschreiben sie als allergische Reaktion auf bestimmte chemische Stoffe. Wenn organische Ursachen ausgeschlossen werden können, so leiden die betroffenen Kinder an einer starken psychischen Spannung. Diese kann mit entsprechenden Konzentrations-, Entspannungs- und Aufmerksamkeitstrainings gemindert werden:

Zu Beginn der Achtziger Jahre fand eine ganzheitlich sozioökologische Sichtweise der Störung ihren Eingang in die Forschung (HENKER & WHALEN 1980). Die Abhängigkeit der Verhaltensauffälligkeiten hyperaktiver Kinder von situativen Komponenten und Wechselwirkungen zwischen Verhalten und sozialer Umwelt wurde zum Thema zahlreicher Forschungsarbeiten (EISERT 1981, HENKER & WHALEN 1980). Beeinflussung der situativen Komponenten durch Strukturieren des Unterrichts, der Klassenräume; Elterntrainings, Selbstkontrolltrainings und andere pädagogisch- psychotherapeutische Verfahren führten zu einer teilweisen Abkehr von der rein medikamentösen Therapie, häufig aber zu ihrer Ergänzung. (Innerhofer, S. 190)

Die Symptome bei Hyperaktivität sind: Konzentrationsschwierigkeiten und allgemeine Unruhe.

3.2. Die LESE- UND RECHTSCHREIBSCHWÄCHE, auch LEGASTHENIE:

Auch hier findet man teils organische, teils pädagogisch- psychologische Ursachen für die Störung. Im Lauf der Zeit hat sich die Definition dieser Störung immer wieder verändert:

Bei den Definitionen der Legasthenie gibt es kein einheitliches Bild und die Abweichungen ergeben sich zum Teil aus den völlig voneinander abweichenden Deskriptions- und Diagnosemethoden, den verschiedenen Standpunkten und Bewertungsmaßstäben der Fehler. Eine der gebräuchlichsten Definitionen ist diejenige von SCHUBENZ (1964) `Wir verstehen unter Legasthenie das Phänomen der bedeutsamen Inkongruenz (Nichtübereinstimmung) von (relativ guter) allgemeiner Begabungshöhe und der (relativ geringen) Fähigkeit, das Lesen und orthographisch richtige Schreiben in der von der Schule dafür eingeräumten Zeit und mit dem vorgesehenen Maß an Training zu erlernen. (Innerhofer, S. 220)

Sind organische Schäden, wie zum Beispiel, eine Störung in der visuellen Wahrnehmung auszuschließen, so können Überforderung, weil die nötige Schulreife noch nicht vorhanden ist, oder Nervosität mögliche Ursachen sein.

Diese Form der Störung hat jedoch nichts mit dem Intelligenzquotienten des Kindes zu tun.

Als Behandlung werden Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und Sprache trainiert.

3.3. RECHENSTÖRUNGEN bei normaler Intelligenz:

Wenn Schüler auch nach mehrmaliger Erklärung des Rechenbeispiels anscheinend dieses noch immer nicht verstehen "wollen", wäre es ein schwerwiegender Fehler sie als "zu dumm" für diese Aufgabe abzustempeln. Gerade in dieser Situation braucht der Schüler die volle Unterstützung des Lehrers und das Gefühl, seine Schwierigkeiten überwinden zu können:

Die wesentlichen Erkenntnisse zur Fehlerkunde aus der klinischen Erforschung von Einzelfällen lassen sich in 3 Punkten zusammenfassen: 1. Schülerfehler beruhen meistens auf systematischen Regeln bzw. Fehlerstrategien, ... 2. Die Mathematik, insbesondere die Arithmetik, wird von sehr vielen Kindern als eine Art Zufallsspiel mit künstlicher Regelhaftigkeit und ohne direkten bzw. notwendigen Bezug zur Realität angesehen. 3. Fehler Schwierigkeiten ... stehen nur selten in einem engen Zusammenhang mit den Leistungen im sogenannten mündlichen Rechnen. (Innerhofer, S. 238)

Als Ursachen für Rechenschwierigkeiten haben sich oft unpassendes Lerntempo, also Über- oder Unterforderung oder Denkfehler herausgestellt. Mit Hilfe von sogenannten "logischen Spielen" können diese bekämpft und das logische Denken geschult werden.

