Wimmer: Vorlesung SS 2011
602023 Interkulturelle Philosophie - Einführung
1. Einheit: 7. März
a) Besprechung der Themen
und Prüfungsmodalitäten, Überblick der Vorlesung
b) THEMA: Grundfragen interkultureller Philosophie im Zusammenhang der
Gegenwartsphilosophie
Interkulturität und Philosophie?
| Differente Ansätze | Praxis und Postulate | Hauptthesen | Literaturhinweise
Zusammenhang in der
Gegenwartsphilosophie
Eine Familie macht sich
bemerkbar im Feld der Theorien in den letzten Jahrzehnten des 20.
Jahrhunderts. Sie ist – zumindest von außen – an
Ähnlichkeiten erkennbar, Familienähnlichkeiten, wie
Wittgenstein solche benannt hat.
Das sind vor allem Folgende:
1. Die Mitglieder dieser Theoriefamilie
sprechen jeweils ein besonderes
Publikum an, das durch ein besonderes Interesse
charakterisierbar ist – es will sich selbst verstehen und sich selbst
beschreiben.
2. Sie sprechen weitgehend eine
eigene Theoriesprache, wobei ihre Gemeinsamkeit darin liegt,
dass sie von den traditionellen Begriffssprachen wenig Gebrauch machen
und nicht scholastisch sein wollen.
3. Sie sprechen vorwiegend über Themen, die unter ihnen
ähnlich sind und die sie für wichtig halten, aber das sind nicht die klassischen Themen der
jeweiligen Theoriegemeinschaft, in der sie sich bewegen (als
PhilosophInnen, SozialwissenschafterInnen, KulturtheoretikerInnen).
4. Sie wenden sich gegen
frühere Theorien oder Auffassungen zu ihren Themen vor
allem mit der Forderung nach Selbst- oder Eigenbeschreibung.
5. Sie lehnen ein
Interpretationsmonopol ab, das sich auf den absoluten
Superioritätsanspruch eines Teils der Menschheit bezieht.
6. Sie suchen individuelle oder
kollektive Identitäten zu befördern oder zu
begründen.
Zu dieser Theoriefamilie gehören einige, die in ihrem Namen ein
"post" tragen: "Postkolonialismus", "Postmoderne". Andere Mitglieder
derselben Familie haben sich entschieden, andere Namen zu tragen, sie
nennen sich "Feministische (und nicht etwa "postpatriarchale")
Philosophie" oder "Interkulturelle (und nicht vielleicht
"postokzidentale") Philosophie".
Zum Postkolonialismus vgl.: María do Mar
Castro Varela und Nikita Dhawan: Postkoloniale Theorie. Eine
kritische Einführung. 2. Aufl. Bielefeld: transcript Verlag, 2009.
Zur Postmoderne vgl.: Gabriele Münnix: Zum Ethos der
Pluralität. Postmoderne und Multiperspektivität als Programm.
(Philosophie, Bd. 44) Münster: LIT-Verlag, 2004.
Zur feministischen Philosophie vgl.: Herta Nagl-Docekal (Hg.,
Autorin): Feministische Philosophie. Oldenbourg: Wien und München
1990.
Es
gibt auch Theoriegruppen, die das "post-" im Namen tragen
("Poststrukturalismus", "postanalytische Philosophie"), die aber nach
den genannten Merkmalen nicht zu dieser Gruppe gehören.
Wie das auch in anderen Familien vorkommt, vertragen sich die
Mitglieder dieser
Theoriefamilie nicht unbedingt. Sie denken zuweilen, dass das, was ein
anderes Mitglied anders macht, nicht viel wert oder eigentlich ein
Irrweg ist. Auch haben sie jeweils unterschiedliche
Partner aus anderen Theoriefamilien, mit denen sich die
übrigen dann ebenso wenig verstehen, die sie zuweilen sogar
für die Schwächen ihrer Familienmitglieder verantwortlich
machen.
So
hat etwa die interkulturelle Philosophie Nahverhältnisse zur
Phänomenologie, zu komparativer Philosophie und zur
Kulturgeschichte.
Das Nahverhältnis Postkolonialer
Theorie zur Literatur, zu Sozialwissenschaften und politischer Theorie
ist ebenso auffallend und macht es manchmal nicht leicht, zu sagen, was
eigentlich ihr philosophischer Beitrag sein soll.
Dass die Postmoderne philosophisch
bedeutsame Texte hervorgebracht hat, bestreitet (heute) wohl kaum
jemand (mehr), aber ihre Auftritte im Bereich von Kunst, Literatur und
Architektur sind zumindest nicht weniger spektakulär gewesen.
