China - Geschichte und Geschichtsbild

Franz Martin Wimmer
VO SS 2004

Wie Funde in Nordchina belegen, ist die menschliche Siedlungsgeschichte am Unterlauf des Huanghe (Hoangho) sehr alt. Der "Pekingmensch" lebte vor etwa 500.000 Jahren in der Gegend der heutigen Hauptstadt Chinas. Um 4000 vAZ gibt es neolithische Ackerbauern in den Lößgebieten des Nordens und Nordwestens, etwa 1000 Jahre später auch am Changjang (Yangtsekiang).

Da Geschichtsschreibung in China früh in beeindruckender Weise entwickelt wurde und bereits im Werk des Sima Qian ein Bild der frühen Staatsbildungen vorgelegt hat, dessen Einzelheiten in vieler Hinsicht von der modernen Geschichtsforschung bestätigt worden sind, möchte ich zunächst von diesem Bild ausgehen. Aber schon früher hatten bedeutende Vertreter aller einflussreichen philosophischen "Schulen" Darstellungen eines urtümlichen Gesellschaftszustandes verfasst, die jeweils auch zentrale Ideen ihrer Theorie spiegelten. Dies hat in seiner Allgemeinheit keine Entsprechung in indischer oder griechischer Philosophie und ist auch nicht ident zu setzen mit den in allen Kulturen vorfindbaren Ursprungsmythen, sondern eher mit idealtypischen Konstrukten wie demjenigen von Hobbes' "Kampf aller gegen alle" zu vergleichen.

Die auffallendsten Züge in den Darstellungen der Frühzeit sind:
* Kulturtechniken (wie: Schrift, Reisanbau, Seidenraupenzucht usw.) werden namentlich Heroen des eigenen Volkes zugeschrieben. Es finden sich keinerlei Spuren einer Erinnerung an frühere Wanderungen oder an außerchinesische Einflüsse. Es ist jedoch umstritten, ob beispielsweise die Schrift in China unabhängig entwickelt wurde. Wenn dies der Fall ist, so ist Schrift dreimal in der Menschheitsgeschichte entstanden (in Ägypten bzw. im Zwischenstromland, in China und in Mesoamerika), im anderen Fall nur zweimal.
* Die Heroen der imaginierten Frühzeit werden zu einer Art von Halbgöttern und spielen eine wichtige Rolle im allgemeinen Ahnenkult. Dabei sind es unterschiedliche Typen, die für spätere Philosophenschulen jeweils entscheidende Vorbildfuktion bekommen: Huangdi, der "Gelbe Kaiser", für die Daoisten; "Yao und Shun" für die Konfuzianer; Yü, der Begründer der legendären Xia-Dynastie für die Mohisten u.a.
* Das frühe Altertum bzw. der Urzustand selbst wird idealisiert, es wird so etwas wie ein "Goldenes Zeitalter" oder auch ein Zustand tierähnlicher Wildheit vorgestellt.
* Es zeige sich aus der bisherigen Geschichte, dass immer dann eine "Dynastie" gestürzt und von einer neuen "Dynastie" abgelöst worden sei, wenn die Repräsentanten der ersteren Verbrechen gegen das allgemeine Wohl begangen haben. Nach einer bestimmten Reihe sei ein "Zyklus" vollendet und die Geschichte beginne somit gewissermaßen immer wieder von neuem.
* Ein Schöpfungsmythos, wie er in der christlichen Tradition die Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte lange Zeit bestimmt hat, fehlt.

Etwa so beschreiben Historiker der Han-Zeit, beginnend mit Sima Qian (Ssu-ma Ch'ien, ca. 145 v. bis 85 v.), die Vorgeschichte. Die Epoche vor der Han-Zeit sei zuerst von "vier Kaisern" (die aber ihr Amt nicht vererbt, sondern jeweils den Würdigsten zur Nachfolge bestimmt hätten) und dann von "drei Dynastien" bestimmt gewesen, auf die noch eine kurze Dynastie vor der jetzigen folgte. Diese vier von Sima Qian beschriebenen "Dynastien" sind:

Diesen "Dynastien" sind jeweils bestimmte Grundtugenden der Menschen zugeordnet, sodass nunmehr mit der Han-Zeit, nach dem Untergang der Zhou und dem Desaster der kurzlebigen Qin (Ch'in) ein neuer Zyklus begonnen habe. Sima Qian argumentiert für die "Richtigkeit" der Han-Dynastie, indem er die Reihenfolge der vorangegangenen Dynastien und deren "Prinzipien" mit deren jeweiliger Verfallsform feststellt: die (legendäre) Xia-Dynastie sei durch "guten Glauben" ("good faith") zur Macht gelangt, dessen Kehrseite die "Derbheit" ("rusticity") war. Die anschließende Shang-Dynastie habe diesen Verfallszustand durch ihr Prinzip der "Verehrung" ("piety") geheilt, welche zum "Aberglauben" ("superstition") entartete und von den Zhou mit deren Prinzip der "Verfeinerung" ("refinement") abgelöst worden sei. Dieses sei aber zur "hohlen Schau" ("hollow show") geworden und nunmehr hätte die Reihe von neuem beginnen müssen. Die Qin (Ch'in)-Dynastie (221-206 v.) habe dies jedoch verkannt und sei deshalb so schnell gestürzt worden. Mit dieser These von einem Dreischritt von "Staatsprinzipien", der sich zyklisch wiederhole, kritisiert Sima Qian die Selbstdarstellung der Qin-Zeit, die von einer Fünferreihe entsprechend der "Fünf Elemente" ausging und die eigene Etablierung als die Vollendung dieser Fünferreihe propagierte.

Diese Schilderung von Sima Qian ist im traditionellen Geschichtsdenken Chinas weitgehend klassisch geworden. Es ist auffallend, wie viele historische Daten aus Sima Qians Darstellung durch die moderne Archäologie überprüft werden konnten und sich als zutreffend herausgestellt haben - so wurde etwa die von ihm beschriebene Xia-Dynastie lange Zeit für legendär gehalten, scheint aber heute durch Grabungen gesichert. Jedenfalls sind die "Dynastien" der Shang und der Zhou archäologisch belegt. Auch die Periodisierung in "Dynastien" wurde in der späteren Gechichtsschreibung Chinas stets beibehalten. Das Shiji des Sima Qian ist zum paradigmatischen Vorbild der sogenannten "Standard-Geschichten" geworden, in denen jeweils eine neu etablierte "Dynastie" die Leistungen und Verfehlungen ihrer Vorgänger offiziös darstellen ließ.

Aufgrund der archäologischen Belege setzt die moderne Geschichtswissenschaft den Beginn einer städtisch organisierten Gesellschaft am Gelben Fluss mit dem Einsetzen der Shang-Herrschaft an, mithin weitaus später als die Stadtkulturen Ägyptens, des Zwischenstromlandes oder des Indusgebiets[15], jedoch viel früher als die entsprechenden Gesellschaften im Mittelmeerraum, in Amerika oder in Europa.[16] Um diese Zeit sind im Siedlungsgebiet am Huanghe jedenfalls Bronze, Pferd und Wagen, Schrift und Stadt bekannt. Die Form der Bronzen läßt keinen Einfluß von außen erkennen, es handelt sich vielmehr um etwas, was wir bis heute als "typisch chinesische" Formen und Muster kennen: Dreifüße und Ritualgefäße mit stilisierten Tieren und Pflanzen. Aus den Funden in Anyang sind Orakelinschriften ab dem 13. vorchristlichen Jahrhundert bekannt. Die Schriftzeichen dieser Zeit ähneln bereits in vielen Fällen heutigen chinesischen Zeichen.

