Franz Martin Wimmer, Wien
 
 

Vorlesung "Interkulturelle Philosophie" WS 2001/02

Philosophie in arabischer Sprache, ein Überblick

1. Vorlesung

Vorüberlegung

Die Entwicklung philosophischer Reflexion in arabischer Sprache ist von einer Religion, vom Islam, von dessen politischer und kultureller Geschichte, wie von dessen Inhalten geprägt. Es ist darum eine allgemeine und eine besondere Vorüberlegung angebracht, bevor wir uns mit den Themen und Richtungen dieser philosophischen Entwicklung befassen.
 

a) Philosophie und kanonisierte Religion

Die allgemeine Frage ist, welchen Unterschied es macht, wenn überhaupt, ob philosophische Reflexion auf dem Hintergrund religiöser Orientierungen entsteht, zumindest insofern, als die Teilnehmer an philosophischen Auseinandersetzungen vorwiegend einer Elite entstammen, die in den Glaubensüberzeugungen ihrer Tradition geschult ist oder ob Philosophie auf dem Hintergrund anderer Orientierungen (z.B. einer nicht religiös orientierten Weltanschauung, aus den Grundlagenfragen von Naturwissenschaften oder ähnlichem) entsteht.

Diese Frage stellt sich anlässlich der Entstehung des philosophischen Denkens im Buddhismus, Hinduismus und Jainismus genauso, wie sie für die Philosophie im vor-neuzeitlichen Christentum, im mittelalterlichen Judentum oder auch in den islamisch orientierten Diskursen zu stellen ist. In allen genannten Fällen ist ähnlich, dass ein jeweils charakteristischer Kern von Überzeugungen, Geboten und Ritualen etabliert und in autoritativen Texten formuliert ist, die außerhalb der möglichen Debatte stehen, im jeweiligen Kanon - für das Judentum die Bibel, für das Christentum das Neue Testament und die Bibel, für den Islam der Koran und die anerkannte Überlieferung (hadith, sunna), für den Buddhismus zumindest die Lehrreden des Buddha, für den Hinduismus die Veden und für den Jainismus die Lehre des Mahavira mit den Ergebnissen früher Konzilien.

Anmerkung:
Es gilt ebenfalls für jeden der genannten Fälle, dass im Zeitraum bis zum Abschluss des jeweiligen Kanons Diskurse stattfinden, die zu Aufspaltungen führen, und dass einzelne Teile eines Kanons innerhalb einer religiösen Tradition für lange Zeit oder auch für immer umstritten bleiben. Aus der Geschichte des christlichen Kanons gibt es dafür bekannte Beispiele in den sogenannten "apokryphen Evangelien" (die nicht Teil des von der Mehrheit der christlichen Theologen anerkannten Kanons geworden sind, dennoch in bestimmten, so genannten "häretischen" Richtungen anerkannt und wichtig waren); ebenso gibt es andere Texte, die Teil des Kanons wurden, aber lange umstritten blieben oder bei religiösen Neuorientierungen (im Christentum etwa: die Reformation) wieder ausschieden (Beispiele sind die "Geheime Offenbarung des Johannes", die sehr lange umstritten war, sowie Teile des Alten Testaments, die von Reformatoren nicht weiter als Teil der "Offenbarung" anerkannt wurden).
Ganz und gar nicht ähnlich ist in den genannten Fällen, wie genau und wie generell die Akzeptanz eines derartigen Kanons durchzusetzen ist. Es kann sein, wie im Hinduismus, Buddhismus und im Judentum, dass viele Jahrhunderte lang Texte entstehen, die als geoffenbart anerkannt werden.

Für die Geschichte des Christentums und des Islam insgesamt ist dies nicht charakteristisch, denn in diesen beiden Fällen waren verhältnismäßig früh zentralisierte Institutionen mit hinreichender Macht vorhanden, um einen bestimmten Kanon als "orthodox" oder rechtgläubig zu etablieren und alternative Entwicklungen als "häretisch" oder irrgläubig zu separieren.

