Wimmer: Vorlesung WS 2012/13
180054 VO-L Interkulturelle Philosophie -
Einführung in die Hauptthemen
2. und 3. Einheit: 17. und 31.
Oktober
a) Wiederholung und
Konkretisierung der Prüfungsmodalitäten
b) Themenbereich 1: "Kulturalität" und "Kulturmodelle"
Kultur | Stereotype
| Kulturmodelle | Kulturalismus | Literaturhinweise
"cultura" als Aktivität bzw. als Zustand,
• vgl. im Buch
zur
Vorlesung S. 43ff.
- Enger und weiter Kulturbegriff
- "Kultur" vs "Kulturen"
- "Kultur" vs "Zivilisation"
- "intern universell"
- "creata quae creat"
• Ibn Khaldun
als erster Theoretiker einer Wissenschaft von Gesellschaft und
Kultur
Text zum Nachlesen mit Literaturangaben: http://homepage.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/vl-ibnkhald01.html
"Kulturelle Stile" - gibt es sie in Wissenschaften oder in der
Philosophie?
• Johan Galtung
über kulturelle Stile (von Wissenschaft): "Struktur, Kultur und
intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über
sachsonische, teutonische, gallische und nipponische
Wissenschaft." Übersetzt von Bernd Samland. In Das Fremde
und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik,
Hg.: Alois Wierlacher, S. 151-93. Bayreuth: iik, 1994 (zuerst
in: Leviathan, 1983).
Auszug:
152:
...
daß es interessant sein könnte, eine Weltkarte der
intellektuellen Stile zu besitzen. Auf dieser Weltkarte
würden, um ins Detail zu gehen, Oxbridge in England und die
wichtigsten Universitäten an der Ost- und Westküste
der USA das Zentrum des sachsonischen intellektuellen Stils
bilden; einige der kleineren, klassischen Universitäten in
Deutschland (möglicherweise Münster, Marburg,
Heidelberg, Tübingen) könnten als Zentrum des
teutonischen intellektuellen Stils betrachtet werden; es gibt
keinen Zweifel darüber, wo sich das Zentrum des gallischen
intellektuellen Stils befindet; und der nipponische
intellektuelle Stil hätte die Achse
Tódai-Kyódai (die Universitäten Tokio und
Kyoto) zum Zentrum. Dies ist ganz offensichtlich eine
ideal-typische Analyse im Sinne Webers ...
153: Die Peripherien
würden, grob gesprochen, nicht nur das umfassen, was von
den erwähnten Ländern übrig bleibt, sondern auch
die intellektuellen Aktivitäten in den Kolonial- und
Neokolonialreichen. ... Offenbar gehörte die Befreiung vom
intellektuellen Stil nicht zum Programm der Entkolonialisierung;
das könnte auch ein Grund dafür sein, warum die
Befreiung von anderen Aspekten des Kolonialismus womöglich
auch nicht besonders erfolgreich gewesen ist.
Dazu 187, FN 8:
... der
intellektuelle Stil reicht tiefer als die Sprache: er kann beim
Übergang von der Arbeit in einer europäischen Sprache
zur Arbeit in einer afrikanischen Sprache erhalten bleiben,
zumindest für einige Zeit.
154: Der größte Teil
der Welt ist Peripherie. Aber es stellt sich die interessante
Frage nach der möglichen Unterteilung dieser Peripherie: -
unter dem Einfluß von 0 Zentren: intellektuell
"marginalisiertes", randständiges Territorium, das frei
ist, sich in jede Richtung zu entwickeln; - unter dem
Einfluß von 1 Zentrum: kulturelle Peripherie dieses einen
Zentrums; eine intellektuelle Peripherie, die auf Identifikation
ausgerichtet ist; - unter dem Einfluß von 2 Zentren: zieht
potentiell Nutzen aus den sich kreuzenden Einflüssen, um
sich die Stärken beider anzueignen; - unter dem
Einfluß von 3 oder mehr Zentren: möglicherweise zu
überwältigend, zu verwirrend, als daß sich etwas
Neues entwickeln könnte.
"Intellektuelle Stile":
152: Was mich ... interessiert,
ist die Ebene zwischen dem Individuellen und dem Universalen. Im
weitesten Sinne ist es die Ebene der Zivilisationen oder
Sub-Zivilisationen - in andern Worten, die makro-kulturelle
Ebene. ... sind es drei okzidentale Subzivilisationen und eine
orientalische, die Gegenstand dieser Untersuchung sind:
sachsonische, teutonische, gallische und nipponische
Wissenschaft ...
