Wimmer: Vorlesung SS 2011
602023 Interkulturelle Philosophie - Einführung
2. Einheit: 28. März
a) Wiederholung und Konkretisierung
der Prüfungsmodalitäten
b) THEMA: Kulturalität und Kulturmodelle
Kultur | Stereotype | Kulturmodelle | Kulturalismus
| Literaturhinweise
"cultura" als Aktivität bzw. als Zustand,
• vgl. im Buch
zur Vorlesung S. 43ff.
- Enger und weiter Kulturbegriff
- "Kultur" vs "Kulturen"
- "Kultur" vs "Zivilisation"
- "intern universell"
- "creata quae creat"
• Ibn Khaldun
als erster Theoretiker einer
Wissenschaft von Gesellschaft und Kultur
Text zum Nachlesen mit Literaturangaben: http://homepage.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/vl-ibnkhald01.html
• Johan Galtung
über kulturelle Stile (von
Wissenschaft): "Struktur, Kultur und intellektueller Stil. Ein
vergleichender Essay über sachsonische, teutonische, gallische und
nipponische Wissenschaft." Übersetzt von Bernd Samland. In
Das Fremde und das Eigene. Prolegomena zu einer interkulturellen
Germanistik, Hg.: Alois Wierlacher, S. 151-93. Bayreuth: iik,
1994.
Auszug:
152:
... daß es interessant sein könnte, eine Weltkarte der
intellektuellen Stile zu besitzen. Auf dieser Weltkarte würden, um
ins Detail zu gehen, Oxbridge in England und die wichtigsten
Universitäten an der Ost- und Westküste der USA das Zentrum
des sachsonischen intellektuellen Stils bilden; einige der kleineren,
klassischen Universitäten in Deutschland (möglicherweise
Münster, Marburg, Heidelberg, Tübingen) könnten als
Zentrum des teutonischen intellektuellen Stils betrachtet werden; es
gibt keinen Zweifel darüber, wo sich das Zentrum des gallischen
intellektuellen Stils befindet; und der nipponische intellektuelle Stil
hätte die Achse Tódai-Kyódai (die Universitäten
Tokio und Kyoto) zum Zentrum. Dies ist ganz offensichtlich eine
ideal-typische Analyse im Sinne Webers ...
153: Die Peripherien würden,
grob gesprochen, nicht nur das umfassen, was von den erwähnten
Ländern übrig bleibt, sondern auch die intellektuellen
Aktivitäten in den Kolonial- und Neokolonialreichen. ... Offenbar
gehörte die Befreiung vom intellektuellen Stil nicht zum Programm
der Entkolonialisierung; das könnte auch ein Grund dafür
sein, warum die Befreiung von anderen Aspekten des Kolonialismus
womöglich auch nicht besonders erfolgreich gewesen ist.
Dazu 187, FN 8:
... der
intellektuelle Stil reicht tiefer als die Sprache: er kann beim
Übergang von der Arbeit in einer europäischen Sprache zur
Arbeit in einer afrikanischen Sprache erhalten bleiben, zumindest
für einige Zeit.
154: Der größte Teil der
Welt ist Peripherie. Aber es stellt sich die interessante Frage nach
der möglichen Unterteilung dieser Peripherie: - unter dem
Einfluß von 0 Zentren: intellektuell "marginalisiertes",
randständiges Territorium, das frei ist, sich in jede Richtung zu
entwickeln; - unter dem Einfluß von 1 Zentrum: kulturelle
Peripherie dieses einen Zentrums; eine intellektuelle Peripherie, die
auf Identifikation ausgerichtet ist; - unter dem Einfluß von 2
Zentren: zieht potentiell Nutzen aus den sich kreuzenden
Einflüssen, um sich die Stärken beider anzueignen; - unter
dem Einfluß von 3 oder mehr Zentren: möglicherweise zu
überwältigend, zu verwirrend, als daß sich etwas Neues
entwickeln könnte.
"Intellektuelle Stile":
152: Was mich ... interessiert, ist
die Ebene zwischen dem Individuellen und dem Universalen. Im weitesten
Sinne ist es die Ebene der Zivilisationen oder Sub-Zivilisationen - in
andern Worten, die makro-kulturelle Ebene. ... sind es drei okzidentale
Subzivilisationen und eine orientalische, die Gegenstand dieser
Untersuchung sind: sachsonische, teutonische, gallische und nipponische
Wissenschaft ...
