Proseminar: Geschichte der Philosophie in interkultureller Orientierung. Teil I: Einleitung



Thesen zum Gegenstand der Philosophiehistorie im allgemeinen

ACHTUNG: Dieser Text ist in Ausarbeitung. Anregungen, Ergänzungen und Kürzungsvorschläge sind jederzeit willkommen (z.B. per
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Thesen zum Gegenstand der Philosophiehistorie im allgemeinen

Die Geschichte der Philosophie ist nach verbreiteter Auffassung kein bloßer Nebenzweig, sondern ein wichtiger, wenn nicht konstitutiver Teil der Philosophie selbst. Nach welchen Auswahlkriterien, mit welchen Begriffen und in welchen Formen diese Geschichte rekonstruiert und beschrieben wird, ist unter einer solchen Voraussetzung für die Disziplin selbst von Bedeutung. Dies gilt auch und gerade dann, wenn eine interkulturelle Orientierung des Philosophierens angestrebt wird und begründet werden soll.

Es ist zutreffend, aber nicht ausreichend, von der Notwendigkeit der Kritik an kulturzentristischen Traditionen und somit davon zu sprechen, dass andere Stimmen hörbar gemacht werden sollen. Welche das sind und warum sie bislang nicht oder zuwenig im philosophischen Diskurs präsent sind, ist die erste Frage, die hier von PhilosophiehistorikerInnen zu klären ist. Es muss aber auch Klarheit darüber geben, was an dem, worüber die anderen Stimmen sprechen, jemand zur Philosophie zu rechnen gedenkt und was nicht. Damit ist eine Abgrenzung verbunden, wie mit jeder Definition. Ich bin der Auffassung, dass eine solche Abgrenzung in jedem Fall - zumindest stillschweigend - geschieht, wenn sich jemand mit irgendeinem Gegenstand befaßt, und will im folgenden versuchen, meinen Vorschlag zur Abgrenzung des Gegenstandes der Philosophiehistorie zu begründen.

These 1) Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind Sachverhalte, in denen Auffassungen über die Grundstruktur der Wirklichkeit und/oder über deren Erkennbarkeit und/oder über Werte oder Normen zum Ausdruck kommen.

Ich verstehe unter "Philosophie" ein denkerisches Projekt, das sowohl durch inhaltliche als auch durch methodische Vorgaben gekennzeichnet ist. Inhaltlich handelt es sich beim Philosophieren nach meiner Auffassung stets um die Bemühung, einen oder mehrere von drei Problembereichen zu klären: die Frage nach der Grundstruktur von Wirklichkeit (in der Metaphysik oder Ontologie, auch der philosophischen Anthropologie); die Frage nach der Erkennbarkeit der Wirklichkeit (in der Erkenntnistheorie und auch der Logik); und schließlich die Frage nach der Begründbarkeit normativer Sätze (in Ethik und Ästhetik). Dies sind die Kernbereiche dessen, was in der okzidentalen Tradition "Philosophie" genannt wird, und davon gehe ich aus. Spezielle Disziplinen - wie zum Beispiel Kulturphilosophie, Sprachphilosophie, Rechtsphilosophie usw. - befassen sich jeweils mit Teilaspekten dieser Grundbereiche. Es reicht jedoch nicht aus, den Begriff der Philosophie lediglich inhaltlich abzugrenzen, denn einerseits behandeln auch andere Wissenschaften Fragen, welche diese Bereiche betreffen (die Physik erforscht die Grundstruktur der materiellen Wirklichkeit usf.), und andererseits ist nicht jedes beliebige Gerede (über die genannten oder irgendwelche anderen Bereiche) als "Philosophie" zu bezeichnen, wenn der Ausdruck überhaupt etwas Sinnvolles bedeuten soll. Ein Vorbegriff von "Philosophie" ist also nötig, um zweierlei zu leisten: einerseits, um Denkformen und -traditionen, die zu Unrecht oder aus kontingenten Gründen nicht unter diesen Begriff gefaßt worden sind, in ihrer Bedeutung zu erfassen; andererseits um abzugrenzen gegen solche, die nicht darunter fallen, obwohl sie auf dem Markt der Bücher und Ideen unter diesem Titel firmieren.