3.4. HAUSAUFGABENPROBLEME:

Mögliche Ursachen für das standhafte "vergessen" der Hausübung können sowohl im Bereich des Lehrenden, als auch in der Familie liegen:

" Primär muß geklärt werden, ob es sich bei Hausaufgaben Problemen um ein Symptom für eine dahinter liegende Störung (zum Beispiel ein Teilleistungsstörung) handelt, ob das Kind durch den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe über- beziehungsweise unterfordert wird, oder ob die Umweltbedingungen ... zu den Schwierigkeiten führen." (Innerhofer, S. 251).

Als Lehrer sollte man folgendes beachten: Der Schüler braucht Freude an der Hausübung, das heißt er braucht solche, die ihn zwar fordern, aber gleichzeitig nicht zu schwierig sind um sie selbständig zu erledigen. Weiters ist es sehr wichtig dem Schüler entsprechendes Feedback, besonders Belohnung für gelungene Arbeiten zukommen zu lassen.

Voraussetzung für das Erledigen der Hausübung ist aber vor allem ein Platz im Haus, wo der Schüler ungestört und konzentriert lernen kann.

3.5. Die LERNBEHINDERUNG:

Bei diesem Phänomen hat der Schüler in allen Gegenständen Probleme und scheint den Anforderungen in der Schule im Allgemeinen nicht gewachsen. Hier müssen zuerst die tieferen Ursachen, die in einem der "Lebensweltbereiche" des Schülers zu lokalisieren sind erst gefunden werden.

Danach kann mit einer entsprechenden Lösung des Problems begonnen werden:

Um aber eine Entstehung der Lernbehinderung verhindern zu können, müssen Aktionen gesetzt werden," die über den engeren schulischen Rahmen hinausgehen... Denn ist es erst einmal zu einer Umschulung in die Lernbehindertenschule gekommen, so ist ein Rückführung in die Regelschule beinahe ausgeschlossen. (Innerhofer, S. 185)

3.6. SCHULVANDALISMUS:

Laut Definition versteht man unter Vandalismus die absichtliche Verunstaltung, Verschmutzung und Zerstörung öffentlichen oder privaten Eigentums.

Hier sind einige Bedingungen, die dieses Phänomen fördern:

Was könnte man dagegen tun?: "Da zerstörerisches Verhalten durch mehrere verzichtende Faktoren bedingt ist, erscheint es zweckmäßig ein mehrgleisiges Vorgehen anzuwenden. Ein absolut sicher wirkendes Allheilmittel wird es kaum jemals geben" (Innerhofer, S. 262).

Als Vorschläge gibt die von mir verwendete Literatur Gespräche und Diskussionen mit der Klasse an. Ein weiterer, der mir persönlich sehr gut gefällt, weil ich ihn für sinnvoll und effizient halte, ist der Tip, den Lebensraum Schule für die Schüler - unter deren Mithilfe! - so ansprechend wie möglich zu gestalten.

4. Fallbeispiel:

Nach dieser kurzen Vorstellung einiger häufiger Verhaltensauffälligkeiten möchte ich ein Fallbeispiel eines betroffenen Kindes bringen:

Es handelt sich um den 8-jährigen Ingo.

Der Bub litt unter Konzentrationsschwierigkeiten, er verhielt sich teilweise aggressiv gegenüber seinen Mitschülern und war zeitweise bei übermäßig guter Laune. Dazu hatte er große Rechtschreibschwierigkeiten. Weiters litt er unter Heuschnupfen, Ekzemen und Atembeschwerden.

Ingos Eltern lebten zusammen und waren um seine Gesundheit sehr besorgt, weiters hatte Ingo eine 3 Jahre ältere Schwester.

Bei den Gesprächen mit dem Therapeuten konnte dieser folgendes diagnostizieren:

Der Baumtest: Auffällig war hierbei, daß die Äste bei Ingos Baum sehr spitz waren, und daß er weder auf festem Boden stand, noch Wurzeln hatte.

