Universität Wien

Franz Martin Wimmer

Geschichtsphilosophie: Annahmen von Gesetzmäßigkeiten - das Beispiel der morphologischen Theorien

Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie WS 2013

Übersicht gesamt:

1. Vorlesung: Begriffliches, Bedeutungen von "Geschichte", Geschichtstheorie als Theorie von "stories" (H. White)
2. Vorlesung: Thema 1: Vorstellungen zum Verlauf von Geschichte
3. Vorlesung: Thema 2: Akteure und Faktoren
4. Vorlesung: Thema 3: Annahmen von Gesetzmäßigkeiten
5. Vorlesung: Thema 4: Erkennbarkeit - idiographisch vs nomothethisch
6. Vorlesung: Thema 5: Erklärbarkeit - hermeneutisch vs szientistisch
7. Vorlesung: Thema 6: Perspektivität und Objektivität

Vierte Vorlesung (19. 11. 2013)

Übersicht der vierten Vorlesung:
Breysig | Spengler | Toynbee

Die Frage nach Gesetzesannahmen im Allgemeinen wird im zweiten Abschnitt der Vorlesung im Zusammenhang mit dem Begriff der "Erklärung" die zentrale Rolle spielen.
Im Zusammenhang des ersten Abschnitts, der spekulativen Geschichtsphilosophie, will ich drei Autoren des 20. Jahrhunderts anführen, deren Grundidee darin liegt, dass es in der Menschheitsgeschichte bestimmte Gestaltungen gibt ("Kulturen"), deren Verlauf die eigentliche Geschichte ausmache.
Sofern die so gedachten "Kulturen" als biomorph (Breysig, Spengler) oder soziomorph (Toynbee) aufzufassen sind, spielt vor allem der Begriff einer ENTWICKLUNG eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Notizen zum Entwicklungsbegriff:
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Vgl. zum Thema:
Franz Martin Wimmer: "Gibt es interkulturell begründbare Maßstäbe zur Bewertung kultureller Entwicklung?" In Crossing Borders – Grenzen (über)denken – Thinking (across) Boundaries. Beiträge zum 9. Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Philosophie, Hg.: Alfred Dunshirn, Elisabeth Nemeth und Gerhard Unterthurner, S.  57-80. Wien: ögp, 2012.
Im Internet: http://phaidra.univie.ac.at/o:128384


Kurt BREYSIG (1866-1940)

Geschichtsphilosophisches Hauptwerk: Der Stufenbau und die Gesetze der Weltgeschichte, 1905 (2. verm. Aufl. Stuttgart 1927)

Breysig bekommt in den 1920er Jahren einen Lehrstuhl für Geschichte an der Berliner Universität und wird bereits Anfang der dreißiger Jahre pensioniert. Als Schüler Droysens und Schmollers ist Breysig ein Exponent konservativer Politik, doch galt er als Außenseiter, nachdem er sich der vergleichenden Kulturgeschichte zugewandt hatte: "erst die sozialdemokratische Regierung Preußens errichtete in den zwanziger Jahren geegen den Widerstand seiner Kollegen einen Lehrstuhl für Breysig". (G. Iggers, Neue Geschichtswissenschaft, München: dtv 1978, S. 101; vgl. zu Breysig auch: Franz Hampl: Geschichte als kritische Wissenschaft, Bd. 1, Darmstadt 1975, S. 73 ff., sowie: Bernhard vom Brocke: Kurt Breysig. Geschichtswissenschaft zwischen Historismus und Soziologie, Lübeck 1971).

Breysig will in seiner Geschichtsdarstellung stets von Fakten ausgehen und zu einer übergreifenden Gesamtschau gelangen. Dabei steht für ihn die Kulturgeschichte im Zentrum, die er als Geschichte von "Seelen" in Analogie zu Lebewesen interpretiert.
So legt Breysig eine Stufentheorie der Kulturen vor:
Jede Kultur sei darauf angelegt, eine bestimmte, höchste Stufe uzu erreichen, woraufhin sie absterben wird. Nicht jede Kultur aber erreicht die ihr mögliche höchste Stufe der Entwicklung, einige sterben schon davor - im Stadium der "Primitivität", des "Mittelalters" usw. - ab: dafür, dass eine Kultur de facto fähig ist, bei guten äußeren Bedingungen zur Reife zu kommen, ist die Rasse ausschlaggebend, wobei die "arische" Rasse als die höchste oder fähigste angenommen wird.

Es gibt also für Breysig eine Pyramide von Völkern oder Kulturen:
a) Es gibt Völker "ewiger Urzeit", sie bilden in der Menschheitsgeschichte die niederste Stufe der Pyramide.
b) Es gibt Völker, die bis zum "Altertum" gelangen und
c) schließlich einige wenige Völker - die Griechen, die Römer, die abendländischen Völker -, die die Stufe der "Neueren und Neuesten Zeit" erreichen. Die Mexikaner, die auf dem Weg dazu waren, wurden vorzeitig gestoppt, ihre Kulturentwicklung unterbrochen.

Der Vergleich und der Unterschied zwischen den einzelnen Stufen ergibt sich aus dem Vergleich staatlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse (z.B. der Institutionen des Rittertums, des Adels, der Sklaverei). Deren Untersuchung zeigt dann auch gewisse Entwicklungsgesetze auf, z.B.: wo es eine starke Königsherrschaft gibt, wird zwangsläufig Adel entstehen.

In Breysigs Geschichtsbild fallen einige Inkonsistenzen durchgehend auf:
1) Von Ernst von Lasaulx (1856: Neuer Versuch einer alten auf die Wahrheit der Thatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte)  übernimmt Breysig die These, Kulturen würden etwa 1000 Jahre leben und dann sterben. Wieso aber sterben die meisten Kulturen dann "in jungen Jahren", wie er sie schildert?
2) Die abendländische Kultur soll von der allgemeinen Sterblichkeit der Kulturen ausgenommen sein - dies wird von Breysig nicht explizit diskutiert, aber implizit angenommen. Explizit wird sich mit dieser Frage später Toynbee auseinandersetzen.



Oswald SPENGLER (1880-1936)

Spengler hatte Naturwissenschaften studiert und sich in Mathematik habilitiert, war Lehrer in Hamburg und lebte zuletzt als Privatgelehrter in München. Von seinen Schriften sind vor allem zu nennen:

Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, 2 Bände (1918-21)
Preußentum und Sozialismus. 1925.
Jahre der Entscheidung 1: Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung. 1933

Eine Bibliographie findet sich bei A.M. Koktanek: Oswald Spengler in seiner Zeit. München: dtv 1968.
Von den zahlreichen Kritiken an Spengler seien genannt:

Hans Thirring: Anti-Nietzsche. Anti-Spengler. Gesammelte Aufsätze und Reden zur demokratischen Erziehung. Wien: Sexl, 1947.
Georg Lukacs: Die Zerstörung der Vernunft, Neuwied: Luchterhand 1962
Für Spengler hat (außer dem schon genannten Buch von Koktanek z.B. Partei ergriffen:
M. Schröter: Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker (1922, wieder in: Metaphysik des Untergangs. Eine kulturkritische Studie über Oswald Spengler, 1949)

In Spenglers Sicht ist die Weltgeschichte nicht ein Kontinuum, sondern eine Reihe von Kontinua, die voneinander grundsätzlich getrennt sind, miteinander grundsätzlich nicht in Beziehung stehen: es handelt sich somit nicht um eine Entwicklungsgeschichte, wenngleich in jeder einzelnen Einheit Entwicklung stattfindet. Die grundlegenden Einheiten der Geschichte nennt auch Spengler "Kulturen". Sie treten nach- und neben einander in eigenständiger Weise auf und sind jeweils für sich Ausdruck eines bestimmten "Seelentums". So kennt Spengler etwa aus der Vergangenheit Europas drei derartige "Kulturen": die griechische als Ausdruck der "apollinischen Seele", die arabische ("magische Seele") und die germanisch-abendländische Kultur, deren Träger die "faustische" Seele ist.

Diese Kulturen verhalten sich durchgehend wie Pflanzen: sie sind ortsgebunden, wachsen, bringen Blüte und Frucht hervor, welken und sterben. Ihre durchschnittliche Vegetationszeit beträgt 1000 Jahre. Nach dieser Frist treten die Kulturen, wenn ihre Träger nicht von einer neu aufstrebenden Kultur vernichtet werden, in ihr letztes, steriles Stadium ein, dasjenige der "Zivilisation": sie sind nicht mehr schöpferisch, können sich allerdings in organisatorischer und materieller Hinsicht ins Gigantische ausbreiten.
Ein Vergleich aller Kulturen und zugleich eine Prognose für die Gegenwart ist nach Spengler möglich durch das Aufsuchen von Parallelen zwischen den einzelnen Kulturen, die stets wiederkehrende Gestalten und Rhythmen aufweisen. Dieses Verfahren führt ihn zu der Diagnose, dass in seiner Gegenwart der Untergang der faustisch-abendländischen Kultur bereits stattgefunden habe und ihre Fortsetzung nur noch in einer gigantischen "Zivilisation" zu erwarten sei.

Folgende Themen werden wir an Spenglers Hauptwerk untersuchen:

a) Die morphologische Methode der Geschichtsbetrachtung

b) Die Einheit von Kulturen in Hinsicht auf Denkform, Raum und Kunst
c) Die Serie der Weltkulturen (ägyptisch, chinesisch, babylonisch, indisch, antik-mediterran, arabisch, abendländisch, amerikanisch)
d) Diagnose und Prognose der Zivilisation
e) "Zivilisation" als Ideologem?

a) Morphologie als Methode


Spengler verweist auf alte Traditionen der Parallelisierungen und Analogie-Beschreibungen in der Geschichte, die er als bloß metaphorische Vorstufen seiner Methode ansieht. Sie seien immer undeutlich gewesen in dem Sinn, dass sie zwar plausible Zusammenordnungen, aber keine innere Zwangsläufigkeit angeben konnten.
Es kommt Spengler nun darauf an, wesentliche und notwendige Verbindungen zu sehen:

"Die Historiker der Gegenwart glauben ein übriges zu tun, wenn sie religiöse, soziale und allenfalls kunsthistorische Einzelheiten heranziehen um den politischen Sinn einer Epoche zu 'illustrieren'. Aber sie vergessen das Entscheidende - entscheidend nämlich, insofern sichtbare Geschichte Ausdruck, Zeichen, formgewordenes Seelentum ist Ich habe noch keinen gefunden, der mit dem Studium der morphologischen Verwandtschaft, welche die Formensprache aller Kulturgebiete innerlich verbindet, Ernst gemacht hätte, der über den Bereich politischer Tatsachen hinaus die letzten und tiefsten Gedanken der Mathematik der Hellenen, Araber, Inder, Westeuropäer, den Sinn ihrer frühen Ornamentik, ihrer architektonischen, metaphysischen dramatischen, lyrischen Grundformen, die Auswahl und Richtung ihrer großen Künste, die Einzelheiten ihrer künstlerischen Technik und Stoffwahl eingehend gekannt, geschweige denn in ihrer entscheidenden Bedeutung für die Formprobleme des Historischen erkannt hätte. Wer weiß es, daß zwischen der Differentialrechnung und dem dynastischen Staatsprinzip der Zeit Ludwigs XIV., zwischen der antiken Staatsform der Polis und der euklidischen Geometrie, zwischen der Raumperspektive der abendländischen Ölmalerei und der Überwindung des Raumes durch Bahnen, Fernsprecher und Fernwaffen, zwischen der kontrapunktischen Instrumentalmusik und dem wirtschaftlichen Kreditsystem ein tiefer Zusammenhang der Form besteht? Selbst die nüchternsten Tatsachen der Politik nehmen, aus dieser Perspektive betrachtet, einen symbolischen und geradezu metaphysischen Charakter an, und es geschieht hier vielleicht zum ersten Male, daß Dinge wie das ägyptische Verwaltungssystem, das antike Münzwesen, die analytische Geometrie, der Scheck, der Suezkanal, der chinesische Buchdruck, das preußische Heer und die römische Straßenbautechnik gleichmäßig als Symbole aufgefaßt und als solche gedeutet werden. ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,8f.)