Wie jede Religion hat der Islam einen Kern von Glaubensauffassungen, der als unveränderbare Tradition oder als Offenbarung betrachtet und kanonisiert wird. Dieser Prozess der Kanonisierung fand im Islam vergleichsweise rasch seinen Abschluss: die Generation nach Mohammed schließt bereits den Text des Koran ab (ca. 632-656), und die Kanon-Diskussion wird mit der Redaktion der zweiten Quelle autoritativer Tradition, hadith und sunna, bestehend in den Erinnerungen von Gefährten des Propheten, in den ersten Jahrzehnten des darauf folgenden Jahrhunderts abgeschlossen.
 

b) Philosophie und Islam

Die besondere, die Philosophie in arabischer Sprache betreffende Frage betrifft Glaubensinhalte des Islam, die für philosophische Reflexionen und Debatten den Ausgangspunkt geliefert haben. Diese unterscheiden sich, beispielsweise von den entsprechenden buddhistischen Glaubensinhalten, was die Herausbildung von bestimmten Terminologien ebenso betrifft wie die Schwerpunktsetzung der Reflexionen. In diesem Sinn gibt es eine "islamische Philosophie" wie es eine "buddhistische", eine "christliche", "jüdische" usw. gibt.

Der entscheidende, die philosophische Reflexion in islamischer Tradition durchgehend herausfordernde Glaubenssatz ist die Behauptung eines strikten Monotheismus. Diese führt nicht nur zu argumentativen Auseinandersetzungen mit anderen Religionen (den "Menschen des Buches", nämlich "Juden, Christen und Sabäern", wie sie im Koran wiederholt aufgezählt werden), wobei allerdings deren Auffassungen als eine Vorstufe der eigenen Religion, einer durch die Offenbarungen an den letzten Propheten, Mohammed überholten, angesehen wird - insbesondere ist der christliche Glaube an "einen Gott in drei Personen" (Trinitätslehre) in islamischer Sicht stets im Verdacht des Polytheismus geblieben. Es führt ebenso zu Auseinandersetzungen mit anderen Religionen, z.B. mit dualistischen Auffassungen im Iran, mit denen islamische Intellektuelle aufgrund der raschen militärischen Expansion unter den ersten Kalifen früh bekannt werden.

Mit dem strikt monotheistischen Gottesbegriff verbunden sind Fragen wie diejenige nach anthropomorphen Vorstellungen, allgemeiner nach der Stellung und Berechtigung von sprachlichen Bildern oder Allegorien und im allgemeinsten Sinn nach dem Verhältnis von Attributen und deren Verhältnis zu einer als absolut, einzig und ewig gedachten Substanz. Solche Fragen treten bereits vor der expliziten Rezeption entsprechender griechischer Reflexionen auf, sind aber auch für diese leitend.

Ein anderes, vom Islam als Religion her naheliegendes Thema philosophischer Reflexion ist die Frage nach der Schöpfung, bzw. nach dem Verhältnis Gottes zur Welt. Ob die Welt einen Anfang in der Zeit hat, der mit Mitteln der Vernunft bewiesen werden könne, ist somit eine wesentliche Frage. Aus anderen Glaubensvorstellungen (Vergeltung für gute oder böse Taten im Jenseits) entsteht die Frage nach der Freiheit des Willens und nach der Unsterblichkeit oder Vergänglichkeit des Individuums (bzw. der "Seele").

Schließlich ist auch die Reflexion auf Grenzen des Wissens beziehungsweise auf die Vereinbarkeit von religiösem, auf Autorität fußendem Glauben und natürlichem, auf Wahrnehmung und Vernunfttätigkeit beruhendem Wissen durch theologische Annahmen nahegelegt, was zu einer starken Beschäftigung mit der Logik und "Dialektik" (womit Argumentationstheorie bezeichnet wurde) führt. Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie wird dabei stark entwickelt.

Hingegen scheint es, dass ethische oder ästhetische Fragestellungen auf dem religiösen Hintergrund des Islam nicht vorrangig Interesse in philosophischen Diskursen fanden, obwohl - oder vielleicht: weil - die frühe Etablierung von vier klassischen Rechtsschulen der Scharia wie auch das Bilderverbot nahelegen würden, etwas dieser Art zu erwarten. Von den stark auf Logik und Metaphysik konzentrierten Fragestellungen der ersten Generationen islamisch-arabischer Philosophie verlagert sich in einer späteren Phase das Interesse auf historische, sprachtheoretische und kulturtheoretische Probleme, wobei bedeutende und in Einzelfällen im weltgeschichtlichen Maßstab Pionierleistungen erbracht werden.