Der Menschtest: Ingo zeichnete nur einen Kopf ohne Rumpf und Gliedmassen, was auf das gestörte Verhältnis zu seinem eigenen Körper hindeutete.

Als allgemeine Folgerung kam der Therapeut zu dem Ergebnis, daß Ingo sich mehr Zuwendung vom Vater wünschte und dem geschwisterlichen Konkurrenzkampf nicht gewachsen war. Er mußte seine Wahrnehmung schulen und ein besseres Verhältnis zu seinem Körper und damit ein größeres Selbstwertgefühl bekommen.

Ingo hatte Schwierigkeiten, beim Wahrnehmungstest die Bilder in einer für sein Alter adäquaten Zeitspanne in der richtigen Reihenfolge zu ordnen. Beim Test " Bilder ergänzen" stellte sich heraus, daß er eine zuwenig differenzierte Wahrnehmung hatte.

Nach 2-jähriger Therapie konnte Ingo jedoch beträchtliche Erfolge verzeichnen, was sicherlich auch auf die rege Beteiligung seiner Eltern an der Therapie zurückzuführen ist. Seine körperlichen Beschwerden gingen stark zurück: Die Atembeschwerden und die Ekzeme verschwanden völlig, der Heuschnupfen besserte sich. Auf dem Gebiet der psychischen Störungen hatte Ingo große Fortschritte gemacht: Er hatte nach seiner Therapie ein wesentlich besseres Selbstwertgefühl, konnte daher den geschwisterlichen Konkurrenzkampf sehr gut aushalten und hatte gelernt seine Aggressionen besser zu beherrschen.

Für mich zeigt dieses Beispiel sehr gut den Zusammenhang zwischen Körper und Psyche, weil bei Ingo die körperlichen Beschwerden eindeutig mit seiner psychischen Spannung zu tun hatten, und wie wichtig es ist, daß man gemeinsam - in diesem Fall die Eltern und das Kind - das vorliegende Beziehungsproblem beseitigt.

5. Vorschläge zum Umgang mit auffälligem Verhalten und psychosomatischen Störungen:

Um Verhaltensauffälligkeiten wirklich beikommen zu können, muß man sie an der Wurzel packen. Es genügt nicht, nur die Symptome zu behandeln. Da es sich in den meisten Fällen nicht um organische Schäden handelt, die mit Medikamenten bekämpft werde können, müssen pädagogisch - psychologische Methoden angewendet werden.

Grundsätzlich wäre es für Lehrpersonen günstig, auch psychologische und therapeutische Kenntnisse zu haben. Meine persönliche Meinung dazu habe ich bereits in der Einleitung erklärt. Obwohl es auf jeden Fall die Möglichkeit gibt, schwierige Probleme an zuständige Personen zu delegieren, muß der Lehrer im Unterricht dennoch oft mit den Problemen kämpfen, die die Schüler aus anderen Lebensweltbereichen (zum Beispiel der Familie) mit sich "schleppen", und deren Auswirkungen sich in der Schule zeigen. Leidvolle Beziehungen und Störfaktoren in der Entwicklung sollen bzw. können mit Hilfe des sogenannten "SOLIDARISCHEN MODELLS" (Sedlak, S. 28ff.) in der Schule durch positive Beziehungen überwunden werden. In Zusammenarbeit mit allen Beteiligten kann ein gesundes Klima und " balancierte Beziehungen" zwischen Lehrern und Schülern hergestellt werden, was die Veraussetzung für ein gesunde Entwicklung der Jugendlichen ist.

Was versteht man konkret unter "balancierten Beziehungen":

Sie sind gekennzeichnet durch:

Diese Idee der "balancierten Beziehungen" klingt sehr unrealistische und ist auch oft in der Praxis nicht so durchführbar. Wie bzw. unter welchen Bedingungen dann diese Idee funktionieren?
  1. um balancierte Beziehungen herzustellen, muß der Lehrer selbst innere Balance haben
  2. Kinder brauchen eine Familie in der Balance herrscht, das heißt, gute zwischenmenschliche Beziehungen innerhalb der Familie
  3. auch in der Klassengemeinschaft, unter den Schülern müssen gute Beziehungen herrschen
Diese Bedingungen, die die beste Voraussetzung für die Vermeidung von sozial bedingten Verhaltensstörungen sind, lassen sich mit gutem Willen und etwas Know-how herstellen. Sie sind zumindest praxisnahe Tips und umsetzbare Vorschläge, die nicht in grauer Theorie enden.