Pferd und Wagen der Shang, zusammen mit Bronzewaffen, sichern eine militärische Überlegenheit besonders über die weiter südlich siedelnden Völker, die von jetzt ab in jeder politisch stabilen Epoche weiter nach Süden abgedrängt oder unterworfen werden. Aus der Shang-Zeit, die etwa 500 Jahre umfasst, sind insbesondere zwei Residenzen ausgegraben worden: Zhengzhou (Cheng-chou) und Anyang (An-yang). Es handelte sich um Palast-, Wohn- und Bestattungsanlagen für den Hof und eine zahlreiche Beamtenschaft, die von Steuereinnahmen lebte. Eine beginnende Geldwirtschaft mit Kaurimuscheln ist nachgewiesen, doch waren die meisten Abgaben noch lange in Naturalien zu entrichten. Der Herrschaftsbereich der Shang-Dynastie war starken Veränderungen unterworfen, wobei das Kerngebiet in der heutigen Provinz Henan (Honan, am Unterlauf des Huanghe) lag.

Daran schließt die sehr lange Zeit der Zhou-Dynastie (1027 bis 256) an. Sie zerfällt grob in zwei Perioden: vom Sieg über die Shang bis 771 v. üben die Zhou als "Dynastie" tatsächlich eine Lehenshoheit über einen weiten Bereich des heutigen China nördlich des Changjang aus. Die Hauptstadt dieser Epoche der "westlichen Zhou" ist Haojing (Hao, in der heutigen Provinz Shenxi). Ab 771 zerfällt die politische Macht der Dynastie immer mehr, die Residenz wird nach Luoyang (Loyang, in der Provinz Henan) verlegt und die bisherigen Lehensfürsten der Zhou kämpfen untereinander um die Territorien; die chinesische Geschichtsschreibung spricht von der "Frühlings- und Herbstperiode" (=Chunqiu-Zeit, 722 v. bis 481 v.). Dieser Name stammt von einem Annalenwerk, das oft fälschlich dem Konfuzius zugeschrieben wurde; es schildert Begebenheiten aus dem Staate Lu, der Heimat des Konfuzius im Süden der Halbinsel Shandong. An diese Epoche schließt die "Zeit der Streitenden Reiche" (=Zhanguo-Zeit, 456 bis 221 v.) an, sozial und politisch unruhige Zeit, in der die klassischen philosophischen Traditionen Chinas weiter ausgebildet wurden, die bis heute wirksam sind. Diese Epoche endet mit dem militärisch-politischen Sieg des Staates Qin über den letzten der konkurrierenden Teilstaaten des Zhou-Reiches.

Die politische Situation Chinas in der Periode der "Frühlings- und Herbstannalen" und der "Zeit der Streitenden Reiche" ist wichtig für das Verständnis der Themen und Anliegen der Philosophen: sie ist durch den Kampf um die Vorherrschaft gekennzeichnet, der zwischen den Teilstaaten des Zhou-Reiches ausgetragen wurde und lange Zeit unentschieden blieb. In vielen Erzählungen und historischen Anekdoten (u.a. bei Sima Qian) sind die Verräter wie die Heroen der wechselnden Allianzen dieser Zeit überliefert. Dabei sind einige kleinere Kernstaaten von den größeren, expansiven Randstaaten zu unterscheiden. Die Kernstaaten - wie beispielsweise Lu - verlieren immer mehr an politischer Bedeutung, sie bleiben jedoch Zentren von Kultur und Bildung. Ihre Herrscher verbünden sich einmal in einer sogenannten Nord-Süd-Allianz mit einem Großstaat im Süden, dann wieder in einer Ost-West-Allianz mit dem Großstaat Qin im Westen. Letzterer stellt schließlich aufgrund seiner überlegenen Militärtechnik und Verwaltung das Einheitsreich her, indem er ab dem 4. Jahrhundert alle anderen Staaten unterwirft. Zwar ist die Qin-Dynastie die kurzlebigste unter allen historischen "Dynastien" Chinas - von der Ausrufung des Kaisertums durch Qin Shihuangdi (=Ch'in-Shi-Huang ti) im Jahre 221 bis zum Ende der Dynastie unter seinem Nachfolger sind ganze 15 Jahre vergangen -, aber in dieser kurzen Zeit wurden Reformen durchgeführt, die weiter Bestand hatten und China entscheidend prägten: Vereinheitlichungen auf dem Gebiet der Staatsverwaltung, der Wirtschaft, des Geld- und Verkehrswesens, der Schrift, der Gesetzgebung usw. Die alte Feudalordnung war zerschlagen, ein Beamtenstaat an deren Stelle getreten. Daran änderte auch die neue Dynastie der Han wenig. Außerdem wurden unter Shihuangdi die bereits bestehenden einzelnen Grenzbefestigungen gegen die "nördlichen Barbaren" zur ersten "Großen Mauer" zusammengefasst, Vorläuferin jener Mauer aus dem 15. Jahrhundert, die heute noch steht.