Wie eng diese Richtungen untereinander
und auch mit der an einem anderen Termin hier vorzustellenden
feministischen Philosophie auf Grund gemeinsamer Fragestellungen
verwandt sind, zeigt zum Beispiel:
Es sind zwischen diesen Richtungen jedoch auch deutliche Differenzen und nicht eindeutige Beeinflussungen
festzustellen. Als Beispiel nenne ich das Verhältnis von
interkultureller und postmoderner Philosophie.
Es wird zuweilen gesagt, interkulturelle Philosophie sei wesentlich von
postmodernen Positionen
bestimmt. Dieser Eindruck mag darauf
zurückgehen, dass in beiden Richtungen eine starke Kritik an
eurozentrischen Traditionen dominant ist. Schließt man daraus
jedoch auf einen eindeutigen Einfluss, so führt das deshalb in die
Irre, weil dabei die sachlich entscheidende Frage nach der jeweiligen
Alternative zum Eurozentrismus übergangen würde. Die hier
entscheidenden Unterschiede sind:
- Postmoderne Theorie kritisiert zwar die "großen
Erzählungen" abendländischer Tradition und bereitet damit den
Weg einer mehrdimensionalen Hermeneutik, aber sie will sich nicht auf
einen echten Dialog oder Polylog, d.h. auf eine kritische Auseinandersetzung mit anderen
Kulturtraditionen und deren Philosophien einlassen. Genau das
ist Programm in den Ansätzen interkultureller Philosophie.
- Postmoderne Theoretiker tendieren dazu, einen Relativismus in philosophischen
Sachfragen nicht nur zuzulassen, sondern zu befördern. Dem
entspräche in interkulturellen Ansätzen die Option für Ethnophilosophien, die jedoch oft
explizit kritisiert wird.
- Postmoderne konzentriert sich (kritisch) vorwiegend oder
ausschließlich auf okzidentale Philosophie (bzw. deren Logozentrismus); hingegen setzt
interkulturelle Philosophie sich explizit mit vielen, kulturell
differenten Traditionen auseinander.
Interkulturalität und Philosophie?
Ich schildere hier dasjenige Mitglied dieser Theoriefamilie, das mir am
meisten vertraut ist und zu dem ich mich auch
selbst zähle.
Als "interkulturell"
artikuliert sich eine Richtung innerhalb der akademischen Philosophie
verhältnismäßig spät, nämlich etwa um 1990,
nachdem bereits vorher dieses Adjektiv in anderen akademischen
Disziplinen Eingang gefunden hatte. Nachdem "interkulturelle
Philosophie" (wahrscheinlich in Wimmer
1990) zunächst in deutscher Sprache benannt und beschrieben
worden war, wurden später analoge Termini auch in anderen Sprachen
etabliert. Mit diesem Terminus sollte die These ausgedrückt
werden, dass "zwischen"
Denktraditionen, die als "kulturell" different aufzufassen sind, wechselseitige Prozesse argumentativer Art
möglich und in
philosophischen Fragestellungen sinnvoll sind. Bloße
Nebeneinanderstellungen von Denktraditionen oder deren Vergleich unter
einander erfüllen diese Bedingung nicht.
Seither wird diese Bezeichnung immer
öfter verwendet und tritt nicht selten einfach an die Stelle von
früheren (wie: "komparativ", "vergleichend"), ohne dass bei dieser
Übernahme des Terms notwendigerweise Überlegungen
bemerkbar sind, was eigentlich dieses "inter-"
im Unterschied zu
"komparativ" bedeuten
könnte. In solchen Fällen scheint das "inter-" dann nur
attraktiver zu klingen.
Die Thematik von "Interkulturalität" ist jedoch
zunächst
nicht in der Philosophie, sondern in anderen Disziplinen - in der
Kommunikationsforschung, der Geographie, der Germanistik u. a. -
reflektiert worden.
Vgl. beispielsweise zur
interkulturellen Germanistik :
Alois Wierlacher und Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle
Germanistik. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, 2003.
Norbert Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als
interkulturelle Literaturwissenschaft. 2. unveränd. Aufl.
München:
Iudicium, 2009.
Auch in den Ansätzen dieser Disziplinen ist allerdings nicht immer
klar, ob damit ein Unterschied zwischen "Multikulturalismus" und
"Interkulturalität" theoretisch wirklich gedacht wird.
Bemerkenswert ist, dass es bis heute Studiengänge etwa zu
"interkultureller Kommunikation" o. ä. gibt, die zwar
interdisziplinär angelegt sind, wobei aber Philosophie keine Rolle
spielt. Wiederum ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass in
philosophischen oder verwandten Studienplänen die Perspektive der
Interkulturalität überhaupt fehlt - was nicht mehr für
das
Studium in Wien oder Innsbruck zutrifft.