Nicht für jeden Beobachter des Geschehens gibt es jedoch "Geschichte", es kommt ganz auf den Deutenden an: was unter "Natur", was unter "Geschichte" begriffen wird, ist nicht notwendigerweise wirklich:

"Hier liegen zwei Möglichkeiten der Weltbildung durch den Menschen vor. Damit ist schon gesagt daß es nicht notwendig Wirklichkeiten sind. Fragen wir also im folgenden nach dem Sinn aller Geschichte, so ist zuerst eine Frage zu lösen, die bisher nie gestellt worden ist. Für wen gibt es Geschichte? Eine paradoxe Frage, wie es scheint. Ohne Zweifel für jeden, insofern jeder Mensch mit seinem gesamten Dasein und Wachsein Glied der Geschichte ist. Aber es ist ein großer Unterschied, ob jemand unter dem beständigen Eindruck lebt, daß sein Leben ein Element in einem weit größeren Lebenslauf ist, der sich über Jahrhunderte oder Jahrtausende erstreckt, oder ob er es als etwas in sich selbst Gerundetes und Abgeschlossenes empfindet. Sicherlich gibt es für die letztere Art des Wachseins keine Weltgeschichte, keine Welt als Geschichte. Aber wie, wenn das Selbstbewußtsein einer ganzen Nation, wenn eine ganze Kultur auf diesem ahistorischen Geiste beruht?" ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,10)

So haben beispielsweise die Griechen in Spenglers Augen nicht im eigentlichen Sinn Geschichte geschrieben, noch weniger die Inder:

"Was der Grieche Kosmos nannte, war das Bild einer Welt, die nicht wird, sondern ist. Folglich war der Grieche selbst ein Mensch, der niemals wurde, sondern immer war.
Deshalb hat der antike Mensch, obwohl er die strenge Chronologie, die Kalenderrechnung und damit das starke, in großartiger Beobachtung der Gestirne und in der exakten Messung gewaltiger Zeiträume sich offenbarende Gefühl für Ewigkeit und für die Nichtigkeit des gegenwärtigen Augenblicks in der babylonischen und vor allem der ägyptischen Kultur sehr wohl kannte, sich innerlich nichts davon zu eigen gemacht. ...
Was die antike Geschichtsschreibung betrifft, so richte man seinen Blick auf Thukydides. Die Meisterschaft dieses Mannes besteht in der echt antiken Kraft, Ereignisse der Gegenwart aus sich selbst heraus verstehend zu erleben, und dazu kommt jener prachtvolle Tatsachenblick des geborenen Staatsmannes, der selbst Feldherr und Beamter gewesen war. Diese praktische Erfahrung, die man leider mit historischem Sinn verwechselt, läßt ihn geschichtsschreibenden bloßen Gelehrten mit Recht als unerreichtes Muster erscheinen. Was ihm aber vollkommen verschlossen bleibt, ist jener perspektivische Blick über die Geschichte von Jahrhunderten hin, der für uns mit Selbstverständlichkeit zum Begriff des Historikers gehört." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,12f.)

"Die indische Kultur, deren Idee vom (brahmanischen) Nirwana der entschiedenste Ausdruck einer vollkommen ahistorischen Seele ist, den es geben kann, hat nie das geringste Gefühl für das "Wann" in irgendeinem Sinne besessen. Es gibt keine echte indische Astronomie, keine indischen Kalender, keine indische Historie also, insofern man darunter den geistigen Niederschlag einer bewußten Entwicklung versteht." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,15)

Die Ägypter wiederum hätten zuviel Geschichte, sie seien zu weit gegangen in ihrer Fixierung auf die Vergangenheit:

"Die ägyptische Seele, eminent historisch veranlagt und mit urweltlicher Leidenschaft nach dem Unendlichen drängend, empfand die Vergangenheit und Zukunft als ihre ganze Welt, und die Gegenwart, die mit dem wachen Bewußtsein identisch ist, erschien ihr lediglich als die schmale Grenze zwischen zwei unermeßlichen Fernen." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,16)

Nur "wir Abendländer" haben streng genommen historischen Sinn, es handelt sich also um eine Fähigkeit der "faustischen" Seele: darum können auch nur Abendländer die historische Wirklichkeit (ihrer selbst und diejenige anderer) erkennen:

"Wir Menschen der westeuropäischen Kultur sind mit unserem historischen Sinn eine Ausnahme und nicht die Regel, "Weltgeschichte" ist unser Weltbild, nicht das "der Menschheit". Für den indischen und den antiken Menschen gab es kein Bild der werdenden Welt und vielleicht wird es, wenn die Zivilisation des Abendlandes einmal erloschen ist, nie wieder eine Kultur und also einen menschlichen Typus geben, für den "Weltgeschichte" eine so mächtige Form des Wachseins ist." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,20f.)

Entsprechend der Grundthese, dass die Menschheitsgeschichte die Geschichte von voneinander unabhängigen Kontinua (Kulturen) sei, lehnt Spengler alte Schemata der Periodentrennung entschieden ab:

"Altertum - Mittelalter - Neuzeit: das ist das unglaubwürdig dürftige und sinnlose Schema, dessen unbedingte Herrschaft über unser geschichtliches Denken uns immer wieder gehindert hat, die eigentliche Stellung der kleinen Teilwelt, wie sie sich seit der deutschen Kaiserzeit auf dem Boden des westlichen Europa entfaltet, in ihrem Verhältnis zur Gesamtgeschichte des höheren Menschentums nach ihrem Range, ihrer Gestalt, ihrer Lebensdauer vor allem richtig aufzufassen. ... Es beschränkt den Umfang der Geschichte, aber schlimmer ist, daß es auch ihren Schauplatz begrenzt. ... Man wählt eine einzige Landschaft zum natürlichen Mittelpunkt eines historischen Systems. Hier ist die Zentralsonne. Von hier aus erhalten alle Ereignisse der Geschichte ihr wahres Licht. ... Daß für die Kultur des Abendlandes das Dasein von Athen, Florenz, Paris wichtiger ist als das von Lo-yang und Pataliputra, versteht sich von selbst. Aber darf man solche Wertschätzungen zur Grundlage eines Schemas der Weltgeschichte machen?" ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,21-23)

Solche Schemata hätten den Mangel, sowohl europazentriert, als auch räumlich und zeitlich beschränkt zu sein und somit stellen sie ein "ptolemäisches System" der Geschichte dar:

"Ich nenne dies dem heutigen Westeuropäer geläufige Schema, in dem die hohen Kulturen ihre Bahnen um uns als den vermeintlichen Mittelpunkt alles Weltgeschehens ziehen, das ptolemäische System der Geschichte und ich betrachte es als die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß in diesem Buche ein System an seine Stelle tritt, in dem Antike und Abendland neben Indien, Babylon, China, Ägypten, der arabischen und mexikanischen Kultur - Einzelwelten des Werdens, die im Gesamtbilde der Geschichte ebenso schwer wiegen, die an Großartigkeit der seelischen Konzeption, an Gewalt des Aufstiegs die Antike vielfach übertreffen - eine in keiner Weise bevorzugte Stellung einnehmen." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,24; vgl. II 599f)

Dieses "ptolemäische" Geschichtsbild, das in Europa immer noch vorherrsche, ist für Spengler selbst die Schöpfung einer bestimmten, nämlich der magisch-arabischen Kultur (die vor ihm niemand kannte, auch nicht deren Angehörige selbst, er hat sie erst entdeckt). Es ist in diesem Zusammenhang merkwürdig und auffallend, dass das eigentlich "faustisch-abendländische" Geschichtsbild (das einzige Geschichtsbild vom Gesamtverlauf der Menschheitsgeschichte, das überhaupt jemals entworfen worden sei) erst nach der Vollendung der entsprechenden (=abendländischen) Kultur - eben mit Lasaulx, Spengler u.a. - entwickelt werden konnte - ein Gedanke, der unwillkürlich an Hegels "Eule der Minerva" denken lässt, die ihren Flug auch erst in der Abenddämmerung, keineswegs in der Morgendämmerung beginnt, und mithin zur Orientierung im Handeln am Tag vor der Dämmerung, also in der Gegenwart wenig beiträgt. Diesen allgemein vorherrschenden alten Schemata setzt nun Spengler sein eigenes Bild der Geschichte entgegen:

..."die Menschheit" hat kein Ziel, keine Idee, keinen Plan, so wenig wie die Gattung der Schmetterlinge oder der Orchideen ein Ziel hat. "Die Menschheit" ist ein zoologischer Begriff oder ein leeres Wort. Man lasse dies Phantom aus dem Umkreis der historischen Formprobleme schwinden und man wird einen überraschenden Reichtum wirklicher Formen auftauchen sehen. Hier ist eine unermeßliche Fülle, Tiefe und Bewegtheit des Lebendigen, die bis jetzt durch ein Schlagwort, durch ein dürres Schema, durch persönliche "Ideale" verdeckt wurde. Ich sehe statt jenes öden Bildes einer linienförmigen Weltgeschichte, das man nur aufrecht erhält, wenn man vor der überwiegenden Menge der Tatsachen das Auge schließt, das Schauspiel einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit urweltlicher Kraft aus dem Schoße einer mütterlichen Landschaft, an die jede von ihnen im ganzen Verlauf ihres Daseins streng gebunden ist, aufblühen, von denen jede ihrem Stoff, dem Menschentum, ihre eigne Form aufprägt, von denen jede ihre eigne Idee, ihre eignen Leidenschaften, ihr eignes Leben, Wollen, Fühlen, ihren eignen Tod hat. ... Ich sehe in der Weltgeschichte das Bild einer ewigen Gestaltung und Umgestaltung, eines wunderbaren Werdens und Vergehens organischer Formen. Der zünftige Historiker aber sieht sie in der Gestalt eines Bandwurms, der unermüdlich Epochen "ansetzt". ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975, 28f.)

Es gibt nach Spengler eine Mehrzahl von "Kulturen" (nämlich acht), sie entstehen in und aus "Landschaften", an die sie wie Pflanzen gebunden sind. Jede hat ihre eigene Form, eigene Sprachen, Wahrheiten, Götter, Trägervölker, Kunstformen, Mathematiken und Physiken; und jede ist, wie eine Pflanzenart, in sich geschlossen.

"Daß innerhalb der Menschengeschichte plötzlich der Typus der hohen Kultur erscheint, ist ein Zufall, dessen Sinn nicht nachzuprüfen ist. Es ist auch ungewiß, ob nicht ein plötzliches Ereignis im Dasein der Erde eine ganz andre Form zum Vorschein bringt. Aber die Tatsache, daß acht solcher Kulturen vor uns liegen, alle von gleichem Bau, gleichartiger Entwicklung und Dauer, gestattet uns eine vergleichende Betrachtung und damit ein Wissen, das sich über verschollene Epochen rückwärts und über bevorstehende vorwärts erstreckt, immer unter der Voraussetzung, daß nicht ein Schicksal anderer Ordnung diese Formenwelt überhaupt plötzlich durch eine neue ersetzt. Ein Recht dazu gibt uns die allgemeine Erfahrung vom organischen Dasein." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975I, 597)

Dass eine Erkenntnis vom Werden, Blühen und Vergehen von Kulturen möglich sei, wird hier von Spengler zwar emphatisch behauptet, es ist aber nicht recht einzusehen, wie dies bei seinen eigenen Voraussetzungen überhaupt möglich sein soll. Wir müssen uns fragen, ob dies nicht gerade Spenglers zentraler These vom unabhängigen Entstehen und umfassender Authentizität von Kulturen widerspricht: wenn nämlich jede davon ihre "eignen" Ideen etc. hat, wie im vorigen Zitat zu lesen war, wenn dies sich auf alle Wissenschaften, Künste, die Philosophie usw. bezieht, so leuchtet eben gar nicht ein, wie ein zuverlässiges Wissen und objektives Sprechen über fremde Kulturen möglich sein sollte. Gibt es denn überhaupt Kategorien zur Beschreibung fremder Kulturen unter diesen Voraussetzungen? Nietzsches Unterscheidung von "Dionysischem" und "Apollinischem" beispielsweise - lässt sie sich auch auf die hochzivilisierten Chinesen anwenden? Es gibt nach Spengler jedenfalls keine ewigen Werte, keine allgemeingültigen Vorstellungen oder Ideen: "Allgemeingültigkeit ist immer der Fehlschluß von sich auf andere." (I, 32). Es gibt auch keine "wahre" Philosophie oder dergleichen:

"Die Erscheinung andrer Kulturen redet eine andre Sprache. Für andere Menschen gibt es andere Wahrheiten. Für den Denker sind sie alle gültig oder keine." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975, 34)
Wie steht es denn mit den "ewigen Errungenschaften" in der Philosophie und Wissenschaft? Wir müssen immer wieder hören, wieviel von der griechischen Philosophie noch heute fortlebt. Aber das bleibt eine Redensart ohne eine gründliche Aufstellung dessen, was erst der magische und dann der faustische Mensch mit der tiefen Weisheit ungebrochener Instinkte abgelehnt, nicht bemerkt oder unter Beibehaltung der Formeln planmäßig anders verstanden hat. Der naive Glaube gelehrter Begeisterung täuscht sich hier. ... Was wir in Wirklichkeit von der griechischen Philosphie auch nur an Äußerlichem besitzen, ist so gut wie nichts. Man sei doch ehrlich und nehme die alten Denker beim Wort: nicht ein Satz Heraklits, Demokrits, Platos ist für uns wahr, wenn wir ihn nicht erst zurechtmachen." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975I, 621)

Es gibt allerdings nach Spengler die Möglichkeit, eine kopernikanische Sicht der Geschichte der ptolemäisch-zentristischen entgegenzusetzen; Goethes Methode der analogen Beschreibung ist für ihn ein Schlüssel dazu:

"Nachfühlen, Anschauen, Vergleichen, die unmittelbare innere Gewißheit, die exakte sinnliche Phantasie - das waren seine (Goethes, FW) Mittel, dem Geheimnis der bewegten Erscheinung nahe zu kommen. Und das sind die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt. Es gibt keine anderen." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,35)

Damit ist zugleich die zeitlich und inhaltlich letzte Aufgabe der faustisch-abendländischen Kultur formuliert:

"Die systematische Philosophie liegt uns heute unendlich fern; die ethische ist abgeschlossen. Es bleibt noch eine dritte, dem antiken Skeptizismus entsprechende Möglichkeit innerhalb der abendländischen Geisteswelt, die, welche durch die bisher unbekannte Methode der vergleichenden historischen Morphologie bezeichnet wird. Eine Möglichkeit, das heißt eine Notwendigkeit. ... Wir nehmen ... die Geschichte der Philosophie als letztes ernsthaftes Thema der Philosophie an. Das ist Skepsis. Man verzichtet auf absolute Standpunkte, der Grieche, indem er über die Vergangenheit seines Denkens lächelt, wir, indem wir sie als Organismus begreifen. ... Damit fällt auch der Anspruch des höheren Denkens, allgemeine und ewige Wahrheiten zu besitzen. Wahrheiten gibt es nur in bezug auf ein bestimmtes Menschentum. Meine Philosophie selbst würde demnach Ausdruck und Spiegelung nur der abendländischen Seele, im Unterschiede etwa von der antiken und indischen, und zwar nur in deren heutigem zivilisierten Stadium sein, womit ihr Gehalt als Weltanschauung, ihre praktische Tragweite und ihr Geltungsbereich bestimmt sind." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975, 63f, vgl. auch S.81)

Was also ist der Kern von Spenglers Methode? Spengler vertritt medhodologisch einen durchgehenden Kulturrelativismus. Die entscheidenden Voraussetzungen seiner Methode liegen an drei Stellen: erstens darin, dass er jede "Kultur" als eine nach außen geschlossene Totalität vorstellt; zweitens in der Annahme, dass jede dieser Totalitäten im Ganzen als systematisch-zwangsläufig geordnetes Gebilde anzusehen sei, das ein einziges Zentrum habe; drittens in der These, dass dieses Zentrum bei jeder Kultur ein und dasselbe sei, nämlich der Begriff der Zahl bzw. die Auffassung von mathematischen Sachverhalten. Man muss sich fragen, aufgrund welcher Daten oder mit welchen Instanzen er in der Lage wäre, diese methodologischen Annahmen zu rechtfertigen.

Zumindest fällt dabei die Zirkelhaftigkeit zentraler Thesen auf: Die behauptete Wahrheit des Satzes

"Es gibt mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere Kulturen gibt"
wird genau dadurch überprüfbar, dass zuvor schon "mehrere Kulturen" unterschieden worden sind. Dabei aber war das Unterscheidungskriterium wiederum der Zahlbegriff.
"Die Zahl" wird zuerst nur "als ein Beispiel" eingeführt (I, 75), aber doch aus dem Grund, "weil die Mathematik ... einen einzigartigen Rang unter allen Schöpfungen des Geistes behauptet." (I, 75f) Diese Einzigartigkeit bestehe darin, dass die "Zahl .. den letzten Sinn der Welt als Natur" (I, 76) enthalte. Es handelt sich also wohl nicht nur um "ein Beispiel", ein Unterscheidungskriterium neben möglichen anderen, sondern um das einzig entscheidende. Der Zirkel liegt darin, dass diese Zahlenwelten erst entdeckbar wurden nach einer vorgängigen Unterscheidung von Kulturen.

b) Die Einheit einer Kultur

Erster und grundlegender Ausgangspunkt für die Unterscheidung von Kulturen ist für Spengler der Begriff der Zahl oder allgemeiner: der Mathematik, die eine Kultur entwickelt hat.

"Ich wähle als Beispiel für die Art, wie eine Seele sich im Bilde ihrer Umwelt zu verwirklichen sucht, inwiefern also gewordene Kultur Ausdruck und Abbild einer Idee menschlichen Daseins ist, die Zahl, die aller Mathematik als schlechthin gegebenes Element zugrunde liegt." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975, 75

Es ist nach dem Mathematiker Spengler ein Irrtum, zu glauben, es gäbe eine Geschichte der Mathematik, vielmehr gebe es allerhöchstens - das heißt: in einzelnen Fällen - eine Abfolge grundlegend verschiedener Mathematiken, die sich zueinander nicht in einem Verhältnis der "Richtigkeit" oder "Wahrheit" bzw. Unwahrheit verhalten, sondern schlicht "anders" sind. Im Fall der Reihe: griechische-arabische-abendländische Mathematik sieht Spengler eine gewisse Ausnahme, hier drängt sich (auch ihm) der Schein einer Entwicklung auf. Tatsächlich aber treffe auch in diesem Fall zu, was bei anderen Gestalten mathematischen Denkens ohnedies offensichtlich sei: dass sie eben nicht im Verhältnis einer Entwicklung zueinander stünden, sondern der bloßen Andersheit:

"Eine Zahl an sich gibt es nicht und kann es nicht geben. Es gibt mehrere Zahlenwelten, weil es mehrere Kulturen gibt. ... Es gibt ... mehr als eine Mathematik.
... Es gibt keine Mathematik, es gibt nur Mathematiken.

...Richtig, überzeugend, "denknotwendig" ist eine mathematische und überhaupt eine wissenschaftliche Denkweise, wenn sie vollkommen dem eigenen Lebensgefühl entspricht. Andernfalls ist sie unmöglich, verfehlt, unsinnig, oder, wie wir mit dem Hochmut historischer Geister zu sagen vorziehen, "primitiv". Die moderne Mathematik, ein Meisterstück des abendländischen Geistes - "wahr" allerdings nur für ihn -, wäre Plato als lächerliche und mühselige Verirrung auf dem Wege erschienen, der wahren Mathematik, der antiken nämlich, beizukommen..." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975,, 79, 82, 90f.

Dasselbe trifft auch auf die Erkenntnisformen zu, weswegen der Gruindirrtum Kants nach Spengler darin liegt, hier der Illusion einer überzeitlichen und überkulturellen Denknotwendigkeit aufgesessen zu sein:

"Neben gewissen Zügen von zweifellos weitreichender Geltung, die wenigstens scheinbar unabhängig davon sind, zu welcher Kultur, in welches Jahrhundert der Erkennende gehört, liegt allem Denken auch noch eine ganz andere Notwendigkeit der Form zugrunde, welcher der Mensch eben als Glied einer bestimmten und keiner anderen Kultur mit Selbstverständlichkeit unterworfen ist. Das sind zwei sehr verschiedene Arten des apriorischen Gehaltes und es ist eine nie zu beantwortende, weil jenseits aller Erkenntnismöglichkeiten liegende Frage, welches die Grenze zwischen ihnen ist und ob es eine solche überhaupt gibt." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975, 81)

Zur Illustration der These sei das Schema angeführt, das Spengler für die Unterscheidung des antiken vom abendländischen Zahlenbegriff vorlegt:

Antike Abendland

1. Konzeption einer neuen Zahl

Um 540v
Die Zahl als Größe
Die Pythagoräer
(Um 470 Sieg der Plastik über die Freskomalerei)
Um 1630
Die Zahl als Beziehung
Descartes, Fermat, Pascal Newton, Leibniz (1670)
(Um 1670 Sieg der Musik über die Ölmalerei)

2. Höhepunkte der systematischen Entwicklung

450-350
Plato, Archytas, Eudoxos (Phidias, Praxiteles)
1750-1800
Euler, Lagrange, Laplace (Gluck, Haydn, Mozart)

3. Innerer Abschluß der Zahlenwelt

300-250
Euklid, Apollonios, Archimedes (Lysippos, Leochares)
Nach 1800
Gauß, Cauchy, Riemann (Beethoven)

(ed.cit. I, 124)


Ein zweiter Einheitsgesichtspunkt einer Kultur ergibt sich, neben der Zahl, aus dem Begriff der Landschaft, in der Pflanzen wachsen:

"Eine Pflanze ist nichts für sich. Sie bildet einen Teil der Landschaft, in der ein Zufall sie Wurzel zu fassen zwang. ... Es steht der einzelnen nicht frei, für sich zu warten, zu wollen oder zu wählen." (Zitat II, 557 ff)

Es handelt sich bei Kulturen nach Spengler um "Organismen", die ihre eigene Gestalt zwangsläufig und ohne willentlichen Vorsatz hervorbringen

"Kulturen sind Organismen. Weltgeschichte ist ihre Gesamtbiographie. Die ungeheure Geschichte der chinesischen oder antiken Kultur ist morphologisch das genaue Seitenstück zur Kleingeschichte des einzelnen Menschen, eines Tieres, eines Baumes oder einer Blume. Das ist für den faustischen Blick keine Forderung, sondern eine Erfahrung. Will man die überall wiederholte innere Form kennen lernen, so hat die vergleichende Morphologie der Pflanzen und Tiere längst die Methode dazu vorbereitet. Im Schicksal der einzelnen, aufeinander folgenden, nebeneinander aufwachsenden, sich berührenden, überschattenden, erdrückenden Kulturen erschöpft sich der Gehalt aller Menschengeschichte." (Zitat I, 140)

Organismen unterliegen dem jeweils arteigenen Rhythmus von Geburt, Wachstum, Reife, Tod, wobei letzteres Stadium bei Kulturen in ihrem Übergang in die "Zivilisation", d.h. in ihrem "Untergang" besteht.

"Eine Kultur wird in dem Augenblick geboren, wo eine große Seele aus dem urseelenhaften Zustande ewig-kindlichen Menschentums erwacht, sich ablöst, eine Gestalt aus dem Gestaltlosen, ein Begrenztes und Vergängliches aus dem Grenzenlosen und Verharrenden. Sie erblüht auf dem Boden einer genau abgrenzbaren Landschaft, an die sie pflanzenhaft gebunden bleibt. Eine Kultur stirbt, wenn diese Seele die volle Summe ihrer Möglichkeiten in der Gestalt von Völkern, Sprachen, Glaubenslehren, Künsten, Staaten, Wissenschaften verwirklicht hat und damit wieder ins Urseelentum zurückkehrt. ... Ist das Ziel erreicht und die Idee, die ganze Fülle innerer Möglichkeiten vollendet und nach außen hin verwirklicht, so erstarrt die Kultur plötzlich, sie stirbt ab, ihr Blut gerinnt, ihre Kräfte brechen - sie wird zur Zivilisation. Das ist es, was wir bei den Worten Ägyptizismus, Byzantinismus, Mandarinentum fühlen und verstehen. So kann sie, ein verwitterter Baumriese im Urwald, noch Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch die morschen Äste emporstrecken." (Zitat I, 143)

Es versteht sich von selbst, dass mit einer solchen Theorie auch die Leugnung eines Endziels von Geschichte überhaupt - wie auch eines jeweiligen Endziels der Geschichte jeder einzelnen Kultur, das außerhalb oder jenseits ihres Verlaufs läge - verbunden ist.

"Ich protestiere hier gegen zwei Annahmen, die alles historische Denken bis jetzt verdorben haben: gegen die Annahme eines Endziels der gesamten Menschheit und gegen die Leugnung von Endzielen überhaupt. Das Leben hat ein Ziel. Es ist die Erfüllung dessen, was mit seiner Zeugung gesetzt war. Aber der einzelne Mensch gehört durch seine Geburt entweder einer der hohen Kulturen an oder nur dem menschlichen Typus überhaupt. Eine dritte große Lebenseinheit gibt es für ihn nicht. Aber damit liegt sein Schicksal entweder im Rahmen der zoologischen oder der "Weltgeschichte". Der "historische Mensch", wie ich das Wort verstehe und wie es alle großen Historiker immer gemeint haben, ist der Mensch einer in Vollendung begriffenen Kultur. Vorher, nachher und außerhalb ist er geschichtslos. Dann sind die Schicksale des Volkes, zu dem er gehört, ebenso gleichgültig wie das Schicksal der Erde, wenn man es nicht im Bilde der Geologie, sondern der Astronomie betrachtet." (Zitat 613f)

c) Hochkulturen

An den von ihm unterschiedenen acht Hochkulturen will Spengler nun zeigen, dass sie alle, sofern ihre Entwicklung nicht unterbrochen wurde, denselben Rhythmus aufgewiesen haben, der in der Reihenfolge von Primitivität, Blüte, Hochkultur, Zivilisation bis zur Herausbildung von Fellachenvölkern führt. Im Bereich der Siedlungsformen entspricht dem die Reihe: Land, Markt, Stadt, Weltstadt.