Han-Zeit:

Literatur und Geschichtsschreibung

In der Han-Zeit bildete sich in China eine standardisierte Literatursprache heraus ("wen-yen"), welche die Kommunikation zwischen den Sprechern von sehr unterschiedlichen Dialekten im Reich ermöglichen sollte. Sie wurde in der Folge trotz der starken Veränderungen der gesprochenen Sprache beibehalten, sodass sie schließlich für die Masse der Nichtgebildeten beinahe unverständlich wurde.

Es entstanden in dieser Zeit auch die ersten Lexika und Enzyklopädien Chinas, eine Literaturform, die "als typisch für das traditionelle China bezeichnet werden muß". Das Shuowen jiezi (meist: Shuowen, Shuo-wen, "Erläuterung von Schriften und Erklärung von Zeichen") des Xu Shen (1.-2. Jh.) interpretiert 9353 gebräuchliche und darüber hinaus 1163 veraltete Schriftzeichen hinsichtlich ihrer Bedeutung. Es löste das Verzeichnis von Schriftzeichen ab, das Li Si, der Kanzler von Qin unter Shihuangdi, verfasst hatte. Im Shuowen wird zum erstenmal ein Ordnungsprinzip eingeführt, nämlich die Anordnung der Zeichen nach sogenannten (540) "Radikalen", das zwar später vereinfacht und (auf 214) gekürzt wurde, im Prinzip aber bis heute in Gebrauch ist. Das Werk stellt die Grundlage für alle späteren chinesischen Wörterbücher dar und ist eine wichtige Quelle für Paläographie, Sprachgeschichte und Philologie.

Im Jahr 125 v. wurde das Yuefu (Yüeh Fu), das "Amt für Musik" wieder aktiviert, das schon etwa hundert Jahre früher begründet worden und dessen Aufgabe es war, Liedertexte und Melodien zu sammeln. Neben Tempelgesängen und höfischen Kompositionen wurden auch volkstümliche Lieder und Balladen dokumentiert. Einige der Texte von Dichtern dieser Zeit sind bis in jüngste Vergangenheit Bildungsgut geblieben, so z.B. der Essay "Über die Fehler der Qin-Dynastie" des Chia I  (201-169 v.).

Neben der poetischen Literatur entwickelt sich auch die Prosa in der Han-Zeit weiter, wovon unter den philosophischen Texten insbesondere das Huai-nan Zi (ca. 140 v.) des Prinzen Liu An Zeugnis gibt. Unter den Prosatexten ragen besonders zwei Werke von Historikern hervor, die kurz vorzustellen sind.

Sima Qian: Shiji

Von Sima Qian, dem ersten großen Historiker der chinesischen Tradition, war schon im Zusammenhang mit dem Geschichtsbild einleitend die Rede. An dieser Stelle ist die Anlage seines Werkes vorzustellen, das als Meisterwerk der chinesischen Prosa der Han-Zeit gilt.

Die Grundstruktur der chinesischen Standardgeschichten zeigt sich zum ersten Mal in dem in der Folgezeit klassisch gewordenen Werk der Han-Zeit, das von Sima Qian (Szuma Chien, auch: Ssu-ma Ch'ien, ca. 145 v.-90 v.) fertiggestellt worden ist. Sima Qian war als Amtsnachfolger seines Vaters kaiserlicher Historiograph (es gibt keine wirklich damit vergleichbare Institution in der europäischen Geschichte) unter dem vierten Kaiser der Han-Dynastie, Wu-di (regiert 140 v.-86 v.).

