Die Entwicklung philosophischer Reflexion in arabischer Sprache ist
von einer Religion, vom Islam, von dessen politischer und kultureller Geschichte,
wie von dessen Inhalten geprägt. Es ist darum eine allgemeine und
eine besondere Vorüberlegung angebracht, bevor wir uns mit den Themen
und Richtungen dieser philosophischen Entwicklung befassen.
Die allgemeine Frage ist, welchen Unterschied es macht, wenn überhaupt, ob philosophische Reflexion auf dem Hintergrund religiöser Orientierungen entsteht, zumindest insofern, als die Teilnehmer an philosophischen Auseinandersetzungen vorwiegend einer Elite entstammen, die in den Glaubensüberzeugungen ihrer Tradition geschult ist oder ob Philosophie auf dem Hintergrund anderer Orientierungen (z.B. einer nicht religiös orientierten Weltanschauung, aus den Grundlagenfragen von Naturwissenschaften oder ähnlichem) entsteht.
Diese Frage stellt sich anlässlich der Entstehung des philosophischen Denkens im Buddhismus, Hinduismus und Jainismus genauso, wie sie für die Philosophie im vor-neuzeitlichen Christentum, im mittelalterlichen Judentum oder auch in den islamisch orientierten Diskursen zu stellen ist. In allen genannten Fällen ist ähnlich, dass ein jeweils charakteristischer Kern von Überzeugungen, Geboten und Ritualen etabliert und in autoritativen Texten formuliert ist, die außerhalb der möglichen Debatte stehen, im jeweiligen Kanon - für das Judentum die Bibel, für das Christentum das Neue Testament und die Bibel, für den Islam der Koran und die anerkannte Überlieferung (hadith, sunna), für den Buddhismus zumindest die Lehrreden des Buddha, für den Hinduismus die Veden und für den Jainismus die Lehre des Mahavira mit den Ergebnissen früher Konzilien.
Für die Geschichte des Christentums und des Islam insgesamt ist dies nicht charakteristisch, denn in diesen beiden Fällen waren verhältnismäßig früh zentralisierte Institutionen mit hinreichender Macht vorhanden, um einen bestimmten Kanon als "orthodox" oder rechtgläubig zu etablieren und alternative Entwicklungen als "häretisch" oder irrgläubig zu separieren.
Wie jede Religion hat der Islam einen Kern von Glaubensauffassungen,
der als unveränderbare Tradition oder als Offenbarung betrachtet und
kanonisiert wird. Dieser Prozess der Kanonisierung fand im Islam
vergleichsweise rasch seinen Abschluss: die Generation nach Mohammed schließt
bereits den Text des Koran ab (ca. 632-656), und die Kanon-Diskussion wird
mit der Redaktion der zweiten Quelle autoritativer Tradition, hadith und
sunna, bestehend in den Erinnerungen von Gefährten des Propheten,
in den ersten Jahrzehnten des darauf folgenden Jahrhunderts abgeschlossen.
Die besondere, die Philosophie in arabischer Sprache betreffende Frage betrifft Glaubensinhalte des Islam, die für philosophische Reflexionen und Debatten den Ausgangspunkt geliefert haben. Diese unterscheiden sich, beispielsweise von den entsprechenden buddhistischen Glaubensinhalten, was die Herausbildung von bestimmten Terminologien ebenso betrifft wie die Schwerpunktsetzung der Reflexionen. In diesem Sinn gibt es eine "islamische Philosophie" wie es eine "buddhistische", eine "christliche", "jüdische" usw. gibt.
Der entscheidende, die philosophische Reflexion in islamischer Tradition durchgehend herausfordernde Glaubenssatz ist die Behauptung eines strikten Monotheismus. Diese führt nicht nur zu argumentativen Auseinandersetzungen mit anderen Religionen (den "Menschen des Buches", nämlich "Juden, Christen und Sabäern", wie sie im Koran wiederholt aufgezählt werden), wobei allerdings deren Auffassungen als eine Vorstufe der eigenen Religion, einer durch die Offenbarungen an den letzten Propheten, Mohammed überholten, angesehen wird - insbesondere ist der christliche Glaube an "einen Gott in drei Personen" (Trinitätslehre) in islamischer Sicht stets im Verdacht des Polytheismus geblieben. Es führt ebenso zu Auseinandersetzungen mit anderen Religionen, z.B. mit dualistischen Auffassungen im Iran, mit denen islamische Intellektuelle aufgrund der raschen militärischen Expansion unter den ersten Kalifen früh bekannt werden.