Ausgangspunkt: Kritik am hermeneutischen Monopol des Okzidents
Wie in den anderen Diskursen dieser Theoriefamilie ist auch in
interkultureller Philosophie die Kritik an einem hermeneutischen
Monopol des Okzidents, also an einem "Eurozentrismus" ein wesentlicher
Ausgangspunkt. Von einer Mehrzahl
von kulturellen Traditionen
der Philosophie ist die Rede, aus deren jeweiligen Gesichtspunkten die
Bedeutung und der Sinn anderer Traditionen erfasst werden. Dazu ein
Zitat:
◦ Ram Adhar Mall spricht von:
einer
vierdimensionalen hermeneutischen Dialektik. Erstens geht es um ein Selbstverständnis Europas durch
Europa. Trotz aller inneren Unstimmigkeiten hat sich Europa, zum
größten Teil unter dem Einfluß
außerphilosophischer Faktoren, den Nichteuropäern als etwas
Einheitliches präsentiert. Zweitens
gibt es das europäische
Verstehen der nicht-europäischen Kulturen, Religionen und
Philosophien. Die institutionalisierten Fächer der Orientalistik
und Ethnologie belegen dies. Hegel (1770-1831) und einige andere gehen
von der festen Überzeugung aus, daß Asien sich selbst nicht
ganz richtig versteht, und Asienverstehen Asienüberwinden
bedeutet. Fast eine Art theoretischer Gewalt ist am Werke, wenn man
meint, daß man die anderen besser versteht als sie sich selbst
verstehen. Freilich setzen wir hier voraus, daß es um
gleichberechtigte Diskurspartner geht. […] wurde lange die Ansicht
vertreten: Immer wo es eine Geschichte gibt, gibt es Philosophie. Die
Orientalen besitzen eigentlich keine Geschichte. Folglich gibt es bei
ihnen keine Philosophie.
Drittens
sind da die nicht-europäischen
Kulturkreise, die ihr
Selbstverständnis heute auch selbst vortragen und dies
nicht den anderen überlassen. Viertens
ist da das Verstehen Europas durch
die außereuropäischen Kulturen. In dieser Situation
stellt sich die Frage: Wer versteht wen, wie und warum am besten? Es
mag Europa überraschen, daß Europa heute interpretierbar
geworden ist.
So verlangt die de facto existierende
hermeneutische Situation nach einer Philosophie der Hermeneutik, die
offen genug ist, um die Traditionsgebundenheit einzusehen, auch die des
eigenen Standpunkts. Eine interkulturell orientierte hermeneutische
Philosophie muß die Forderung nach einer Theorie erfüllen,
nach der weder die Welt, mit der wir uns auseinandersetzen, noch die
Begriffe, Methoden, Auffassungen und Systeme, die wir dabei entwickeln,
historisch unveränderliche, apriorische Größen
darstellen. (R.A. Mall: Interkulturelle Philosophie und die Idee
der Toleranz. In: Yousefi (Hg.): Die Idee der Toleranz in der
interkulturellen Philosophie 2003, S. 86f; Hervorhebungen im Zitat von:
fmw)
Motivationen
1) Eines der Motive hinter der "kulturalistischen Wende" in der
Philosophie überhaupt und hinter den Bemühungen um eine
Philosophie "in interkultureller Orientierung" liegt darin, dass Wertkonflikte bzw. konfligierende
Normenbegründungen in modernen Gesellschaften auftreten,
die zumindest teilweise aus unterschiedlichen philosophischen
Traditionen begründet werden. Auffallende Beispiele - aber
keineswegs die einzigen - finden sich in den Diskursen über
Menschenrechte.
2) Ein anderes Motiv liegt in der Entwicklung einer
Weltgesellschaft ("Globalisierung") vor. Ich denke, dass in
dieser Hinsicht zwei Gesichtspunkte eine wesentliche Rolle spielen, die
ich mit jeweils einem Zitat andeuten will:
-- Eine aufgrund regionaler Zentrismen erwartbare Verlegenheit beschreibt
R. Collins:
"Further on in the
twenty-first-century, when economic linkage and intermigration will
indeed produce a common world culture, educated people will likely be
embarrassed to know so little about the intellectual history of other
parts of the world than their own." (Collins, The Sociology of
Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change (2000), Preface)
-- E. Holenstein benennt das Eigeninteresse
als Motiv, sich mit fremden Kulturen auf humane Weise zu befassen:
"Ein Plädoyer für die
Vermeidung von behebbaren Missverständnissen und für die
Besinnung auf zivile Umgangsformen in der Auseinandersetzung mit uns
fremden Kulturen bedarf keiner moralischen Motivation. Schieres
Eigeninteresse genügt." (Holenstein, "Ein Dutzend
Daumenregeln zur Vermeidung interkultureller Missverständnisse"
in: Jürgen Wertheimer und Susanne Göße, Hg.: Zeichen lesen. Lese-Zeichen.