153: Im übrigen ist zu
hoffen, daß eine Untersuchung dieser Art auch auf
indische, chinesische und arabische und andere Denkstile
ausgedehnt werden kann.
Vier Dimensionen, an denen die
Stile zu zeigen sind:
154: Sammlung, Verarbeitung und
Analse von Daten einerseits und der Theoriebildung
andererseits ... Es gibt noch die Dimension der
Paradigmen-Analyse, die Betrachtung der Grundlagen
155: dessen, was man tut ...
Alle Intellektuellen sind fasziniert von anderen Intellektuellen
und widmen in der Tat viel von ihrer Zeit der Erforschung
dessen, was andere tun.
Stile im Überblick:
|
Sachsonisch |
Teutonisch |
Gallisch |
Nipponisch |
Paradigmenanalyse |
schwach |
stark |
stark |
schwach |
Beschreibungen:
Thesenproduktion |
sehr stark |
schwach |
schwach |
stark |
Erklärungen:
Theoriebildung |
schwach |
sehr stark |
sehr stark |
schwach |
Kommentar über andere Intellektuelle:
- Paradigmen - Thesen - Theorien |
stark |
stark |
stark |
sehr stark |
Die Tabelle weist eigentlich
bloß zwei Profile auf; eines, das den sachsonischen und
nipponischen Stil umfaßt, und eines, das den teutonischen
und gallischen Stil umfaßt. Außerdem scheinen alle
vier Stile in einem Punkt stark zu sein: sie alle sind ziemlich
gut in der Kommentierung anderer Intellektueller. Diese Aussage
verweist auf einen sehr einfachen Sachverhalt: die Gruppe der
Intellektuellen ist in einem gewissen Grad eine ge-
157: schlossene Gesellschaft,
die in allen Gesellschaften von sich selber zehrt. Viele
Intellektuelle nehmen als die wichtigsten Eindrücke das
wahr, was andere Intellektuelle sagen und tun.
Stil von Diskursen
157: In großen Zügen
lautet unsere Behauptung, daß der sachsonische Stil die
Debatte und den Diskurs begünstige und fördere.
((Unterschiede zwischen UK und USA, aber:))
158: ... man geht allgemein von
dem Gedanken aus, in einer Debatte die verschiedensten
Anschauungen zur Sprache zu bringen, und sie zu konfrontieren,
damit sich letzten Endes vielleicht etwas ergebe, das mehr ist
als die Summe seiner Teile. Es gilt, den anderen aufzubauen,
nicht, ihn fertigzumachen. Nicht so in teutonischen und
gallischen intellektuellen Diskussionen. Erst einmal wird die
Meinungsstreuung oder Meinungsvielfalt in einer einzelnen
Debatte wahrscheinlich viel kleiner, das Publikum viel homogener
sein, so daß man es mit weniger Widerspruch zu tun haben
wird. Zweitens wird es selbst unter Freunden keine
Höflichkeitsbezeugungen in der Einführung geben,
jedenfalls mit Sicherheit nicht, wenn auch nur die geringste
Diskrepanz der Meinungen vorliegt. Drittens wird sich niemand
von seinem oder ihrem Weg abbringen lassen, nur um das kleine
Körnchen Gold zu finden, das kleine Element der Hoffnung,
auf dem sich aufbauen ließe - im Gegenteil: die
Diskutanten werden schnurstracks auf den schwächsten Punkt
zusteuern. ...
159: In der nipponischen
Situation ist das alles ganz anders. Erst einmal sind die
Japaner nicht sehr geschickt im Debattieren: darin sind sie
nicht wirklich geübt. Zweitens, was immer auch geschieht,
die erste Regel ist, die präetablierten sozialen
Beziehungen nicht zu verletzen. ... Da ist einmal der allgemeine
Respekt vor der Autorität, vor dem Meister ... Und dann
existiert ein Gefühl der Kollektivität, der
organischen Solidarität: wir sind alle eins, im
wesentlichen von gleicher Art ... Was also passiert in einer
japanischen intellektuellen Debatte? Diese Frage läßt
sich nicht leicht beantworten ... Es geht ... um eine
Klassifizierung: Zu welcher Schule gehören Sie? Woher haben
Sie das? Wer hat das zuerst gesagt? Man könnte es fast das
lexikalisch-enzyklopädische Verfahren der intellektuellen
Kommentierung nennen ...