Mit dem strikt monotheistischen Gottesbegriff verbunden sind Fragen wie diejenige nach anthropomorphen Vorstellungen, allgemeiner nach der Stellung und Berechtigung von sprachlichen Bildern oder Allegorien und im allgemeinsten Sinn nach dem Verhältnis von Attributen und deren Verhältnis zu einer als absolut, einzig und ewig gedachten Substanz. Solche Fragen treten bereits vor der expliziten Rezeption entsprechender griechischer Reflexionen auf, sind aber auch für diese leitend.
Ein anderes, vom Islam als Religion her naheliegendes Thema philosophischer Reflexion ist die Frage nach der Schöpfung, bzw. nach dem Verhältnis Gottes zur Welt. Ob die Welt einen Anfang in der Zeit hat, der mit Mitteln der Vernunft bewiesen werden könne, ist somit eine wesentliche Frage. Aus anderen Glaubensvorstellungen (Vergeltung für gute oder böse Taten im Jenseits) entsteht die Frage nach der Freiheit des Willens und nach der Unsterblichkeit oder Vergänglichkeit des Individuums (bzw. der "Seele").
Schließlich ist auch die Reflexion auf Grenzen des Wissens beziehungsweise auf die Vereinbarkeit von religiösem, auf Autorität fußendem Glauben und natürlichem, auf Wahrnehmung und Vernunfttätigkeit beruhendem Wissen durch theologische Annahmen nahegelegt, was zu einer starken Beschäftigung mit der Logik und "Dialektik" (womit Argumentationstheorie bezeichnet wurde) führt. Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie wird dabei stark entwickelt.
Hingegen scheint es, dass ethische oder ästhetische Fragestellungen auf dem religiösen Hintergrund des Islam nicht vorrangig Interesse in philosophischen Diskursen fanden, obwohl - oder vielleicht: weil - die frühe Etablierung von vier klassischen Rechtsschulen der Scharia wie auch das Bilderverbot nahelegen würden, etwas dieser Art zu erwarten. Von den stark auf Logik und Metaphysik konzentrierten Fragestellungen der ersten Generationen islamisch-arabischer Philosophie verlagert sich in einer späteren Phase das Interesse auf historische, sprachtheoretische und kulturtheoretische Probleme, wobei bedeutende und in Einzelfällen im weltgeschichtlichen Maßstab Pionierleistungen erbracht werden.
Wissenschafts- und Philosophietraditionen, für die religiöse
Glaubensannahmen theoretisch überhaupt nicht von Belang sind, wie
dies bei einigen Richtungen der europäisch-neuzeitlichen Philosophie
nach deren Selbstverständnis zutrifft, haben sich auf dem Hintergrund
des Islam nicht in vergleichbarer Weise entwickelt oder durchgesetzt.
Der folgende kurze Überblick gliedert sich in drei Abschnitte:
1) Kalifat von Baghdad
Östliche Falsafa
Sufismus
2) Kalifat von Córdoba
Westliche Falsafa
Jüdische Philosophie
3) Spätere Entwicklungen
Theologie und Gesellschaftswissenschaften
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Die Verlegung der Hauptstadt von Damaskus nach Baghdad aufgrund der Expansion nach Osten, insbesondere in den Iran, stellt auch ideengeschichtlich ein bedeutsames Datum dar. Ab ca 750 herrscht die Dynastie der Abbasiden (Harun al Rashid, Al-Mamun), wobei zumindest für eine gewisse Zeit die Fiktion einer politischen Einheit der umma, der Gesamtheit der Muslime fast aufrechterhalten werden kann. Zusammen mit Basra (an der Mündung von Euphrat und Tigris) stellt Baghdad (heute Hauptstadt des Irak) das Zentrum des intellektuellen Lebens in der frühen Abbasidenzeit dar.
Solche theologisch-dialektischen Argumentationen wurden als Kalam bezeichnet, was ursprünglich "Rede" oder "Wort", auch "Rede Gottes" bezeichnet. Eine ähnliche Vorstellung begegnete bei den Griechen, deren Logos ebenfalls ursprünglich "Wort" bezeichnet, was aber in den Reflexionen der klassischen athenischen Philosophie die Bedeutung von "Vernunft" annimmt. Kalam-Studien setzten somit voraus, dass die "Rede Gottes" (im Koran) mit der inneren "Rede" der menschlichen Vernunft übereinstimmen müsse.