153: Im übrigen ist zu hoffen,
daß eine Untersuchung dieser Art auch auf indische, chinesische
und arabische und andere Denkstile ausgedehnt werden kann.
Vier Dimensionen, an denen die Stile
zu zeigen sind:
154: Sammlung, Verarbeitung und
Analse von Daten einerseits und der Theoriebildung andererseits
... Es gibt noch die Dimension der Paradigmen-Analyse, die Betrachtung
der Grundlagen
155: dessen, was man tut ... Alle
Intellektuellen sind fasziniert von anderen Intellektuellen und widmen
in der Tat viel von ihrer Zeit der Erforschung dessen, was andere
tun.
Stile im Überblick:
|
Sachsonisch |
Teutonisch |
Gallisch |
Nipponisch |
Paradigmenanalyse |
schwach |
stark |
stark |
schwach |
Beschreibungen:
Thesenproduktion |
sehr
stark |
schwach |
schwach |
stark |
Erklärungen:
Theoriebildung |
schwach |
sehr
stark |
sehr
stark |
schwach |
Kommentar
über andere Intellektuelle:
- Paradigmen - Thesen - Theorien |
stark |
stark |
stark |
sehr
stark |
Die Tabelle weist eigentlich
bloß zwei Profile auf; eines, das den sachsonischen und
nipponischen Stil umfaßt, und eines, das den teutonischen und
gallischen Stil umfaßt. Außerdem scheinen alle vier Stile
in einem Punkt stark zu sein: sie alle sind ziemlich gut in der
Kommentierung anderer Intellektueller. Diese Aussage verweist auf einen
sehr einfachen Sachverhalt: die Gruppe der Intellektuellen ist in einem
gewissen Grad eine ge-
157: schlossene Gesellschaft, die in
allen Gesellschaften von sich selber zehrt. Viele Intellektuelle nehmen
als die wichtigsten Eindrücke das wahr, was andere Intellektuelle
sagen und tun.
Stil von Diskursen
157: In großen Zügen
lautet unsere Behauptung, daß der sachsonische Stil die Debatte
und den Diskurs begünstige und fördere. ((Unterschiede
zwischen UK und USA, aber:))
158: ... man geht allgemein von dem
Gedanken aus, in einer Debatte die verschiedensten Anschauungen zur
Sprache zu bringen, und sie zu konfrontieren, damit sich letzten Endes
vielleicht etwas ergebe, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Es
gilt, den anderen aufzubauen, nicht, ihn fertigzumachen. Nicht so in
teutonischen und gallischen intellektuellen Diskussionen. Erst einmal
wird die Meinungsstreuung oder Meinungsvielfalt in einer einzelnen
Debatte wahrscheinlich viel kleiner, das Publikum viel homogener sein,
so daß man es mit weniger Widerspruch zu tun haben wird. Zweitens
wird es selbst unter Freunden keine Höflichkeitsbezeugungen in der
Einführung geben, jedenfalls mit Sicherheit nicht, wenn auch nur
die geringste Diskrepanz der Meinungen vorliegt. Drittens wird sich
niemand von seinem oder ihrem Weg abbringen lassen, nur um das kleine
Körnchen Gold zu finden, das kleine Element der Hoffnung, auf dem
sich aufbauen ließe - im Gegenteil: die Diskutanten werden
schnurstracks auf den schwächsten Punkt zusteuern. ...
159: In der nipponischen Situation
ist das alles ganz anders. Erst einmal sind die Japaner nicht sehr
geschickt im Debattieren: darin sind sie nicht wirklich geübt.
Zweitens, was immer auch geschieht, die erste Regel ist, die
präetablierten sozialen Beziehungen nicht zu verletzen. ... Da ist
einmal der allgemeine Respekt vor der Autorität, vor dem Meister
... Und dann existiert ein Gefühl der Kollektivität, der
organischen Solidarität: wir sind alle eins, im wesentlichen von
gleicher Art ... Was also passiert in einer japanischen intellektuellen
Debatte? Diese Frage läßt sich nicht leicht beantworten ...
Es geht ... um eine Klassifizierung: Zu welcher Schule gehören
Sie? Woher haben Sie das? Wer hat das zuerst gesagt? Man könnte es
fast das lexikalisch-enzyklopädische Verfahren der intellektuellen
Kommentierung nennen ...