Kultursemiotische Vergleiche von Leseweisen in Deutschland und China.
(1999), S. 30)
Eine genaue Beschreibung dieses Motivs aus der Perspektive der
lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung liefert:
3) Ein drittes Motiv sehe ich im Universalitätsanspruch, der philosophischen Thesen
inhärent ist. Diesen leugnen zwar ethnophilosophische Positionen, wie
seine Möglichkeit auch schon früher von ethnozentrischen
Theoretikern geleugnet worden war, vgl. etwa
-- E. Krieck in der FS für A.
Hitler (1939):
"Die Philosophie im
herkömmlichen Sinn ist gekennzeichnet durch ein universalistisches
Prinzip. Da die nationalsozialistische Weltanschauung … den
Universalismus jeder Art beendet und durch das rassisch-völkische
Prinzip ersetzt, müßte folgerichtig die Philosophie, da sie
stets am Universalismus hängt, als beendet erklärt und durch
eine rassisch-völkische Kosmologie und Anthropologie ersetzt
werden."
aber sie wird nicht in interkultureller Philosophie geleugnet. R.
Fornet-Betancourt schreibt beispielsweise, sein "Verständnis der
Universalität in der Philosophie" sei
"weder
postmodern noch "kontextualistisch" im Sinne von Rorty. Das
heißt, sie setzt weiterhin die Notwendigkeit der
Universalität voraus. … aber doch die Zurückweisung einer
Universalität, die konstruiert ist auf der Grundlage der Differenz
zwischen dem Universellen und dem Partikulären und gegenüber
der sich das Partikuläre immer rechtfertigen muss, da sie sich als
die regulierende Ordnung des Zusammenlebens oder als Ausdruck des
Maßstabs der Menschheit darstellt. … Es wird also nicht das
Universelle, sondern der Mangel an Universalität … kritisiert. Auf
der anderen Seite will die interkulturelle Philosophie die Frage nach
der Universalität wieder aufwerfen, um die Dialektik der Spannung
zwischen dem Universellen und dem Partikulären durch die
Ausbildung des Dialogs zwischen kontextuellen Welten zu ersetzen, die
ihren Willen zur Universalität mit der Kommunikationspraxis
bekunden. … dass diese Kommunikationspraxis … vor allem ein Bestreben
nach Übersetzung ist. Die kulturellen Welten werden
übersetzt, und indem sie sich gegenseitig übersetzen, wird
Universalität erzeugt." (Fornet-Betancourt, Zur
interkulturellen Transformation der Philosophie in Lateinamerika
(2002), S. 14f)
Möglichkeit und Aufgaben
Ob Philosophie in einer aktiven und gegenseitig fruchtbaren Begegnung der Kulturen etwas beizutragen habe, ist die eine
Grundfrage der interkulturellen Philosophie. Die andere Grundfrage ist,
ob Philosophie überhaupt möglich ist, wenn sie die Tatsache
ignoriert, dass jedes Denken und jeder Ausdruck des Denkens nur mit den
Mitteln eines kulturell in bestimmter Weise geprägten Systems
stattfinden kann. Es ist eine für jede Argumentation
ärgerliche Tatsache, dass es nicht eine und nicht eine endgültig angemessene
Sprache, Kulturtradition und Denkform des Philosophierens gibt, sondern
viele, und dass jede davon kultürlich ist, keine darunter
natürlich.
Interkulturell orientiertes Philosophieren will diesen Sachverhalt
bewusst machen, um daraus für beides Gewinn zu ziehen: für
die Philosophie, indem zentristische Vorurteile kritisiert und neue
Gesichtspunkte eingebracht werden; für den Umgang mit kulturellen
Differenzen, indem gegenseitige Verständigung auf grundlegender
Ebene angestrebt wird.
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Differente Ansätze
Die bisher vorliegenden interkulturellen Konzepte in der Philosophie
grenzen sich von anderen Ansätzen ab, weisen aber auch unter
einander deutliche Unterschiede auf.
- Ein erster auffallender Punkt ist die Abgrenzung von
"komparatistischen" Ansätzen. Auffallend, weil nicht ohne
weiteres erwartbar. "Mehr als bloße Komparatistik" sei gefordert,
wie es immer wieder heißt. Unter einer "bloßen
Komparatistik" wird dabei etwas sehr Traditionelles verstanden, das die
Wissenschaften von "fremden Kulturen" zu hoher Perfektion entwickelt
haben: vergleichende Interpretation.