"Bedeutet die Frühzeit die Geburt der Stadt aus dem Lande, die Spätzeit den Kampf zwischen Stadt und Land, so ist die Zivilisation der Sieg der Stadt, mit dem sie sich vom Boden befreit und an dem sie selbst zugrunde geht. Wurzellos, dem Kosmischen abgestorben und ohne Widerruf dem Stein und dem Geiste verfallen, entwickelt sie eine Formensprache, die alle Züge ihres Wesens wiedergibt: nicht die eines Werdens, sondern die eines Gewordenen, eines Fertigen, das sich wohl verändern, aber nicht entwickeln läßt. Und deshalb gibt es nur Kausalität, kein Schicksal, nur Ausdehnung, keine lebendige Richtung mehr. Daraus folgt, daß jede Formensprache einer Kultur samt der Geschichte ihrer Entwicklung am ursprünglichen Orte haftet, daß aber jede zivilisierte Form überall zu Hause ist und deshalb, sobald sie erscheint, auch einer unbegrenzten Verbreitung anheimfällt." (Zitat II, 684)

Wie diese Reihenfolge konkret verläuft, welche Einzelgestalten hervorgebracht werden, hängt von der "Seele" der jeweiligen Kultur ab, sie ist das dominierende Prinzip der Gestaltung. So ist beispielsweise das Prinzip der "arabischen" Kultur "magisch", das der "abendländischen" "faustisch". Von der "arabischen" Kultur hat bisher niemand etwas gewusst, sie wurde erst durch Spenglers Methode überhaupt identifizierbar:

"Diese arabische Kultur ist eine Entdeckung. Ihre Einheit ist von späten Arabern geahnt worden, den abendländischen Geschichtsforschern aber so völlig entgangen, daß nicht einemal eine gute Bezeichnung für sie aufzufinden ist. ... Die arabische Vorzeit ..., die sich bei Persern und Juden verfolgen läßt, lag völlig im Bereiche der alten babylonischen Welt, die Frühzeit aber von Westen her unter dem mächtigen Bann der antiken, eben erst voll ausgereiften Zivilisation. ... Der Islam hat dieser Welt endlich und viel zu spät das Bewußtsein der Einheit verliehen..." (Zitat II, 605)

Die "arabische" Kultur insbesondere rühmt Spengler als seine eigenste Entdeckung, sie war den bisherigen Historikern entgangen, weil diese nicht die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale von Kulturen überhaupt angelegt hatten, insbesondere nicht das der Mathematik. So stellt sich das Verlaufsmodell der Menschheitsgeschichte als ein Parallelismus von Epochen, Individuen, Leistungen dar.
Spengler stellt diese These in einer Tabelle vor, in der die wesentlichen Stationen verschiedener Kulturen parallelisiert werden. Man muss die Tabelle so lesen, dass tatsächlich Individuen z.B. der griechischen Kultur mit Individuen der abendländischen Kultur als Zeitgenossen erscheinen. Ähnliche Tabellen müssten sich für alle acht Hochkulturen zeichnen lassen und Spengler hat dies auch getan. Als Beispiel seien hier nur die behaupteten Parallelen zwischen der griechischen Antike und dem Abendland zur Illustration der Idee angeführt.
(Die beiden folgenden "Tafeln" finden sich in Bd. I, ed.cit., nach S. 70, ohne Seitenzählung; in der ersten werden zudem die indische und die arabische, in der zweiten die ägyptische und arabische zu den beiden wiedergegebenen dargestellt. Die Tafel III. verzeichnet "'gleichzeitige' politische Epochen", sie ist hier nicht wiedergegeben.)

I. TAFEL "GLEICHZEITIGER" GEISTESEPOCHEN (Auszug)

Antike Kultur seit 1100v.  Abendländische Kultur seit 900

FRÜHLING

Landschaftlich-intuitiv. Mächtige Schöpfungen einer erwachenden traumschweren Seele.

Überpersönliche Einheit und Fülle

1. Geburt eines Mythos großen Stils als Ausdruck eines neuen Gottgefühls. Weltangst und Weltsehnsucht

1100-800
Hellenisch-italische
"demetrische" Volksreligion
Olympischer Mythos
Homer Volksepos
Herakles-, Theseussage
900-1200
Germanischer Katholizismus

Edda [Baldr]
Bernhard v. Clairvaux, Joachim v. Floris, Franz v. Assisi
Ritterepos [Gral]
Abendländ. Heiligenlegende

2. Früheste mystisch-metaphysische Gestaltung des neuen Weltbildes. Hochscholastik

Älteste, nicht schriftl. Orphik
Etrusk. Disziplin
Nachwirkung: Hesiod
Kosmogonien
Thomas v. Aquino [+ 1274]
Duns Scotus [+ 1308]
Dante [+ 1321], Eckart [+ 1329]
Mystik und Scholastik


SOMMER

Reifende Bewußtheit. Früheste städtisch-bürgerliche und kritische Regungen

3. Reformation: Innerhalb der Religion volksmäßige Auflehnung gegen die großen Formen der Frühzeit

Orphische Bewegung
Dionysosreligion
"Religion des Numa" [7.Jahrh.]
Nicolaus Cusanus [+ 1464]
Hus [+ 1415], Savonarola
Karlstadt, Luther, Calvin [+ 1564]

4. Beginn einer rein philosophischen Fassung des Weltgefühls. Gegensatz idealistischer und realistischer Systeme

Die großen Vorsokratiker
[6./5. Jahrh.]
Galilei, Bacon, Descartes, Bruno,
Boehme, Leibniz 16./17. Jahrh.

5. Bildung einer neuen Mathematik. Konzeption der Zahl als Abbild und Inbegriff der Weltform

Die Zahl als Größe [Maß]
[Geometrie, Arithmetik]
Pythagoreer seit 540
Die Zahl als Funktion [Analysis]
Descartes,, Pascal, Fermat um 1630
Newton, Leibniz um 1670

6. Puritanismus: Rationalistisch-mystische Verarmung des Religiösen

Pythagoreischer Bund seit 540 Englische Puritaner seit 1620, Französische Jansenisten seit 1640

HERBST

Großstädtische Intelligenz. Höhepunkt strenggeistiger Gestaltungskraft

7. "Aufklärung": Glaube an die Allmacht des Verstandes. Kultus der "Natur". "Vernünftige Religion"

Sophisten des 5. Jahrh.
Sokrates [+ 399]
Demokrit [+ um 360]
Englische Sensualisten [Locke]
Französische Enzyklopädisten
[Voltaire]; Rousseau

8. Höhepunkt des mathematischen Denkens. Abklärung der Formenwelt der Zahlen

Archytas [+ 365], Plato [+ 346]
Eudoxos [+ 355]
[Kegelschnitte]
Euler [+ 1783], Lagrange [+ 1813]
Laplace [+ 1827]
[Infinitesimalproblem]

9. Die großen abschließenden Systeme

Plato [+ 346]
Aristoteles [+ 322]
Goethe Schelling Hegel
Kant Fichte

WINTER

Anbruch der weltstädtischen Zivilisation. Erlöschen der geistigen Gestaltungskraft. Das Leben selbst wird problematisch. Ethisch-praktische Tendenzen eines irreligiösen und unmetaphysischen Weltstädtertums

10. Materialistische Weltanschauung: Kultus der Wissenschaft, des Nutzens, des Glückes

Kyniker, Cyrenaiker
letzte Sophisten [Pyrrhon]
Bentham, Comte, Darwin
Spencer, Stirner, Marx, Feuerbach

11. Ethisch-gesellschaftliche Lebensideale: Epoche der "Philosophie ohne Mathematik". Skepsis

Hellenismus
Epikur [+ 270], Zenon [+ 265]
Schopenhauer, Nietzsche
Sozialismus, Anarchismus
Hebbel, Wagner, Ibsen

12. Innere Vollendung der mathematischen Formenwelt. Die abschließenden Gedanken

Euklid, Apollonius um 300
Archimedes um 250
Gauß [+ 1855], Cauchy [+ 1857]
Riemann [+ 1866]

13. Sinken des abstrakten Denkertums zu einer fachwissenschaftlichen Katheder-Philosophie. Kompendienliteratur

Akademie, Peripatos, Stoiker
Epikureer
Kantianer
"Logiker" und "Psychologen"

14. Ausbreitung einer letzten Weltstimmung

Der hellenistisch-römische
Stoizismus seit 200 sich verbreitend
Der ethische Sozialismus seit 1900

 

II. TAFEL "GLEICHZEITIGER" KUNSTEPOCHEN

VORZEIT

Chaos urmenschlicher Ausdrucksformen. Mystische Symbole und naive Imitation

Mykenische Zeit 1600-1100, spätägyptisch [minoisch]
spätbabylonisch [kleinasiatisch]
Merowingisch-karolingische Zeit 500-900, "spätarabisch"
[maurisch-byzantinisch]

KULTUR

Lebensgeschichte eines das gesamte äußere Sein formenden Stils. Formensprache von tiefster symbolischer Notwendigkeit

I. Frühzeit: Ornament und Architektur als elementarer Ausdruck des jungen Weltgefühls: "Die Primitiven"

DORIK 1100-650 GOTIK 900-1500

1. Geburt und Aufschwung. Aus dem Geiste der Landschaft erwachsende, nicht bewußt geschaffene Formen

11./9. Jahrh. Holzarchitektur
Die dorische Säule
Architrav
Geometrischer [Dipylon-]Stil
11./13. Jahrh. Romanik und Frühgotik
Gewölbte Dome
Strebesystem
Glasmalerei, Kathedralplastik

[und so weiter; hier ohne Details nur die allgemeine Gliederung:]

2. Vollendung der frühen Formensprache. Erschöpfung der Möglichkeiten und Widerspruch

II. Spätzeit: Bildung einer Gruppe städtisch-bewußter, gewählter, von Einzelnen getragener Künste:

3. Ausbildung eines reifen Künstlertums

4. Äußerste Vollendung einer durchgeistigten Formensprache

5. Ermatten der strengen Gestaltungskraft. Auflösung der großen Form. Ende des Stils "Klassizismus und Romantik"

ZIVILISATION

Das Dasein ohne innere Form. Weltstadtkunst als Gewohnheit, Luxus, Sport, Nervenreiz. Schnellwechselnde Stilmoden [Wiederbelebungen, willkürliche Erfindungen, Entlehnungen] ohne symbolischen Gehalt

1. "Moderne Kunst". Kunst-"Probleme". Versuche, das Weltstadtbewußtsein zu gestalten und zu reizen. Verwandlung von Musik, Baukunst und Malerei in bloßes Kunstgewerbe

2. Ende der Formentwicklung überhaupt. Sinnlose, leere, erkünstelte, gehäufte Architektur und Ornamentik. Nachahmung archaischer und exotischer Motive

3. Ausgang. Ausbildung eines starren Formenschatzes. Prunken der Cäsaren mit Material und Massenwirkung. Provinziales Kunstgewerbe

d) Diagnose und Prognose

Als paradigmatisches Feld für die Kennzeichnung der Gegenwart und eine Prognose führt Spengler die "Morphologie der Philosophiegeschichte" vor:

"Es gibt keine Philosophie überhaupt: jede Kultur besitzt ihre eigne; sie ist ein Teil ihres symbolischen Gesamtausdrucks und bildet mit ihren Problemstellungen und Denkmethoden eine geistige Ornamentik in strenger Verwandtschaft zu derjenigen der Architektur und bildenden Kunst. Aus der Höhe und Ferne betrachtet, ist es sehr nebensächlich, zu welchen sprachlich ausgedrückten "Wahrheiten" diese Denker innerhalb ihrer Schulen überhaupt gelangt sind - denn Schule, Konvention und Formenschatz sind hier wie in jeder großen Kunst die grundlegenden Elemente." (Zitat II, 467 ff)

(1) Es gibt nicht die Philosophie, sowenig es die Mathematik gibt.

(2) Auf der Stufe der Stadt entwickelt sich der "städtische Geist" als Denkform der Ideologie

"... das große Thema der brahmanischen, ionischen und Barockphilosophie ist das Erkenntnisproblem. Der städtische Geist wendet sich seinem eigenen Bilde zu, um festzustellen, daß es für das Wissen keine höhere Instanz gebe als ihn. Deshalb tritt das Denken nunmehr in die Nachbarschaft der höheren Mathematik, und statt der Priester finden wir Leute von Welt, Staatsmänner, Kaufherren, Entdecker ... An ihrem Ende stehen Kant und Aristoteles. Was nach ihnen beginnt, ist Philosophie der Zivilisation." (Zitat II, 468)

(3) Die Spätform stellt die "Philosophie der Zivilisation" dar, die das Abendland bereits erreicht hat; darin herrscht eine

(4) Dominanz der Ethik vor

"Die Ethik ist über ihren Rang als Teil einer abstrakten Theorie hinausgewachsen. Von nun an ist sie die Philosophie, welche die andern Gebiete sich einverleibt; das praktische Leben rückt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Die Leidenschaft des reinen Denkens sinkt. Die Metaphysik, Herrin von gestern, wird zur Dienerin von heute. Sie hat nur noch das Fundament zu liefern, das eine praktische Gesinnung trägt. Und das Fundament wird immer überflüssiger. ... Die von Hegel und Schopenhauer ausgehende Philosophie der Gegenwart, soweit sie den Geist der Zeit repräsentiert - was Lotze und Herbart z.B. nicht tun -, ist Gesellschaftskritik." ...

"Es steht dem Philosophen nicht frei, seine Stoffe zu wählen, so wenig die Philosophie immer und überall dieselben Stoffe hat. Es gibt keine ewigen Fragen; es gibt nur Fragen, die aus einem bestimmten Dasein heraus gefühlt und gestellt werden. ... Deshalb liegt eine strenge Notwendigkeit in der Wahl des Themas. Jede Epoche hat ihr eignes, das für sie und keine andre bedeutend ist. Hier sich nicht zu vergreifen, kennzeichnet den geborenen Philosophen. Der Rest der philosophischen Produktion ist belanglos, bloße Fachwissenschaft, langweilige Häufung systematischer und begrifflicher Subtilitäten." ...