160: Es ist eine kartographische
Erfassung des intellektuellen Territoriums, eine Erkundung der
Grenzlinien, und als allgemeine Überschrift läßt sich
über diese Übung ein einziges Wort setzen: Schule, oder im
Japanischen, mit einer besonderen Konnotation: iemoto. ... Die Debatte
ist eher ein gesellschaftlicher als ein intellektueller Akt. ... Nichts
von dem, was ich gesagt habe, soll nun aber heißen, daß es
innerhalb der vier intellektuellen Kulturen keine
Meinungsverschiedenheiten gäbe. Die Frage ist nur, wie sie jeweils
behandelt werden.
Stil der Beschreibungen
161: Die grundlegende Behauptung
lautet, natürlich, daß der sachsonische Stil in dieser
besonderen Hinsicht sehr stark ist. Der britische Hang zur
Dokumentierung ist so sprichwörtlich wie die US-amerikanische
Liebe zur Statistik. Vielleicht könnte man ... einfach sagen:
Daten verbinden, Theorien trennen. ... nur wenige Dinge tragen so sehr
dazu bei, scharfe Trennungslinien zu erzeugen - Menschen mit festen
Überzeugungen - wie es Theorien im teutonischen und gallischen
intellektuellen Ansatz vermögen.
((am Ende seines Essays stellt Galtung die entscheidenden
kritischen Fragen jedes dieser Stile zusammen:))
sachsonischer
Stil
|
Wie
läßt sich das operationalisieren? (US-Version)
Wie läßt sich das belegen? (UK-Version)
|
teutonischer
Stil
|
Wie
können Sie das zurückführen/ableiten?
|
gallischer
Stil
|
Wie
kann man das in gutem Französisch sagen?
|
nipponischer
Stil
|
Wer
ist Ihr Lehrer?
|
Kulturalität von Philosophie
187, FN 4: Es wäre nützlich
gewesen, wenn Kant bei der Untersuchung der Beschränkungen des
menschlichen Geistes seine eigenen Beschränkungen näher
untersucht hätte - "seine" nicht im persönlichen Sinn,
sondern "seine" als Teil einer Nation, einer Klasse, einer Tradition,
einer Zivilisation und dergleichen. Aber es war kein Zeitalter
vergleichender Studien, um Punkt für Punkt eine Zivilisation an
der anderen zu messen.
155: ... die Erforschung der
Standortgebundenheit, der die eigene intellektuelle Tätigkeit
unterworfen ist. ... Ich halte es ... für sehr schwierig, unsere
Beschränkungen als Menschen in einem universalen Sinn zu
begreifen, weil wir nichts anderes zum Vergleich haben. ... Doch auf
der Ebene der Makro-Kulturen können wir das sehr wohl: Es gibt
Gegensätze, sie können mitgeteilt werden und sie können
verstanden werden, und Übersetzungen sind irgendwo zwischen dem
vollkommen Vollkommenen und dem vollkommen Unvollkommenen angesiedelt.
dazu vgl.: Karin Meriä: Gibt es
"kulturell differente" Stile des Philosophierens und worin liegen deren
Stärken oder Schwächen? (SE-Arbeit Wien 2005), im sammelpunkt
http://sammelpunkt.philo.at:8080/1250/
"interne" vs. "externe Universalität"
vgl.: Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie.
Theorie und Geschichte. Wien: Passagen, 1990, Kap. 1.4: Die Entstehung
einer extern universellen Kultur S. 57-67
pdf von hier: http://homepage.univie.ac.at/Franz.Martin.Wimmer/intkult90.html
"kulturell differente" Ursprünge von Philosophien - gibt es
sie und was bedeuten sie?
vgl.: Jay L. Garfield: "Zeitlichkeit und Andersheit. Dimensionen
hermeneutischer Distanz." In: Polylog. Zeitschrift für
interkulturelles
Philosophieren 3, Nr. 5 (2000): S. 42-61.