Wissenschafts- und Philosophietraditionen, für die religiöse Glaubensannahmen theoretisch überhaupt nicht von Belang sind, wie dies bei einigen Richtungen der europäisch-neuzeitlichen Philosophie nach deren Selbstverständnis zutrifft, haben sich auf dem Hintergrund des Islam nicht in vergleichbarer Weise entwickelt oder durchgesetzt.
 
 

Der folgende kurze Überblick gliedert sich in drei Abschnitte:

1) Kalifat von Baghdad

Östliche Falsafa
Sufismus

2) Kalifat von Córdoba

Westliche Falsafa
Jüdische Philosophie

3) Spätere Entwicklungen

Theologie und Gesellschaftswissenschaften

 

Literaturempfehlungen:

Literatur zur Philosophie:

Ben Abdeljelil, Jameleddine: Die rationale Tendenz bei Averroes (Ibn Ruschd) und Maimonides (Ibn Maimun). Wien: Diplomarbeit. 1998. (129 Seiten)

Collins, Randall: The Sociology of Philosophers. A Global Theory of Intellectual Change. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ. Pr. 2000.

Nasr, Seyyed Hossein und Oliver Leaman (Hg.): History of Islamic Philosophy. London: Routledge 1996 (Routledge History of World Philosophies, Bd.: 1-2)

Schirilla, Nausikaa: Aktuelles zur arabisch-islamischen Philosophie. In: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. 1999. Jg. 2, Nr. 3, S. 89-91.

--: Women and Reason in Arab-Islamic and European Philosophy. In: Wimmer, Franz Martin (Hg.) TOPOI, Kluwer Academic Publishers, Dordrecht. 1998. Jg. 17, Nr. 1, S. 57-62.

Schmidtke, Sabine: Theologie, Philosophie und Mystik im zwölferschiitischen Islam des 9./15. Jahrhunderts. Die Gedankenwelten des Ibn Abi Jumhur al-Ahsa'i (um 838/1434-35 - nach 906/1501). Leiden - Boston - Köln: Brill. 2000.

Senghaas, Dieter: Zivilisierung wider Willen. Der Konflikt der Kulturen mit sich selbst. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 1998.

Strohmaier, Gerhard: Avicenna. München: Beck. 1999.

Turki, Mohammed: Glauben und Wissen in der arabisch-islamischen Philosophie. Ibn Ruschd (Averroes) und der erste Versuch der Aufklärung im Islam. In: Sandkühler, Hans Jörg; Mall, Ram Adhar (Hg.): DIALEKTIK, Hamburg. 1996. Nr. 1, S. 29-42.

Volpi, Franco (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie. Stuttgart: Kröner 1999. Einzelne Artikel (zu al-Kindi usw.)
 
 

Literatur zu Sprache und Schrift: Abed, Shukri B.: Aristotelian Logic and the Arabic Language in Alfarabi. New York: SUNY. 1991.

Afnan, S.: Philosophical Terminology in Arabic and Persian. Leiden: Brill. 1964.

Mandel Khan, Gabriel: Arabic Script. Styles, Variants, and Calligraphic Adaptations. New York: Abbeville Press Publ. 2001.

Literatur zur Geschichte: Barthel, Günther und Kristina Stock: (Hg.): Lexikon Arabische Welt. Wiesbaden: Reichert 1994

Brice, William C.: An Historical Atlas of Islam. Leiden: Brill. 1981.

Brocklemann, Carl: History of the Islamic Peoples. London: Routledge. 1980.

Cahen, Claude; Grunebaum, G. E. von: Der Islam I und II Frankfurt/M.: Fischer. 1969 und 1971

Duri, Abdalaziz: Arabische Wirtschaftsgeschichte. Zürich: Artemis. 1979.