6. ZUSAMMENFASSUNG:

Aus all diesen Forschungsergebnissen geht sehr deutlich hervor, daß eine Lehrperson viel mehr ist als ein Wissensvermittler. Neben dieser Eigenschaft muß diese sich durch überaus große soziale Fähigkeiten auszeichnen. Sensibilität, Einfühlungsvermögen und allgemeines Interesse an menschlichen Problemen sind mindestens ebenso wichtig wie das Beherrschen des Unterrichtsfaches. Da die Schüler einen Großteil ihrer Zeit in der Schule verbringen ist sie ein Teil ihres Alltagslebens - ob das nun für sie angenehm ist oder nicht. Das sollte allen Beteiligten klar sein und daher sollte der Lebensraum Schule so ansprechend und sinnvoll wie möglich gestaltet werden . Die Schule als Ort der Begegnung zwischen Menschen sollte für alle eine Bereicherung darstellen. Um diesem Ziel möglichst nahe zu kommen sind die in der von mir verwendeten Literatur angegebenen Vorschläge sehr nützlich und von großer Bedeutung. Sie sollen vor allem zur Schaffung eines Problembewußtseins beitragen indem sie erklären, daß die auftretenden Verhaltensauffälligkeiten zum größten Teil aus Störungen in den sozialen Beziehungen entstehen. Das "solidarische Modell" ist ein Ansatz, die gestörten Beziehungen wieder in Ordnung zu bringen, so daß eine ungestörte Entwicklung des einzelnen möglich ist.

BIBLIOGRAPHIE:

Innerhofer, P., Weber, G., Klicpera, C. & Rotering-Steinberg, S. (Hrsg.). (1988). Psychische Auffälligkeiten und Probleme im Schulalter. Wien: Universitätsverlag.

Rothleitner, S. (1991). Bedingungen und Lösungsmöglichkeiten schulischer Verhaltensstörungen. Dipl.Arbeit, Universität, Wien.

Sedlak F. (Hrsg.). (1992). Verhaltensauffällig - Was nun? Wien: Pädagogischer Verlag.

Werning, R. (1996). Das sozial auffällige Kind. Münster; New York: Waxmann
 
 
 
 

Inhaltsverzeichnis
 
 

12) Drogen (Michael Tichacek)

 

 

Drogen sind nach einer Definition der WHO (World Health Organisation) Substanzen, die innerhalb des lebendigen Organismus eine oder mehrere Funktionen zu verändern vermögen, insbesondere solche Substanzen, die eine zentral - nervöse Wirkung besitzen.

Drogenabhängigkeit ist ein Zustand, der sich aus der wiederholten Einnahme einer Droge ergibt, wobei die Einnahme periodisch oder kontinuierlich erfolgen kann. Es werden eine psychische und eine körperliche Abhängigkeit unterschieden. Die psychische Abhängigkeit äußert sich in einem wiederkehrenden Wunsch nach bestimmten Erlebnissen und Gefühlen durch die Einnahme einer Droge, die körperliche Abhängigkeit läßt sich durch objektiv faßbare körperliche Störungen definieren.

Drogen- und Rauschmittelkonsumverhalten Jugendlicher in Österreich

Jugend und Drogen in Österreich

In Österreich liegt die häufigste Abhängigkeit in allen Altersgruppen im Alkohol und Nikotin, gefolgt von Medikamenten.