Auszug:
„Wenn
westliche Philosophen nicht denken, dass die Philosophie zur Befreiung
aus dem Kreis der Existenzen führen kann, wozu betreiben sie sie
dann?“ (Eine Frage, die mir Dutzende von tibetischen Kollegen und
Studenten gestellt haben.) „Aber natürlich kommt es bei all dem
darauf an, Erleuchtung zu erlangen. Sonst wäre Philosophie doch
bloßer Jux.“ (Je Tsong Khapa in „The Essence of Eloquence“ als
Kommentar zur Motivation philosophischer Analyse.) „Ich fürchte,
diese Studenten bekommen nichts als religiöse Indoktrinierung. Ich
meine: sie studieren den Buddhismus, oder nicht? Und sind nicht die
meisten Lehrer Mönche?“ (Dekan eines kleinen weltlichen
okzidentalen College, an dem die Werke von Thomas von Aquin,
Augustinus, al-Farabi und Maimonides in Philosophiekursen unterrichtet
werden.) „Ich kann verstehen, warum Sie nach Indien gekommen sind, um
buddhistische Philosophie zu studieren. Denn unsere Tradition ist
tatsächlich tief und weit. Aber offen gestanden kann ich nicht
sehen, was wir von Euch lernen könnten. Denn die westliche
Philosophie ist sehr oberflächlich und behandelt keine wichtigen
Fragen.“ (Ehrw. Gen Lobzang Gyatso, Direktor der Institute of Buddhist
Dialectics als Antwort auf das Angebot zu Vorlesungen über
westliche Philosophie an seinem College.)
„Wie kann ein authentischer Kommentar
seinen Bezugstext kritisieren? ... Einen Kommentar, der authentisch
sein soll, kann nur jemand schreiben, der in der Nachfolge des
Bezugstextes steht und die Erlaubnis hat, ihn auszuführen. Aus
diesem Grunde könnte ich nie einen authentischen Kommentar zu
einem westlichen Text schreiben. Wenn ich den Kommentar eines
westlichen Gelehrten lese, frage ich sofort: ‘Wer war sein Lehrer?’ und
dann: ‘Kommentiert diese Person aus der Perspektive dieser Nachfolge?’“
(Ehrw. Acarya Ngawang Samten, Direktor des Forschungsdepartments am
Central Institute of Higher Tibetan Studies)
„Locke sagt eine Menge darüber,
wie Gott uns natürliche Rechte verleiht und wie die Gesellschaft
diese Rechte respektieren muss. Wenn man keine Religion mit einem Gott
hat, was für einen Sinn macht das dann?“
„...’Vom Schöpfer mit gewissen
unveräußerlichen Rechten ausgestattet ...’: ist das wirklich
weltlich gedacht oder muss man Christ sein, um es zu akzeptieren?“
„Vergisst denn Mill nicht, dass ein
Einzelner nur den Zweck hat, seiner Gesellschaft zu nützen? Wie
kann jemand vollkommene individuelle Freiheit haben, wenn seine
Gesellschaft ihn braucht? Wozu würde er existieren?“
(Auswahl an Fragen, die von
tibetischen Studenten der westlichen politischen Philosophie gestellt
wurden.)
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Selbst- und Fremdzuschreibungen
2 Beispiele:
- Elmar Holenstein: "Vergleichende Kulturphilosophie. Chinesische
Bilder,
japanische Beispiele, schweizerische Verhältnisse." 34 Seiten.
1993. Im Internet:
http://www.eu-ro-ni.ch/publications/Holenstein_Kulturvergleich.pdf
Auszug 1:
Die
fehlenden Laute oder: Phonetik als Entwicklungswissenschaft?
In frühen portugiesischen
Beschreibungen der Gesellschaften und der
Sprachen an der Küste Brasiliens findet sich der Hinweis, dass
diesen
Menschen drei Laute fehlen. Es sind die Laute "F", "L" und "R", die den
Bewohnern dieses bisher unbekannten Landes unbekannt sind.
Dies sind aber nun nicht irgendwelche
Laute, sondern diejenigen, mit
denen im Lateinischen und dessen Tochtersprachen jene Begriffe
anlauten, die eine zivilisierte Gesellschaft überhaupt grundlegen:
FIDES, LEX und REX, also Glaube, Gesetz und König (vgl. Martins
1992,
I: 57). Die Formel wiederholt sich von dieser ersten Beobachtung an
durch drei Jahrhunderte, dass eben das Fehlen dieser Begriffe bei den
Einwohnern Brasiliens für jede politische, moralische,
missionarische,
kurz: für jede entwicklungsbezogene Maßnahme leitend sein
müsse, dass
alles berechtigt sei, was dem bedauerlichen Zustand dieser Menschen
Abhilfe verschafft. Sie sind, wie die Formel im Portugiesischen lautet,
"sem fé, sem lei e sem rei"; sie haben "keinen Glauben, kein
Gesetz,
keinen König", leben ohne Ordnung und ohne Herrschaft, kennen
weder
Rechnung noch Gewicht, noch Maß.