160: Es ist eine kartographische
Erfassung des intellektuellen Territoriums, eine Erkundung der
Grenzlinien, und als allgemeine Überschrift läßt
sich über diese Übung ein einziges Wort setzen:
Schule, oder im Japanischen, mit einer besonderen Konnotation:
iemoto. ... Die Debatte ist eher ein gesellschaftlicher als ein
intellektueller Akt. ... Nichts von dem, was ich gesagt habe,
soll nun aber heißen, daß es innerhalb der vier
intellektuellen Kulturen keine Meinungsverschiedenheiten
gäbe. Die Frage ist nur, wie sie jeweils behandelt
werden.
Stil der Beschreibungen
161: Die grundlegende Behauptung
lautet, natürlich, daß der sachsonische Stil in
dieser besonderen Hinsicht sehr stark ist. Der britische Hang
zur Dokumentierung ist so sprichwörtlich wie die
US-amerikanische Liebe zur Statistik. Vielleicht könnte man
... einfach sagen: Daten verbinden, Theorien trennen. ... nur
wenige Dinge tragen so sehr dazu bei, scharfe Trennungslinien zu
erzeugen - Menschen mit festen Überzeugungen - wie es
Theorien im teutonischen und gallischen intellektuellen Ansatz
vermögen.
((am Ende seines Essays stellt Galtung die entscheidenden
kritischen Fragen jedes dieser Stile zusammen:))
sachsonischer
Stil
|
Wie
läßt
sich das operationalisieren? (US-Version)
Wie läßt sich das belegen? (UK-Version)
|
teutonischer
Stil
|
Wie
können
Sie das zurückführen/ableiten?
|
gallischer
Stil
|
Wie
kann
man das in gutem Französisch sagen?
|
nipponischer
Stil
|
Wer
ist
Ihr Lehrer?
|
Kulturalität von
Philosophie
187, FN 4: Es wäre
nützlich gewesen, wenn Kant bei der Untersuchung der
Beschränkungen des menschlichen Geistes seine eigenen
Beschränkungen näher untersucht hätte - "seine"
nicht im persönlichen Sinn, sondern "seine" als Teil einer
Nation, einer Klasse, einer Tradition, einer Zivilisation und
dergleichen. Aber es war kein Zeitalter vergleichender Studien,
um Punkt für Punkt eine Zivilisation an der anderen zu
messen.
155: ... die Erforschung der
Standortgebundenheit, der die eigene intellektuelle
Tätigkeit unterworfen ist. ... Ich halte es ... für
sehr schwierig, unsere Beschränkungen als Menschen in einem
universalen Sinn zu begreifen, weil wir nichts anderes zum
Vergleich haben. ... Doch auf der Ebene der Makro-Kulturen
können wir das sehr wohl: Es gibt Gegensätze, sie
können mitgeteilt werden und sie können verstanden
werden, und Übersetzungen sind irgendwo zwischen dem
vollkommen Vollkommenen und dem vollkommen Unvollkommenen
angesiedelt.
dazu vgl.: Karin Meriä: Gibt es
"kulturell differente" Stile des Philosophierens und worin liegen
deren Stärken oder Schwächen? (SE-Arbeit Wien 2005), im
sammelpunkt
http://sammelpunkt.philo.at:8080/1250/
"interne" vs. "externe Universalität"
vgl.: Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Theorie und
Geschichte. Wien: Passagen, 1990, Kap. 1.4: Die Entstehung einer
extern universellen Kultur S. 57-67
pdf von hier: http://homepage.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/intkult90.html
"kulturell differente" Ursprünge von Philosophien - gibt es
sie und was bedeuten sie?
vgl.: Jay L. Garfield: "Zeitlichkeit und Andersheit. Dimensionen
hermeneutischer Distanz." In: Polylog. Zeitschrift für
interkulturelles Philosophieren 3, Nr. 5 (2000): S. 42-61.