Was dieses "Mehr" beinhalten soll,
wird jedoch unterschiedlich gesehen: eine "offene Hermeneutik" (Mall)
wird verlangt; ein emanzipatorisches Denken (Fornet-Betancourt), das
die eigenständigen Beiträge der verschiedenen Regionen neu
bewertet; neue Perspektiven in der allgemeinen Geschichtsschreibung der
Philosophie (Holenstein, Paul); und schließlich neue Verfahren
der philosophischen Theoriebildung und Argumentation (Paul) mit dem
Ziel einer "gegenseitigen Aufklärung", die unter dem Namen von "Polylogen" (Wimmer)
angeführt werden.
Vgl. dazu ausführlicher:
Franz Martin Wimmer: "Interkulturelle versus komparative Philosophie –
ein Methodenstreit?" In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 3, Nr.
2 (2009): 305-12.
- Zweitens fällt die sehr unterschiedliche Einschätzung der
Rolle des religiösen und theologischen Denkens sofort auf.
Spricht Panikkar davon, "die Philosophie" sei nichts weiter als eine
"Begleiterin auf dem Weg" und dieser "Weg ist das, was in vielen
Kulturen Religion genannt wird", so läßt dies an die alte
Metapher von der "ancilla theologiae" denken. Tatsächlich kommt
vielen, wenn von "Interkulturalität" die Rede ist, zu allererst so
etwas wie "Religion" in den Sinn. Dies ist nicht wirklich
verwunderlich, aber höchst irreführend. Wenig verwunderlich
ist dies, wenn man sieht, wie selbstverständlich etwa von einem
Dialog "mit anderen Kulturen" gesprochen wird (beispielsweise im
"Katechismus der katholischen Kirche"), wenn in Wirklichkeit doch
nichts anderes als ein Dialog mit anderen Religionen gemeint ist.
Irreführend ist eine solche Überbetonung des Religiösen
als Unterscheidungsmerkmal von "Kulturen" - und dementsprechend als
vorrangiger Gegenstand interkultureller Reflexion - allemal, denn sie
verstellt den Blick auf die vielfältigen anderen Bereiche des
Lebens, die in der Entwicklung philosophischer Reflexion bedeutsam
sind: der Techniken und Wissenschaften, der sozialen
Organisationsformen und der Künste.
Vgl. dazu Panikkars Text:
Raimon Panikkar: "Religion, Philosophie und Kultur." In: Polylog.
Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 1, Nr. 1 (1998):
13-37.
und kritisch dazu:
Franz Martin Wimmer: "Sind
religiöse Dialoge mögliche Polyloge?" In Philosophie aus
interkultureller Sicht. Philosophy from an Intercultural Perspective,
Hg.: Notker Schneider, Dieter Lohmar, Morteza Ghasempour et al., S.
317-25. Amsterdam: Rodopi, 1997.
- Ein dritter wichtiger Punkt, worin sich Unterschiede zeigen,
liegt im Umfang
und Inhalt des Philosophiebegriffs. Zuweilen wird dieser
Ausdruck so weit verwendet, dass sich schwer vorstellen
läßt, welche Formen des Denkens nicht damit bezeichnet
werden könnten. Das betrifft natürlich auch andere
Ausdrücke. Es ist beispielsweise davon die Rede, dass es
"keine menschliche Kultur ... ohne die reflexive Praxis der Vernunft"
(Fornet-Betancourt)
gebe. Das kann und wird mit Fug bezweifelt werden. Es macht allerdings
das gemeinsame Anliegen der Vertreter einer interkulturellen
Orientierung in der Philosophie aus, dass sie gegen einen allzu
engen, insbesondere einen europazentrischen Philosophiebegriff angehen.
Wenn sie dann aber bestimmen sollen, was denn noch und was nicht mehr
zur Philosophie zu rechnen sei, sind sie uneins.
Vgl. dazu:
Raúl Fornet-Betancourt: Zur interkulturellen Transformation der
Philosophie in Lateinamerika. Frankfurt/M.: IKO - Verlag für
Interkulturelle Kommunikation, 2002.
Ich nenne diese strittigen Punkte, weil sie einerseits
unübersehbar sind und andererseits deutlich machen, dass das
Anliegen einer interkulturell orientierten Philosophie mit den
Lebensbedingungen der heutigen Menschheit gegeben ist. Es spricht
keineswegs gegen dieses Unternehmen, dass die darin leitenden
Vorstellungen und Begriffe nicht von Anfang an klar und konsensuell
sind.