--: The Rise of Historical Writing Among the Arabs. Princeton: Princeton Univ. Pr. 1984

Eisenstein, Herbert: Arabische Geschichte I-II. (2000) (Skriptum Institut für Orientalistik der Universität Wien)

Ende, Werner und Udo Steinbach: (Hg.): Der Islam in der Gegenwart. , 4. Auflage München: Beck 1996

Endreß, Gerhard: Der Islam. Eine Einführung in seine Geschichte. , 3. Auflage München: Beck 1997

Feldbauer, Peter: Die islamische Welt 600 - 1250. Ein Frühfall von Unterentwicklung? Wien: Promedia. 1996.

Haarmann, Ulrich: (Hg.): Geschichte der arabischen Welt. München: Beck 1994

Kettermann, Günter: Atlas zur Geschichte des Islam. Khoury, Adel Theodor (Einleitung): Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001

Kreiser, Klaus und Rotraud Wielandt: (Hg.): Lexikon der Islamischen Welt. Stuttgart: Kohlhammer 1992

Lewis, Bernhard: (Hg.): Der Islam von den Anfängen bis zur Eroberung von Konstantinopel. I-II. Zürich: Artemis 1981

Lombard, Maurice: Blütezeit des Islam. Eine Wirtschafts- und Kulturgeschichte 8.-11. Jahrhundert. Frankfurt/M.: Fischer. 1992.

Maalouf, Amin: Der Heilige Krieg der Barbaren: die Kreuzzüge aus der Sicht der Araber. , 2. Auflage München: Diederichs 1997

Noth, Albrecht und Jürgen Paul: (Hg.): Der islamische Orient - Grundzüge seiner Geschichte. Würzburg: Ergon 1998

Schulze, Reinhard: Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert. München: Beck. 1994.

Singer, Hans-Rudolf: Hochschulentwicklung im Islamischen Raum. In: Die Universität in der Welt - die Welt in der Universität. Erlangen. 1994. S. 63-72.

Southern, Richard William: Das Islambild des Mittelalters. Stuttgart: Kohlhammer. 1981.


Kalifat von Baghdad

Die Verlegung der Hauptstadt von Damaskus nach Baghdad aufgrund der Expansion nach Osten, insbesondere in den Iran, stellt auch ideengeschichtlich ein bedeutsames Datum dar. Ab ca 750 herrscht die Dynastie der Abbasiden (Harun al Rashid, Al-Mamun), wobei zumindest für eine gewisse Zeit die Fiktion einer politischen Einheit der umma, der Gesamtheit der Muslime fast aufrechterhalten werden kann. Zusammen mit Basra (an der Mündung von Euphrat und Tigris) stellt Baghdad (heute Hauptstadt des Irak) das Zentrum des intellektuellen Lebens in der frühen Abbasidenzeit dar.

Anmerkung:
Die Abbasidendynastie geht erst mit der Einnahme Baghdads durch ein mongolisches Heer im 13. Jahrhundert zugrunde. Damals besteht jedoch die politische Einheit der "umma" schon längst nicht mehr, nachdem in al-Andalus (dem muslimischen Teil der Pyrenäenhalbinsel) sich ein zweites Kalifat etabliert und in Nordafrika (einschließlich Ÿgypten)
Ein starker Bevölkerungsanteil andersreligiöser Menschen, aber auch von Konvertiten zum Islam, die andere, v.a. dualistische Weltanschauung (Manichäismus) einbringen, stellt einen wichtigen Faktor für die Herausbildung philosophischer Diskurse dar. Dadurch bedingt sind Anstrengungen der Mutaziliten, scheinbare Widersprüche und Unklarheiten (Allegorien) im Koran aufzulösen bzw. zu klären durch bloße Anwendung von Logik und Argumentation ("Dialektik"). "Für sie gab es nichts Dunkles, Ambivalentes, Allegorisches mehr. Keine Frage, der sie nicht durch logische Deduktionen aus abstrakten Begriffen verdächtig klare, einfache Antworten gegeben hätten." (Hofmann, M.W.: Zur Rolle der islamischen Philosophie. Köln 1984, S. 17, zit. nach Bibars 1999)
 

Kalam - Mutaziliten

Solche theologisch-dialektischen Argumentationen wurden als Kalam bezeichnet, was ursprünglich "Rede" oder "Wort", auch "Rede Gottes" bezeichnet. Eine ähnliche Vorstellung begegnete bei den Griechen, deren Logos ebenfalls ursprünglich "Wort" bezeichnet, was aber in den Reflexionen der klassischen athenischen Philosophie die Bedeutung von "Vernunft" annimmt. Kalam-Studien setzten somit voraus, dass die "Rede Gottes" (im Koran) mit der inneren "Rede" der menschlichen Vernunft übereinstimmen müsse.