Das Fremde wird hier deutlich am
Eigenen gemessen. Man muss hinzufügen,
dass dabei durchaus ein intensives Interesse am
sprachlich-kommunikativen Verstehen gegeben war, allerdings so, dass
die gedanklichen Inhalte der fremden Gesellschaft nur unter eine von
zwei Kategorien fallen konnten: Sie waren entweder falsch oder sie
deckten sich mit dem Eigenen, nur in der Form davon verschieden.
Kann man sich vorstellen, dass auch
nur ein winziger Überrest der
Übertragung von der "Welt der Grammatik" auf eine "Grammatik der
Welt"
überlebt haben könnte? Oder sind "diese Dummheiten
endgültig" im 18.
Jahrhundert widerlegt (vgl. Martins 1992, ebd.) worden? Das wird im
konkreten Fall so sein. Aber betrifft es auch das Allgemeine an diesem
Beispielsfall?
Das Allgemeine liegt in Folgendem:
Bestimmte Ausdrucksformen der
eigenen Gesellschaft werden als allgemein menschlich oder als normal
angesehen und deren tatsächliches oder angebliches Fehlen in einer
anderen Gesellschaft als Mangel an Menschentum.
Auszug 2:
Fünf Vermutungen
über hierarchische Verhältnisse zwischen Kulturen oder: Poti
will in die Stadt
Wir können an einem
aufschlussreichen kurzen Übungstext aus einem Sprachlehrbuch aus
Brasilien einige Vermutungen oder Annahmen rekonstruieren, die
anzunehmen sind, wenn ein „hierarchisches“ Verhältnis zwischen
Kulturen behauptet wird. In dem Lehrbuch wird die Geschichte des
kleinen Poti erzählt, der in Sichtweite einer Stadt im
brasilianischen Urwald aufwächst. Die Bewohner der Stadt werden
ihm als gefährliche und zu meidende Feinde geschildert. Er hat
jedoch ein unstillbares Verlangen, dort zu leben, will seine Lebenswelt
verlassen und in der Stadt arbeiten. Wenn Poti dies gelingt, wird er
dort Freunde haben, er wird beweisen, dass ein friedliches
Zusammenleben möglich ist und er wird „wahrscheinlich der
glücklichste Indio des Urwalds sein“, so absurd dies klingt, weil
es ja erst zutreffen kann, wenn er den Urwald verlassen hat.
Der einfache Text lässt auf einige Annahmen schließen, die
erlauben sollen, das oft vereinheitlichend als „hierarchisch“
bezeichnete Verhältnis zwischen Gesellschaften oder Kulturen
differenzierter zu benennen. Jede dieser Annahmen kann mit aufwertenden
und mit abwertenden Wertzuschreibungen formuliert werden. Ich nenne
jeweils zuerst die aufwertenden Annahmen, die im Regelfall der eigenen
Kultur oder Tradition zugeschrieben werden. Es handelt sich um folgende:
• Erstens die Annahme, dass die Differenz zwischen
dem Leben im Wald und dem Stadtleben nicht nur von den Städtern,
sondern auch von den neugierigen Bewohnern des Waldes als eine
Defizienz des Ersteren angesehen wird: Gelingt es Poti, in der Stadt
„der Weißen“ zu leben, Freunde zu haben und zu arbeiten, dann und
erst dann wird er „wahrscheinlich der glücklichste Indio des
Urwalds“ sein. Es ist dies die Annahme der unbezweifelten
Überlegenheit, die Superioritätsvermutung
für die „Stadt“, der in diesem Fall eine
Inferioritätsvermutung bezüglich des „Waldes“ auf beiden
Seiten gegenüber steht. Damit ist von vornherein nur an einen der
beiden ersten Zentrismustypen zu denken, hier wohl an den Typus eines
integrativen Zentrismus.
• Zweitens die Annahme, dass Feindbilder
beziehungsweise schlechte Erfahrungen der eigenen Herkunftsgruppe mit
der fremden Gruppe letztlich nichts gegen die Attraktivität der
letzteren wiegen, wenn der Einzelne seine Chancen „für die
Zukunft“ abzuschätzen beginnt – der „Wald“ bietet ihm keine
Chancen, die einer Arbeit in der „Stadt“ vergleichbar wären. Dies
ist also die Annahme, dass Selbstverwirklichung des Individuums in
eminenter oder sogar in ausschließlicher Form in der modernen
Zivilisation möglich ist – eine Komplettheitsvermutung.