Es
verhält sich ein wenig so wie mit Gärtnern, die eine neue Art
von Garten anlegen wollen und zunächst einmal behaupten, sie
gingen davon aus,
•
dass es in Wirklichkeit kein Unkraut gebe (also:
dass jede kulturell-philosophische Tradition gleich gültig sei) und
•
dass gewöhnlich viel zu viel gejätet und
vorneweg geordnet würde, ohne den Pflanzen ihren natürlichen
Weg zu lassen (dass also jede Tradition nach ihrer eigenen Weise
belassen werden soll).
Sobald es in einem solchen Garten
dann zu wachsen beginnt, wird sich herausstellen, dass die
Unterscheidung zwischen Kraut und Unkraut sehr wohl wieder getroffen
und streng angewandt wird. Es ist - vielleicht - eine etwas andere
Grenze festgelegt worden, aber Grenzenlosigkeit wird es höchstens
als rhetorische Übertreibung geben. Darum ist es sinnvoll,
zuzusehen, was diese Gärtner tun. Es reicht nicht aus, zu
hören, was sie sagen.
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Was also tun "interkulturelle Philosophen" oder wollen es zumindest
tun?
Eine der zutreffendsten Formulierungen für das Programm eines
interkulturell orientierten Philosophierens ist wohl die, dass es
darauf ankomme, die "Stimmen der anderen"
zu Gehör zu bringen. Dies drückt sich darin aus, dass
in Konferenzen, Publikationen, Studiengängen bewusst
versucht wird, dem gewöhnlichen Übergewicht der
akademisch-ökonomischen Zentren gegenzusteuern. Vielfalt der
Sichtweisen, auch Vielfältigkeit der Ausdrucksformen werden
angestrebt.
Doch ist es selbstverständlich, dass auch damit keine grenzenlose
Offenheit gegeben ist. Die allermeisten Diskussionen finden nach wie
vor im akademischen Rahmen und gemäß den in diesem Raum
geltenden Verhaltensregeln statt. Auch werden sie in den
hauptsächlichen europäischen Wissenschaftssprachen
geführt. Sie schließen damit schon rein von der Organisation
der Diskussion her eine große Klasse von möglicherweise
kompetenten DenkerInnen der nicht-okzidentalen Traditionen aus.
Die angestrebte Öffnung der Diskussion in Richtung auf eine
Gleichrangigkeit von mehreren oder vielen kulturell geprägten
Philosophietraditionen ergibt an sich weder thematische Schwerpunkte
noch eine bestimmte Art methodischen Vorgehens. Doch können wir
kurz einige Fragen stellen: Worüber reflektieren die
"interkulturellen Philosophen" gewöhnlich? Beziehen sie neue
Quellen in ihre Diskurse ein? Gibt es neue Themen, die hier auftauchen?
Und: Gibt es neue Methoden (z. B. der Argumentation), die unter ihnen
als angemessener gelten als diejenigen der kritisierten eurozentrischen
Tradition?
Ich kann diese Fragen hier zunächst nur kursorisch und
unsystematisch
beantworten.
Neue Quellen?
Zur ersten Frage ist zu betonen, dass es selbstverständlich neue
Quellen gibt, die hier einbezogen werden. Es ist bereits eine
Veränderung der akademischen Praxis, wenn Logik-Texte japanischer
Buddhisten (wie bei Paul) oder Rechtsvorstellungen in einer
Bantu-Tradition überhaupt (vgl. Wiredu oder auch Kimmerle) in
systematischen Zusammenhängen von Philosophen interpretiert
werden. Es war allzulange selbstverständliche Voraussetzung, dass
das eine seinen Ort in der Kulturgeschichte Japans, das andere in
derjenigen Afrikas habe, dass die einschlägigen Disziplinen daher
die Japanologie und die Afrikanistik, nicht aber die Philosophie seien.
Es ist insgesamt immer noch so, mit wenigen Ausnahmen: Wer Philosophie
studiert oder lehrt, kann dies in der Regel tun, ohne sich jemals mit
der Frage konfrontiert zu sehen, was denn chinesische, indische,
afrikanische oder lateinamerikanische Philosophen zu einer bestimmten
Sachfrage beizutragen hätten. Dass neue Quellen als ernstzunehmend
vorgestellt und bearbeitet werden, ist dem gegenüber bereits ein
wichtiger Schritt.
Vgl. dazu:
Gregor Paul: "Zur Rolle der Logik in buddhistischen Texten. Unter
besonderer Berücksichtigung des Zhonglun (jap. Chûron)." In:
Sünden des Worts. Festschrift für Roland Schneider zum 65.
