Universität
              Wien

Wimmer: Vorlesung WS 2012/13

180054 VO-L Interkulturelle Philosophie - Einführung in die Hauptthemen

2. und 3. Einheit: 17. und 31. Oktober
a) Wiederholung und Konkretisierung der Prüfungsmodalitäten

b) Themenbereich 1: "Kulturalität" und "Kulturmodelle"

Kultur | Stereotype | Kulturmodelle | Kulturalismus | Literaturhinweise

"cultura" als Aktivität bzw. als Zustand,
•    vgl. im Buch zur Vorlesung S. 43ff.
•    Ibn Khaldun als erster Theoretiker einer Wissenschaft von Gesellschaft und Kultur
Text zum Nachlesen mit Literaturangaben: http://homepage.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/vl-ibnkhald01.html

"Kulturelle Stile" - gibt es sie in Wissenschaften oder in der Philosophie?
•    Johan Galtung über kulturelle Stile (von Wissenschaft): "Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft."  Übersetzt von Bernd Samland. In Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen Germanistik, Hg.: Alois Wierlacher,  S. 151-93. Bayreuth: iik, 1994 (zuerst in: Leviathan, 1983).
Auszug:
152: ... daß es interessant sein könnte, eine Weltkarte der intellektuellen Stile zu besitzen. Auf dieser Weltkarte würden, um ins Detail zu gehen, Oxbridge in England und die wichtigsten Universitäten an der Ost- und Westküste der USA das Zentrum des sachsonischen intellektuellen Stils bilden; einige der kleineren, klassischen Universitäten in Deutschland (möglicherweise Münster, Marburg, Heidelberg, Tübingen) könnten als Zentrum des teutonischen intellektuellen Stils betrachtet werden; es gibt keinen Zweifel darüber, wo sich das Zentrum des gallischen intellektuellen Stils befindet; und der nipponische intellektuelle Stil hätte die Achse Tódai-Kyódai (die Universitäten Tokio und Kyoto) zum Zentrum. Dies ist ganz offensichtlich eine ideal-typische Analyse im Sinne Webers ...
153: Die Peripherien würden, grob gesprochen, nicht nur das umfassen, was von den erwähnten Ländern übrig bleibt, sondern auch die intellektuellen Aktivitäten in den Kolonial- und Neokolonialreichen. ... Offenbar gehörte die Befreiung vom intellektuellen Stil nicht zum Programm der Entkolonialisierung; das könnte auch ein Grund dafür sein, warum die Befreiung von anderen Aspekten des Kolonialismus womöglich auch nicht besonders erfolgreich gewesen ist.
Dazu 187, FN 8: ... der intellektuelle Stil reicht tiefer als die Sprache: er kann beim Übergang von der Arbeit in einer europäischen Sprache zur Arbeit in einer afrikanischen Sprache erhalten bleiben, zumindest für einige Zeit.
154: Der größte Teil der Welt ist Peripherie. Aber es stellt sich die interessante Frage nach der möglichen Unterteilung dieser Peripherie: - unter dem Einfluß von 0 Zentren: intellektuell "marginalisiertes", randständiges Territorium, das frei ist, sich in jede Richtung zu entwickeln; - unter dem Einfluß von 1 Zentrum: kulturelle Peripherie dieses einen Zentrums; eine intellektuelle Peripherie, die auf Identifikation ausgerichtet ist; - unter dem Einfluß von 2 Zentren: zieht potentiell Nutzen aus den sich kreuzenden Einflüssen, um sich die Stärken beider anzueignen; - unter dem Einfluß von 3 oder mehr Zentren: möglicherweise zu überwältigend, zu verwirrend, als daß sich etwas Neues entwickeln könnte.  

"Intellektuelle Stile":
152: Was mich ... interessiert, ist die Ebene zwischen dem Individuellen und dem Universalen. Im weitesten Sinne ist es die Ebene der Zivilisationen oder Sub-Zivilisationen - in andern Worten, die makro-kulturelle Ebene. ... sind es drei okzidentale Subzivilisationen und eine orientalische, die Gegenstand dieser Untersuchung sind: sachsonische, teutonische, gallische und nipponische Wissenschaft ...
153: Im übrigen ist zu hoffen, daß eine Untersuchung dieser Art auch auf indische, chinesische und arabische und andere Denkstile ausgedehnt werden kann.