Seit 1928 gibt es in Österreich ein Giftgesetz, das sich eng an internationale Protokolle und Konventionen anlehnte. 1948 und 1951 entstand durch Novellen ein neues Suchtgesetz. Durch die steigende Drogenproblematik kam es 1960 zu einer Neuformulierung, 1971 wurde der Drogenmißbrauch nicht nur als Kriminalsdelikt betrachtet, sondern sein Krankheitscharakter miteinbezogen. Beim Ertappen eines Erstbesitzers mit maximal einer Wochenration wurde der Täter mit einer Strafe auf Probezeit belegt. Nach einer weiteren 1980 formulierten Suchtgiftnovelle soll Suchtkranken in erster Linie Hilfe geleistet werden, natürlich bleibt der Besitz von Drogen strafbar. Seit 1985 erfolgt eine Differenzierung in den organisierten Drogenhandel und jenen Straffälligen, die oft selbst Opfer ihrer Abhängigkeit sind. Die maximale Freiheitsstrafe beträgt 20 Jahre.

Jugend und Alkohol

Allgemein spricht man in Österreich von 650.000 Alkoholgefährdeten (mehr als 3 Flaschen Bier pro Tag). Der Volkswirtschaftliche Schaden durch Heilungskosten und Arbeitsausfall beläuft sich bei 30 Milliarden Schilling. Laut Jugendbericht 1987 konsumieren in Österreich 14% aller 16- bis 19jährigen Alkohol, 50 % rund zweimal wöchentlich. 70% der trinkenden Jugendlichen haben Rauscherfahrungen, 5% berauschen sich mehrmals in der Woche!

Alkohol und Drogenerfahrungen

Bei nicht trinkenden (abstinenten) Jugendlichen werden nur in Ausnahmefällen Erfahrungen mit Drogen wahrgenommen. Bei Alkoholtrinkern waren es 9%. Es konnte allgemein ein Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Alkoholkonsum und dem Gebrauch von illegalen Drogen, Nikotin und Psychopharmaka festgestellt werden: 45% jener, die täglich trinken, haben illegale Drogen probiert.

Alkoholkonsumbedingungen

Alkohol wird hauptsächlich in der arbeitsfreien Zeit, bei familiären Anlässen und im Freundeskreis getrunken. Jugendliche trinken häufiger im außerfamiliären Bereich wie Gaststätten, Parties, mit Freunden und Arbeitskollegen und meistens nur am Wochenende - im Gegensatz zu Erwachsenen. Jugendliche verwenden Alkohol seltener als Problem- und Sorgenlöser, Entspannungs-, Beruhigungs- oder Schlafmittel. Der Einstieg in den Alkoholkonsum beginnt meist in der Familie zu bestimmten Anlässen.

Eltern und Freunde

Nach einer Schülerbefragung erhielten 50% der 15- bis 17jährigen Wiener Jugendlichen ihr erstes Glas von den Eltern. Später verlagert sich der Konsum außerhalb des Elternhauses. Nach diversen Studien wird das elterliche Konsumverhalten doch weiter von den Jugendlichen übernommen, allerdings steigt der Einfluß durch den Freundeskreis mit der Ablöse vom Elternhaus. Interessant ist die Tatsache, daß Jugendliche mit einem engen, langjährigen Freundeskreis weniger trinken als jene, welche in verschiedenen Freundeskreisen verkehren.

Alkoholkonsum

Ein Vergleich der Jahre 1986, 1988 und 1990 soll das Konsumverhalten von 11- bis 15jährigen erläutern. 11jährige konsumieren so wenig Alkohol, als daß statistisch auswertbare Daten erhaltbar wären. Bei den 13jährigen deutet sich ein Rückgang im Konsum von alkohol zwischen 1986 und 1988 an, welcher sich in den folgenden Jahren nicht weiter fortsetzt. Bei den 15jährigen ist die Entwicklung einerseits vom Geschlecht, andererseits vom Schultyp abhängig. Insgesamt konnten keine konkreten Tendenzen aus den Daten abgelesen werden.