Anlass für diese theologischen Reflexionen waren Auseinandersetzungen mit Manichäern (Dualismus) und Christen (Trinitätsvorstellungen), wobei die Mutazila aber auch alle im Koran erwähnten "Eigenschaften Gottes" (die "99 Namen") wegdisputieren musste in der Befürchtung, anders in einen Polytheismus zu geraten.
Die Mutazila greift auch die Frage nach der Freiheit des Willens auf: Gibt es im Handeln und im Glauben des Menschen Freiheit oder Vorbestimmung? Prädestination wird entschieden abgelehnt.
Unter dem Kalifen Al-Mamun (813-33) gelangen Mutaziliten zu beherrschendem politischem Einfluss. Insbesondere wird der Glaubenssatz von der Geschaffenheit des Koran proklamiert und eine Polizei eingesetzt, die "alle Richter und Notare sowie die herausragenden Führer des Sunnitentums" diesbezüglich überprüfte und schriftliche Stellungnahmen mit dem Bekenntnis zur Geschaffenheit des Koran von ihnen verlangte. "Diejenigen, die sich widersetzten, wurden strengen Verhören, oft der Folter unterzogen. Manche starben." (Haarmann 1994, S. 127)
In Reaktion auf mutazilitisches Gedankengut, gleichzeitig in Weiterführung
von deren Argumentationsmethoden tritt
auf. al Aschari und die nach ihm benannte Schule der Aschariten (oder: Aschariya) spricht logischem Denken, das auf der Grundlage sinnlicher Wahrnehmung aufbaut, jede Möglichkeit einer Erkenntnis in Fragen der Metaphysik ab. So seien nicht nur Eigenschaften Gottes unerkennbar mit den Mitteln der Sinne und der Logik, sondern auch dessen Existenz. In der Offenbarung hingegen - im Koran - sei Gewissheit gegeben. Darum verbietet die Aschariya jede Rationalisierung und "wissenschaftliche" oder philosophische Erläuterung der allegorischen Elemente des Korans. Es handelt sich somit um eine religiös motivierte Skepsis, die ihre Orientierung in einem wortwörtlichen Verständnis des Koran findet und die Philosophie höchstens als Magd der Religion gelten lässt.
In der Theorie von den Attributen oder Eigenschaften Gottes hat die Aschariya eine eigene Position. Worum es bei dieser Frage eigentlich geht, kann man sich verdeutlichen, wenn man sich die Vorstellung von einer Substanz macht, die ewig und ungeschaffen, in allem vollkommen und als aus sich selbst notwendigerweise existierend ist. Eine "Eigenschaft" (wie z.B. Schönheit oder Weisheit) zu haben oder nicht zu haben ist hingegen ein Sachverhalt, von dem Unendlichkeit oder Ewigkeit ebenso wenig zu denken ist wie notwendige Existenz (wenn etwas "schön" ist, wäre es auch denkbar, dass dasselbe "nicht-schön" ist).
al Aschari lehnt die rigorose These der Mutaziliten in dieser Frage (s.o.) ab und stimmt der traditionellen Auffassung zu, wonach Gott positive Attribute zugeschrieben werden können (Macht, Wissen, Leben usw.), wie sie im Koran bechrieben sind. Sie sind nicht mit dem Wesen Gottes identisch, aber sie sind unendlich-ewig und haben ihre Subsistenz in diesem Wesen. (Vgl. Collins 2000, S. 412)
In den Kalam-Diskursen sowohl der Mutaziliten wie der Aschariten werden eine Reihe von Konzepten und Argumenten entwickelt, die für die weitere Diskussion wesentlich waren und die Fragestellungen von Ibn Sina und al Ghazali ebenso beeinflusst haben wie auch noch die westliche Falsafa.
Es ist, bevor wir zur Skizze der Falsafa übergehen, eine kleine
Zeittafel über die bisher genannten und in den beiden folgenden Abschnitten
(östliche Falsafa und Sufismus) vorgestellten Philosophen einzufügen,
die ersichtlich machen soll, dass die Lebenszeit und Wirksamkeit der bisher
vorgestellten und der folgenden Theoretiker sich weitgehend überschneiden,
woraus sich auch viele Gemeinsamkeiten an Fragestellungen und Themen erklären.
700-800 | 800-900 | 900-1000 | 1000- ca.1100 |
ibn Ata (699-748) | al Kindi (801-873) | al Halladsch
(857-922)
al Aschari (873-941) al Farabi (870-950) |
al Baqillani
(+ 1013)
ibn Sina (980-1037) al Ghazali (1059-1110) |