Im Unterschied zur „Stadt“ bietet der „Wald“ nur ungenügende
Möglichkeiten, ihm gegenüber gilt die Vermutung der
Inkomplettheit.
• Drittens die Annahme, dass die Akkulturation an
„die Stadt der Weißen“ nur Kindern – und kindlichen Gemütern
– als etwas Gefährliches dargestellt werden und erscheinen kann.
Man kann diese Annahme als Maturitätsvermutung
im Vergleich zu differenten Kulturen benennen, für die
Infantilität angenommen wird.
• Viertens findet sich in der zitierten Geschichte
keinerlei Andeutung eines möglichen verändernden Beitrags
für das Leben in der „Stadt“, der aus dem „Wald“ kommen
könnte. Wir können dies als Kompetenzvermutung
benennen. Das Leben im „Wald“ vermittelt keinerlei Kompetenz, es
vermittelt Inkompetenz.
• Fünftens die Annahme, dass von Seiten der
„Stadt der Weißen“ nichts weiter zu tun ist, als da zu sein. An
keiner Stelle des Textes ist von irgendeiner (missionierenden,
zivilisierenden etc.) Aktivität ihrerseits die Rede. Dies
impliziert die These von einem Automatismus der Zivilisierung der
nicht-okzidentalen Menschheit nach okzidentalem Muster, die dieser
Annahme, der Zwangsläufigkeitsvermutung,
zugrunde liegt. Der Gegensatz dazu wäre die Zufallsvermutung oder
die Angst, es könnte sich bei der „Stadt“ als Inbegriff einer
globalen Zivilisation doch um etwas handeln, das in Ruinen enden wird.
Derartige „Vermutungen“ sind in der Geschichte und Gegenwart des
philosophischen Denkens ebenso wirksam wie in anderen Disziplinen. Es
ist darum notwendig, sie auf ihre Implikationen hin zu befragen.
Dank
seiner Kürze kann der paraphrasierte Text hier zur Gänze
wiedergegeben werden. Er findet sich in: Susanna Florissi et al.:
Bem-vindo! a língua portuguesa no mondo da
comunicação. São Paulo: Special Book Services
Livraria 2000, S. 59: “O índio Poti mora na floresta perto da
grande cidade. Nasceu e cresceu na floresta e nunca saiu de lá.
Sempre ouvia coisas horríveis sobre os homens brancos. Quando
criança, Poti gostava de ver, de longe, a grande cidade. Seu pai
lhe explicava sobre o perigo de se aproximar do homem branco. Seu pai
sempre lhe dizia: nunca fale com os homens brancos e nunca se aproxima
da cidade grande. Mas hoje Poti já é adulto e faz planos
para o futuro. Sonha em ir para a cidade grande e lá fazer
amigos. Quem sabe até trabalhar com eles? Poti quer que os
índios es os homens brancos sejam amigos. Embora Poti não
conheça nenhum homem branco, sente que eles não podem ser
tão ruins quanto lhe dizem. Se pudesse viver entre eles, poderia
demonstrar que é possível uma convivência amistosa.
Quando isso acontecer, Poti será, provavelmente, o índio
mais feliz da floresta.”
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"Kulturmodelle" und interkulturelle Philosophie
Modellvorstellungen von "Kulturen" - "platonisch", "romantisch" - oder
was?
vgl: Elmar Holenstein: "Intra- und interkulturelle Hermeneutik." In
Kulturphilosophische Perspektiven, S. 257-87. Frankfurt/M.: Suhrkamp,
1998.
Auszug:
257: Nach einer "platonisch" zu nennenden
These, die interkulturell
weit verbreitet ist, haben es alle Menschen im wesentlichen mit
denselben Themen und Problemen zu tun. Nur deren Ausdrucksformen
variieren von Kultur zu Kultur. Zu einer Verständigung komme man,
wenn
man "zu den Sachen selbst" zurückgeht und von den verschiedenen
Worthülsen absieht. Nach der romantischen Gegenthese sind Inhalt
und
Form einer Sache, Bedeutung und Ausdruck und ebenso Text und Kontext
einer Rede nicht unabhängig voneinander. Man kann sich nicht das
eine
ohne das andere aneignen. Eine Verständigung ist nur innerhalb ein
und
derselben Lebensform und Kultursprache möglich. Untereinander sind
die
verschiedenen Lebensformen "inkommensurabel" und die sprachlich
determinierten Kulturen im Wesentlichen nicht ineinander
übersetzbar.