Einfügung Jacqueline Nowikovsky:
Kaiser Wudi (auch Wu-ti, 141 bis 86 v. Chr.) erweiterte das Reichsgebiet Richtung Süden weit über den Jangtsekiang hinaus fast bis zur heutigen Landesgrenze und errichtete Kolonien in Annam. Die südliche Mandschurei und Nordkorea wurden unterworfen. Die Truppen drangen weit nach Zentralasien bis zum Fluss Jaxartes (Syrdarja in Kasachstan) vor. China erfuhr in dieser Zeit seine bis dahin weiteste Ausdehnung. Aus den Kriegen gegen die Xiongnu ging Wudi als Sieger hervor.
Das frühe Han-Reich zerfiel im 1. Jahrhundert v. Chr. Einflussreiche und wohlhabende Familien aus den Provinzen sicherten sich Steuerfreiheit, wodurch die Einnahmen des Staates beträchtlich geschmälert wurden. Die Hauptsteuerlast wurde immer mehr auf die Schultern der zunehmend unwilligen Bauern und Arbeiter verlagert. Schließlich riss Wang Mang (gestorben 23 n. Chr.) den Kaiserthron an sich und leitete so die Dynastie der "Erneuerung" (9-23 n. Chr.) ein. Wang verstaatlichte steuerfreie Besitztümer und teilte sie unter den Bauern auf. Er weitete die staatlichen Monopole aus und schaffte die Sklaverei ab. Nach Überschwemmungen und einer landwirtschaftlichen Krise, die zur Verschuldung der Bauern führte, fand seine Herrschaft ein jähes Ende. Verarmte und heimatlose Bauern und Landarbeiter beteiligten sich gemeinsam an einem Aufstand ("Rote Augenbrauen"), stürmten die Stadt Chang’an und töteten Wang Mang.

Sima Qians Bericht über die Geschichte Chinas von den Anfängen bis in seine Gegenwart entwickelt in prägender Weise die Kategorien, Begriffe und Methoden, die auch später noch, und in einzelnen historischen Unternehmungen bis in unsere Zeit, die chinesische Historiographie bestimmt haben. Der Einheitsgesichtspunkt, der dem Ganzen zugrundeliegt, ist ein universalistischer und integrativer Begriff unter dem Namen einer Dynastie. Die Einheit der Dynastie, ihre jeweilige Charakteristik, ihre Vorzüge und ihre Mängel bestimmen sowohl die Auswahl der Ereignisse, Personen, Institutionen, als auch den Aufbau der Darstellung und die Bewertung der einzelnen Faktoren im historischen Werk. Ich will daher zunächst auf diesen Begriff der Dynastie und die mit ihm verbundene Geschichtsauffassung kurz eingehen, um dann die eher formalen Strukturelemente zu skizzieren, wie sie vor allem den Standardgeschichten zugrundeliegen.

Das Auffallendste an den traditionellen chinesischen Geschichtswerken scheint darin zu liegen, daß sie von der (gelegentlich fiktiven) Idee ausgehen, daß immer wieder eine einzige Dynastie über China herrsche, welche das geistig-kulturelle ebenso wie das wirtschaftlich-politische Leben gänzlich bestimme. Die von Konfuzius (in den sogenannten Frühlings- und Herbstannalen) idealisierte Dynastie der Zhou liefert eines der ersten Muster dafür. Gerade hierbei fällt auf, daß dieser Dynastie eine übermäßig lange Verfallszeit attestiert wird, da sie nach ca. 800 v. faktisch keine Macht mehr ausübt (und von den meisten tatsächlichen Machthabern und deren Ideologen wohl auch nicht mehr als die herrschende Dynastie betrachtet wurde, - Konfuzius denkt hier anders, also restaurativ, wo er nur Faktisches in den Annalen zu konstatieren vorgibt. Trotz der in Wirklichkeit großen Veränderungen und Machtverschiebungen wird die ganze Epoche bis zu jener kurzen Phase des Qin-Reiches, als der Erste Kaiser von China, als eine Einheit, eben als die Zeit der Zhou-Dynastie, betrachtet. Schon bei Sima Qian findet sich hierfür eine entsprechende kosmologisch-metaphysische Hintergrundtheorie, die eine solche Geschichtsauffassung stützen soll.