Geburtstag, Hg.: Judit Árokay und Klaus Vollmer, S.
425-48. Hamburg: Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde
Ostasiens e.V., 2004.
Kwasi Wiredu: "Custom and Morality: A comparative Analysis of some
African and Western Conceptions of Morals." In: Conceptual
Decolonization in African Philosophy. Four Essays, Hg.: Olusegun
Oladipo, S. 33-52. Ibadan, Nigeria: Hope Publ., 1995.
Heinz Kimmerle: "Ein neues Modell des Entwicklungsdenkens. Die
Bedeutung interkultureller Dialoge besonders auf den Gebieten der
Philosophie und der Kunst für die Entwicklungstheorie." In:
Symbolisches Flanieren. Kulturphilosophische Streifzüge.
Festschrift für Heinz Paetzold zum 60., Hg.: Roger Behrens, Kai
Kresse und Ronnie M. Peplow, S. 252-67. Hannover: Wehrhahn
Verlag, 2001.
Es ist eklatant, dass interkulturelle Philosophie zunächst von
philosophiehistorischen
Projekten und Thesen ausgegangen ist. Aufbauend auf der seit einem
Jahrhundert betriebenen "komparativen Philosophie" wird gefragt, in
welchen kulturellen Regionen und auf welche unterschiedliche Weisen
Philosophie in der Menschheitsgeschichte entwickelt worden ist.
Dabei wird charakteristischerweise die traditionelle Dichotomie
zwischen Westen (Europa und okzidentalisierte Welt) und Osten (Ost- und
Südasien) als unzureichend und auch unzutreffend nicht weiter
aufrecht erhalten, sondern verlangt, eine allseitigere Geschichte des
philosophischen Denkens der Menschheit zu erarbeiten.
Vgl. dazu:
Franz Martin Wimmer: "Philosophiehistorie in interkultureller
Orientierung." In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles
Philosophieren 2, Nr. 3 (1999): 8-20.
Neue Themen?
Gibt es auch neue Themen? Schaut man darauf, was für
Fragestellungen hier vorherrschen, so ist die Innovation anscheinend
bislang nicht besonders groß. Mir zumindest ist in der
einschlägigen Literatur und bei den einschlägigen Konferenzen
noch kein Thema begegnet, das nicht auch in der okzidentalen Tradition
des Philosophierens irgendwann präsent gewesen wäre. Das
stimmt natürlich nicht für die Details. Es macht sehr wohl
einen Unterschied, es führt auch zu neuen Thesen und vielleicht zu
neuen Einsichten, wenn die Gesichtspunkte, die Begriffe und Thesen sehr
unterschiedlicher Traditionen miteinander ins Gespräch gebracht
werden. Aber das ändert nichts daran, dass die Themen dieselben
sind, wie sie eben auch sonst unter Philosophen verhandelt werden:
Fragen nach Wahrheitskriterien, nach Voraussetzungen von Logik, nach
ethisch-moralischen Normen, nach einer Theorie der Ästhetik usw.
Neue Methoden?
Ob es neue Methoden gibt oder doch geben sollte, ist die nächste
Frage. Methoden bestimmen sich nach einem Ziel und den erkennbaren
Wegen zu ihm. Zu den Methoden des Philosophierens, wie immer diese
sonst bestimmt werden, gehört jedenfalls die Klärung von
Begriffen, die Entwicklung einer angemessenen Terminologie und die
Untersuchung von stillschweigenden oder auch expliziten Voraussetzungen
von Urteilen. In dieser Hinsicht bringt interkulturell orientiertes
Philosophieren insofern eine deutliche Erweiterung des
Reflexionshorizonts, als Begrifflichkeiten aus anderen als den
europäischen Traditionen in die Debatte eingebracht werden. Es ist
auch deutlich, dass die Auseinandersetzung mit
außereuropäischen Denktraditionen unvermerkte Vorannahmen
okzidentaler Philosophie bemerkbar machen kann.
Die Frage nach der Methode geht jedoch noch einen Schritt weiter.