Nach der sich heute aufdrängenden Synthese gibt es neben
ereignisgeschichtlich bedingten Lebensformen, Denkweisen und
Ausdrucksformen, die für die einzelnen Kulturen charakteristisch
zu
sein scheinen, solche, die entwicklungsgeschichtlich bedingt allen
Menschen gemeinsam sind. Die Verständigung zwischen den Kulturen
wird
durch die menschliche Fähigkeit zum Perspektivenwechsel
ermöglicht, die
für die Verständigung innerhalb ein und derselben Kultur
(zwischen
ihren diversen Regionen und desgleichen zwischen ihren verschiedene
Standpunkte vertretenden Individuen) um nichts weniger erforderlich ist.
"Platonisch":
285: Alle Menschen haben es mit
denselben Dingen [...] zu tun. Sie
machen sich von den Dingen auch dieselben mentalen Vorstellungen. Der
Ausdruck, den sie ihren Ideen verleihen, variiert jedoch von Kultur zu
Kultur.
"Humanwissenschaftlicher Leitsatz"
265: Es ist leichter, über den
Menschen (speziesspezifisch) allgemeine
Aussagen zu machen: Aussagen, die für alle Menschen gelten, nur
für
Menschen gelten und nicht auch für andere Lebewesen, als
(populationsspezifisch) allgemeine Aussagen über eine Kultur (oder
eine
Gesellschaft, eine ‚Rasse', eine ‚Nation', ein Geschlecht): Aussagen,
die für alle Angehörigen einer Kultur (einer Gesellschaft,
einer
‚Rasse', einer ‚Nation', eines Geschlechts) gelten, nur für sie
gelten
und nicht auch für Angehörige anderer Kulturen (anderer
Gesellschaften,
anderer ‚Rassen', anderer ‚Nationen', des anderen Geschlechts).
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"Kulturalismus" als Gefahr
vgl. Hakan Gürses: "Funktionen der Kultur. Zur Kritik des
Kulturbegriffs."
In Grenzen des Kulturkonzepts. Meta-Genealogien, Hg.: Stefan Nowotny
und Michael Staudigl, S. 13-34. Wien: Turia & Kant, 2002. Im
Internet:
http://homepage.univie.ac.at/hakan.guerses/php/texte/funktionen_kultur.pdf
Auszug:
Kritik
am Begriff der Kultur
Obwohl oder gerade weil er einen der
zentralen Termini unserer Zeit
darstellt, werden vielerseits „Kultur“ und die damit verbundenen
Konzepte allmählich hinterfragt, sogar abgelehnt. Zwei wesentliche
Gründe stehen dabei im Vordergrund: ein terminologischer und ein
politischer. Während der terminologische Einwand das durch
unzählige
Definitionen und Kontexte ausgebeulte semantische Raster des
Kulturbegriffs beklagt, eine ihm dadurch anhaftende Trivialisierung
attestiert und infolgedessen seine wissenschaftliche Brauchbarkeit
infrage stellt, verweist der politische Einwand auf den zentralen
Stellenwert dieses Terminus in rassistischen und kolonialistischen
Lehren und Praktiken. Zwischen Neudefinition und völliger
Ablehnung des
Kulturbegriffs schwanken die vorgeschlagenen Konsequenzen. ...
Kritisiert werden kann nicht nur das
als „Kultur“ kodifizierte
Regelsystem, sondern auch – und vor allem – die Definitionsmacht, die
strukturelle Gewalt und die Macht der Wiederholung, die allesamt bei
der Kodifizierung dieses Regelsystems aktiv sind. Mit solcher Kritik
befinden wir uns aber in der Kultur, wenn auch nicht mehr in einer
„differenziellen“ oder holistischen Kultur. Sondern in der Kultur als
Umgang mit Kultur – in der Kultur als Tätigkeit.