Vier Dimensionen, an denen die Stile zu zeigen sind:
154: Sammlung, Verarbeitung und Analse von Daten  einerseits und der Theoriebildung andererseits ... Es gibt noch die Dimension der Paradigmen-Analyse, die Betrachtung der Grundlagen
155: dessen, was man tut ... Alle Intellektuellen sind fasziniert von anderen Intellektuellen und widmen in der Tat viel von ihrer Zeit der Erforschung dessen, was andere tun. 

Stile im Überblick:

Sachsonisch Teutonisch Gallisch Nipponisch
Paradigmenanalyse schwach stark stark schwach
Beschreibungen:
Thesenproduktion
sehr stark schwach schwach stark
Erklärungen:
Theoriebildung
schwach sehr stark sehr stark schwach
Kommentar über andere Intellektuelle:
- Paradigmen - Thesen - Theorien
stark stark stark sehr stark
 
Die Tabelle weist eigentlich bloß zwei Profile auf; eines, das den sachsonischen und nipponischen Stil umfaßt, und eines, das den teutonischen und gallischen Stil umfaßt. Außerdem scheinen alle vier Stile in einem Punkt stark zu sein: sie alle sind ziemlich gut in der Kommentierung anderer Intellektueller. Diese Aussage verweist auf einen sehr einfachen Sachverhalt: die Gruppe der Intellektuellen ist in einem gewissen Grad eine ge-
157: schlossene Gesellschaft, die in allen Gesellschaften von sich selber zehrt. Viele Intellektuelle nehmen als die wichtigsten Eindrücke das wahr, was andere Intellektuelle sagen und tun. 

Stil von Diskursen
157: In großen Zügen lautet unsere Behauptung, daß der sachsonische Stil die Debatte und den Diskurs begünstige und fördere. ((Unterschiede zwischen UK und USA, aber:))
158: ... man geht allgemein von dem Gedanken aus, in einer Debatte die verschiedensten Anschauungen zur Sprache zu bringen, und sie zu konfrontieren, damit sich letzten Endes vielleicht etwas ergebe, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Es gilt, den anderen aufzubauen, nicht, ihn fertigzumachen. Nicht so in teutonischen und gallischen intellektuellen Diskussionen. Erst einmal wird die Meinungsstreuung oder Meinungsvielfalt in einer einzelnen Debatte wahrscheinlich viel kleiner, das Publikum viel homogener sein, so daß man es mit weniger Widerspruch zu tun haben wird. Zweitens wird es selbst unter Freunden keine Höflichkeitsbezeugungen in der Einführung geben, jedenfalls mit Sicherheit nicht, wenn auch nur die geringste Diskrepanz der Meinungen vorliegt. Drittens wird sich niemand von seinem oder ihrem Weg abbringen lassen, nur um das kleine Körnchen Gold zu finden, das kleine Element der Hoffnung, auf dem sich aufbauen ließe - im Gegenteil: die Diskutanten werden schnurstracks auf den schwächsten Punkt zusteuern. ...
159: In der nipponischen Situation ist das alles ganz anders. Erst einmal sind die Japaner nicht sehr geschickt im Debattieren: darin sind sie nicht wirklich geübt. Zweitens, was immer auch geschieht, die erste Regel ist, die präetablierten sozialen Beziehungen nicht zu verletzen. ... Da ist einmal der allgemeine Respekt vor der Autorität, vor dem Meister ... Und dann existiert ein Gefühl der Kollektivität, der organischen Solidarität: wir sind alle eins, im wesentlichen von gleicher Art ... Was also passiert in einer japanischen intellektuellen Debatte? Diese Frage läßt sich nicht leicht beantworten ... Es geht ... um eine Klassifizierung: Zu welcher Schule gehören Sie? Woher haben Sie das? Wer hat das zuerst gesagt? Man könnte es fast das lexikalisch-enzyklopädische Verfahren der intellektuellen Kommentierung nennen ...
160: Es ist eine kartographische Erfassung des intellektuellen Territoriums, eine Erkundung der Grenzlinien, und als allgemeine Überschrift läßt sich über diese Übung ein einziges Wort setzen: Schule, oder im Japanischen, mit einer besonderen Konnotation: iemoto. ... Die Debatte ist eher ein gesellschaftlicher als ein intellektueller Akt. ... Nichts von dem, was ich gesagt habe, soll nun aber heißen, daß es innerhalb der vier intellektuellen Kulturen keine Meinungsverschiedenheiten gäbe. Die Frage ist nur, wie sie jeweils behandelt werden. 