"Das Geheimnis der Welt erscheint nacheinander als Erkenntnisproblem, Wertproblem, Formproblem. Kant sah die Ethik als Erkenntnisgegenstand, das 19. Jahrhundert sah die Erkenntnis als Gegenstand einer Wertung. Der Skeptiker würde beides lediglich als historischen Ausdruck einer Kultur betrachten." (Zitate ed.cit. II, 470ff)

(5) Es kommt nun zur Gesellschaftskritik, die in der abendländischen Kultur im 19. Jahrhundert unausweichlich war. Spenglers Überblick über die Philosophie des 19. Jahrhunderts ist von dieser Sicht geprägt:

"Ich gebe hier eine Übersicht über die wirkliche Philosophie des 19. Jahrhunderts, deren einziges und eigenstes Thema der Wille zur Macht in einer zivilisiert-intellektuellen, ethischen oder sozialen Gestalt, als Wille zum Leben, als Lebenskraft, als praktisch-dynamisches Prinzip, als Begriff oder dramatische Gestalt ist. Die mit Shaw abgeschlossene Periode entspricht der antiken zwischen 350 und 250. Der Rest ist, mit Schopenhauer zu reden, Professorenphilosophie von Philosophieprofessoren." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975, I, 479)
(Spengler nennt hier aus dem 19. Jh. - 1819-1905 -  kursorisch Titel von: Schopenhauer, Proudhon, Hebbel, Engels, Marx, Wagner, J.St. Mill, Dühring, Ibsen, Nietzsche, Strindberg, Weininger, Shaw)

(6) Die letzte Stufe ist mit einer allgemeinen Skepsis erreicht

"... hat sich, nach der metaphysischen Periode, auch die ethische erschöpft. Der ethische Sozialismus, von Fichte, Hegel, Humboldt vorbereitet, hatte die Zeit seiner leidenschaftlichen Größe um die Mitte des 19. Jahrhunderts. An dessen Ende war er bereits im Stadium der Wiederholungen angelangt, und das 20. Jahrhundert hat unter Beibehaltung des Wortes Sozialismus, an Stelle einer ethischen Philosophie, die nur Epigonen als unvollendet erscheint, eine Praxis wirtschaftlicher Tagesfragen gesetzt. ... Es besteht die Möglichkeit einer dritten und letzten Stufe westeuropäischer Philosophie: die eines physiognomischen Skreptizismus. ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975, I, 481)

Dies ist nach Spengler das allgemeine Ergebnis auf allen Gebieten des Lebens: Jede Kultur erreicht mit Zwangsläufigkeit das ihr eigene Stadium der "Zivilisation", sie erstarrt darin und ist in einem organischen Sinn "tot".

"... jede Kultur hat ihre eigne  Zivilisation. Zum ersten Male werden hier die beiden Worte, die bis jetzt einen unbestimmten Unterschied ethischer Art zu bezeichnen hatten, in periodischem Sinne, als Ausdrücke für ein strenges und notwendiges organisches Nacheinander gefaßt. Die Zivilisation ist das unausweichliche Schicksal einer Kultur. ... Zivilisationen sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art von Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit, wie sie Dorik und Gotik zeigen, als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie sind mit innerster Notwendigkeit immer wieder erreicht worden." ("Untergang des Abendlandes", dtv, 3.Aufl. 1975, I, 43)
Das hindert nicht, dass weiter vielerlei geschieht und eine "Zivilisation" sich gigantisch ausbreitet, wobei dies im Fall derjenigen "Zivilisation", die aus der "abendländischen Kultur" als deren Todeszustand hervorgeht, erstmals global geschieht. Es werden in einer "Zivilisation" aber keine neuen Formen mehr geschaffen.

"Zivilisation" versus "Kultur" - eine überholtes Ideologem?

Hier nur ein paar Anmerkungen:

xxx
- Zivilisation
vs Kultur in der deutschen Kultur- und Gesellschaftstheorie, eine "deutsche Obsession"?
Ein möglicher (und faktischer) Buchtitel konnte sogar lauten: "Kultur der Kulturlosen" vgl. Karl Weule: Die Kultur der Kulturlosen. Ein Blick in die Anfänge menschlicher Geistesbetätigung. Stuttgart: Kosmos, 1910.
Internet: http://archive.org/details/diekulturderkult00weuluoft

- Zusammenprall der civilizations, Huntington, dann Rifkins empathische Zivilisation, vgl.:
Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Übersetzt von Holger Fließbach. München/Wien: Europa Verlag, 1996. (Erstdruck: 1993 engl.)
Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein. Frankfurt/M: Campus Verlag, 2010. (Erstdruck: 2009 engl.) Vgl. dazu Rezension: Franz Gmainer-Pranzl: "Buchtipp zu: Jeremy Rifkin: Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein. 2010."  In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 27 (2012) S. 138-39.

- Zivilisation in (philosophischen) Wörterbüchern:
Spenglers Sicht von "Zivilisation", so stellt ein verbreitetes philosophisches Wörterbuch 1974 fest, sei zur allgemeinen Auffassung geworden. In dem von Heinrich Schmidt begründeten, oft aufgelegten (zuerst vor hundert Jahren, 1913) lautet der Eintrag über "Zivilisation" in der Ausgabe
Georgi Schischkoff (Hg.) Philosophisches Wörterbuch. 19. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1974, S. 727f folgendermaßen:

"Zivilisation; (von lat. civis, 'Bürger', dt. etwa 'Gesittung'), die auf die Barbarei folgende Vorstufe der Kultur, die den Menschen allmählich zum planmäßig wohlgeordneten Zusammenwirken mit seinesgleichen erzieht u. damit erst die wichtigste Vorbedingung der Kultur schafft. Spengler setzte der Z[ivilisation] als dem Gesamtbereich des bloß Technisch-Mechanischen die Kultur als Reich des Organisch-Lebendigen gegenüber und lehrte, Kultur sinke im Laufe der Entwicklung ab zur Z. und gehe damit ihrem Untergang entgegen. Diese Auffassung ist allgemein geworden. Z. ist heute das, was den ‚Komfort' hervorbringt, die von der Technik zur Verfügung gestellten Bequemlichkeiten. Der zivilisierte Mensch wird von diesen Bequemlichkeiten (ihrer Herstellung und Benutzung) körperlich u. geistig derart in Anspruch genommen und durch sie so eng in das technische Kollektiv verflochten, daß er für Kultur weder Zeit noch Spannkraft hat und daß er eine innere Nötigung, außer zivilisiert auch noch kultiviert zu sein, oft nicht mehr verspürt. Im frz. und engl. Sprachgebrauch ist Z. gleichbedeutend mit Kultur."

Die deutsche Wikipedia ist da 2013 etwas vorsichtiger, sie stellt lediglich ein Vorherrschen dieser Sichtweise von "Zivilisation" "bis nach 1945" (womit vermutlich niemand die 1970er Jahre assoziiert) fest:

"Während sich in den angelsächsischen Ländern und in Frankreich eine Gleichsetzung von Kultur und Zivilisation durchsetzte, entwickelte sich dagegen in Deutschland eine Abgrenzung der als tiefgründig und wertvoll verstandenen deutschen Kultur gegenüber der als oberflächlich dargestellten westlichen Zivilisation. In diesem Sinne übten unter anderem Oswald Spengler und Arnold Gehlen Zivilisationskritik. Die Unterscheidung zwischen Kultur und Zivilisation blieb bis nach 1945 im deutschen Sprachraum vorherrschend." (Artikel "Zivilisation")

Interessant hier ist, dass neben dem Hinweis auf die Nicht-Unterscheidung der beiden Begriffe in den französischen und englischen Diskursen "Kultur" hier sofort mit "deutscher Kultur" assoziiert (was Spengler sicher nicht getan hätte) und auch "Zivilisation" nur mit einem Fall (der "westlichen Zivilisation") verbunden wird. Zudem:
Vor 1945 sei also die Unterscheidung so allgemein gewesen, wie auch Schischkoff noch 1974 sie annimmt. Aber sie war nicht unbedingt so pessimistisch besetzt, denn in der einzigen zwischen 1933 und 1945 erschienenen Auflage des "philosophischen Wörterbuchs" lesen wir dazu, wieder unter "Zivilisation":

"... Spengler setzte der Z[ivilisation] als dem Gesamtbereich des bloß Technisch-Mechanischen die Kultur als Reich des Organisch-Lebendigen gegenüber und lehrte, Kultur sinke im Laufe der Entwicklung ab zur Z. und gehe damit ihrem Untergang entgegen. Im frz. und engl. Sprachgebrauch ist Z. = Kultur (vgl. z.B. Buckle's 'Geschichte der Z. in England'). Innerhalb der rassisch-völkisch ausgerichteten Kulturbetrachtung tritt der Unterschied zw. gesunder und verfallender Kultur zurück; damit verliert der Begriff Z. an Bedeutung." (Joachim Schondorff und Werner Schingitz (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. 10., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1943, S. 638)
Was mit dieser "rassisch-völkisch ausgerichteten Kulturbetrachtung" eigentlich genauer gemeint sein könnte, fasst ein anderes Wörterbuch derselben Zeit, wieder im Artikel "Zivilisation", so zusammen, wobei Spengler hier nicht genannt wird:
"In unserer Zeit ist Z[ivilisation] immer mehr zum Gegenbegriff der Kultur geworden. Z. meint dann den Inbegriff des äußeren Lebens, wie es sich durch die Beherrschung der Natur in der Technik und die staatliche Organisation ergibt, und die Befriedigung in diesen Formen. Zunehmende Rationalität, Erlahmen der schöpferischen Kräfte, Erstarrung des lebendigen Gemeinschaftslebens und Veräußerlichung von Kunst und Religion trennen die Z. ebenso von echter Kultur, wie sich *Gesellschaft und *Gemeinschaft, *esprit und *Geist voneinander unterscheiden. Das geschichtsphilos. Problem ist, ob sie Ausdruck der Eigenart eines bestimmten Volkscharakters oder, wie Spengler es hinstellt, als Zeichen eines kulturellen Spätzustandes zu werten ist." (Johannes Hoffmeister (Hg.) Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Leipzig: Meiner Verlag, 1944, S. 769f)
Etwas verdeutlicht: bestimmte Völker (wie das deutsche?) bringen Kultur, andere bringen Zivilisation hervor... So scheinen jedenfalls NS-Autoren wie Alfred Rosenberg (Kultur und Technik, 1935) oder schon Adolf Hitler (Mein Kampf, 1925-27) das gesehen zu haben.

Gehen wir nochmals zum "philosophischen Wörterbuch" zurück, so ist Spenglers Einfluss unverkennbar, wenn wir sehen, dass Heinrich Schmidt 1916 (also vor Erscheinen von Spenglers "Untergang") das Lemma "Zivilisation" sehr kurz hält, indem er schreibt, "Zivilisation" sei:
"... die auf die Barbarei folgende Vorstufe der Kultur, die den Menschen allmählich zum planmäßig wohlgeordneten Zusammenwirken mit seinesgleichen erzieht und damit erst die wichtigste Vorbedingung der Kultur schafft." (Heinrich Schmidt (Hg.) Philosophisches Wörterbuch. 2. umgearb. u. verm Aufl. Stuttgart: Kröner, 1916, S. 262 - bei dieser Ausgangsdefinition bleiben wortwörtlich übrigens auch noch Schondorff/Schingnitz 1943 wie auch Schischkoff 1974)
Das ist also um die Zeit, als Spengler den "Untergang" schreibt, wohl der allgemeine Sprachgebrauch: Zivilisation als eine Vorstufe, als das, was auch "Kultur der Kulturlosen" genannt werden konnte, die "materielle Kultur" in späterer Ausdrucksweise. Dass die Herausgeber des Wörterbuchs noch 1943 und 1974 diese (inzwischen im Sprachgebruch wohl anachronistische) Worterklärung beibehalten, könnte sowohl mit einer gewissen Zähigkeit solcher Wörterbücher, als auch mit der anhaltenden Unklarheit im Unterscheiden der beiden Termini zu tun haben.
Auch Schmidt hatte in der letzten von ihm bearbeiteten Auflage (1931) diesen Einleitungssatz unverändert belassen und - als eine eigentlich ganz andere Begrifflichkeit, zu der die ursprüngliche Definition gar nicht mehr passt - hinzugefügt:
"... Spengler u.a. meinen, die Kultur sinke im Laufe der Entwicklung ab zur Z. und gehe damit ihrem Untergang entgegen. "Unter Z. verstehen wir eine Epoche, der die Herrschaft des Stils (oder der Form) abhanden gekommen ist, in der also die reinen Nützlichkeitsinteressen einen allzu großen Raum einnehmen. Damit verbindet sich eine Abkehr vom heroischen Lebensideal, ferner eine Verflachung und Verkümmerung des religiösen Lebens, endlich eine Verkümmerung des seelischen Tiefenlebens überhaupt und insbesondere des Gemeinschaftssinnes" (A. Vierkandt). Dieser Niedergang macht sich wohl bemerkbar in der sog. "bürgerlichen" Kultur, während eben eine "proletarische Kultur" im Aufstieg begriffen ist. S. Spengler." (Heinrich Schmidt (Hg.) Philosophisches Wörterbuch. 8. völlig neubearb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Kröner, 1931, S. 472)
Was also ist nun der Unterschied (im Deutschen) zwischen Kultur und Zivilisation? Und: brauchen wir diese Begriffe zur Beschreibung unserer gesellschaftlichen Welt, brauchen wir sie beide?