Jugend und Rauchen

Das Rauchen ist im Gegensatz zum Trinken früher erlaubt. Der Tabakkonsum von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist zurückgegangen. Der Einstieg in den Tabakkonsum erfolgt in vielen Fällen bereits vor dem 15. Lebensjahr, allerdings bleibt es oft nur bei einem Versuch. Eine gesamtösterreichische Erhebung im Jahr 1983 ergab, daß über zwei Drittel aller 15jährigen Schüler bereits eine Zigarette probiert hatten, bei den 13jährigen waren es etwas mehr als die Hälfte und bei den 11jährigen rund ein Drittel. Die erste Zigarette erhalten die Jugendlichen im Gegensatz zum Alkohol nicht von den Eltern, sondern von Gleichaltrigen oder sie besorgen sie sich selber.

Medikamente

Allgemein zeichnet sich in Österreich eine zunehmende Tendenz zur Medikamentenabhängigkeit ab, auffällig ist auch der steigende Mißbrauch durch Kinder und Jugendliche. Bei den Medikamenten handelt es sich um eine "geheimgehaltene Alltagsdroge, weil der Konsum großteils legal ist. Es erfolgen keine Anzeigen bzw. sehr wenige. 1987 hat es z. B. 219 Anzeigen gegeben, 1992 wurden 157 Personen wegen Medikamentenmißbrauch registriert. Aus diesen geringen Daten können keine Rückschlüsse auf Medikamentenabhängigkeit in Österreich gezogen werden.

Jugend und Medikamente

Es steht von vornherein das Problem, daß es keine Abtrennung zwischen medizinischem Gebrauch und Mißbrauch von Medikamenten gibt, weil der Erwerb meistens legal erfolgt. Natürlich können Medikamente auch illegal beschaffen werden. Weibliche Personen neigen stärker zum Gebrauch von Psychopharmaka als männliche, außerdem steigt der Medikamentenmißbrauch mit höherem Alter.

Jugend und illegale Drogen

Die Suchtgiftkriminalität in Österreich wird nach den erfolgten Anzeigen beurteilt. Es handelt sich um eine Aufklärungsstatistik des Bundesministeriums für Inneres. Dabei werden lediglich bekanntgewordene Straftaten registriert. Diese einseitige Kriminalstatistik sagt also nicht Konkretes über die tatsächliche, realistische Situation in Österreich aus. Über die Dunkelziffern der unbekannten Straftaten wird dadurch wenig bekannt. Allerdings lassen sich gewissen Trends abzeichnen, die sicher mit den Dunkelziffern parallel laufen.

Suchtgiftkriminalität in Österreich

Die Suchtgiftkriminalität ist laut Statistik ("Zuwiderhandeln gegen die Bestimmungen des Suchtgiftgesetzes") stark im Zunehmen. So gab es vom Har 1991 zum Jahr 1992 einen Zuwachs um 45%. In den letzten zwei Jahren ist die Zahl der Drogentoten leicht rückläufig. Allerdings gab es verstärkten Mißbrauch von "harmloseren" Drogen wie Ecstasy. Die Statistik unterscheidet zwischen Vergehens-Tatbeständen und Verbrechens-Tatbeständen. Unter ersterem versteht man den reinen Suchtgiftmißbrauch, unter zweiterem schwere Suchtgiftdelinquenz, verbrechensqualifizierende Suchtgiftmengen, Dealen usw. Bei beidem ist es zu einem starken Zuwachs gekommen.

Einstiegs- und Konsummotive

Nach verschiedenen Untersuchungen gibt es keine konkreten Gründe, die zum Drogenmißbrauch führen. Es sind vielmehr eine Vielzahl von Faktoren, die zusammen einen Menschen zum Mißbrauch veranlassen. Nachgewiesen ist auch, daß Cannabis nicht die klassischen Einstiegsdroge ist. Der Einstieg erfolgt immer mit den legalen Drogen Alkohol und Nikotin. Heroin-, Kokain-, Stimulantien- und Beruhigungsmitteluser wählten zu 50% andere verbotene Einstiegsdrogen, vor allen Dingen Stimulantien und Beruhigungsmittel.