Stil der Beschreibungen
161: Die grundlegende Behauptung lautet, natürlich, daß der sachsonische Stil in dieser besonderen Hinsicht sehr stark ist. Der britische Hang zur Dokumentierung ist so sprichwörtlich wie die US-amerikanische Liebe zur Statistik. Vielleicht könnte man ... einfach sagen: Daten verbinden, Theorien trennen. ... nur wenige Dinge tragen so sehr dazu bei, scharfe Trennungslinien zu erzeugen - Menschen mit festen Überzeugungen - wie es Theorien im teutonischen und gallischen intellektuellen Ansatz vermögen.
((am Ende seines Essays stellt Galtung die entscheidenden kritischen Fragen jedes dieser Stile zusammen:))
sachsonischer Stil
 Wie läßt sich das operationalisieren? (US-Version)
 Wie läßt sich das belegen? (UK-Version)
teutonischer Stil
 Wie können Sie das zurückführen/ableiten?
gallischer Stil
 Wie kann man das in gutem Französisch sagen?
nipponischer Stil
 Wer ist Ihr Lehrer?


Kulturalität von Philosophie
187, FN 4: Es wäre nützlich gewesen, wenn Kant bei der Untersuchung der Beschränkungen des menschlichen Geistes seine eigenen Beschränkungen näher untersucht hätte - "seine" nicht im persönlichen Sinn, sondern "seine" als Teil einer Nation, einer Klasse, einer Tradition, einer Zivilisation und dergleichen. Aber es war kein Zeitalter vergleichender Studien, um Punkt für Punkt eine Zivilisation an der anderen zu messen.
155: ... die Erforschung der Standortgebundenheit, der die eigene intellektuelle Tätigkeit unterworfen ist. ... Ich halte es ... für sehr schwierig, unsere Beschränkungen als Menschen in einem universalen Sinn zu begreifen, weil wir nichts anderes zum Vergleich haben. ... Doch auf der Ebene der Makro-Kulturen können wir das sehr wohl: Es gibt Gegensätze, sie können mitgeteilt werden und sie können verstanden werden, und Übersetzungen sind irgendwo zwischen dem vollkommen Vollkommenen und dem vollkommen Unvollkommenen angesiedelt.
dazu vgl.: Karin Meriä: Gibt es "kulturell differente" Stile des Philosophierens und worin liegen deren Stärken oder Schwächen? (SE-Arbeit Wien 2005), im sammelpunkt http://sammelpunkt.philo.at:8080/1250/
"interne" vs. "externe Universalität"
            vgl.: Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Theorie und Geschichte. Wien: Passagen, 1990, Kap. 1.4: Die Entstehung einer extern universellen Kultur S. 57-67
pdf von hier: http://homepage.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/intkult90.html