Gerade wenn wir kulturelle Bedingtheiten des Denkens in verschiedenen Kulturen berücksichtigen wollen, werden wir notgedrungen auf unterschiedliche Weltbilder, Wertordnungen und Denkformen stoßen, wie sie beispielsweise in Mythen, Religionen, Bräuchen, Sprichwörtern oder Institutionen zum Ausdruck kommen. Ob wir deren Gehalt dann zu unserem eigenen Begriff des Philosophischen zählen wollen oder nicht, werden wir jeweils selbst entscheiden müssen. Dies wiederum ist nur möglich, wenn wir einen methodisch reflektierten Begriff dessen haben, was dazu zu rechnen ist und was nicht. Auch hier gehe ich von einem in der okzidentalen Philosophie entwickelten Selbstverständnis aus und schlage vor, unter "Philosophie" solche denkerischen Projekte zu verstehen, die ohne Berufung auf bloße Tradition, auf religiösen Glauben oder auf eine andere über der menschlichen Vernunft angesetzte Autorität ihre Fragen zu klären versuchen. Ein Merkmal dessen, was unter "Philosophie" verstanden werden soll, sehe ich daher darin, dass es sich um Denken handelt, das keine übermenschlichen Autoren oder Autoritäten kennt.

Man kann gelegentlich hören, Philosophie sei nicht fähig, Orientierung zu leisten - im Unterschied zu Religion. Das ist erklärlich, aber unsinnig; es trifft höchstens dann zu, wenn "Philosophie" missverstanden wird als bloß historisierende Vermittlung eines unverbindlichen Bildungsguts. Tatsächlich zielt Philosophieren stets auf methodische, intersubjektiv nachvollziehbare Argumentation ab. Es zielt damit auf Orientierung des Denkens, aber es begründet sich im Unterschied zu religiöser Argumentation in keinem Schritt aus heiligen Büchern oder anderen Autoritäten, die als über der menschlichen Vernunft stehend angesetzt würden. Praktiken und Regeln philosophischer Argumentation sind zwar nicht unabhängig von Prägungen innerhalb der jeweiligen Sprache und Kultur, wozu auch religiös vermittelte Denkweisen zählen, aber sie müssen über deren Grenzen hinweg intelligibel gemacht werden können. Ein zweites Merkmal liegt in der Intersubjektivität oder Intelligibilität, die für die Resultate "philosophischen" Denkens anzustreben ist.

Ein drittes Merkmal ist darin zu sehen, dass "philosophisches" Denken im vollen Sinn des Wortes explizit und nicht nur explizierbar ist. Das besagt, dass Ideen nicht in bloßen Metaphern oder Sinngeschichten zum Ausdruck kommen, sondern dass bewusst metasprachliche Begriffe gebildet und Regeln für deren korrekte bzw. fehlerhafte Verwendung formuliert werden. Wem dies eine zu strenge Forderung zu sein scheint, möge bedenken, dass es sich dabei auch um ein heuristisches Postulat in dem Sinn handelt, dass nach derartigem Ausdruck des Denkens Ausschau zu halten ist. Beispielsweise ist im Fall der sogenannten "Bantu"-Philosophie, die lange Zeit auschließlich als kollektiv und nicht-explizit beschrieben wurde, durch Recherchen, wie sie zuerst von Odera Oruka in Kenia durchgeführt wurden, mit der Unterscheidung zwischen "folk sages" und "philosophical sages" eine bis dahin unerwartete Explizitheit und damit eine neue Tradition entdeckt worden.