Drogen und Schule

Drogenabhängigkeit ist nicht ein plötzlich auftretendes Phänomen, sondern es entwickelt sich. Unsere moderne Gesellschaft hat sich Regeln und Normen aufgestellt, deren Bewältigung uns nicht selten zum Verhängnis wird. In den Lehrplänen des österreichischen Schulwesens werden sogenannte "Unterrichtsprinzipien" angeführt. Das Unterrichtsprinzip "Gesundheitserziehung" betrifft in erster Linie auch das Verständnis und die Ganzheit der Person, die physischen und psychischen Fragen der Gesundheit des Menschen und der Gesellschaft. Die Gesundheitserziehung soll fächerübergreifend erfolgen.

Ecstasy

Historischer Abriß

Der Stoff Ecstasy wurde 1912 das erste Mal von der Firma Merck synthetisiert. Es herrscht Unklarheit über den damaligen Verwendungszweck, da keine Aufzeichnungen im Archiv der Firma dokumentiert sind. Ecstasy wurde damals zwar patentiert, aber niemals vermarktet, so daß der Name bald an Bekanntheit verlor. In den 50er Jahren gab es erste toxikologische Untersuchungen dieses Mittels an Tieren, in den 60er Jahren verwendeten Psychotherapeuten Ecstasy in psycholytischen Therapien. Der chemische Name von Ecstasy ist 3,4 -Methylen-dioxy-methamphetamin, kurz MDMA genannt. MDMA verbessert den Zugang zu eigenen Gefühlen und inneren Konflikten. Angstbesetzte Inhalte werden leichter zugänglich gemacht. 1985 wurde MDMA in den USA in die Liste nicht verkehrsfähiger Mittel aufgenommen. Der erste Konsum von Ecstasy erfolgte in kleinen Zentren der USA in den 60er Jahren. Im Zeitraum von 1975 bis 1985 kam es zu einer Ausweitung des Bekanntheitskreises über die Ballungszentren. MDMA wurde flächendeckend konsumiert. Am 11. Februar 1986 nahm die UNO den Stoff in die Liste der psychotropen Stoffe auf. Als Begründung wurden seine neurotoxische Wirkung, seine Strukturanalogie zu bereits bekannten Amphetaminderivaten und schließlich das Fehlen notwendiger klinischer Daten angeführt. Am 1. August 1986 nimmt Deutschland MDMA in die Liste der Halluzinogene auf, wodurch dieser Stoff offiziell verboten wurde. Die Psychopharmazie reagierte darauf durch die Synthese eines Ersatzstoffes, nämlich MDE (EVE), welcher die chemische Bezeichnung 3,4-Methylen-dioxy-ethamphetamin trägt. Sie wollte damit das Gesetz umgehen. Am 28. Jänner 1991 wurde dieser Stoff in Deutschland ebenfalls verboten. Durch die sich immer mehr durchsetzende Techno-Musik kam es zu einer Verbindung von Ecstasy und Rave-Parties.

Biologische und toxikologische Befunde

In erster Linie greift MDMA ins Neurotransmittersystem des Zentralnervensystems ein. Zwischen zwei Nervenzellen gibt es eine Verbindungsstelle, den synaptischen Spalt. Ein elektrochemisches Signal läuft an das eine Ende der Nervenzelle ein (Präsynapse). In diesem Ende sind Vesikel, kleine Kammern, welche einen Neurotransmitter zum Inhalt haben. Die Vesikel werden durch das Signal veranlaßt, zur Membran der Präsynapse zu wandern, mit dieser zu verschmelzen und ihre Inhalte in den synaptischen Spalt zu gießen. Die Neurotransmittermoleküle wandern zur Membran der nächsten Nervenzelle (Postsynapse). An dieser befinden sich Rezeptormoleküle, welche mit dem Neurotransmitter eine Verbindung eingehen und ein Folgesignal in dieser auslösen.

Die Hauptwirkung von MDMA besteht in einer Interaktion mit dem serotonergen System und dem dopaminergen System des Nervensystems. Beides sind Transmittersyteme. MDMA bewirkt eine Erhöhung der Serotoninkonzentration im synaptischen Spalt. Dies geschieht so, daß es das Serotonin-Vesikel zur Wanderung an die Membran und zur Abgabe seines Inhaltes veranlaßt. Weiters kann Ecstasy die postsynaptischen Erkennungszellen der Membran blockieren.