"kulturell differente" Ursprünge von Philosophien - gibt es sie und was bedeuten sie?
vgl.: Jay L. Garfield: "Zeitlichkeit und Andersheit. Dimensionen hermeneutischer Distanz." In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 3, Nr. 5 (2000): S. 42-61.
Auszug:
„Wenn westliche Philosophen nicht denken, dass die Philosophie zur Befreiung aus dem Kreis der Existenzen führen kann, wozu betreiben sie sie dann?“ (Eine Frage, die mir Dutzende von tibetischen Kollegen und Studenten gestellt haben.) „Aber natürlich kommt es bei all dem darauf an, Erleuchtung zu erlangen. Sonst wäre Philosophie doch bloßer Jux.“ (Je Tsong Khapa in „The Essence of Eloquence“ als Kommentar zur Motivation philosophischer Analyse.) „Ich fürchte, diese Studenten bekommen nichts als religiöse Indoktrinierung. Ich meine: sie studieren den Buddhismus, oder nicht? Und sind nicht die meisten Lehrer Mönche?“ (Dekan eines kleinen weltlichen okzidentalen College, an dem die Werke von Thomas von Aquin, Augustinus, al-Farabi und Maimonides in Philosophiekursen unterrichtet werden.) „Ich kann verstehen, warum Sie nach Indien gekommen sind, um buddhistische Philosophie zu studieren. Denn unsere Tradition ist tatsächlich tief und weit. Aber offen gestanden kann ich nicht sehen, was wir von Euch lernen könnten. Denn die westliche Philosophie ist sehr oberflächlich und behandelt keine wichtigen Fragen.“ (Ehrw. Gen Lobzang Gyatso, Direktor der Institute of Buddhist Dialectics als Antwort auf das Angebot zu Vorlesungen über westliche Philosophie an seinem College.)

„Wie kann ein authentischer Kommentar seinen Bezugstext kritisieren? ... Einen Kommentar, der authentisch sein soll, kann nur jemand schreiben, der in der Nachfolge des Bezugstextes steht und die Erlaubnis hat, ihn auszuführen. Aus diesem Grunde könnte ich nie einen authentischen Kommentar zu einem westlichen Text schreiben. Wenn ich den Kommentar eines westlichen Gelehrten lese, frage ich sofort: ‘Wer war sein Lehrer?’ und dann: ‘Kommentiert diese Person aus der Perspektive dieser Nachfolge?’“ (Ehrw. Acarya Ngawang Samten, Direktor des Forschungsdepartments am Central Institute of Higher Tibetan Studies)

„Locke sagt eine Menge darüber, wie Gott uns natürliche Rechte verleiht und wie die Gesellschaft diese Rechte respektieren muss. Wenn man keine Religion mit einem Gott hat, was für einen Sinn macht das dann?“
„...’Vom Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet ...’: ist das wirklich weltlich gedacht oder muss man Christ sein, um es zu akzeptieren?“
„Vergisst denn Mill nicht, dass ein Einzelner nur den Zweck hat, seiner Gesellschaft zu nützen? Wie kann jemand vollkommene individuelle Freiheit haben, wenn seine Gesellschaft ihn braucht? Wozu würde er existieren?“
(Auswahl an Fragen, die von tibetischen Studenten der westlichen politischen Philosophie gestellt wurden.)


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Selbst- und Fremdzuschreibungen
2 Beispiele:
http://www.eu-ro-ni.ch/publications/Holenstein_Kulturvergleich.pdf

Auszug 1:
Die fehlenden Laute oder: Phonetik als Entwicklungswissenschaft?

In frühen portugiesischen Beschreibungen der Gesellschaften und der Sprachen an der Küste Brasiliens findet sich der Hinweis, dass diesen Menschen drei Laute fehlen. Es sind die Laute "F", "L" und "R", die den Bewohnern dieses bisher unbekannten Landes unbekannt sind.

Dies sind aber nun nicht irgendwelche Laute, sondern diejenigen, mit denen im Lateinischen und dessen Tochtersprachen jene Begriffe anlauten, die eine zivilisierte Gesellschaft überhaupt grundlegen: FIDES, LEX und REX, also Glaube, Gesetz und König (vgl. Martins 1992, I: 57). Die Formel wiederholt sich von dieser ersten Beobachtung an durch drei Jahrhunderte, dass eben das Fehlen dieser Begriffe bei den Einwohnern Brasiliens für jede politische, moralische, missionarische, kurz: für jede entwicklungsbezogene Maßnahme leitend sein müsse, dass alles berechtigt sei, was dem bedauerlichen Zustand dieser Menschen Abhilfe verschafft. Sie sind, wie die Formel im Portugiesischen lautet, "sem fé, sem lei e sem rei"; sie haben "keinen Glauben, kein Gesetz, keinen König", leben ohne Ordnung und ohne Herrschaft, kennen weder Rechnung noch Gewicht, noch Maß.