Anmerkung:
"Anders als in der christlichen Philosophie gibt es hier den Zwiespalt zwischen Glauben und Vernunft in der Theorie also nicht" schreibt Cahen 1969, S 86. Dennoch stellt in der (islamischen wie der jüdischen und christlichen) Scholastik ist die mögliche Nicht-Übereinstimmung zwischen dem, was religiös geglaubt und dem, was verstandesgemäß gewusst wird, ein allgemeines Problem dar, dessen Ÿrgernis mit Sätzen des frühchristlichen Theologen Tertullian (ca. 160-240) gekennzeichnet werden kann: "prorsus credibile est, quia ineptum est" oder sogar: "certum est quia impossibile est" (in: de carne Christi). Tertullian ist übrigens auch der erste christliche Theologe, der in der Debatte um den Gottesbegriff das Wort "persona" erstmals als technischen Terminus gebraucht hat, um drei "Personen" in einer (göttlichen) "Substanz" zu unterscheiden.
Die Frage tritt auf, ob das "Wort Gottes" geschaffen (in der Zeit) oder ungeschaffen, von Ewigkeit im Wesen Gottes enthalten sei. Die Mutaziliten vertreten die Geschaffenheit mit dem Argument, dass ein strenger Begriff der Einzigkeit Gottes ausschließe, dass Gott Attribute zugesprochen werden könnten: nur Essenz, keine Prädikate oder Attribute. Somit sind über Gott nur negative Aussagen ("negative Theologie") möglich (dass ihm etwas nicht zukommt).

Anlass für diese theologischen Reflexionen waren Auseinandersetzungen mit Manichäern (Dualismus) und Christen (Trinitätsvorstellungen), wobei die Mutazila aber auch alle im Koran erwähnten "Eigenschaften Gottes" (die "99 Namen") wegdisputieren musste in der Befürchtung, anders in einen Polytheismus zu geraten.

Die Mutazila greift auch die Frage nach der Freiheit des Willens auf: Gibt es im Handeln und im Glauben des Menschen Freiheit oder Vorbestimmung? Prädestination wird entschieden abgelehnt.

Unter dem Kalifen Al-Mamun (813-33) gelangen Mutaziliten zu beherrschendem politischem Einfluss. Insbesondere wird der Glaubenssatz von der Geschaffenheit des Koran proklamiert und eine Polizei eingesetzt, die "alle Richter und Notare sowie die herausragenden Führer des Sunnitentums" diesbezüglich überprüfte und schriftliche Stellungnahmen mit dem Bekenntnis zur Geschaffenheit des Koran von ihnen verlangte. "Diejenigen, die sich widersetzten, wurden strengen Verhören, oft der Folter unterzogen. Manche starben." (Haarmann 1994, S. 127)