Die mit der ersten These getroffene inhaltliche Festsetzung führt zu Schwierigkeiten, von denen mir die wichtigsten folgende zu sein scheinen:

a) Ist mit den genannten drei Themenbereichen (der Ontologie, Erkenntnistheorie und der Ethik) ein zutreffendes Bild von Philosophie zu geben, sind andere Themenbereiche (bzw. philosophische Disziplinen) jeweils durch Thesen über einen dieser drei oder über alle diese drei Fragebereiche hinreichend bestimmt? Dies mag insbesondere im interkulturellen Diskurs als Schwierigkeit erscheinen, wobei man vielleicht geneigt ist, hier einen methodologischen Eurozentrismus zu vermuten.

b) Ist es eindeutig, welche Arten von Sachverhalten fähig sind, derartige Auffassungen zum Ausdruck zu bringen? Handelt es sich letztlich doch nur um Texte, oder kommen auch andere Sachverhalte in Frage?

c) Reicht die gegebene Festsetzung hin, um "Philosophie" etwa von "Wissenschaft" oder auch von "Religion" abzugrenzen? Kommen nicht auch in Thesen der Physik (etc.) Auffassungen über die Grundstruktur der Wirklichkeit, in Thesen der Sinnesphysiologie solche über deren Erkennbarkeit durch den Menschen, in Thesen der Ethnologie solche über Werte und Normen vor? Ist darum diese Festsetzung vielleicht leer und unfähig, ihren Zweck als Orientierungshilfe bei der Abgrenzung von Philosophie und Nichtphilosophie zu erfüllen?

Andere Einwände könnten gegen die formalen Festsetzungen vorgebracht werden:

d) Ist es überhaupt zulässig, eine Autonomie des Denkens in der Weise zu behaupten, wie dies hier geschieht?

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e) Ist die Forderung des Strebens nach Intelligibilität als einer notwendigen Bedingung des Philosophierens nicht zwangsläufig zum Scheitern verurteilt, weil alles Denken einerseits von Sprache und Kultur geprägt und andererseits auch nur in bestimmten Kontexten überhaupt verstehbar, außerhalb des jeweiligen Kontexts schlechthin unverständlich oder sinnlos ist?

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f) Sind nicht wesentliche und manchmal höchst wirkungsmächtige Gedanken zuweilen gerade in Bildern, Metaphern, Sinngeschichten ausgedrückt worden - und nicht in expliziten, metasprachlich entwickelten Argumenten? Trifft dies etwa nicht auch auf solche Autoren wie den späten Wittgenstein zu, der in einem bilderreichen Fragestil der Philosophie der Gegenwart sehr weitreichende Anregungen gegeben hat?

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Trotz der formulierten und denkbarer anderer Einwände gegen die inhaltliche und formale Bestimmung des Gegenstandes von Philosophiehistorie scheint mir, dass ohne eine solche Bestimmung die Unterscheidung von Philosophischem und Nichtphilosophischem, mithin auch die Rekonstruktion und Interpretation von Geschichte, in diesem Gebiet nicht möglich ist. Zu einzelnen dieser Einwände wird im folgenden noch Stellung genommen.

These 2) Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind Sachverhalte, deren Vorhandensein auf individuelle menschliche Denktätigkeit zurückzuführen ist.

Diese Bestimmung grenzt den Gegenstand in zweifacher Weise ein: Erstens schließt sie all das aus, was mit Sicherheit oder mit Wahrscheinlichkeit (oder nach dem Verständnis etwa eines Autors) nicht durch menschliche Tätigkeit entstanden ist; und zweitens schließt sie aus, was einer anderen menschlichen Tätigkeit als der des Denkens zu verdanken ist. Auf den zweiten Punkt gehe ich hier nicht näher ein. Es scheint mir evident, dass Sachverhalte, deren Vorhandensein etwa auf bloß willensmäßiges Verhalten zurückgeht oder die bloße Gefühlsäußerungen sind, nicht in den fraglichen Gegenstandsbereich fallen.

Was nicht-menschlicher Tätigkeit zugeschrieben wird, kann durch zwei Klassen von Handelnden erklärt werden: durch unterpersonale oder durch übermenschliche Akteure. Es scheint mir nicht unwichtig, diese Denkmöglichkeiten im Auge zu behalten, da sie historisch immer wieder in Auffassungen über den Verlauf der Philosophiegeschichte eine Rolle gespielt haben. Nehmen wir zuerst die Möglichkeit an, die Philosophie oder zumindest Teile der Philosophie seien durch unterpersonale Faktoren produziert, so bieten sich hierfür solche Kandidaten wie die "Natur", die "Stammesgeschichte", die "Rasse", das "Volk", die "Sprache" und ähnliches an. Bei einer derartigen Auffassung wird grundsätzlich das Entstehen einer These mit irgendeiner "naturgegebenen" Bedingung verknüpft, von der man annimmt, dass sie für dieses Entstehen notwendig, aber auch hinreichend ist. Die philosophische These selbst wird damit einer rational-diskursiven Begründung, Diskussion und auch Kritik grundsätzlich entzogen.