Das Fremde wird hier deutlich am Eigenen gemessen. Man muss hinzufügen, dass dabei durchaus ein intensives Interesse am sprachlich-kommunikativen Verstehen gegeben war, allerdings so, dass die gedanklichen Inhalte der fremden Gesellschaft nur unter eine von zwei Kategorien fallen konnten: Sie waren entweder falsch oder sie deckten sich mit dem Eigenen, nur in der Form davon verschieden.

Kann man sich vorstellen, dass auch nur ein winziger Überrest der Übertragung von der "Welt der Grammatik" auf eine "Grammatik der Welt" überlebt haben könnte? Oder sind "diese Dummheiten endgültig" im 18. Jahrhundert widerlegt (vgl. Martins 1992, ebd.) worden? Das wird im konkreten Fall so sein. Aber betrifft es auch das Allgemeine an diesem Beispielsfall?

Das Allgemeine liegt in Folgendem: Bestimmte Ausdrucksformen der eigenen Gesellschaft werden als allgemein menschlich oder als normal angesehen und deren tatsächliches oder angebliches Fehlen in einer anderen Gesellschaft als Mangel an Menschentum.

Auszug 2:
Fünf Vermutungen über hierarchische Verhältnisse zwischen Kulturen oder: Poti will in die Stadt

Wir können an einem aufschlussreichen kurzen Übungstext aus einem Sprachlehrbuch aus Brasilien einige Vermutungen oder Annahmen rekonstruieren, die anzunehmen sind, wenn ein „hierarchisches“ Verhältnis zwischen Kulturen behauptet wird. In dem Lehrbuch wird die Geschichte des kleinen Poti erzählt, der in Sichtweite einer Stadt im brasilianischen Urwald aufwächst. Die Bewohner der Stadt werden ihm als gefährliche und zu meidende Feinde geschildert. Er hat jedoch ein unstillbares Verlangen, dort zu leben, will seine Lebenswelt verlassen und in der Stadt arbeiten. Wenn Poti dies gelingt, wird er dort Freunde haben, er wird beweisen, dass ein friedliches Zusammenleben möglich ist und er wird „wahrscheinlich der glücklichste Indio des Urwalds sein“, so absurd dies klingt, weil es ja erst zutreffen kann, wenn er den Urwald verlassen hat.

Der einfache Text lässt auf einige Annahmen schließen, die erlauben sollen, das oft vereinheitlichend als „hierarchisch“ bezeichnete Verhältnis zwischen Gesellschaften oder Kulturen differenzierter zu benennen. Jede dieser Annahmen kann mit aufwertenden und mit abwertenden Wertzuschreibungen formuliert werden. Ich nenne jeweils zuerst die aufwertenden Annahmen, die im Regelfall der eigenen Kultur oder Tradition zugeschrieben werden. Es handelt sich um folgende:

•    Erstens die Annahme, dass die Differenz zwischen dem Leben im Wald und dem Stadtleben nicht nur von den Städtern, sondern auch von den neugierigen Bewohnern des Waldes als eine Defizienz des Ersteren angesehen wird: Gelingt es Poti, in der Stadt „der Weißen“ zu leben, Freunde zu haben und zu arbeiten, dann und erst dann wird er „wahrscheinlich der glücklichste Indio des Urwalds“ sein. Es ist dies die Annahme der unbezweifelten Überlegenheit, die Superioritätsvermutung für die „Stadt“, der in diesem Fall eine Inferioritätsvermutung bezüglich des „Waldes“ auf beiden Seiten gegenüber steht. Damit ist von vornherein nur an einen der beiden ersten Zentrismustypen zu denken, hier wohl an den Typus eines integrativen Zentrismus.

•    Zweitens die Annahme, dass Feindbilder beziehungsweise schlechte Erfahrungen der eigenen Herkunftsgruppe mit der fremden Gruppe letztlich nichts gegen die Attraktivität der letzteren wiegen, wenn der Einzelne seine Chancen „für die Zukunft“ abzuschätzen beginnt – der „Wald“ bietet ihm keine Chancen, die einer Arbeit in der „Stadt“ vergleichbar wären. Dies ist also die Annahme, dass Selbstverwirklichung des Individuums in eminenter oder sogar in ausschließlicher Form in der modernen Zivilisation möglich ist – eine Komplettheitsvermutung. Im Unterschied zur „Stadt“ bietet der „Wald“ nur ungenügende Möglichkeiten, ihm gegenüber gilt die Vermutung der Inkomplettheit.