Ein solcher Gebrauch von „Kultur“ als
Begriff einer Meta-Beschäftigung
brächte drei Vorteile gegenüber den herkömmlichen
Kulturdefinitionen
mit sich: Die Rolle der Individuen wird aus der Passivität
befreit;
Kultur wird kritisierbar; Machtverhältnisse innerhalb der
„Kulturen“
werden sichtbar. Mit diesen drei wiedergewonnenen Faktoren könnten
wir
uns an die Kritik des Kulturalismus machen.
vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte. Übersetzt von Horst
Boog (stw Bd. 216). Frankfurt/M: Suhrkamp, 1977. (EA englisch 1953):
2f: „Wenn
Prinzipien dadurch, daß sie von einer Gesellschaft angenommen
wurden, genügend gerechtfertigt sind, dann sind die Prinzipien des
Kannibalismus genau so verfechtbar und stichhaltig wie diejenigen des
zivilisierten Lebens. [...]. Wenn es keinen höheren Maßstab
gibt als das Ideal unserer Gesellschaft, dann sind wir vollkommen
außerstande, kritischen Abstand von diesem Ideal zu gewinnen. Die
bloße Tatsache jedoch, daß wir die Frage nach dem Wert
unseres Gesellschaftsideals stellen können, zeigt, daß es
etwas im Menschen gibt, was seiner Gesellschaft nicht gänzlich
versklavt ist, und daß wir daher imstande und folglich
verpflichtet sind, uns nach einem Maßstab umzusehen, auf Grund
dessen wir über die Ideale unserer eigenen wie auch jeder anderen
Zivilisation urteilen können. Jener Maßstab kann nicht in
den Bedürfnissen der verschiedenen Gesellschaften gefunden werden,
denn die Gesellschaften und ihre Teile haben viele einander
widerstreitende Bedürfnisse: es entsteht das Problem der
Priorität. Wir können dieses Problem nicht rational
lösen, wenn wir nicht im Besitze eines Maßstabes sind, nach
dem wir uns richten und mit dessen Hilfe wir zwischen echten
Bedürfnissen und eingebildeten Bedürfnissen unterscheiden
können, und der es uns gestattet, die Hierarchie der verschiedenen
Arten echter Bedürfnisse zu erkennen. Das Problem der sich
gegenseitig widersprechenden Bedürfnisse der Gesellschaft kann
nicht gelöst werden, wenn wir keine Kenntnis vom Naturrecht haben“
Zum
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Auswahl weiterer TEXTE zum
Nachlesen zum Thema (chronologisch):
Clifford Geertz: "'The Uses of Diversity', lecture at the University of
Michigan, 8.11.1985,." (THE TANNER LECTURES ON HUMAN VALUES) Place
Published Internet: tannerlectures.utah.edu 1985
Inigo Bocken: "Politik und Kultur in einer multikulturellen
Gesellschaft." In Multikulturalität. Traum - Alptraum -
Wirklichkeit, Hg.: Jean-Pierre Wils und Hans-Peter Mahnke: edition
ethik kontrovers, S. 31-36. Frankfurt/M.: Diesterweg, 1998.
Rosi Braidotti: "Politik der Vielfalt. Strategien für die
Zukunft." Übersetzt von Nausikaa Schirilla. In: Polylog.
Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 2, Nr. 4 (1999):
6-12.
Susan Moller Okin: Is Multiculturalism Bad for Women? Princeton N.J.:
Princeton UP, 1999.
Bhikhu Parekh: Rethinking Multiculturalism. Cultural Diversity and
Political Theory. London, 2000.
Raúl Fornet-Betancourt: "Hermeneutik und Politik des Fremden.
Ein philosophischer Beitrag zur Herausforderung des Zusammenlebens in
multikulturellen Gesellschaften." In Verstehen und Verständigung.
Ethnologie - Xenologie - interkulturelle Philosophie, Hg.: Wolfdietrich
Schmied-Kowarzik, S. 49-59. Würzburg: Königshausen
& Neumann, 2002.
Gabriele Münnix: Zum Ethos der Pluralität. Postmoderne und
Multiperspektivität als Programm. (Philosophie, Bd. 44)
Münster: LIT-Verlag, 2004.
Hans Jörg Sandkühler und Hong-Bin Lim (Hg.): Transculturality
- Epistemology, Ethics, and Politics. (Philosophie und Geschichte der
Wissenschaften. Studien und Quellen. Hg. von Hans Jörg
Sandkühler und Pirmin Stekeler-Weithofer. Bd. 57). Frankfurt/M.:
Peter Lang, 2004.
Radostin Kaloianov: "Multikulturalismus und Kritik." In: Polylog.
Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 24 (2010):
81-97.
Allgemeine Literatur:
Franz-Martin Wimmer: Interkulturelle
Philosophie. Eine
Einführung. Wien: WUV, 2004
Zum
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Erstellt: März 2011 mit Ergänzungen im SoSe
2011