Diese Voraussetzung ist nicht so selten, wie man glauben sollte. Sie findet sich, wenn nach einem "weiblichen" Denken auf irgendeinem Gebiet gefragt und damit einem ganzen Geschlecht oder auch einer Sozialisationsform derart prägende Kraft zugeschrieben wird, dass nur die Zugehörigkeit, nicht die Leistung eines Individuums als entscheidend gilt. Es kommt vor, dass eine solche, ursprünglich von der Geschlechterunterscheidung ausgehende Zuschreibung für ganze "Kulturen" oder "Völker" behauptet und mit bestimmten Denkschwächen verbunden wird. So kann man beispielsweise lesen: "Das Wesen des chinesischen Geistes erschließt sich in seiner synthetischen und konkreten, beinahe weiblichen Erfassung der Realität und dem gewollten Ausweichen vor jeder analytischen Form des Überlegens ... Alles in allem zeichnen sich die Chinesen durch einen völligen Mangel an Logik aus ..."[1] Die Unterscheidung von "männlichen" und "weiblichen" Völkern begegnet in der älteren Literatur nicht selten, sie findet sich beispielsweise bei Bismarck, wie Yorck von Wartenburg belegt: "Es ist ... wohl zu unterscheiden zwischen aktiven und passiven Völkern, oder, wie es auch Bismarck in Versailles gelegentlich einmal, den Unterschied zwischen Germanen und anderseits Kelten und Slawen hervorhebend, bezeichnete, männlichen und weiblichen Volksindividualitäten. Die ersteren sind die, welche das Land sich bilden, die letzteren unterliegen dem Einflusse der Landesnatur. Der stärkste Vertreter des ersten Typus sind die Germanen, welche jetzt die verbreitetsten Träger der herrschenden und allein Zukunft habenden christlichen Kultur sind."[2]

Die allgemeine These, dass mit dem Hinweis auf die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv auch eine Erklärung für die Inhalte des Denkens gegeben sei, findet sich in den Hinweisen von nationalsozialistischen Lehrbüchern auf die "jüdische" Denkweise von Philosophen wie Spinoza, Cohen oder Husserl ganz selbstverständlich. Es ist für die LeserInnen dieser erklärtermaßen rassistischen Beschreibungen ganz klar, was sie von solchen Leuten zu erwarten haben: ein wurzelloses, formalistisches, analysierendes Denken, das angeblich nur zerlegt, was andere gedacht haben.[3]

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Schon Hegel kennzeichnete in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte die Völker des Altertums gemäß deren ersten überlieferten Verfassungen, die er jedoch bei den Nachfahren dieser Völker bis heute wirksam sieht. Zu Judäa führt er aus:

"Das Geistige sagt sich hier vom Sinnlichen unmittelbar los, und die Natur wird zu einem Äußerlichen und Ungöttlichen herabgesetzt. ... Die Juden haben, was sie sind, durch den Einen, dadurch hat das Subjekt keine Freiheit für sich selbst. ... Der Staat aber ist das dem jüdischen Prinzip Unangemessene und der Gesetzgebung Mosis fremd."[4]

In ähnlicher Weise charakterisiert Hegel in den Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie das Verhältnis zwischen jüdischem Erbe und christlicher Weiterentwicklung am Ausgang der Antike:

"Das Jüdische hat von Anfang dies Selbstgefühl der Nichtigkeit ausgemacht - ein Elend, Niederträchtigkeit, Nichts, das Leben und Bewußtsein hat. ... <Was das Christentum davon unterscheidet> ist, daß für die Christen diese intelligible Welt zugleich diese unmittelbare sinnliche Wahrheit eines gemeinen Geschehens hatte - eine Form, die sie für das Allgemeine der Menschen haben und behalten muß. Aber diese neue Welt hat darum auch von einem neuen Menschengeschlechte aufgenommen werden müssen, von Barbaren - denn der Barbaren ist es, das Geistige auf eine sinnliche Weise zu nehmen: nordischen Barbaren - denn nur das nordische Insichsein ist das unmittelbare Prinzip dieses neuen Weltbewußtseins."[5]