•    Drittens die Annahme, dass die Akkulturation an „die Stadt der Weißen“ nur Kindern – und kindlichen Gemütern – als etwas Gefährliches dargestellt werden und erscheinen kann. Man kann diese Annahme als Maturitätsvermutung im Vergleich zu differenten Kulturen benennen, für die Infantilität angenommen wird.

•    Viertens findet sich in der zitierten Geschichte keinerlei Andeutung eines möglichen verändernden Beitrags für das Leben in der „Stadt“, der aus dem „Wald“ kommen könnte. Wir können dies als Kompetenzvermutung benennen. Das Leben im „Wald“ vermittelt keinerlei Kompetenz, es vermittelt Inkompetenz.

•    Fünftens die Annahme, dass von Seiten der „Stadt der Weißen“ nichts weiter zu tun ist, als da zu sein. An keiner Stelle des Textes ist von irgendeiner (missionierenden, zivilisierenden etc.) Aktivität ihrerseits die Rede. Dies impliziert die These von einem Automatismus der Zivilisierung der nicht-okzidentalen Menschheit nach okzidentalem Muster, die dieser Annahme, der Zwangsläufigkeitsvermutung, zugrunde liegt. Der Gegensatz dazu wäre die Zufallsvermutung oder die Angst, es könnte sich bei der „Stadt“ als Inbegriff einer globalen Zivilisation doch um etwas handeln, das in Ruinen enden wird.
 
Derartige „Vermutungen“ sind in der Geschichte und Gegenwart des philosophischen Denkens ebenso wirksam wie in anderen Disziplinen. Es ist darum notwendig, sie auf ihre Implikationen hin zu befragen.

Dank seiner Kürze kann der paraphrasierte Text hier zur Gänze wiedergegeben werden. Er findet sich in: Susanna Florissi et al.: Bem-vindo! a língua portuguesa no mondo da comunicação. São Paulo: Special Book Services Livraria 2000, S. 59: “O índio Poti mora na floresta perto da grande cidade. Nasceu e cresceu na floresta e nunca saiu de lá. Sempre ouvia coisas horríveis sobre os homens brancos. Quando criança, Poti gostava de ver, de longe, a grande cidade. Seu pai lhe explicava sobre o perigo de se aproximar do homem branco. Seu pai sempre lhe dizia: nunca fale com os homens brancos e nunca se aproxima da cidade grande. Mas hoje Poti já é adulto e faz planos para o futuro. Sonha em ir para a cidade grande e lá fazer amigos. Quem sabe até trabalhar com eles? Poti quer que os índios es os homens brancos sejam amigos. Embora Poti não conheça nenhum homem branco, sente que eles não podem ser tão ruins quanto lhe dizem. Se pudesse viver entre eles, poderia demonstrar que é possível uma convivência amistosa. Quando isso acontecer, Poti será, provavelmente, o índio mais feliz da floresta.”


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"Kulturmodelle" und interkulturelle Philosophie