Sima Qian nimmt an, daß jede der großen Dynastien eine Teilform oder besondere Anwendung des Tao als ihr jeweiliges Staatsprinzip durchsetzt. Jedoch muß, eben weil es sich jeweils um bloß verabsolutierte Teile, nie um das Ganze des Tao handelt - und handeln kann - jeder dieser Staaten, jede dieser Dynastien wieder zerfallen: das Gegenprinzip des jeweiligen Teilprinzips wird sich durchsetzen. Eine Dynastie stellt also ein zeitweiliges Übergewicht einer bestimmten Ordnungsvorstellung her - und dauerhaft sind jene Dynastien, deren Staatsprinzip die richtige Heilung für die von der vorausgegangenen Dynastie verursachten Mißstände bringt.

Es gibt aber nur eine kleine Zahl von solchen Teil-Taos oder Staatsprinzipien, sodaß der Gesamtprozeß durch sich wiederholende Zyklen gekennzeichnet ist. Dies leuchtet ein, wenn man voraussetzt, daß Staatsprinzipien, deren Kairós nicht gegeben ist, oder die überhaupt nicht dem Tao entsprechen, ohnedies sehr schnell wieder samt ihren Verfechtern (da diese nicht das Mandat des Himmels haben) verschwinden - was bei der Interpretation der Geschichte durchaus zur Rechtfertigung des langdauernd Erfolgreichen verwendet wird, bei der Interpretation der Gegenwart aber sowohl revolutionären wie auch reaktionären Ideologen dienen kann.

Sima Qian führt in seiner Darstellung des Gründers derjenigen Dynastie, unter der er lebt, gewichtige Gründe dafür an, warum in der Revolte, in der diese Dynastie sich schließlich etablieren konnte, das rechte Prinzip getroffen worden und eine dauerhafte Regierung zu erwarten sei. Zu diesem Zweck greift er auf die alten, nur teilweise noch historisch nachweisbaren Dynastien zurück, soweit sie ebenfalls in der rechten Reihenfolge das jeweils anstehende Teilprinzip des Tao mit ihrem Staatswesen verwirklicht hätten. Zuerst wird die legendäre Xia (Hsia)-Dynastie genannt: sie war durch guten Glauben gekennzeichnet, ihr Verfall lag in dessen Kehrseite, der Derbheit. Die anschließende Shang-Dynastie (ca. 1600-1100 v.) heilte diesen Verfallszustand durch ihr Prinzip der Verehrung, welches aber im Verlauf der Zeit zu abergläubischem Götzendienst entartet sei. Es folgen die Chou, als deren Staatstugend er Verfeinerung und Ordnung angibt; die Verfallsform dazu wiederum war hohle Schaustellung. Jetzt wäre es geboten gewesen, zum guten Glauben zurückzukehren, aber die Qin-Dynastie, die auf die Zhou folgte, schlug nicht diesen Weg ein, sondern führte, von den legalistischen Philosophen schlecht beraten, zur Erhaltung von Recht und Staat "harte Strafen und Gesetze" ein - was in Sima Qians Augen erklärt, daß diese Dynastie schon bald nach dem Tod ihres Begründers Qin Shih Huangdi (im Jahre 206 v.) scheitern mußte.

Erst die Han-Dynastie, also der Ahn des Kaisers Wu-di, habe wieder den alten Völkerglauben etabliert, sie wurde damit zu den "Xia" von Sima Qians Gegenwart, sie habe den Zyklus in rechter Weise von neuem begonnen.

Das Werk Sima Qians, als Modell noch lange Zeit vorbildlich, soll dazu als Anhaltspunkt dienen. Es ist in 130 Kapitel gegliedert, die die gesamte bisherige Geschichte der Chinesen und der dem Autor bekannten Nicht-Chinesen zum Gegenstand haben und sich wiederum in 5 Sektionen unterteilen lassen:
a) Annalen: 12 Kapitel über die frühesten Dynastien und das Leben einzelner Kaiser der regierenden (Han-)Dynastie
b) Chronologische Tafeln: 10 Kapitel in graphischer Form, die wichtigsten Ereignisse mit ihren Daten betreffend.
c) Abhandlungen: 8 Kapitel über Riten, Musik, Astronomie, Religion und Wirtschaft
d) Adelsfamilien: 30 Kapitel über die Geschichte der verschiedenen Feudalstaaten vor der Reichseinigung durch die Ch'in-Dynastie
e) Biographien: 70 Kapitel über einzelne berühmte Chinesen und Nicht-Chinesen.