Die Kennzeichnungen jüdischen Denkens, wie wir sie im Philosophischen Wörterbuch von in der Ausgabe von 1943 finden, sind gewiß rassistisch und antisemitisch; und sie klingen ganz ähnlich dem, was hier Hegel sagt. Hermann Cohen, lesen wir dort, habe jeden "Rückgriff auf gewachsene vorhandene Wirklichkeit" in der Philosophie abgelehnt, für ihn sei der Staat "nicht Selbstzweck". Und "das Volk als Lebenstatsache hat nach C. keinerlei Bedeutung". Oder zu Edmund Husserl: "ein typisch jüdischer Rationalismus <feiere in seiner Philosophie> Triumphe ... und jede gewachsene Wirklichkeit <werde> entwertet." Auch wenn Weinhandl von "echt jüdischer Gewandtheit" spricht, mit der Henri Bergson "die gedankenschweren Leistungen namentlich Schellings und Goethes in gangbare Scheidemünze umzusetzen" gewußt habe, so knüpft das ohne Schwierigkeit an Hegels Kennzeichnung an. Derartige Hinweise bei NS-Autoren finden sich allerorten,[6] und sie mußten offenbar zur Erhärtung ihrer Meinungen nicht auf die Beihilfe der berühmtesten Namen deutscher Philosophie verzichten.

Es ist aber auch in weniger deutlich rassistischen Kennzeichnungen dieselbe Voraussetzung anzunehmen, etwa wenn ganzen Kulturen und Regionen ein lediglich "kollektives" und unbewusstes "Philosophieren" zugesprochen wird, was am deutlichsten im Fall Afrikas regelmäßig vorkommt. In der sogenannten Ethnophilosophie, von der dann gesprochen wird, ist nicht von bewussten und individuell verantworteten Denkleistungen die Rede, sondern von kollektiven Weltbildern (von der Mythologie eines "Stammes", den Sprachstrukturen von "Primitiven" u.dgl.), von lauter Dingen also, die es überall in der Menschenwelt gibt, die aber im Fall des neuzeitlichen Europa sicher nicht als dessen "Philosophie" gelten würden. Auch hier kommt es übrigens vor, dass in (oft schwärmerischen) Schilderungen einer "afrikanischen Philosophie" der "schwarzen Rasse" Denkweisen, Welterklärungen und eine bestimmte Art der Logik zugeschrieben werden, die gleichsam naturbedingt gegeben sei. Ob sich ein solches Bild auf eine Rassentheorie stützt - es gibt einen "schwarzen Rassismus" ebenso wie einen "arischen" - oder auf Volksweisheiten, Sprichwörter oder linguistische Strukturen, spielt keine große Rolle: In jedem Fall handelt es sich um ein Denken ohne einzelne Denker, um etwas also, das wir bei einer Beschreibung moderner Gesellschaften nicht als deren philosophische Leistungen nennen würden.

Was ist das Problem mit den Sichtweisen, in denen etwas Kollektives, Anonymes, ein Allgemeines dem Einzelnen vorgeordnet und zum eigentlichen Produzenten von Gedanken, Vorstellungen, Begriffen erklärt wird?

Eine These kann zwar in genau gleichlautender Weise formuliert sein, ob sie nun als Naturprodukt bzw. als kollektiv-anonymes Kulturprodukt vorgestellt wird, das nur durchgesetzt, nicht aber mit Argumenten diskutiert werden kann, oder ob sie als etwas Kritisierbares, einer Diskussion Unterworfenes gedacht wird. Im ersten Fall bleibt sie jedoch unaufgeklärte Ideologie. Für die kritisierbare These übernimmt jemand die Verantwortung aufgrund von Denk- und Urteilshandlungen, nicht aufgrund von Herkunft und Gruppenzugehörigkeit oder einem kollektiven Wollen - und wer sie vertritt, muss daher auch bereit sein, sie aufzugeben, wenn sie anderen diskursiven Denk- und Urteilshandlungen nicht standhält. Unsere zweite These besagt jedoch, dass Philosophiehistorie es mit Ergebnissen von Denkakten zu tun hat, die von der letztgenannten Art sind.