Auszug:
„Wenn
westliche
Philosophen nicht denken, dass die Philosophie zur Befreiung aus
dem Kreis der Existenzen führen kann, wozu betreiben sie
sie dann?“ (Eine Frage, die mir Dutzende von tibetischen
Kollegen und Studenten gestellt haben.) „Aber natürlich
kommt es bei all dem darauf an, Erleuchtung zu erlangen. Sonst
wäre Philosophie doch bloßer Jux.“ (Je Tsong Khapa in
„The Essence of Eloquence“ als Kommentar zur Motivation
philosophischer Analyse.) „Ich fürchte, diese Studenten
bekommen nichts als religiöse Indoktrinierung. Ich meine:
sie studieren den Buddhismus, oder nicht? Und sind nicht die
meisten Lehrer Mönche?“ (Dekan eines kleinen weltlichen
okzidentalen College, an dem die Werke von Thomas von Aquin,
Augustinus, al-Farabi und Maimonides in Philosophiekursen
unterrichtet werden.) „Ich kann verstehen, warum Sie nach Indien
gekommen sind, um buddhistische Philosophie zu studieren. Denn
unsere Tradition ist tatsächlich tief und weit. Aber offen
gestanden kann ich nicht sehen, was wir von Euch lernen
könnten. Denn die westliche Philosophie ist sehr
oberflächlich und behandelt keine wichtigen Fragen.“ (Ehrw.
Gen Lobzang Gyatso, Direktor der Institute of Buddhist
Dialectics als Antwort auf das Angebot zu Vorlesungen über
westliche Philosophie an seinem College.)
„Wie kann ein authentischer
Kommentar seinen Bezugstext kritisieren? ... Einen Kommentar,
der authentisch sein soll, kann nur jemand schreiben, der in der
Nachfolge des Bezugstextes steht und die Erlaubnis hat, ihn
auszuführen. Aus diesem Grunde könnte ich nie einen
authentischen Kommentar zu einem westlichen Text schreiben. Wenn
ich den Kommentar eines westlichen Gelehrten lese, frage ich
sofort: ‘Wer war sein Lehrer?’ und dann: ‘Kommentiert diese
Person aus der Perspektive dieser Nachfolge?’“ (Ehrw. Acarya
Ngawang Samten, Direktor des Forschungsdepartments am Central
Institute of Higher Tibetan Studies)
„Locke sagt eine Menge
darüber, wie Gott uns natürliche Rechte verleiht und
wie die Gesellschaft diese Rechte respektieren muss. Wenn man
keine Religion mit einem Gott hat, was für einen Sinn macht
das dann?“
„...’Vom Schöpfer mit
gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet ...’:
ist das wirklich weltlich gedacht oder muss man Christ sein, um
es zu akzeptieren?“
„Vergisst denn Mill nicht, dass
ein Einzelner nur den Zweck hat, seiner Gesellschaft zu
nützen? Wie kann jemand vollkommene individuelle Freiheit
haben, wenn seine Gesellschaft ihn braucht? Wozu würde er
existieren?“
(Auswahl an Fragen, die von
tibetischen Studenten der westlichen politischen Philosophie
gestellt wurden.)
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Selbst- und Fremdzuschreibungen
2 Beispiele:
- Elmar Holenstein: "Vergleichende Kulturphilosophie.
Chinesische Bilder, japanische Beispiele, schweizerische
Verhältnisse." 34 Seiten. 1993. Im Internet:
http://www.eu-ro-ni.ch/publications/Holenstein_Kulturvergleich.pdf
Auszug 1:
Die fehlenden Laute oder: Phonetik als
Entwicklungswissenschaft?
In frühen portugiesischen
Beschreibungen der Gesellschaften und der Sprachen an der
Küste Brasiliens findet sich der Hinweis, dass diesen
Menschen drei Laute fehlen. Es sind die Laute "F", "L" und "R",
die den Bewohnern dieses bisher unbekannten Landes unbekannt
sind.
Dies sind aber nun nicht
irgendwelche Laute, sondern diejenigen, mit denen im
Lateinischen und dessen Tochtersprachen jene Begriffe anlauten,
die eine zivilisierte Gesellschaft überhaupt grundlegen:
FIDES, LEX und REX, also Glaube, Gesetz und König (vgl.
Martins 1992, I: 57). Die Formel wiederholt sich von dieser
ersten Beobachtung an durch drei Jahrhunderte, dass eben das
Fehlen dieser Begriffe bei den Einwohnern Brasiliens für
jede politische, moralische, missionarische, kurz: für jede
entwicklungsbezogene Maßnahme leitend sein müsse,
dass alles berechtigt sei, was dem bedauerlichen Zustand dieser
Menschen Abhilfe verschafft. Sie sind, wie die Formel im
Portugiesischen lautet, "sem fé, sem lei e sem rei"; sie
haben "keinen Glauben, kein Gesetz, keinen König", leben
ohne Ordnung und ohne Herrschaft, kennen weder Rechnung noch
Gewicht, noch Maß.