Anmerkung:
Das Thema der Ungeschaffenheit oder Ewigkeit "des Wortes" taucht in sehr unterschiedlichen Traditionen, unter anderem auch im hinduistischen Mimamsa auf.
In der Mutazila entwickelt sich auch eine atomistische Theorie. Wasil ibn Ata (Basra, 699-748) hat bezüglich der Entstehung der Welt beispielsweise mit folgenden Sätzen einen partiellen Atomismus vertreten:
1) Gott schafft Körper, die aus Atomen zusammengesetzt sind.
2) Körper sind von sich aus bewegungslos.
3) Gott legt Kräfte solcherart in die Dinge, dass Akzidentien, Qualitäten und Handlungen entsprechend den Gesetzen der Kausalität stattfinden.
4) Einige der Akzidentien bestehen länger als nur einen Augenblick.
5) Dasselbe trifft auf Körper zu. (Vgl.: John Plott: Global History of Philosophy, Bd. 3. Delhi 1980, S. 380) Anmerkung:
Theorien, wonach die Welt aus Atomen, also kleinsten unteilbaren Partikeln aufgebaut sei, waren in der griechischen und römischen Philosophie (insbesondere von Leukipp und Demokrit, Epikur und Lukrez), aber auch in den indischen Schulen des Vaisesika und dem Jainismus entwickelt worden. Ob und wie weit Einflüsse auf mutazilitische Diskurse anzunehmen sind, ist ungeklärt. Atomistische Vorstellungen über den Aufbau der Welt werden in der okzidentalen Denkgeschichte erst in der frühen Neuzeit durch die Rezeption insbesondere der Schriften Epikurs vertreten (vgl. Pierre Gassendi, 17. Jahrhundert).
Nach Collins ist nicht anzunehmen, dass der Atomismus in der Mutazila auf griechischen Einfluss zurückzuführen ist, denn alle damals rezipierten griechischen Autoren vertraten ihn nicht nur nicht, sondern lehnten atomistische Vorstellungen ab.
Auch war ein Atomismus ihrer zentralen Lehre von der Freiheit des menschlichen Willens nicht gerade förderlich, setzt seine Annahme doch voraus, dass Gott ständig in die Welt, die nur aus vergänglichen Atomen besteht, eingreift.
Collins führt darum die Entstehung der Atomlehre unter Mutaziliten auf die Problematik der Unterscheidung von Substanz und Attribut oder Akzidens zurück, wobei einzelne die Nicht-Möglichkeit der Unterscheidung bei endlichen Substanzen behaupteten und Existenz dann nur den realen Attributen zuschrieben. (Vgl. Collins 2000, S. 398f.)
Mutazilitisches Gedankengut ist bis heute einflussreich in der Theologie der imamitischen Zwölfer-Schia (vorherrschend im Iran).
 

Kalam - Aschariten

In Reaktion auf mutazilitisches Gedankengut, gleichzeitig in Weiterführung von deren Argumentationsmethoden tritt
 

Abu-l-Hasan al Aschari (874-935)

auf. al Aschari und die nach ihm benannte Schule der Aschariten (oder: Aschariya) spricht logischem Denken, das auf der Grundlage sinnlicher Wahrnehmung aufbaut, jede Möglichkeit einer Erkenntnis in Fragen der Metaphysik ab. So seien nicht nur Eigenschaften Gottes unerkennbar mit den Mitteln der Sinne und der Logik, sondern auch dessen Existenz. In der Offenbarung hingegen - im Koran - sei Gewissheit gegeben. Darum verbietet die Aschariya jede Rationalisierung und "wissenschaftliche" oder philosophische Erläuterung der allegorischen Elemente des Korans. Es handelt sich somit um eine religiös motivierte Skepsis, die ihre Orientierung in einem wortwörtlichen Verständnis des Koran findet und die Philosophie höchstens als Magd der Religion gelten lässt.

In der Theorie von den Attributen oder Eigenschaften Gottes hat die Aschariya eine eigene Position. Worum es bei dieser Frage eigentlich geht, kann man sich verdeutlichen, wenn man sich die Vorstellung von einer Substanz macht, die ewig und ungeschaffen, in allem vollkommen und als aus sich selbst notwendigerweise existierend ist. Eine "Eigenschaft" (wie z.B. Schönheit oder Weisheit) zu haben oder nicht zu haben ist hingegen ein Sachverhalt, von dem Unendlichkeit oder Ewigkeit ebenso wenig zu denken ist wie notwendige Existenz (wenn etwas "schön" ist, wäre es auch denkbar, dass dasselbe "nicht-schön" ist).

al Aschari lehnt die rigorose These der Mutaziliten in dieser Frage (s.o.) ab und stimmt der traditionellen Auffassung zu, wonach Gott positive Attribute zugeschrieben werden können (Macht, Wissen, Leben usw.), wie sie im Koran bechrieben sind. Sie sind nicht mit dem Wesen Gottes identisch, aber sie sind unendlich-ewig und haben ihre Subsistenz in diesem Wesen. (Vgl. Collins 2000, S. 412)