Rauschwirkungen

Die Rauschwirkung von MDMA besteht, wie oben bereits erwähnt, in einer psychischen Befreiung. Personen unter Ecstasy-Wirkung werden allgemein sprechfreudiger. Gundsätzlich verstärkt es jedoch, wie jede andere Droge auch, die momentane Gefühlsstimmung. Ein schlechtes Gefühl wird also nicht aufgehoben, sondern sogar verstärkt. Die wichtigere Rauschwirkung ist ein Verschwindenlassen der natürlichen Leistungsgrenzen, ein wesentlicher Grund für den Einsatz auf Rave-Parties, wo manchmal tagelang durchgetanzt wird. Da wichtige körperliche Bedürfnisse wie Durst und Erholung ausgeschaltet werden, entsteht eine große physiologische Gefahr. Der Mensch muß seine Körpertemperatur konstant halten. Bei Überhitzung gibt es diverse Kühlsysteme im Körper. Eine Kühlmethode ist die Sekretion von Schweiß, also von Körperflüssigkeit. Da durch MDMA das Durstgefühl ausgeschaltet wird, verfügt der Körper über zu wenig "Kühlflüssigkeit", eine Folgeerscheinung ist der Tod. MDMA-Konsumenten sollten daher bewußt regelmäßig Flüssigkeit zu sich nehmen.

Erfahrungen aus der Praxis:

Walter geht mit seiner Freundin auf eine Rave-Party. Obwohl es sich herumgesprochen hat, Ecstasy nicht zusammen mit Alkohol einzunehmen, konsumiert er alkoholische Getränke. Er nimmt auch die Ecstasy-Tablette, die er um 250.- auf dem Wiener Karlsplatz erstanden hat. Walter und seine Freundin haben viel Spaß beim Tanzen. Nach etwa zwei Stunden ist die Wirkung der Tablette abgeklungen. Sie fahren zu ihm in die Wohnung. Aus ihm unerklärbaren Gründen verliert er die Kontrolle über sich. Er gerät in Raserei und demoliert seine Wohnung.

Monika bekommt zu ihrem Geburtstag eine LSD-Tablette. Sie ist begeisterte Schifahrerin und nimmt an einem Schitag die Tablette. Diese steigert die gute Stimmung, die sie ohnehin hatte, ins Unendliche. Die Landschaft zieht in berauschender Weise bei der Abfahrt an ihr vorbei. Nach ihren Schilderungen konnte sie jeden einzelnen Schneekristall deutlich erkennen. Nach zwei Stunden ist die Wirkung vorbei. Es war für sie ein tolles Erlebnis. Seit damals hat sie LSD nie wieder genommen. Sie hat erfahren, daß es bei Einnahme dieser Droge zu sogenannten Flash-Backs kommen kann, das sind spontane psychische Erlebnisse mit beängstigenden Inhalten, die ohne Einnahme der Droge und ohne jede Vorwarnung auftreten können. Sie weiß heute auch, daß diese Erlebnisse auch bei anderen Drogen auftreten können.

Thomas hat einmal Drogen genommen. Er leidet unter Flash-back-Phänomene. Unlängst ist er über einen Platz gegangen, als plötzlich ein Dämon aus dem Kanalgitter gesprungen ist und er zurückschreckte. Für vorübergehende Personen war seine Abwehrreaktion mit den Händen merkwürdig anzusehen. Für ihn selbst ist es ein großes Problem.

DISKUSSION:

Sollen Drogen legalisiert werden ?

LITERATURANGABE:

RABES, W., HARM, W. (1997): XTC und XXL - Wirkungen, Risiken, Vorbeugungsmöglichkeiten und Jugendkultur.- 254 Seiten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek.

ANDREAS-SILLER, P. (1991): Kinder und Alltagsdrogen - Suchtprävention und Kindergarten und Schule.-151 S., Peter Hammer Verlag, Wuppertal

HACKER, P., DAVID, A. (1997): Wiener Drogenbericht 1996.- 192 S., Magistrat der Stadt Wien, Wien
 
 


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