Modellvorstellungen von "Kulturen" - "platonisch", "romantisch" - oder was?
vgl: Elmar Holenstein: "Intra- und interkulturelle Hermeneutik." In Kulturphilosophische Perspektiven, S. 257-87. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998.
Auszug:
257: Nach einer "platonisch" zu nennenden These, die interkulturell weit verbreitet ist, haben es alle Menschen im wesentlichen mit denselben Themen und Problemen zu tun. Nur deren Ausdrucksformen variieren von Kultur zu Kultur. Zu einer Verständigung komme man, wenn man "zu den Sachen selbst" zurückgeht und von den verschiedenen Worthülsen absieht. Nach der romantischen Gegenthese sind Inhalt und Form einer Sache, Bedeutung und Ausdruck und ebenso Text und Kontext einer Rede nicht unabhängig voneinander. Man kann sich nicht das eine ohne das andere aneignen. Eine Verständigung ist nur innerhalb ein und derselben Lebensform und Kultursprache möglich. Untereinander sind die verschiedenen Lebensformen "inkommensurabel" und die sprachlich determinierten Kulturen im Wesentlichen nicht ineinander übersetzbar. Nach der sich heute aufdrängenden Synthese gibt es neben ereignisgeschichtlich bedingten Lebensformen, Denkweisen und Ausdrucksformen, die für die einzelnen Kulturen charakteristisch zu sein scheinen, solche, die entwicklungsgeschichtlich bedingt allen Menschen gemeinsam sind. Die Verständigung zwischen den Kulturen wird durch die menschliche Fähigkeit zum Perspektivenwechsel ermöglicht, die für die Verständigung innerhalb ein und derselben Kultur (zwischen ihren diversen Regionen und desgleichen zwischen ihren verschiedene Standpunkte vertretenden Individuen) um nichts weniger erforderlich ist.
"Platonisch":
285: Alle Menschen haben es mit denselben Dingen [...] zu tun. Sie machen sich von den Dingen auch dieselben mentalen Vorstellungen. Der Ausdruck, den sie ihren Ideen verleihen, variiert jedoch von Kultur zu Kultur.
"Humanwissenschaftlicher Leitsatz"
265: Es ist leichter, über den Menschen (speziesspezifisch) allgemeine Aussagen zu machen: Aussagen, die für alle Menschen gelten, nur für Menschen gelten und nicht auch für andere Lebewesen, als (populationsspezifisch) allgemeine Aussagen über eine Kultur (oder eine Gesellschaft, eine ‚Rasse', eine ‚Nation', ein Geschlecht): Aussagen, die für alle Angehörigen einer Kultur (einer Gesellschaft, einer ‚Rasse', einer ‚Nation', eines Geschlechts) gelten, nur für sie gelten und nicht auch für Angehörige anderer Kulturen (anderer Gesellschaften, anderer ‚Rassen', anderer ‚Nationen', des anderen Geschlechts).

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"Kulturalismus" als Gefahr
vgl. Hakan Gürses: "Funktionen der Kultur. Zur Kritik des Kulturbegriffs." In Grenzen des Kulturkonzepts. Meta-Genealogien, Hg.: Stefan Nowotny und Michael Staudigl, S. 13-34. Wien: Turia & Kant, 2002. Im Internet:
http://homepage.univie.ac.at/hakan.guerses/php/texte/funktionen_kultur.pdf
Auszug:
Kritik am Begriff der Kultur
Obwohl oder gerade weil er einen der zentralen Termini unserer Zeit darstellt, werden vielerseits „Kultur“ und die damit verbundenen Konzepte allmählich hinterfragt, sogar abgelehnt. Zwei wesentliche Gründe stehen dabei im Vordergrund: ein terminologischer und ein politischer. Während der terminologische Einwand das durch unzählige Definitionen und Kontexte ausgebeulte semantische Raster des Kulturbegriffs beklagt, eine ihm dadurch anhaftende Trivialisierung attestiert und infolgedessen seine wissenschaftliche Brauchbarkeit infrage stellt, verweist der politische Einwand auf den zentralen Stellenwert dieses Terminus in rassistischen und kolonialistischen Lehren und Praktiken. Zwischen Neudefinition und völliger Ablehnung des Kulturbegriffs schwanken die vorgeschlagenen Konsequenzen. ...
Kritisiert werden kann nicht nur das als „Kultur“ kodifizierte Regelsystem, sondern auch – und vor allem – die Definitionsmacht, die strukturelle Gewalt und die Macht der Wiederholung, die allesamt bei der Kodifizierung dieses Regelsystems aktiv sind. Mit solcher Kritik befinden wir uns aber in der Kultur, wenn auch nicht mehr in einer „differenziellen“ oder holistischen Kultur. Sondern in der Kultur als Umgang mit Kultur – in der Kultur als Tätigkeit.
Ein solcher Gebrauch von „Kultur“ als Begriff einer Meta-Beschäftigung brächte drei Vorteile gegenüber den herkömmlichen Kulturdefinitionen mit sich: Die Rolle der Individuen wird aus der Passivität befreit; Kultur wird kritisierbar; Machtverhältnisse innerhalb der „Kulturen“ werden sichtbar. Mit diesen drei wiedergewonnenen Faktoren könnten wir uns an die Kritik des Kulturalismus machen.

vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Übersetzt von Horst Boog (stw Bd. 216). Frankfurt/M: Suhrkamp, 1977. (EA englisch 1953):
2f: „Wenn Prinzipien dadurch, daß sie von einer Gesellschaft angenommen wurden, genügend gerechtfertigt sind, dann sind die Prinzipien des Kannibalismus genau so verfechtbar und stichhaltig wie diejenigen des zivilisierten Lebens. [...]. Wenn es keinen höheren Maßstab gibt als das Ideal unserer Gesellschaft, dann sind wir vollkommen außerstande, kritischen Abstand von diesem Ideal zu gewinnen. Die bloße Tatsache jedoch, daß wir die Frage nach dem Wert unseres Gesellschaftsideals stellen können, zeigt, daß es etwas im Menschen gibt, was seiner Gesellschaft nicht gänzlich versklavt ist, und daß wir daher imstande und folglich verpflichtet sind, uns nach einem Maßstab umzusehen, auf Grund dessen wir über die Ideale unserer eigenen wie auch jeder anderen Zivilisation urteilen können. Jener Maßstab kann nicht in den Bedürfnissen der verschiedenen Gesellschaften gefunden werden, denn die Gesellschaften und ihre Teile haben viele einander widerstreitende Bedürfnisse: es entsteht das Problem der Priorität. Wir können dieses Problem nicht rational lösen, wenn wir nicht im Besitze eines Maßstabes sind, nach dem wir uns richten und mit dessen Hilfe wir zwischen echten Bedürfnissen und eingebildeten Bedürfnissen unterscheiden können, und der es uns gestattet, die Hierarchie der verschiedenen Arten echter Bedürfnisse zu erkennen. Das Problem der sich gegenseitig widersprechenden Bedürfnisse der Gesellschaft kann nicht gelöst werden, wenn wir keine Kenntnis vom Naturrecht haben“

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Auswahl weiterer TEXTE zum Nachlesen zum Thema (chronologisch):
Clifford Geertz: "'The Uses of Diversity', lecture at the University of Michigan, 8.11.1985,." (THE TANNER LECTURES ON HUMAN VALUES) Place Published Internet: tannerlectures.utah.edu 1985
Inigo Bocken: "Politik und Kultur in einer multikulturellen Gesellschaft." In Multikulturalität. Traum - Alptraum - Wirklichkeit, Hg.: Jean-Pierre Wils und Hans-Peter Mahnke: edition ethik kontrovers,  S. 31-36. Frankfurt/M.: Diesterweg, 1998.
Rosi Braidotti: "Politik der Vielfalt. Strategien für die Zukunft."  Übersetzt von Nausikaa Schirilla. In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 2, Nr. 4 (1999): 6-12.
Susan Moller Okin: Is Multiculturalism Bad for Women? Princeton N.J.: Princeton UP, 1999.
Bhikhu Parekh: Rethinking Multiculturalism. Cultural Diversity and Political Theory. London, 2000.
Raúl Fornet-Betancourt: "Hermeneutik und Politik des Fremden. Ein philosophischer Beitrag zur Herausforderung des Zusammenlebens in multikulturellen Gesellschaften." In Verstehen und Verständigung. Ethnologie - Xenologie - interkulturelle Philosophie, Hg.: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik,  S. 49-59. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2002.
Gabriele Münnix: Zum Ethos der Pluralität. Postmoderne und Multiperspektivität als Programm. (Philosophie, Bd. 44) Münster: LIT-Verlag, 2004.
Hans Jörg Sandkühler und Hong-Bin Lim (Hg.): Transculturality - Epistemology, Ethics, and Politics. (Philosophie und Geschichte der Wissenschaften. Studien und Quellen. Hg. von Hans Jörg Sandkühler und Pirmin Stekeler-Weithofer. Bd. 57). Frankfurt/M.: Peter Lang, 2004.
Radostin  Kaloianov: "Multikulturalismus und Kritik." In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 24 (2010): 81-97.

Allgemeine Literatur:
Franz-Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Eine Einführung. Wien: WUV, 2004

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