Das Fremde wird hier deutlich am
Eigenen gemessen. Man muss hinzufügen, dass dabei durchaus
ein intensives Interesse am sprachlich-kommunikativen Verstehen
gegeben war, allerdings so, dass die gedanklichen Inhalte der
fremden Gesellschaft nur unter eine von zwei Kategorien fallen
konnten: Sie waren entweder falsch oder sie deckten sich mit dem
Eigenen, nur in der Form davon verschieden.
Kann man sich vorstellen, dass
auch nur ein winziger Überrest der Übertragung von der
"Welt der Grammatik" auf eine "Grammatik der Welt" überlebt
haben könnte? Oder sind "diese Dummheiten endgültig"
im 18. Jahrhundert widerlegt (vgl. Martins 1992, ebd.) worden?
Das wird im konkreten Fall so sein. Aber betrifft es auch das
Allgemeine an diesem Beispielsfall?
Das Allgemeine liegt in
Folgendem: Bestimmte Ausdrucksformen der eigenen Gesellschaft
werden als allgemein menschlich oder als normal angesehen und
deren tatsächliches oder angebliches Fehlen in einer
anderen Gesellschaft als Mangel an Menschentum.
Auszug 2:
Fünf Vermutungen über
hierarchische Verhältnisse zwischen Kulturen oder: Poti
will in die Stadt
Wir können an einem
aufschlussreichen kurzen Übungstext aus einem
Sprachlehrbuch aus Brasilien einige Vermutungen oder Annahmen
rekonstruieren, die anzunehmen sind, wenn ein „hierarchisches“
Verhältnis zwischen Kulturen behauptet wird. In dem
Lehrbuch wird die Geschichte des kleinen Poti erzählt, der
in Sichtweite einer Stadt im brasilianischen Urwald
aufwächst. Die Bewohner der Stadt werden ihm als
gefährliche und zu meidende Feinde geschildert. Er hat
jedoch ein unstillbares Verlangen, dort zu leben, will seine
Lebenswelt verlassen und in der Stadt arbeiten. Wenn Poti dies
gelingt, wird er dort Freunde haben, er wird beweisen, dass ein
friedliches Zusammenleben möglich ist und er wird
„wahrscheinlich der glücklichste Indio des Urwalds sein“,
so absurd dies klingt, weil es ja erst zutreffen kann, wenn er
den Urwald verlassen hat.
Der einfache Text lässt auf einige Annahmen
schließen, die erlauben sollen, das oft vereinheitlichend
als „hierarchisch“ bezeichnete Verhältnis zwischen
Gesellschaften oder Kulturen differenzierter zu benennen. Jede
dieser Annahmen kann mit aufwertenden und mit abwertenden
Wertzuschreibungen formuliert werden. Ich nenne jeweils zuerst
die aufwertenden Annahmen, die im Regelfall der eigenen Kultur
oder Tradition zugeschrieben werden. Es handelt sich um
folgende:
• Erstens die Annahme, dass die Differenz
zwischen dem Leben im Wald und dem Stadtleben nicht nur von den
Städtern, sondern auch von den neugierigen Bewohnern des
Waldes als eine Defizienz des Ersteren angesehen wird: Gelingt
es Poti, in der Stadt „der Weißen“ zu leben, Freunde zu
haben und zu arbeiten, dann und erst dann wird er
„wahrscheinlich der glücklichste Indio des Urwalds“ sein.
Es ist dies die Annahme der unbezweifelten Überlegenheit,
die Superioritätsvermutung
für die „Stadt“, der in diesem Fall eine
Inferioritätsvermutung bezüglich des „Waldes“ auf
beiden Seiten gegenüber steht. Damit ist von vornherein nur
an einen der beiden ersten Zentrismustypen zu denken, hier wohl
an den Typus eines integrativen Zentrismus.
• Zweitens die Annahme, dass Feindbilder
beziehungsweise schlechte Erfahrungen der eigenen
Herkunftsgruppe mit der fremden Gruppe letztlich nichts gegen
die Attraktivität der letzteren wiegen, wenn der Einzelne
seine Chancen „für die Zukunft“ abzuschätzen beginnt –
der „Wald“ bietet ihm keine Chancen, die einer Arbeit in der
„Stadt“ vergleichbar wären. Dies ist also die Annahme, dass
Selbstverwirklichung des Individuums in eminenter oder sogar in
ausschließlicher Form in der modernen Zivilisation
möglich ist – eine Komplettheitsvermutung.
