Thomas H.C. Lee: "Chinesische Ideen in transkultureller Begrifflichkeit. Die Bedeutung der Geistesgeschichte"


Aus dem Englischen von Franz M. Wimmer

Erschienen in:
F. M. Wimmer (Hg.):
Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika, S. 117-144
Wien: Passagen 1988

Aus dem Text:

Im allgemeinen wird angenommen, daß Menschen mit unterschiedlichem Kulturhintergrund dann am ehesten miteinander in geistigen Austausch treten können, wenn zunächst die wichtigsten Aussagen über kultureigene Ideale und Werte in die jeweils andere Sprache übersetzt sind. . Eine derartige Annahme stand als treibende Kraft hinter den Arbeiten von Philosophen wie von Historikern. Im wesentlichen ist diese Annahme auch richtig: ohne genaue Kommunikation über derartige Gegenstände, wie Urteile über Wert oder Bedeutsamkeit es sind, könnte kein gegenseitiges Verstehen stattfinden, und jeder sinnvolle Dialog zwischen Kulturen wäre zu Ende.
Dies aber ist lediglich als programmatische Aussage einfach: tatsächlich haben wir es immer, sogar innerhalb einer Kultur selbst, mit demselben Problem der Kommunikation zu tun. Wenn man eine Kultur auch als den Ausdruck einer Reihe von Werten definieren kann, die einer Gruppe von Menschen gemeinsam sind, zugleich auch als ein System von Codes und von Glaubenssätzen, das in einer Tiefenstruktur gründet, so ist damit doch nicht klar, wie diese Struktur am besten zu definieren sei und wie sie durch die verschiedenen Epochen hindurch neu definiert werden soll. Ernstzunehmende Denker arbeiten an diesen Fragen, indem sie dauernd neue Ausdrücke schaffen, um das zu erklären, was sie für wesentlich zur Interpretation des in einer Kultur allgemein geteilten Wertesystems halten. Dieser ständige Prozeß der Ausdrucksentwicklung wirft nicht nur für solche Menschen Probleme auf, die außerhalb eines Kulturraums stehen, sondern auch für die Menschen innerhalb des "Diskursbereiches" solcher Ausdrucksweisen.
Der Dialog zwischen Werten unterschiedlicher Kulturen ist daher doppelt schwierig, und wenn man nicht anerkennt, daß die Übersetzung des Wörterbestands, in dem die Werte oder Grundbegriffe einer Kultur definiert werden, ein Prozeß ist, der selbst Beachtung verdient, und daß innerhalb dieser Kultur ebenfalls ein ständiger Prozeß von Neuinterpretationen stattfindet, so wird eine Übersetzung lediglich antiquarischem Interesse genügen und kann keine echte Kommunikation zwischen den beiden Kulturen bewirken.
Es ist äußerst wichtig, zu definieren bzw. zu klären, wie Werte oder geistige Grundideen in einem Kulturbereich ausgedrückt werden, weil Werte und Ideen die unbewußt bleibenden kulturellen Prioritäten reflektieren, oder weil sie Ausdrucksformen der Struktur sind, welche die Glaubens- und Handlungsweise eines Volkes bestimmt. Es wird oft angenommen, die wirksamste Kommunikation zwischen Völkern werde durch das Übersetzen philosophischer Werke erreicht. Eine solche Voraussetzung gründet auf der nicht näher geprüften Überzeugung, daß alle Kulturen das Interesse an Philosophie miteinander gemein haben. Es ist jedoch fraglich, ob diese Annahme stimmt. Dies hängt davon ab, wie Philosophie definiert wird, zumindest für den Fall der chinesischen Geistesgeschichte trifft dies zu. Bevor ich nun darauf näher eingehe, will ich doch die Prämisse begründen, daß das Studium der "philosophischen" Aussagen einer Kultur durch die verschiedenen Epochen hindurch, d.h. daß die Geschichte des Denkens notwendigerweise einer der besten Wege ist, ein Volk zu verstehen, hierin nur dem direkten Weg unterlegen, unter dem betreffenden Volk zu leben und ein Teil davon zu werden.
In den Geist eines Volkes auf rationale Weise eindringen, bedeutet, daß man jene Aussagen dieses Volkes genau untersucht, die eine bewußte Reflexion dessen sind, wonach dieses Volk strebt. Es gibt viele Wege zu diesem Ziel, aber alle müssen sich zwangsläufig in der Sprache des Beobachters ausdrücken lassen. Die Bestrebungen eines anderen Volkes wahrnehmbar zu machen, bedeutet, daß in einem rationalen Prozeß interpretiert wird, der auf der Sprache des Interpreten beruht. Nur so kann man ein anderes Volk logisch verstehen, um konsistente Urteile darüber fällen zu können, was jeweils zu erwarten ist. Die Sprache, die an diesem Prozeß beteiligt ist, ist höchst bedeutsam, und dies ist der Grund, warum Übersetzungen nicht für sich selbst sprechen. Das Wissen, die angehäufte Information, durchläuft einen Destillationsprozeß. Dieser Prozeß ist Teil der Bemühungen um Verständnis von seiten des Beobachters, die hauptsächlich durch seine eigenen kulturellen Parameter begrenzt oder bestimmt sind. Diese kulturell bestimmten Elemente dienen als Schlüssel zur angestrebten Information oder als Kommunikationsstrategien. Erst diese Elemente bewirken Kommunikation. Genaue Übersetzung mit einer "Exegese" der "Schlüsselbegriffe" einer Kultur ist daher das wirkungsvollste Mittel der Kommunikation.


Zum Weiterlesen: Download des ganzen Dokuments (PDF).


Zur Download-Liste, zur Publikationsliste oder zur Startseite.


Diese Seiten werden eingerichtet und gewartet von Franz Martin Wimmer
Letzte Änderung am 05.01.01