Anmerkung:
Ÿhnliche Argumentationen im Christentum finden sich z.B. bei Duns Scotus 400 Jahre später und sind bis heute im neuscholastischen Denken aufzufinden. So schreibt beispielsweise der deutsche Jesuitentheologe Lotz um die Mitte des 20. Jahrhunderts: es "umfaßt Gottes physisches Wesen zusammen mit dem subsistierenden Sein alle seine Vollkommenheiten, die mit jenem als ihrer innersten Wurzel gegeben sind. Insofern diese Vollkommenheiten das subsistierende Sein näher bestimmen, nennen wir sie Eigenschaften (Attribute) Gottes. (Johannes Lotz SJ: "Gott", in: Walter Brugger SJ (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. Freiurg: Herder 1953, S. 124)
Während Mutaziliten wie al-Kabi, der entschiedenste Vertreter eines Zeit-Atomismus die These formuliert hatten, dass körperliche Dinge ohne jede Eigenschaft mit Ausnahme der Farbe existieren könnten, unterschieden die Aschariten primäre und sekundäre Akzidentien von Substanzen. Zu ersteren, die jeder Substanz notwendigerweise zukommen, zählten sie Bewegung, Ruhe und den Ort. Anmerkung:
Mit der Unterscheidung von primären und sekundären Qualitäten durch John Locke besteht insofern eine Unähnlichkeit, als in der Aschariya später auch noch solche Dinge wie Geschmack und Geruch, Feuchte und Trockenheit, Hitze und Kälte zu den primären Akzidentien gezählt wurden. (Vgl. Collins 2000, S. 412)
Die Aschariya nimmt - mit den Mutaziliten - einen atomaren Aufbau der Welt an, wobei nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Atome vorausgesetzt und somit ein zeitliches Kontinuum geleugnet wird. Das führt zu einer Leugnung von Kausalität. Es wird angenommen, dass in jedem Augenblick alles neu geschaffen wird, was die Allmacht Gottes unterstreicht. Anmerkung:
Eine damit vergleichbare Theorie, den sogenannten Okkasionalismus, vertritt im 17. Jahrhundert der französische Theologe und Philosoph Nicolas Malebranche. Collins schreibt dazu: "Malebranche, a priest arguing against the mechanistic worldviews of the 1600s, was doubtless not imitating the Muslims; it is simply that in both cases, the type of argument serves to make God omnipresent even within a world which philosophical argument has concluded consists of material substances." (Collins 2000, S. 413)
Die Erkenntnistheorie des al Baquillani (ca. 960) führt zu einer Unterscheidung verschiedener Wissensformen. Das ewige Wissen Gottes wird vom Wissen der Geschöpfe zuerst unterschieden. Das menschliche (geschöpfliche) Wissen unterschied al Baquillani aber noch einmal in notwendiges Wissen (=das Wissen um die eigene Existenz, wobei er allerdings nicht, wie Descartes, dessen Unbezweifelbarkeit erweisen will) und anderes (Wissen aufgrund von Sinneswahrnehmung, durch den Disput, autoritatives Wissen aus Geschichte und Offenbarung. Damit ist ein neues und später folgenreiches Thema angeschlagen.

In den Kalam-Diskursen sowohl der Mutaziliten wie der Aschariten werden eine Reihe von Konzepten und Argumenten entwickelt, die für die weitere Diskussion wesentlich waren und die Fragestellungen von Ibn Sina und al Ghazali ebenso beeinflusst haben wie auch noch die westliche Falsafa.

Es ist, bevor wir zur Skizze der Falsafa übergehen, eine kleine Zeittafel über die bisher genannten und in den beiden folgenden Abschnitten (östliche Falsafa und Sufismus) vorgestellten Philosophen einzufügen, die ersichtlich machen soll, dass die Lebenszeit und Wirksamkeit der bisher vorgestellten und der folgenden Theoretiker sich weitgehend überschneiden, woraus sich auch viele Gemeinsamkeiten an Fragestellungen und Themen erklären.
 
700-800 800-900 900-1000 1000- ca.1100
ibn Ata (699-748) al Kindi (801-873) al Halladsch (857-922) 

al Aschari (873-941) 

al Farabi (870-950)

al Baqillani (+ 1013) 

ibn Sina (980-1037) 

al Ghazali (1059-1110)