Im Unterschied zur „Stadt“ bietet der „Wald“ nur
ungenügende Möglichkeiten, ihm gegenüber gilt die
Vermutung der Inkomplettheit.
• Drittens die Annahme, dass die Akkulturation
an „die Stadt der Weißen“ nur Kindern – und kindlichen
Gemütern – als etwas Gefährliches dargestellt werden
und erscheinen kann. Man kann diese Annahme als Maturitätsvermutung im
Vergleich zu differenten Kulturen benennen, für die
Infantilität angenommen wird.
• Viertens findet sich in der zitierten
Geschichte keinerlei Andeutung eines möglichen
verändernden Beitrags für das Leben in der „Stadt“,
der aus dem „Wald“ kommen könnte. Wir können dies als
Kompetenzvermutung
benennen. Das Leben im „Wald“ vermittelt keinerlei Kompetenz, es
vermittelt Inkompetenz.
• Fünftens die Annahme, dass von Seiten
der „Stadt der Weißen“ nichts weiter zu tun ist, als da zu
sein. An keiner Stelle des Textes ist von irgendeiner
(missionierenden, zivilisierenden etc.) Aktivität
ihrerseits die Rede. Dies impliziert die These von einem
Automatismus der Zivilisierung der nicht-okzidentalen Menschheit
nach okzidentalem Muster, die dieser Annahme, der Zwangsläufigkeitsvermutung,
zugrunde liegt. Der Gegensatz dazu wäre die
Zufallsvermutung oder die Angst, es könnte sich bei der
„Stadt“ als Inbegriff einer globalen Zivilisation doch um etwas
handeln, das in Ruinen enden wird.
Derartige „Vermutungen“ sind in der Geschichte und Gegenwart des
philosophischen Denkens ebenso wirksam wie in anderen
Disziplinen. Es ist darum notwendig, sie auf ihre Implikationen
hin zu befragen.
Dank
seiner
Kürze kann der paraphrasierte Text hier zur Gänze
wiedergegeben werden. Er findet sich in: Susanna Florissi et
al.: Bem-vindo! a língua portuguesa no mondo da
comunicação. São Paulo: Special Book
Services Livraria 2000, S. 59: “O índio Poti mora na
floresta perto da grande cidade. Nasceu e cresceu na floresta
e nunca saiu de lá. Sempre ouvia coisas
horríveis sobre os homens brancos. Quando
criança, Poti gostava de ver, de longe, a grande
cidade. Seu pai lhe explicava sobre o perigo de se aproximar
do homem branco. Seu pai sempre lhe dizia: nunca fale com os
homens brancos e nunca se aproxima da cidade grande. Mas hoje
Poti já é adulto e faz planos para o futuro.
Sonha em ir para a cidade grande e lá fazer amigos.
Quem sabe até trabalhar com eles? Poti quer que os
índios es os homens brancos sejam amigos. Embora Poti
não conheça nenhum homem branco, sente que eles
não podem ser tão ruins quanto lhe dizem. Se
pudesse viver entre eles, poderia demonstrar que é
possível uma convivência amistosa. Quando isso
acontecer, Poti será, provavelmente, o índio
mais feliz da floresta.”
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"Kulturmodelle" und interkulturelle Philosophie
Modellvorstellungen von "Kulturen" - "platonisch", "romantisch" -
oder was?
vgl: Elmar Holenstein: "Intra- und interkulturelle Hermeneutik." In
Kulturphilosophische Perspektiven, S. 257-87. Frankfurt/M.:
Suhrkamp, 1998.
Auszug:
257: Nach einer "platonisch" zu
nennenden These, die interkulturell weit verbreitet ist, haben
es alle Menschen im wesentlichen mit denselben Themen und
Problemen zu tun. Nur deren Ausdrucksformen variieren von Kultur
zu Kultur. Zu einer Verständigung komme man, wenn man "zu
den Sachen selbst" zurückgeht und von den verschiedenen
Worthülsen absieht. Nach der romantischen Gegenthese sind
Inhalt und Form einer Sache, Bedeutung und Ausdruck und ebenso
Text und Kontext einer Rede nicht unabhängig voneinander.