Wenn es sich so verhält: Hat die Philosophiehistorie mit kollektiven Denkweisen dann überhaupt etwas zu tun? Oder umgekehrt: Ist es nicht eine Illusion, von solcher denkender Unabhängigkeit einzelner Menschen gegenüber ihrer Herkunft, ihrer Gesellschaft, ihrer Zeit und Sprache zu träumen? Ist die Idee, es gebe souverän denkende einzelne, nicht doch bloß ein Überbleibsel aus der Romantik oder einer anderen Tradition, die den Kult des einsamen Genies betrieb?

Mit diesen Fragen sind wir im Kern des Problems, das Hegel als einen inneren Widerspruch formuliert hat. Einerseits kennen wir Denkakte nur als Akte jeweils einzelner Menschen. Was in diesen Akten gedacht wird, braucht als Ausdrucksmittel etwas, das nicht oder zumindest zu einem großen Teil nicht von diesen einzelnen geschaffen wurde, etwa die Sprache. Jede(r) einzelne steht, auch in jedem einzelnen Denkakt, nicht voraussetzungslos einem Gegenstand gegenüber, sondern fußt jedenfalls auf Traditionen und einer Sprache, mit deren Hilfe der Gegenstand in einer jeweils historisch bestimmten Weise zum Ausdruck kommt.Diese Ausdrucksmittel sind in ihren Möglichkeiten verschieden und auch darin, welche Inhalte als einleuchtend erscheinen. Es scheint also, dass nur Differenzen entstehen können. Aber das, worauf sich dieses Denken der einzelnen richtet, sollte wohl allen Menschen zugänglich sein, wenn sie sich nur eben demselben Gegenstand zuwenden. Es muss darum möglich sein, die jeweils gegebenen kollektiven Bedingungen zu überschreiten und wo dies geschieht, ist explizite Philosophie möglich. Wir werden auf diese Problematik im Zusammenhang mit Verfahrensweisen noch näher eingehen, die als Polyloge zu bezeichnen sind.

Muss man den Gegenstand der Philosophiehistorie als ein Produkt kennzeichnen, welches erst auf der Stufe diskursiven Denkens entsteht, sodass es verfehlt wäre, diese Gegenstände irgendwelchen unterpersonalen Kräften zuzuschreiben, so wäre es andererseits ebenso verfehlt, solche Gegenstände dem Bereich der Philosophie zuzuordnen, als deren Produzenten man übermenschliche Denkende anzunehmen bereit wäre. In idealistisch-religiösen Geschichtstheorien ist jedoch auch eine derartige Annahme zuweilen vorzufinden. Dann wird der Philosophie die Rolle einer - vielleicht kritisch-aufmerksamen, aber gewiss nicht autonomen - Dienerin der Religion und Theologie zugewiesen, wie dies Panikkar kürzlich wieder zum Ausdruck gebracht hat: "Philosophie ist nur die bewusste und kritische Begleiterin auf dem Weg des Menschen zu seiner Bestimmung. Dieser Weg ist das, was in vielen Kulturen Religion genannt wird."[7] Eine solche Auffassung legt nahe, dass "Religion" über "Philosophie" gesetzt wird in einer solchen Weise, dass man sich fragen muss, ob hier nicht statt "Philosophie" vielmehr "Theologie" stehen müsste. Wenn nicht eine Verwechslung vorliegt, so ist Panikkars Satz wirklich schwer zu verstehen. Von einer Theologie in Bezug auf eine jeweilige Religion, also in Bezug auf Buddhismus, Islam, Christentum oder auch Hinduismus zu erwarten, dass sie religiöse Menschen in ihrer Religion "bewusst und kritisch" begleite, ist ein sehr naheliegender Gedanke. Aber keineswegs liegt dieser Gedanke für die Philosophie nahe. Diese hat mit Religion zu tun wie sie mit Naturwissenschaft oder Kunst, mit Literatur oder Technik, mit Medizin oder Computernetzen zu tun hat. Mit den Gegenständen, die all diese und viele andere Bereiche menschlicher Tätigkeit behandeln oder schaffen, mit den Ideen dahinter befasst sich Philosophie genauso, wie sie sich auch mit religiösen Vorstellungen und Ideen befasst, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Nun gibt es aber einen bedeutenden Unterschied zwischen einem religiösen Glaubenssatz und beispielsweise einem Computerprogramm. Von letzterem nimmt niemand an, dass es nicht von Menschen geschaffen ist. Dasselbe gilt natürlich auch von einer physikalischen Theorie, von einem Bild, einem Gedicht oder irgendeinem anderen Ding, das von der Art einer Aussage oder eines Symbols ist und das nicht, wie ein Satz, an den religiös geglaubt wird, einer übermenschlichen Instanz zugerechnet wird. Nichts davon, auch wenn es noch so allgemein anerkannt wird, hat den epistemischen Rang eines religiösen Glaubenssatzes, all dies ist von Menschen erdacht oder gemacht und kann sich daher auf keine andere als Menschen zugängliche, von Menschen verantwortete und von Menschen auch kritisierbare Autorität stützen. Von dieser Art sind Gegenstände der Philosophiehistorie: sie sind "gegeben" als Hervorbringungen von Menschen. Sie stehen nie "außer Frage".