Innerhalb jeder Sektion ist die Anordnung des Materials chronologischvorgenommen.

Ban Gu und Ban Zhao: Hanshu

Wie Sima Qian war auch Ban Gu (32-92), der Bruder des berühmten Feldherrn Ban Chao (durch dessen militärische Erfolge im Westen das Reich der Östlichen Han-Dynastie zeitweilig seine größte Ausdehnung erlangte) kaiserlicher Historiograph. Er führte das von seinem Vater begonnene Hanshu, die Geschichte der Westlichen Han-Zeit fort und verfasste auch andere literarische Arbeiten. Das Hanshu wurde von Ban Zhao (s.u.) zu Ende geführt.

Ban Gu übertrug die Fertigstellung des Hanshu seiner Schwester Ban Zhao (=Pan Chao, 45-115), als er sich einem Feldzug gegen die Xiongnu anschloss. Dieser Feldzug war zwar siegreich (Ban Gu verfasste eine Felsinschrift darüber), führte aber zur Entmachtung des Feldherrn und in deren Folge auch zur Einkerkerung Ban Gus. Er starb im Kerker. Ban Zhao stellte das Hanshu fertig und wurde offiziell damit beauftragt, andere Gelehrte über dessen Inhalt zu unterrichten. Ban Zhao war Hofdame der Kaiserin und verfasste außerdem Gedichte und das Werk Nü-Jie (Nu chien, "Gebote für Frauen"), einen im Geist des Konfuzianismus geschriebenen Moralkodex für Frauen. Darin entwirft Ban Zhao eine Lehre weiblicher, aus dem "Yin" hergeleiteter Tugenden, wobei insbesondere Sanftheit, Demut, Bescheidenheit und Gehorsam gefordert werden. Andererseits besteht Ban Zhao aber auf dem Recht auf Bildung für Frauen, was sie als notwendige Voraussetzung für deren moralische Kultivierung ansieht.

In der Anlage des Werks und der Art der Darstellung folgt das Hanshu dem Vorbild des Sima Qian, allerdings beschränkt er sich auf die Geschichte einer einzigen Dynastie und begründet somit, was die Abgrenzung des Gegenstandes betrifft, die Gattung der Dynastie-Geschichten, die später immer wieder nach der Etablierung einer neuen Dynastie über die vorangegangene verfasst worden sind.

Obwohl das Hanshu nur einen Zeitraum von 200 Jahren behandelt, im Vergleich zum Shiji also eine kurze Periode, ist es im Umfang weit größer als dieses. Wie Sima Qians Werk beschreibt auch das Hanshu im ersten, annalistischen Teil, Ereignisse der Politikgeschichte, wobei er sich auf offizielle Akten stützt, in denen Entscheidungen von Herrschern, deren Verwandten, Beratern und Beamten dokumentiert sind. Es übernimmt auch für weitere Teile den Aufbau des Shiji: der zweite Teil bringt Tabellen von Ereignissen, Genealogien und Personenlisten; der dritte Teil behandelt einen weiten Bereich von Themen (wie: Hofzeremoniell, Musik, Geld- und Steuerwesen und Navigation); im vierten Teil werden bedeutende Persönlichkeiten, die nicht Kaiser waren, biographisch vorgestellt. Neue Themen im Hanshu sind Naturphänomene, Geographie und Bibliographie. So enthält dieses Werk eine Liste der Bücher, die in der kaiserlichen Bibliothek aufbewahrt werden (von denen viele in der Folgezeit verlorengehen, sodass diese Liste von großer Bedeutung für die spätere Forschung geworden ist). Die von Sima Qian behandelte Abteilung (über die "erblichen Herrschaften" oder "Adelsfamilien") fehlt im Hanshu, da in der Han-Zeit die erbliche Adelsherrschaft abgeschafft worden war.