Man kann sich nicht das eine ohne das andere aneignen. Eine
Verständigung ist nur innerhalb ein und derselben
Lebensform und Kultursprache möglich. Untereinander sind
die verschiedenen Lebensformen "inkommensurabel" und die
sprachlich determinierten Kulturen im Wesentlichen nicht
ineinander übersetzbar. Nach der sich heute
aufdrängenden Synthese gibt es neben ereignisgeschichtlich
bedingten Lebensformen, Denkweisen und Ausdrucksformen, die
für die einzelnen Kulturen charakteristisch zu sein
scheinen, solche, die entwicklungsgeschichtlich bedingt allen
Menschen gemeinsam sind. Die Verständigung zwischen den
Kulturen wird durch die menschliche Fähigkeit zum
Perspektivenwechsel ermöglicht, die für die
Verständigung innerhalb ein und derselben Kultur (zwischen
ihren diversen Regionen und desgleichen zwischen ihren
verschiedene Standpunkte vertretenden Individuen) um nichts
weniger erforderlich ist.
"Platonisch":
285: Alle Menschen haben es mit
denselben Dingen [...] zu tun. Sie machen sich von den Dingen
auch dieselben mentalen Vorstellungen. Der Ausdruck, den sie
ihren Ideen verleihen, variiert jedoch von Kultur zu Kultur.
"Humanwissenschaftlicher
Leitsatz"
265: Es ist leichter, über
den Menschen (speziesspezifisch) allgemeine Aussagen zu machen:
Aussagen, die für alle Menschen gelten, nur für
Menschen gelten und nicht auch für andere Lebewesen, als
(populationsspezifisch) allgemeine Aussagen über eine
Kultur (oder eine Gesellschaft, eine ‚Rasse', eine ‚Nation', ein
Geschlecht): Aussagen, die für alle Angehörigen einer
Kultur (einer Gesellschaft, einer ‚Rasse', einer ‚Nation', eines
Geschlechts) gelten, nur für sie gelten und nicht auch
für Angehörige anderer Kulturen (anderer
Gesellschaften, anderer ‚Rassen', anderer ‚Nationen', des
anderen Geschlechts).
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"Kulturalismus" als Gefahr
vgl. Hakan Gürses: "Funktionen der Kultur. Zur Kritik des
Kulturbegriffs." In Grenzen des Kulturkonzepts. Meta-Genealogien,
Hg.: Stefan Nowotny und Michael Staudigl, S. 13-34. Wien: Turia
& Kant, 2002. Im Internet:
http://homepage.univie.ac.at/hakan.guerses/php/texte/funktionen_kultur.pdf
Auszug:
Kritik
am
Begriff der Kultur
Obwohl oder gerade weil er einen
der zentralen Termini unserer Zeit darstellt, werden vielerseits
„Kultur“ und die damit verbundenen Konzepte allmählich
hinterfragt, sogar abgelehnt. Zwei wesentliche Gründe
stehen dabei im Vordergrund: ein terminologischer und ein
politischer. Während der terminologische Einwand das durch
unzählige Definitionen und Kontexte ausgebeulte semantische
Raster des Kulturbegriffs beklagt, eine ihm dadurch anhaftende
Trivialisierung attestiert und infolgedessen seine
wissenschaftliche Brauchbarkeit infrage stellt, verweist der
politische Einwand auf den zentralen Stellenwert dieses Terminus
in rassistischen und kolonialistischen Lehren und Praktiken.
Zwischen Neudefinition und völliger Ablehnung des
Kulturbegriffs schwanken die vorgeschlagenen Konsequenzen. ...
Kritisiert werden kann nicht nur
das als „Kultur“ kodifizierte Regelsystem, sondern auch – und
vor allem – die Definitionsmacht, die strukturelle Gewalt und
die Macht der Wiederholung, die allesamt bei der Kodifizierung
dieses Regelsystems aktiv sind. Mit solcher Kritik befinden wir
uns aber in der Kultur, wenn auch nicht mehr in einer
„differenziellen“ oder holistischen Kultur. Sondern in der
Kultur als Umgang mit Kultur – in der Kultur als Tätigkeit.
Ein solcher Gebrauch von
„Kultur“ als Begriff einer Meta-Beschäftigung brächte
drei Vorteile gegenüber den herkömmlichen
Kulturdefinitionen mit sich: Die Rolle der Individuen wird aus
der Passivität befreit; Kultur wird kritisierbar;
Machtverhältnisse innerhalb der „Kulturen“ werden sichtbar.
