Henry Odera Oruka: "Grundlegende Fragen der afrikanischen
'Sage-Philosophy'"
Aus dem Englischen von Franz M. Wimmer.
Erschienen in:
F. M. Wimmer (Hg.): Vier
Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika, S. 35-54
Wien: Passagen 1988
Aus dem Text:
Was ist sage-philosophy?
Und wie kann man sie von anderen Formen der Philosophie, wie man
sie in Afrika vorfindet, unterscheiden? Diese anderen Formen umfassen,
was ich in dem Aufsatz über die vier Trends ausgeführt
habe.
1) Professionelle philosophische Texte, d.h.
Arbeiten von akademischen Philosophen und Studenten mit formell
philosophischer Ausbildung.
2) Nationalistische ideologische Theorien.
3) Ethnographische Studien über
traditionelle afrikanische Glaubensgrundsätze, die als
"Philosophie" bezeichnet werden, also die Ethnophilosophie. .
4) Den vierten Trend in dieser Reihe bildet die sage-philosophy.
Diese offene Klassifikation erfordert, daß wir
zunächst unser Urteil darüber, was Philosophie im strengen
Wortsinn ausmacht, suspendieren sollten. Doch bleibt dieser Begriff
für unsere Untersuchung wichtig. Und die Klassifizierung der
verschiedenen Tendenzen sollte als ein Mittel betrachtet werden,
für uns, in Afrika, Philosophie im strengen Wortsinn von der
Philosophie in einem breiten und umfassenden Sinn zu unterscheiden.
Dies ist eine Möglichkeit, um die Behauptung zu entkräften,
daß Philosophie in einer ganz bestimmten Bedeutung die
authentisch afrikanische Philosophie sei, und daß in jeder
anderen Bedeutung des Wortes Philosophie in Afrika nicht existiere. sage-philosophy,
wie ich es verstehe, besteht in dem Ausdruck der Gedanken von
weisen Männern und Frauen in irgendeiner Gesellschaft. Gedanken
können schriftlich oder als ungeschriebene Aussprüche und
Argumente ausgedrückt werden, die mit bestimmten weisen Individuen
assoziiert werden.
sage-philosophy ist eine Art, die Welt zu denken
und zu erklären, welche zwischen Volksweisheit
(allbekannte Maximen, Aphorismen, Wahrheiten des Hausverstands) und didaktischer
Weisheit hin- und herschwankt, sie ist ausgeführte Weisheit
und rationalisiertes Denken einzelner, bestimmter Individuen innerhalb
einer Gesellschaft. Während die Volksweisheit häufig
konformistisch ist, ist die didaktische Weisheit gelegentlich kritisch
gegenüber den allgemeinen Gesellschaftsregeln und gegenüber
der Volksweisheit.
Im traditionellen Afrika bleibt das meiste von dem, was
als sage-philosophy gelten kann, aus Gründen, die
für jedermann einsichtig sind, ungeschrieben. Hier in Kenya haben
wir uns bemüht, die sage-philosophy bei Personen zu
erforschen, die heute möglichst tief in der traditionellen
afrikanischen Kultur verwurzelt sind.
Manche dieser Leute mögen teilweise von der
unvermeidlichen moralischen und technologischen Kultur Europas
beeinflußt sein, nichtsdestoweniger bleibt ihre eigene Blickweise
und kulturelle Zugehörigkeit grundsätzlich dem
traditionellen, ländlichen Afrika verhaftet. Und bis auf ein paar
wenige sind sie in ihrer Mehrheit ganz oder teilweise Analphabeten.
Unsere Forschungsergebnisse in Kenya zeigen, daß
es zwei Hauptrichtungen der sage-philosophy gibt. Die eine
repräsentiert der Weise, dessen Denken, obgleich wohlinformiert
und bildend tätig, nicht über die berühmte Volksweisheit
hinausgeht. Ein solcher Weiser mag eine große Fähigkeit
besitzen, die Glaubens- und Weisheitssätze seines Volkes zu
erfassen und zu erklären. Aber es fehlt ihm die Fähigkeit und
auch die Neigung, auf solche Glaubenssätze seine eigenen
kritischen Einwände anzuwenden. Er ist daher ein Volksweiser
(folk-sage) im Gegensatz zum zweiten Typus des Weisen, zum philosophischen
Weisen (Philosophical-Sage). Ersterer ist ein Meister der
Volksweisheit, während der letztere ein Experte in didaktischer
Weisheit ist.
Der philosophische Weise mag die grundlegenden Glaubens-
und Weisheitssätze seiner Gemeinschaft ebensogut kennen, wie der
Volksweise. Aber er leistet einen unabhängig-kritischen Beitrag zu
dem, was die Leute für ausgemacht halten. Daher ist die Weisheit
des philosophischen Weisen, während die des Volksweisen
Philosophie der ersten Stufe (first-order) ist, eine Philosophie
der zweiten Stufe, d.h. eine Reflexion auf und rational
begründete Bewertung dessen, was auf der ersten Stufe gegeben ist.
Und dieses auf der ersten Stufe Gegebene ist eine Mischung aus
konventionellen, gebräuchlichen Anschauungen und Praktiken
zusammen mit populären Weisheiten.
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Letzte Änderung am
05.01.01