Arnold Joseph TOYNBEE (1889-1975)

Ähnlich wie Spengler hat auch Toynbee eine Sicht auf die Weltgeschichte, die von Kulturen ("civilizations") ausgeht und parallele Entwicklungen in diesen sieht. Über Spengler sagt er allerdings, dass

"... dessen Methode darin besteht, eine Metapher hinzustellen und dann zu einer Beweisführung auf dieser Grundlage überzugehen, als ob es sich um ein auf beobachtete Phänomene gegründetes Gesetz handelte, erklärt, daß jede Kultur durch dieselbe Abfolge von Lebensaltern wie der Mensch gehe; aber seine Beredsamkeit über dieses Thema bringt es nirgend zu einem Beweis..." (Toynbee, Der Gang der Weltgeschichte, dtv, Bd. I,2, S. 335)
Hauptwerk: A Study of History, 12 Bände. 1934-1961
Deutsche Kurzfassung der Bände 1-6 (nach C.D. Somervell): Gang der Weltgeschichte. Zürich: Artemis 1961, 2 Bde. (dass. in 4 Bd.: München: dtv 1970)
Aus der Sekundärliteratur:
xxx
O.F. Anderle: Das universal-historische System A.J. Toynbees, 1955;
Engel-Janosi: Vom Anfang der Geschichte in: ders. (Hg.) Denken über Geschichte. München 1974, S.24-27

Toynbees Werk stellt eine christliche Geschichtstheorie mit dem Vergleich von Kulturen und deren Zusammenhängen dar; es ergibt sich daraus der Versuch einer Theodizee in den späteren Abschnitten des Werks.
Hier werden folgende Themen besprochen:
1) Geschichte als Wissenschaft
2) Kulturen als komplexe Systeme
3) Warum und wie entwickeln sich Kulturen?
4) Wie und warum zerfallen Kulturen?

Toynbee schildert sein Grunderlebnis einer "Gleichzeitigkeit" mit Thukydides bereits 1914:
"He and his generation had been ahead of me and mine in the stage of historical experience we hat respectively reached; ... Whatever chronology might say, Thucydides' world and my world hat now proved to be philosophically contemporary. And, if this were the true relation between the Graeco-Roman and the Western civilizations, might not the relation between all the civilizations known to us turn out to be the same?" (Toynbee: My View of History in: Civilization on Trial, New York: Oxford UPr. 1948, S. 7f.)
Die Idee solcher "Gleichzeitigkeiten" ist auch der Grund, warum Toynbee immer wieder "Renaissancen" sieht. In der Einleitung zu einer von ihm übersetzten und edierten Textauswahl aus den Schriften antiker griechischer Historiker schreibt Toynbee 1924:

"Were we not convinced that the Hellenic consciousness, even in the fragmentary expressions of it that have reached us, was in some inward sense at least as full of vitality and as richly stored with experience, or in other words was as "modern," as our own, we should not have been drawn towards it as irresistibly as we have been drawn, and should not have given all the mental labor which we have given to the then impossible enterprise of entering into communion with our Hellenic contemporaries." (S. XXIV)

Die Methode der Feststellung der angesprochenen Parallelität sollte empirisch sein, unwahrscheinliche und unbegründende Hypothesen (Rasse, Klima, Umwelt als Faktoren der Geschichte) will er nicht in Betracht ziehen.

In der Study of History (Bd.I, Introduction) entwickelt Toynbee folgende Fragestellung:
1) Gibt es eine Wissenschaft von der Geschichte?
1.1) Es gibt jedenfalls ein Interesse an Geschichte. Gibt es aber auch Maßstäbe zur Feststellung, ob ein solches Interesse (mehr oder weniger) relevant ist?
Bei der Überlegung dieser Frage stellt Toynbee fest, dass eines der auffallenden Merkmale der modernen Wissenschaft die Arbeitsteiligkeit ist, ebenso wie in der Industrie fertigen Individuen nur Bestandteile, keine Gesamtprodukte mehr. Das tun seiner Erfahrung nach auch Historiker, sie haben kaum Interesse an Universalgeschichte mehr. Wenn das so ist, woran orientieren sie ihr aktuelles Interesse? Als erste Vermutung bringt Toynbee vor: das Interesse orientiert sich (wie in der Industrieproduktion) am brauchbarsten (verfügbaren, bearbeitungsfähigen) Rohmaterial. Dafür führt er folgendes Beispiel an:

Nach dem Tod Alexanders von Makedonien entstehen Diadochenreiche. Unter diesen sei der für heutige Europäer der Sache nach der interessanteste Staat derjenige der Seleukiden, denn dort sei der Prototyp des römischen Reiches entwickelt worden, auch die neuen Weltreligionen (Christentum, Manichäismus) seien dort entstanden. Es läge daher nahe, wenn schon Alte Geschichte studiert würde, sich auf die Seleukiden zu konzentrieren. Aber, stellt Toynbee fest, die meisten Erforscher dieser Periode entscheiden sich für das ptolemäische Ägypten. Warum?
Der Beobachter vermutet psychologische Gründe. Er schätzt, daß der Wissenschaftler, der ptolemäischer Papyrologe geworden ist, sich selten die erste Frage gestellt hat: 'Ist das ptolemäische Ägypten das interessanteste und wichtigste Phänomen, das in diesem bestimmten Zeitalter der bestimmten Gesellschaft, wozu es gehört, zu studieren ist?' Wahrscheinlicher hat er sich stattdessen gefragt: 'Wo liegen die reichsten Bestände von unaufgearbeitetem Material auf diesem Gebiet?' Und nachdem er die Antwort 'in den ägyptischen Papyri' hatte, ist er für den Rest seines Lebens Papyrologe geworden, ohne ein zweites Mal darüber nachzudenken." (A Study, I, S.6; dt.: FW)
Kann der Historiker Standards für sein jeweiliges Interesse begründen? Toynbees Werk ist unter anderem auch als ein Versuch anzusehen, diese Frage zu beantworten.

1.2) Fraglich ist die Grundeinheit, von der Historiker auszugehen haben. Stellen die Moleküle die Grundeinheit dar, von der die Chemie ausgeht, so gehen Historiker nach Toynbee vorwiegend von Nationen als Einheit aus; dies hält er für ungenügend.
Industrialismus und Nationalismus, eher als Industrialismus und Demokratie, sind die beiden Kräfte, die de facto die Herrschaft über die westliche Gesellschaft in unserer Zeit ausgeübt haben. (A Study, I,9; dt. FW)
Zur Arbeitsteiligkeit und Rohstofforientierung der Historiker kommt also noch deren national-zentrierte Denkweise. Toynbee, der der britischen Delegation bei den Friedensverhandlungen mit Ungarn (Trianon-Vertrag) angehört hatte, stellt fest, dass die Großmächte Europas vor 1914 in der irrigen Auffassung befangen gewesen seien, für sich jeweils historische Ganzheiten darzustellen, dass dies aber für alle "Großmächte" ebenso eine Illusion sei wie für Kleinstaaten. Als Beispiel führt er das Bild des alten Gallien an, das Camilli Jullian (De la Gaule a la France, 1922) bietet: sogar die Straßen des jungsteinzeitlichen Gallien, sagt er, werden dort nur bis an die Grenzen des heutigen Frankreich dargestellt. Toynbees Kommentar dazu:
Hier wurde, mit einem Augenzwinkern, der wissenschaftliche westliche Historiker der Jungsteinzeit zum französischen Patrioten von 1918 n.Chr., der schreibt: 'Ils ne passeront pas!' (ebd., S. 12)
Arbeitsteilige Rohmaterialverwertung führt also in der Geschichtsschreibung nicht zu einer Weltgeschichte, sie hat keinen Gesichtspunkt (außer dem relativen Reichtum an Material). Da sie einen solchen Einheitspunkt braucht, füllte der Nationalismus diese Stelle aus. Das mag in großen Staaten eine Zeitlang plausibel sein.
Nun gibt es aber zu der Zeit, als Toynbee seinen ersten Band schreibt (ca 1921) Staaten, die so gut wie keine staatliche Vergangenheit haben: die Tschechoslowakei, Jugoslawien, das neue Österreich usw. Es ist unmöglich, findet Toynbee, eine slowakeizentrierte Geschichte Europas zu schreiben (es ist auch unmöglich, eine frankreichzentrierte zu schreiben, aber das sticht nicht so sehr in die Augen). Es ist aber auch
unmöglich, eine slowakeizentrierte Geschichte der Slowakei zu schreiben, da hierbei immer wieder andere Völker die bedeutsamere Rolle spielen. (ebd., S. 13)
Da nun mit 1918 eine neue Lage entstanden sei - es gibt Staaten, die aufgrund der Internationalisierung der Industrie und Politik ein anderes Bewusstsein auch von Souveränität entwickeln werden als die früheren Großmächte - werden auch Historiker lernen, übernational zu denken. Die Arbeitsteiligkeit bleibt, der Nationalismus, die Idee der Nation als historischer Grundeinheit fällt weg - was ist jetzt als wichtig anzusehen, worin besteht die Grundeinheit?

1.3) Grundeinheiten der Geschichte sind civilizations
Jede "Großmacht", jeder europäische "Staat" ist nach Toynbee ein Fall von typisch gleichartigen Fällen, d.h. es gibt für sie alle eine übergeordnete Größe, an der sie teilhaben, er sucht z.B. "the field of which Great Britain is a part":
englische Geschichte wird erst einsichtig, wenn wir sie als die Geschichte einer größeren Gesellschaft sehen, wovon Großbritannien ein Mitglied zusammen mit andern Nationalstaaten ist, wovon jeder, wenngleich auf seine eigene Weise, auf die gemeinsamen Erfahrungen der ganzen Gesellschaft reagiert. (ebd., S. 23)
Ein Beispiel für eine solche "ganze Gesellschaft" findet Toynbee im antiken Griechenland, genauer in der Periode zwischen 725 und 325 vAZ. Das bestimmende Problem dieser Gesellschaft ist ein Bevölkerungsproblem, dem gegenüber drei verschiedene Lösungen von den verschiedenen griechischen Gemeinschaften und Staaten entwickelt worden sind:
a) Korinth, Chalkis und andere Städte gründen Siedlerkolonien in dünnbesiedelten Gebieten, wie z.B. in Sizilien. Die Gesellschaftsstruktur in den Herkunftsstädten der Siedler wird bei dieser Lösung nicht verändert, es wird jedoch das Siedlungsgebiet wesentlich ausgeweitet.
b) Sparta unterwirft die griechischen Nachbarn in Messene. Dies bedingt eine geringe Gebietserweiterung und ständige Kriege. Damit verändert sich die Gesellschaft, sie wird militarisiert.
c) Athen reagiert zunächst lange Zeit gar nicht, wodurch es zu innenpolitischen Spannungen kommt. Es entwickelt sich eine Spezialisierung und Exportorientierung in Landwirtschaft und Manufaktur, aber auch politische Institutionen, die den Ausgleich der konkurrierenden Interessen sicherstellen.

Schließlich wird die athenische Lösung von allen fortbestehenden griechischen Staaten übernommen.
Aus diesem Blickwinkel, der nicht Athen oder Sparta oder Korinth oder Chalkis als sein Gebiet erklärt, sondern das Ganze der griechischen Gesellschaft, sind wir fähig, zugleich die Bedeutung der Geschichtsverläufe dieser verschiedenen Gemeinschaften während der Periode von 725-325 v.Chr. zu verstehen und die Bedeutung des Übergangs von dieser Periode zur folgenden. (ebd., I, 25)
Um die Teile zu verstehen, müssen wir unsere Aufmerksamkeit zuerst auf das Ganze richten, denn dieses Ganze ist der Untersuchungsbereich, der in sich selbst einsichtig ist. (ebd., I, 26)
Mit dieser Fragestellung kritisiert Toynbee eindeutig jede Zugangsweise zur allgemeinen Geschichte, die in einem Verzicht auf übergreifende Theorie und einer Beschränkung auf einzelne, wenn auch noch so detailreiche Spezialdarstellungen einen Vorzug sieht, d.h. konkret, er kritisiert solche Konzepte, wie sie beispielsweise hinter der Cambridge Ancient History, der Fischer Weltgeschichte oder der Propyläen Weltgeschichte stehen. Mit seinem Konzept, nach der Geschichte der Menschheit in der Weise zu fragen, daß ein systematisches Gesamtkonzept für die Darstellung und Erklärung jedes einzelnen Teiles entscheidend sein soll, steht Toynbee nicht in Konkurrenz, sondern im Gegensatz zu "pluralistischen" Idealen, wie sie beispielsweise Golo Mann im Programm der Propyläen Weltgeschichte formulierte: "Ein Werk wie das unsere entwickelt keine These, keine bestimmte Geschichtsphilosophie; schon allein darum nicht, weil das Denken so vieler Beitragender sich nicht auf eine einzige Bahn hätte zwingen lassen."