Fraglich ist ja, mit welchen Verfahren der Argumentation dann
philosophiert werden kann, wenn nicht von vornherein feststeht, welche
Ausdrucksmittel überhaupt als angemessen zu betrachten sind. Dies
ist zwar kein neuartiger Sachverhalt - es gibt in der Philosophie so
gut wie in anderen Disziplinen unterschiedliche Stile, die ein
gegenseitiges Verstehen oder auch nur Ernstnehmen erschweren
können, aber unvermeidbar sind -, jedoch verschärft sich die
Sache, wenn Angehörige mehrerer Kulturen miteinander zu
argumentieren beginnen. Dies ist nicht auf die Frage der gemeinsamen
Sprache bezogen: eine solche ist unabdingbar und es ist nicht unbedingt
ein Nachteil für die Klarheit des Ausdrucks, wenn sie nicht die
Muttersprache ist. Soll aber beispielsweise die Rezitation eines Liedes
aus Afrika ebenso als Bestandteil einer philosophischen Argumentation
gelten wie die Interpretation der These eines Klassikers der
okzidentalen Tradition? Selbst wenn innerhalb der Gegenwartsphilosophie
- etwa im Bereich der Beispiele, die von Philosophen der Analytischen
Philosophie gerne angeführt werden - die Grenze der als
zulässig erachteten Quellen manchmal ziemlich weit gezogen wird,
dürfte es doch Widerstände hervorrufen, wenn jemand ein
afrikanisches Lied im Rahmen seines Arguments singt und vielleicht auch
noch darauf besteht, es müsse, um den Sinn zu erfassen, dazu
getanzt werden.
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Vier Thesen
Vier problematische Thesen
lassen sich aus den Diskussionen um "Interkulturelle Philosophie"
extrahieren, die zu begründen oder zu widerlegen sind:
- Kultur- und Philosophiegeschichte
seien im allgemeinen eurozentrisch.
Damit sei eine Begrenzung oder Beschränkung gegeben. Denn okzidentale Philosophie sei (auch) eine Regionalphilosophie - eine
Tradition unter mehreren.
- Jede als universell geltend
intendierte These der Philosophie ist möglicherweise kulturell geprägt;
kulturell-partikuläre Thesen sind jedoch in der Philosophie nach deren eigenem Anspruch nicht
ausreichend.
- Eine Ausweitung des kulturellen
Horizonts der Philosophiegeschichte ist möglich und nötig:
Neue Quellen sind zu erschließen, neue Traditionen zu
interpretieren, neue Textsorten einzubeziehen.
- Das Bewusstsein von der Überlegenheit
europäischer philosophischer Tradition ist kritisierbar und zu kritisieren.
Jede dieser Thesen, die in der Literatur zur interkulturellen
Philosophie mehr oder weniger explizit formuliert werden, hat
weitreichende Konsequenzen für
Forschung und Lehre der Philosophie im allgemeinen. Es reicht
als Hinweis aus, dies für die erste der genannten Thesen
anzusprechen.
Wenn es sich bei der okzidentalen Philosophie tatsächlich nur um
eine regionale, wenngleich um eine hochdifferenzierte Spielform von
Philosophie überhaupt handelt, so wäre jedes Argument, das
sich ausschließlich auf Autoritäten dieser Tradition beruft,
selbst "ethnophilosophisch" und könnte insofern keinen Anspruch
auf Allgemeingültigkeit oder Intelligibilität erheben. In
jeder Sachfrage der Philosophie sind unter dieser Annahme
möglichst differente philosophische Denkformen und Begriffsfelder
aufzusuchen und aneinander zu messen. Es ist daher zu Recht von einem
"Antizentrismus der Interkulturellen Philosophie" gesprochen worden,
wobei aber nicht zu vergessen ist, dass jeder interkulturelle Dialog
notwendig vom Eigenen ausgehen muss. Dies betrifft natürlich schon
den Begriff des Philosophischen selbst. Jeder Zugang zu philosophischen
Fragen, welcher Orientierung auch immer, muss seinen Gegenstand
definieren, muss mithin von nicht-philosophischen Gegenständen
abgrenzen. Es liegt auf der Hand, dass das bloße Faktum der
Namensverwendung "Philosophie" dafür nicht ausreicht. Weder ist es
so, dass im akademischen Diskurs bereits alles unter diesem Namen
subsumiert ist, was rechtens dazugehört – dies hat die Diskussion
um "afrikanische Philosophie" deutlich gemacht. Noch aber kann ein
inflationärer Gebrauch des Namens, wie ihn der Büchermarkt
spiegelt, ohne Orientierungsverlust übernommen werden. Vielmehr
wird interkulturell orientiertes Philosophieren einen
Philosophiebegriff zu entwickeln haben, der sowohl inhaltliche als auch
formale Bestimmungen enthält. Beim gegenwärtigen Stand der
Diskussion ist dies ein, allerdings dringliches, Desiderat.
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Darstellungen und Quellen:
Weitere TEXTE zum Nachlesen:
- Zur
Aufgabe des Kulturvergleichs in der Philosophiehistorie (Wimmer
1988)
Allgemeine Literatur:
Franz-Martin Wimmer: Interkulturelle
Philosophie. Eine
Einführung. Wien: WUV, 2004
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Erstellt: Februar 2011 mit Ergänzungen im SoSe 2011