Mit diesen drei wiedergewonnenen Faktoren könnten wir uns
an die Kritik des Kulturalismus machen.
vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Übersetzt von
Horst Boog (stw Bd. 216). Frankfurt/M: Suhrkamp, 1977. (EA englisch
1953):
2f: „Wenn
Prinzipien dadurch, daß sie von einer Gesellschaft
angenommen wurden, genügend gerechtfertigt sind, dann sind
die Prinzipien des Kannibalismus genau so verfechtbar und
stichhaltig wie diejenigen des zivilisierten Lebens. [...]. Wenn
es keinen höheren Maßstab gibt als das Ideal unserer
Gesellschaft, dann sind wir vollkommen außerstande,
kritischen Abstand von diesem Ideal zu gewinnen. Die bloße
Tatsache jedoch, daß wir die Frage nach dem Wert unseres
Gesellschaftsideals stellen können, zeigt, daß es etwas
im Menschen gibt, was seiner Gesellschaft nicht gänzlich
versklavt ist, und daß wir daher imstande und folglich
verpflichtet sind, uns nach einem Maßstab umzusehen, auf
Grund dessen wir über die Ideale unserer eigenen wie auch
jeder anderen Zivilisation urteilen können. Jener
Maßstab kann nicht in den Bedürfnissen der
verschiedenen Gesellschaften gefunden werden, denn die
Gesellschaften und ihre Teile haben viele einander widerstreitende
Bedürfnisse: es entsteht das Problem der Priorität. Wir
können dieses Problem nicht rational lösen, wenn wir
nicht im Besitze eines Maßstabes sind, nach dem wir uns
richten und mit dessen Hilfe wir zwischen echten Bedürfnissen
und eingebildeten Bedürfnissen unterscheiden können, und
der es uns gestattet, die Hierarchie der verschiedenen Arten
echter Bedürfnisse zu erkennen. Das Problem der sich
gegenseitig widersprechenden Bedürfnisse der Gesellschaft
kann nicht gelöst werden, wenn wir keine Kenntnis vom
Naturrecht haben“
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Auswahl weiterer TEXTE zum
Nachlesen zum Thema (chronologisch):
Clifford Geertz: "'The Uses of Diversity', lecture at the University
of Michigan, 8.11.1985,." (THE TANNER LECTURES ON HUMAN VALUES)
Place Published Internet: tannerlectures.utah.edu 1985
Inigo Bocken: "Politik und Kultur in einer multikulturellen
Gesellschaft." In Multikulturalität. Traum - Alptraum -
Wirklichkeit, Hg.: Jean-Pierre Wils und Hans-Peter Mahnke: edition
ethik kontrovers, S. 31-36. Frankfurt/M.: Diesterweg, 1998.
Rosi Braidotti: "Politik der Vielfalt. Strategien für die
Zukunft." Übersetzt von Nausikaa Schirilla. In: Polylog.
Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 2, Nr. 4
(1999): 6-12.
Susan Moller Okin: Is Multiculturalism Bad for Women? Princeton
N.J.: Princeton UP, 1999.
Bhikhu Parekh: Rethinking Multiculturalism. Cultural Diversity and
Political Theory. London, 2000.
Raúl Fornet-Betancourt: "Hermeneutik und Politik des Fremden.
Ein philosophischer Beitrag zur Herausforderung des Zusammenlebens
in multikulturellen Gesellschaften." In Verstehen und
Verständigung. Ethnologie - Xenologie - interkulturelle
Philosophie, Hg.: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, S. 49-59.
Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002.
Gabriele Münnix: Zum Ethos der Pluralität. Postmoderne und
Multiperspektivität als Programm. (Philosophie, Bd. 44)
Münster: LIT-Verlag, 2004.
Hans Jörg Sandkühler und Hong-Bin Lim (Hg.):
Transculturality - Epistemology, Ethics, and Politics. (Philosophie
und Geschichte der Wissenschaften. Studien und Quellen. Hg. von Hans
Jörg Sandkühler und Pirmin Stekeler-Weithofer. Bd. 57).
Frankfurt/M.: Peter Lang, 2004.
Radostin Kaloianov: "Multikulturalismus und Kritik." In:
Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr.
24 (2010): 81-97.
Allgemeine Literatur:
Franz-Martin Wimmer: Interkulturelle
Philosophie.
Eine Einführung. Wien: WUV, 2004
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