Toynbee hält es überhaupt nicht für möglich, in sinnvoller Weise Geschichte zu beschreiben, solange nicht die Grundeinheiten und Grundgesetze geschichtlicher Entwicklung erkannt sind. Darum steht sein Werk in Konkurrenz zu solchen Konzeptionen wie der marxistischen, es steht aber in einem Gegensatz zu einer rein pluralistischen historischen Gelehrsamkeit.

1.4) So gelangt er durch diese Vorüberlegungen zu ersten hypothetischen Ergebnissen, die den Ausgangs- und Orientierungsrahmen seiner weiteren Erforschung der Geschichte liefern sollen:

a) Gegenstand der Geschichtsschreibung sind grundsätzlich nicht einzelne politische Einheiten, sondern solche, die diese übergreifen
Die 'intelligiblen Bereiche historischer Untersuchung', deren Grenzen wir grob festgelegt haben, indem wir nach außen und nach hinten uns vom Standpunkt unseres eigenen Landes in unseren eigenen Tagen vorgearbeitet haben, sind Gesellschaften (societies), die eine größere Ausdehnung (extension) sowohl in der Zeit, als im Raum haben als Nationalstaaten oder Stadtstaaten oder irgendwelche andern politischen Gemeinschaften (communities). (ebd., I, 44)
b) Politische Einheiten sind jeweils Teile von Ganzheiten; letztere stellen die "sozialen Atome" dar, deren Eigenart und Zusammenwirken die historische Wissenschaft zu erforschen hat.
Solche politischen Gemeinschaften (Nationalstaaten, Stadtstaaten u. dgl.) sind nicht nur enger in räumlicher Ausdehnung und kurzlebiger in zeitlicher Erstreckung als die jeweiligen Gesellschaften, zu denen sie gehören, sondern ihre Relation zu diesen Gesellschaften ist die von untrennbaren Teilen zu unteilbaren Ganzheiten. Sie sind einfach Artikulationen der wahren gesellschaftlichen Entitäten und nicht unabhängige Entitäten an sich. Gesellschaften, nicht Staaten, sind die 'sozialen Atome', womit Geschichtsforscher es zu tun haben. (ebd., I, 45)
c) Diese "Gesellschaften" sind zwar unabhängig in dem Sinn, dass jede von ihnen eine intelligible Größe darstellt, aber sie sind andererseits aufeinander in dem Sinne bezogen, dass sie alle die Repräsentanten einer "single species of society" sind.

d) Es gibt mehrere solche Gesellschaften oder "soziale Atome":
Keine der bestimmten Gesellschaften, die wir untersucht haben, umspannt die ganze Menschheit oder erstreckt sich räumlich über die ganze bewohnbare und schiffbare Oberfläche des Planeten oder ist gleich ewig mit der Spezies, wovon sie ein Vertreter ist... (ebd., I, 45)
Hier ist ein klarer Gegensatz zur These von den "Gesellschaftsformationen" formuliert, wie wir sie bei marxistischen Historikern vorfinden. Toynbees "Gesellschaften", ebenso wie Spenglers "Kulturen" bilden eine Gesamtheit von einzelnen Kontinua, die nicht in einer gegenseitigen Beziehung stehen oder doch nicht stehen müssen. Er glaubt jedoch zumindest in einem Fall eine gewisse Ausnahme festgestellt zu haben:

e) Es gibt (mindestens) einen Fall von Kontinuität der Entwicklung zwischen zwei verschiedenen "Gesellschaften", nämlich der griechischen und der westlichen:
Wenngleich die Kontinuität zwischen den Geschichtsverläufen einer Gesellschaft und einer andern Gesellschaft graduell viel geringer ist als die zwischen verschiedenen Abschnitten in der Geschichte einer einzigen Gesellschaft..., so haben wir doch in der Zeitrelation zwischen zwei bestimmten Gesellschaften in unterschiedlichen Zeitaltern - nämlich der westlichen und der hellenischen - Muster beobachtet, die wir metaphorisch als 'Elternbeziehung' oder 'Sohnesbeziehung' beschreiben können. (ebd., I, 45f)
2) “Kulturen” ("Civilizations") sind komplexe Systeme
Unter Kulturen ("civilizations") versteht Toynbee Ganzheiten, deren Teile untereinander kausal verknüpft sind:
Kulturen sind Ganzheiten, deren Teile alle mit einander zusammenhängen und einander gegenseitig beeinflussen. ... Es ist eines der Charakteristika von Kulturen im Wachstumsprozeß, daß alle Aspekte und Aktivitäten ihres gesellschaftlichen Lebens auf ein einziges gesellschaftliches Ganzes hin koordiniert sind, in dem die ökonomischen, politischen und kulturellen Elemente zueinander passen in einer inneren Harmonie des wachsenden Gesellschaftskörpers. (ebd., III, 380, 152; vgl. auch I, 34ff, 43ff, 149ff, 153ff)
Es werden also Kulturen als echte Systeme angesehen, nicht bloß als Zusammenhäufungen von Merkmalen. Diesen Vorbegriff hält Toynbee jedoch in den einzelnen Beschreibungen seiner "civilizations" nicht durch, wie einer seiner Kritiker vermerkt:
his 'civilizations' are not united systems but mere conglomerations of various civilizational objects and phaenomena ... united only by special adjacency but not by causal or meaningful bonds. (Pitirim A. Sorokin: Toynbee's Philosophy of History, in: "The Pattern of the Past: Can We Determine It?", Hg. von Pieter Geyl, Arnold J. Toynbee und Pitirim A. Sorokin. New York: Greenwood 1968, 95-126; hier: 112)
Auch Toynbee selbst scheint das gesehen zu haben, denn er führt häufig aus, es könne beispielsweise das technische oder wirtschaftliche Leben einer Gesellschaft sich grundlegend ändern, die übrigen Bereiche dabei aber gleichbleiben.
3) Warum entstehen und wie entwickeln sich Kulturen?
Der eigentliche Gegenstand von Geschichtsforschung nach Toynbees Auffassung sind "civilizations", die "a species of society" (Study 1, 129) darstellen. Sie sind charakterisiert durch eine jeweils bestimmte Kombination von religiösen, territorialen und politischen Merkmalen. Es gibt nicht sehr viele Fälle von "civilizations", die Toynbee in der Geschichte vorfindet, aber doch ausreichend viele, um Regelhaftigkeiten feststellen zu können. Folgende 26 zählt er auf:
Eine westliche, zwei orthodox-christliche (russische und nahöstliche), persische, arabische, die der Hindu, zwei fernöstliche, die hellenistische, syrische, indische, chinesische, minorische, sumerische, hethitische, babylonische, andine, mexikanische, die der Yukateken, der Maya, die ägyptische; ferner fünf "steckengebliebene": Polynesier, Eskimos, Nomaden, Osmanen und Spartaner (ebd., 132ff)
Toynbee beobachtet nun, dass nicht alle menschlichen Gemeinschaften zur Entwicklung dessen führen, was er "civilizations" nennt. Warum nicht, warum tun das andere doch?
Den entscheidenden Grund sieht er weder in rassischen, noch in bloßen geographisch-klimatischen Bedingungen, sondern in der gegebenen Kombination zweier notwendiger Bedingungen:
- dem Vorhandensein einer schöpferischen Minderheit und
- einer Umwelt, die weder zu günstig, noch zu ungünstig ist.

Wenn diese beiden Bedingungen gegeben sind, setzt ein Mechanismus ein, den Toynbee als "challenge and response" bezeichnet, und den er in einer Weise beschreibt, so daß quasi-empirische Überprüfungen seiner Theorie möglich erscheinen. Die "challenges" (Herausforderungen) sieht er in einer Reihe von “Anreizen” ("stimuli") gegeben:

(a) Anreiz der harten Länder (Stimulus of Hard Countries)
Bequemlichkeit ("ease", Überfluß an Nahrungsmitteln etc.) ist dem Entstehen einer Kultur hinderlich.
Ein Beispiel dafür liefert für Toynbee die Entstehung der habsburgischen Herrschaft: sie etabliert sich in einem Gebiet, das Karl V von Maximilian erbt, ehe die Donaumonarchie Gestalt annimmt, und das die österreichische Republik von der Monarchie übernommen hat: den Ostalpen, Ober- und Niederösterreich. Verglichen mit anderen Besitzungen der Habsburger (Kroatien, Ungarn, der Lombardei) handelt es sich um ein verhältnismäßig unfruchtbares Gebiet.
Und doch nährt dieses dürre Land die Dynastie, die die fetten Länder rundum zusammenfaßt und sie vier Jahrhunderte hindurch gegen äußere und innere Feinde eint. (ebd., II, 59)
b) Anreiz des Neulandes (Stimulus of New Ground)
Dieser Faktor kommt besonders bei Kolonisierungen und Wanderungen zum Tragen.

c) Anreiz der Schläge (Stimulus of Blows)
Toynbee sieht Testfälle, in denen eine militante Macht zunächst durch Kämpfe stimuliert wird und dann unterliegt. Ob sie unterlegen bleibt, ist die Frage:
Unterliegen sie? Oder reagieren sie auf einen unvorhersehbaren schweren Schlag mit einem unvorhersehbaren Ausbruch planvoller Energie? Die historischen Beispiele weisen darauf hin, daß die zweite und nicht die erste Reaktion das gewöhnliche Ergebnis ist. (ebd., II, 101)
Dieselbe Beobachtung drückt sich in der Redewendung von der "verlorenen Schlacht" aus, die "kein verlorener Krieg" sei, wie sie schon Montesquieu in seiner Analyse der Gründe für den Zusammenbruch des Römischen Reiches gesehen hatte:
wenn der Zufall einer Schlacht, d.h. eine besondere Ursache, einen Staat vernichtet hat, so gab es darin eine allgemeine Ursache, die bewirkte, daß dieser Staat durch eine einzige Schlacht untergehen mußte. (Montesquieu: Betrachtungen über die Ursachen der Größe der Römer und ihres Verfalls, 1734, Kap. 18)
d) Anreiz des Druckes (Stimulus of Pressures)
Damit ist Druck auf eine Gesellschaft gemeint, der von außen (Nachbargesellschaften) kommt. Dieser rufe gewöhnlich Ortsveränderungen eines (großen) Teils der Bevölkerung, also Wanderungen hervor. In erfolgreichen Fällen führen Siege über eindringende Feinde und Eroberer zur Kolonisierung der Konkurrenzgesellschaft.

e) Anreiz der Belastungen (Stimulus of Penalizations)
Damit ist die Wirkung sozialen Drucks innerhalb einer Gesellschaft angesprochen. Er führt nach Toynbees Beobachtung zur Entwicklung neuer Fähigkeiten etwa so, wie Blinde lernen, besser zu hören und zu tasten. In der Geschichte Roms ist die Verfolgung der Christen, aber auch das Sklavenwesen in der hellenistischen "Zeit der Wirren" (nach Hannibal, bis Augustus) ein Beispiel:
The handicap under which these slave-immigrants began their new life is almost beyond imagination. (ebd., II, 213)
Schließlich aber setzen sie sich in Italien auch gegen die Römer durch: in der stoischen Philosophie, der christlichen Religion, durch ihre Stellung als Lehrer und Schriftsteller.

So lautet Toynbees These schließlich:
Wir haben dargelegt, daß Zivilisationen in Umwelten entstehen, die ungewöhnlich schwierig und nicht ungewöhnlich leicht sind ... Je größer die Herausforderung, desto größer der Anreiz. (ebd., II, 261)
Eine Kultur oder Zivilisation blüht, solange auf die gegebenen Herausforderungen "schöpferische Antworten" gegeben werden. Dies zeigt Toynbee für 21 der von ihm genannten Kulturen, die restlichen fünf sind "stecken geblieben" (vgl. I, 271-338).

