Ramakant Sinari: "Begegnung der Philosophien und die Möglichkeit
einer Einheits-Ontologie"
Aus dem Englischen von Franz M. Wimmer.
Erschienen in:
F. M. Wimmer (Hg.): Vier Fragen zur
Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika, S. 77-94
Wien: Passagen 1988
Aus dem Text:
Es gibt intellektuelle
Bezüge, die quer durch die ganze Vielfalt der Menschen gehen -
ihre Traditionen, Lebensstile, Sprachen, Wissensformen,
Nationalitäten und Kulturen. Die Universalität dieser
Bezüge geht auf die Tatsache zurück, daß sie mit dem
Phänomen unserer Existenz in der Welt selbst verwoben sind. Die
Unterschiede der räumlich-zeitlichen Einordnung von Menschen haben
ihre Fragen qualitativ nicht sehr stark beeinflußt, soweit diese
sich auf den Sinn ihres Lebens, auf den Ursprung ihres
Bewußtseins, den Anfang und den Urgrund des Universums oder
darauf bezogen haben, was Menschen tun sollten, um zu
Selbsterfüllung und Vollkommenheit zu gelangen. Solange der Mensch
in der Welt sein wird, wird er auch wissen wollen, was dem ganzen
Prozeß seiner Erfahrung von sich selbst als einem Teil der Welt
zugrundeliegt, d.h. er wird sozusagen das Archetypische hinter dem
ganzen Drama der Existenz erforschen wollen und nach Harmonie mit sich
selbst und mit seiner Umgebung streben.
Einzig der Mensch überschreitet seine passive
Stellung im kosmischen Schema, indem er schöpferische Fragen
stellt. Philosophen wie Wissenschaftler haben diese Fragen aufgeworfen,
wenn auch mit unterschiedlichem Tenor. Was können wir aus der
physikalischen und biologischen Welt machen, in der wir leben? Was ist
der Mensch? Wie ist der Mensch durch den kosmischen Prozeß
entstanden? Hatte der berühmte kosmologische "Big Bang" ihn schon
für die Zukunft vorgesehen? Was können wir aus uns selbst
machen - aus unserem Denken, unserer Befangenheit, unserer Psyche,
unserer Geburt und dem Tod, aus unserer Sprache und dem Symbolismus,
unserer Erfahrung und unseren Gedanken? Sind wir Eigentum oder, wenn
man so will, eine Folgeerscheinung des komplizierten und noch nicht
völlig ausgemessenen physikalisch-chemisch-biologischen Netzwerks?
Oder sind wir in irgendeinem grundlegenden Sinn nicht auf dieses
Netzwerk reduzierbar? Sind wir tot und vergangen, wenn der Arzt uns
für tot erklärt hat, oder leben wir noch in einer unbekannten
raum-zeitlichen Matrix weiter, die wir mit unserem Wissen noch nicht
erfassen können? Welche Botschaft tragen die Zustände unseres
Bewußtseins, seine Schwankungen, Veränderungen,
Fehlleistungen? Sind das wissende Bewußtsein und die
gewußte Welt ontologisch eine Wirklichkeit - das Sein, Brahman,
Tao, Gott oder der Geist -, die nur zwei Tätigkeitsformen
darstellen? Was sind die Grundlagen, die Urformen, das Wesentliche all
dessen, was innerhalb und außerhalb unserer selbst vorgeht?
Werden wir je imstande sein, dies zu verstehen und in Worten
auszudrücken?
Die Suche nach dem Archetypischen, dem Letzten, das die
fraglose raison d'être von allem aufdecken würde,
was in der Welt vorgeht, hat auf eine außerordentlich intensive
Weise das Denken von Philosophen zu allen Zeiten geprägt. Für
einen Menschen im Gewäsch des Alltags stellt die Welt selbst sich
nicht als Problem dar; für einen reflektierenden Geist aber
verlangt alles, was sein Verhalten und seine Erfahrung betrifft, eine
Erklärung, einen verstehbaren Rahmen, einen Platz in irgendeinem
selbst-evidenten, apodiktischen System. Zweifellos ist die Philosophie
in der Begegnung des Bewußtseins mit sich selbst und mit der Welt
entstanden. Sie verkörpert den Versuch des Menschen, das
Grundlegende, das Letzte, das Ontologische zu wissen, d.h. dasjenige,
von dem alles herkommt, und auch seinen Versuch, es in Worte zu fassen
mit dem Blick darauf, dieses Wissen mit anderen zu teilen.
Philosophie ist ein Akt des Forschens, dessen Bestimmung
die Entdeckung und das Verstehen. der Selbst- und Welterfahrung des
Menschen ist. Bei diesem Akt gibt es nun wirklich Etappen des Wissens,
Punkte der Transparenz, Einsichten, Suchen, Gewißheiten;
diese aber werden als fragmentarisch erkannt, wenn sie von einem
umfassenden Gesichtspunkt aus, oder mit einem Blick auf ihre Zuordnung
zu einer letzten Wahrheit betrachtet werden. Kein einzelnes System,
keine einzelne Entdeckung in der Philosophie ist so vollständig,
daß sie imstande wäre, Antworten auf alle Fragen zu geben.
Ebenso, wie es ein unablässiges Fragen und unterschiedlich
konstruierte und rekonstruierte Ergebnisse in der Philosophie gibt, so
gibt es in ihr auch Erleuchtungen (visions); und verschiedene
Philosophien sind von ihren je eigenen besonderen Erleuchtungen
begriffen. Aber keine dieser Erleuchtungen würde in letzter
Analyse für alle apodiktisch sein. Wer immer irgendeine davon von
außen prüft - d.h. auf der Basis einer anderen Erleuchtung -
wird wahrscheinlich ihre Gültigkeit in Frage stellen.
Tatsächlich können letztlich die meisten Konflikte und
Streitfragen unter Philosophen in der Welt auf die Verschiedenheit von
Erleuchtungen zurückgeführt werden, die in ihre Weltanschauung
(stets dt. im Original, F.W.) wirken, und eine Vielzahl von
sprachlichen Stilen für deren Ausdruck bedingen. Eines der
spezifischen Anliegen der komparativen Philosophie sollte es heute
sein, für vielfältige Weltanschauungen einzutreten,
die Natur der verschiedenen Erleuchtungen einsichtig zu machen, ihre
Funktion als Voraussetzungen mit Hilfe verschiedener Denksysteme zu
interpretieren und gewiß auch, eine einheitliche Sprache zu
entwickeln, in denen sie ausgedrückt und ausgetauscht werden
könnten. Ein komparativer Philosoph muß eine
außerordentliche Neutralität und Offenheit entwickeln, um in
verschiedenen psycho-kulturellen Räumen zu leben, sodaß er
imstande ist, das Entstehen von verschiedenen Philosophien nicht nur zu
begreifen, sondern sie auch zu einer Einheit zu bringen.
Wenn man die Werke verschiedener Philosophen - von
Idealisten und Vedantins bis zu Phänomenologen, logischen
Positivisten, Existenzialisten und Sprachanalytikern - liest, mag man
sich fragen, welche Stufe von Wissen oder Wahrheit das philosophische
Denken zu erlangen sucht. Was ist das Ziel der Philosophie?
Könnten die Annahmen, die ontologischen Voraussetzungen eines
Philosophen oder einer philosophischen Schule mit denjenigen einer
anderen verglichen werden? Und: was sucht jemand durch einen solchen
Vergleich zu gewinnen?
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05.01.01