Wenn Kulturen erst einmal entstanden sind, so stellt sich die Frage nach ihrem Wachstum. Es findet nicht automatisch immer statt, denn Toynbee meint, "steckengebliebene" Kulturen feststellen zu können. Die Phänomene, welche auf ein "Wachstum" hindeuten, sind daher zuerst klarzulegen:
- es handelt sich nicht um räumliche Ausbreitung von Kulturformen und -institutionen, wenn er von "Wachstum" spricht, und auch nicht um ein Anwachsen bloß technischen Wissens:
Wir haben Fälle von technischem Fortschritt gefunden, während die Kultur statisch blieb oder verfiel, und Fälle, in denen die Technik statisch blieb, während die Kultur in Bewegung war, nach vorwärts oder rückwärts, wie der Fall gerade liegen mochte. (Der Gang der Weltgeschichte, dtv ed. cit., I,2, S. 345)
- Es handelt sich vielmehr beim entscheidenden Merkmal für das Wachstum oder Nicht-Wachstum von Kulturen um eine fortschreitende kumulative innere Selbstbestimmung oder Selbstartikulierung einer Gesellschaft. Entscheidende Merkmale wachsender Kulturen sind nach Toynbee:
- Einheit der Gesellschaft
- Die schöpferische Minderheit einer Gesellschaft wird von den zwei wichtigsten Gruppen freiwillig imitiert:
    - vom "inneren Proletariat" (der Gesellschaftsmehrheit)
    - vom "äußeren Proletariat" (den jeweiligen "Barbaren" einer Gesellschaft) - so dass Kriege nur in geringem Ausmaß notwendig sind.
Die Folge dieser Situation ist, dass aufgrund bestehender friedlicher Zustände ein optimaler Ausbau der von der schöpferischen Minderheit entwickelten Verhaltensformen und Institutionen erfolgen kann.
4) Wie und warum zerfallen Kulturen?
Als Tatsache stellt Toynbee fest: sie tun es, Kulturen "sterben"; die Frage ist, ob dies zwangsläufig und für alle gilt und wie die Kräfte wirken, die dazu führen.
Was ist die Schwäche, die eine wachsende Kultur dem Risiko aussetzt, mitten in ihrer Laufbahn zu stolpern, zu fallen und ihren prometheischen Schwung zu verlieren? Die Schwäche muß tief eingewurzelt sein; denn obgleich die Katastrophe eines Niederbruches ein Risiko und keine Gewißheit, ist das Risiko offensichtlich hoch. Wir sehen uns der Tatsache gegenüber, daß von den einundzwanzig Kulturen, die lebend geboren und zum Wachsen gelangt sind, dreizehn tot und begraben sind; daß sieben von den verbleibenden acht anscheinend im Verfall sind; und daß die achte, die unsere eigene ist, nach allem, was wir schon wissen, auch wohl ihren Zenit überschritten hat. Eine Prüfung an der Erfahrung würde die Laufbahn einer wachsenden Kultur voller Gefahren erscheinen lassen ... sehen wir die Gefahr im Wesen der Bahn selbst liegen, die eine wachsende Kultur einzuschlagen genötigt ist. (ebd., I,2, S. 369)
Oder an anderer Stelle, wo die zehn gegenwärtig noch bestehenden Kulturen hinsichtlich des Grades ihrer Lebendigkeit verglichen werden: es seien
die polynesischen und nomadischen Kulturen nun in ihren letzten Todeskämpfen und sieben von den acht übrigen befinden sich in verschiedenen Graden im Zustand der Annihilierung oder Assimilierung  durch unsere eigene westliche Kultur. Überdies weisen nicht weniger als sechs von diesen sieben Kulturen ... Züge des Verfalls und der Auflösung auf. (Study, Bd. IV, S. 1f)
4.1 Pseudoerklärungen für Kulturverfall
Wiederum schließt Toynbee zunächst einige Hypothesen aus, die zur "Erklärung" kulturellen Niedergangs häufig angenommen wurden oder werden:
"gewisse Lösungen des Problems, die ihre Begründungen auf höherer Ebene suchen und sich auf nicht nachprüfbare Dogmen oder auch auf Dinge außerhalb der Sphäre der menschlichen Geschichte als Beweisgründe verlassen." (ebd., S. 334)
Auch aus dieser allgemeinen Kennzeichnung von für ihn nicht akzeptierbaren "Gründen" wird, wie das schon in der Theorie über die "Herausforderung und Antwort" der Fall war, die Absicht Toynbees deutlich, seine Theorien in möglichst hohem Grad empirisch prüfbar zu formulieren. Er nennt es eine "geistige Volte", also ein Zirkuskunststück, "eigenes Versagen Kräften zuzuschreiben, die vollkommen außerhalb (der eigenen) Kontrolle liegen" (ebd.), ein Kunststück allerdings, das "in Zeiten des Niedergangs und Falls für empfindsame Gemüter besondere Anziehungskraft" habe.

a) Die erste derartige Verdrängung, die Toynbee anführt, sei in der Spätzeit der griechisch-römischen Kultur "ein Gemeinplatz verschiedener Philosophenschulen" gewesen, nämlich "den sozialen Verfall, den sie betrauerten, aber nicht aufhalten konnten", aufgrund einer "Vergreisung" des Kosmos selbst, daher als unvermeidlich zu erklären. Diese These vom "Greisenalter" der Gegenwart ist nicht mehr haltbar:
"Die Naturwissenschaft von heute hat dieser Theorie den Boden entzogen, jedenfalls für jede noch vorhandene Kultur." (ebd., S. 334)
Was Toynbee hier als "Erklärung" für einen Zusammenbruch von Ordnungsformen, Institutionen u.ä. ausschließt, wäre die These, dass der Ablauf kosmisch-universeller Prozesse selbst (wie der Alterungsprozeß eines Sterns mittlerer Größe, den unsere Sonne darstellt) für konkrete Kulturentwicklungen verantwortlich sei - insofern hat die "Naturwissenschaft von heute" tatsächlich ihr Wort gesprochen: die Erde bietet noch unvorstellbar lange Zeit einen möglichen Lebensraum. Es gibt allerdings eine moderne Variante dieses antiken Fatalismus, auf die Toynbee noch nicht eingegangen ist: dass die Entwicklung der Techniken und Wissenschaften durch den Menschen selbst - wenn auch unbeabsichtigt, so doch unvermeidlich - dazu geführt habe, dass die Lebensbedingungen nicht nur für Menschen, sondern auch für eine Vielzahl von tierischen und pflanzlichen Arten verschlechtert und vielleicht sogar endgültig verunmöglicht würden. Also: dass die Kulturentwicklung zwangsläufig dazu führen habe müssen, die Lebensgrundlagen zu zerstören. In dieser Perspektive würde das Weiterbestehen des Planeten für noch mehrere Millionen oder Milliarden Jahre natürlich nichts Tröstliches für Menschen mehr an sich haben.

Die pessimistische These ist nicht so leicht vom Tisch zu wischen, wie Toynbee vorgibt, es sei denn, man zitiert sie wirklich nur in der antiken, uns heute naiv erscheinenden Form. Formulieren wir sie anders, so könnte sie lauten: jede technische Entwicklung beschleunigt den Prozess der Energieumwandlung. Es ist wahrscheinlich, dass zumindest in einigen Fällen technische Entwicklungen in der Weise stattfinden, daß sie tendenziell sich global verbreiten (was auch tatsächlich geschehen ist), wodurch globale Veränderungen im Energiehaushalt der Erde bewirkt werden, die umso nachhaltiger sind, je erfolgreicher die entsprechende Technik ist. Da aber solche Entwicklungen immer nur partikuläre Problemstellungen betreffen, können sie nicht nur, sondern werden wahrscheinlich einer universellen Problemstellung, die das Weiterleben der Art wäre, widersprechen. Es ist die These vieler Beobachter, dass dies unsere Situation ist; es ist fraglich, wenn die Beobachtung zutrifft, ob überhaupt noch Möglichkeiten bestehen, diesen Todesweg zu verlassen oder ob nicht alle Versuche in dieser Richtung bloß verzweifelte Anstrengungen sind, etwas zu tun, wofür die (wahrscheinlich nicht mehr lebensfähigen) Urenkel nicht anklagen werden können. Etwa in dem Sinn des römischen Sprichworts "in magnis voluisse satis est" - das aber setzte voraus, dass es eine Verantwortung des einzelnen gibt, wovon in dem anonymen, alltäglichen und allgegenwärtigen Prozess der Selbstvernichtung von Lebensgrundlagen nicht mehr die Rede sein kann. Keiner, keine ist verantwortlich, keine und keiner kann etwas bewirken - so liest sich die geschichtsphilosophische Fatalismus-These der Antike heute.

b) Einen zweiten misslungenen Versuch, naturgesetzlich-deterministische Gründe für den Niedergang von Kulturen zu formulieren, ortet Toynbee bei "unseren jüngsten abendländischen Vertretern", insbesondere bei Spengler: sie "berufen sich ... auf ein Gesetz von Vergreisung und Tod und kürzerer Wellen, für das sie die Geltung über das ganze Reich des Lebens auf diesem Planeten beanspruchen." (ebd., 335) Dafür ist ihm Spengler ein Zeuge, der es jedoch "nirgends zu einem Beweis" bringe. Toynbee widerspricht dem, weil für ihn "Gesellschaftskörper in sich verständliche Sinngebilde" und "weil Kulturen Wesen sind, die nicht den Gesetzen der Biologie unterliegen." (ebd., 335f.)

c) Eine "rassische Degeneration" für den Niedergang von Kulturen verantwortlich zu machen, hieße ebenfalls, "den Wagen vor das Pferd zu spannen":
Die Krankheit, die die Kinder der Dekadenz hemmt, ist keine Paralyse ihrer natürlichen Fähigkeiten, sondern ein Niederbruch ihres sozialen Erbes, der sie hindert, für ihre unveränderten Fähigkeiten in wirksamer und schöpferischer sozialer Tätigkeit Raum zu finden." (ebd., S. 336)
d) Eine vierte deterministische Hypothese bleibt noch, "die allgemein als die Zyklentheorie der Geschichte bekannt ist" (ebd., S. 339), wobei Toynbee hier an das "Große Jahr" der Griechen erinnert, das aber nicht nur durch neuere astronomische Entdeckungen überholt, sondern in seiner Metaphorik und Ätiologie für die Geschichte überzogen ist - woraus Toynbee Trost schöpft:
Das ist eine Botschaft der Ermutigung für uns Kinder der abendländischen Kultur, die wir heute allein dahintreiben, nur umgeben von schwerkranken Kulturen. Es kann sein, daß der Gleichmacher Tod seine eisige Hand auch auf unsere Kultur legt. Aber wir stehen keiner saeva necessitas gegenüber. Die toten Kulturen sind nicht durch das Fatum getötet oder "im Lauf der Natur" gestorben, und daher ist unsere lebende Kultur nicht unerbittlich dazu verurteilt, im Fortgang "sich anzuschließen der Majorität" ihrer Gattung. Obwohl nach unserer Kenntnis bereits sechzehn Kulturen untergegangen sind und neun andere jetzt im Sterben liegen, sind wir - die sechsundzwanzigste - nicht gezwungen, das Rätsel unseres Schicksals der blinden Entscheidung der Statistik zu überlassen." (ebd., S. 344)
4.2 Toynbees Erklärung für Kulturverfall
Die wirklichen Ursachen des Niedergangs von Kulturen lassen sich nach Toynbee in drei Punkten zusammenfassen:
Versagen der schöpferischen Kraft in der Minderheit, als Antwort darauf Aufhören der Nachahmung auf seiten der Mehrheit und ein daraus sich ergebender Verlust der sozialen Einheit im Gesellschaftskörper als ganzem. (ebd., S. 333)
Es ist von wesentlicher Bedeutung, die Merkmale des Verfalls von Kulturen zu kennen, dies schon darum, weil ein solches Wissen dazu dienen könnte, dem Verfall der eigenen Kultur gegen zu steuern. Was sind solche Merkmale?

a) In der Wachstumsperiode gab die herrschende Minderheit erfolgreiche Antworten auf gegebene Herausforderungen. Dies ist jetzt nicht mehr der Fall, vielmehr "idolisiert" sie relative Werte, die einst nur Teil ihrer kulturschöpferischen Aktivität gewesen waren, als absolut.

b) Dadurch verliert die Minderheit ihre Attraktivität, wird nicht mehr als charismatisch und nachahmenswert empfunden, die Mehrheit folgt ihr nicht mehr. Es ist darum in immer höherem Grad Zwang notwendig, um das innere wie das äußere Proletariat zu kontrollieren. In diesem Stadium schafft die Minderheit einen "Universalstaat" (im Fall der hellenistischen Minderheit war dies das Imperium Romanum) als Zwangsmittel, um die Kultur der Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Dieser Staat gewinnt Eigenmechanik, Kriege und Institutionen werden vorherrschend; damit ruiniert die Minderheit sich selbst und die von ihr geschaffene Kultur.

c) Das "innere Proletariat" trennt sich von der Minderheit, wird unzufrieden und schafft sich eine "Universalkirche" (wie: Christentum, Buddhismus), die wiederum Brücke zu einer entstehenden neuen Kultur werden kann.

d) Schließlich organisiert sich das "äußere Proletariat" wirksam und greift die absinkende Kultur an, statt wie bisher eine Integration in sie anzustreben. In dieser Phase ist die Auflösung der Kultur daran zu erkennen, dass verschiedene "Retter" auftreten, wobei vier Typen davon vorherrschen: Archaiker, Futuristen, Indifferentisten und göttliche Retter. Der Sinn für Sünde und Schuld wird mächtig, Promiskuität und Synkretismus nehmen überhand.

e) Es scheint einen Weg aus einer solchen Situation zu geben, in der sich neben den anderen auch die westliche Kultur befindet: die "transfiguration" der "City of Man to City of God":
Das Ziel der Umwandlung ist es, jenen Licht zu bringen, die in der Finsternis sitzen. ... Sie wird angestrebt in der Suche nach dem Königreich Gottes, um dieses lebendig zu machen, ... es wirksam zu machen... Das Ziel der Umwandlung ist also das Reich Gottes. (Study, Bd. VI, S. 171; dt. FW)


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Erstellt: September 2013 mit Ergänzungen während des Semesters der Lehrveranstaltung