Anders verhält es sich mit Natursachverhalten, mit denen philosophische Reflexion sich ebenfalls befassen kann. Sie sind nicht von Menschen gemacht, aber sie sind auch nicht Aussagen, Ideen oder Normen. Religiöse Glaubenssätze wiederum sind Aussagen, Ideen oder Normen, sie werden aber von religiösen Menschen so aufgefasst, als wären sie nicht Menschenwerk. Wer an ein religiöses "Dogma" glaubt, stellt dieses eben "außer Frage" und steht ihm nicht wie einem Computerprogramm, einer politischen oder naturwissenschaftlichen Theorie oder auch einer ethischen Norm gegenüber, die von Menschen gegebene Antworten auf von Menschen gestellte Fragen sind: ein "Dogma", eine "Glaubenswahrheit", eine "Offenbarungswahrheit" oder ähnliches kann nur geglaubt werden. Man kann natürlich alle diese Dinge auch nicht-religiös betrachten, als Hervorbringungen menschlicher Phantasie und menschlichen Denkens - dann sind sie allerdings keine "Dogmen" mehr.

Dies betrifft nun auch die Geschichte und die Geschichtsschreibung der Philosophie: Etwas wie eine "Offenbarungswahrheit" gehört eindeutig nicht zum Gegenstand der Philosophiehistorie. Das wird nochmals in der dritten These deutlich werden, denn für eine "Offenbarungswahrheit", sofern sie Gegenstand religiösen Glaubens ist, kann es keine den (Philosophie-)Historikern verfügbaren empirischen Belege geben.

Damit soll natürlich keineswegs geleugnet werden, dass religiöse Ideen und Schriften, theologische Reflexionen u.ä. für die Geschichtsschreibung der Philosophie von Interesse sind. Ob und in welchem Grad sie aber von philosophischem Interesse sind, hängt von ihren Inhalten ab, und auch davon, in welcher Weise sie im weiteren Verlauf der Denkgeschichte wirksam werden. Religiöse Inhalte können ebenso einer begrifflichen Analyse unterzogen werden wie dies bei wissenschaftlichen Theorien oder bei ästhetischen Normen der Fall sein kann. Philosophieren setzt sich frei von Autoritäten und muss sich anmaßen, jede Art von Glauben oder unbefragter Voraussetzung einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Es wäre ein arger Verlust für die Kenntnis der menschlichen Denkgeschichte, wenn man aus irgendeinem ("wissenschaftlichen") Purismus heraus solche Begriffe, Probleme, Thesen aus dem Gegenstandsbereich der Philosophiehistorie ausschließen wollte, die im Zusammenhang mit religiösen Lehren oder als Ausdruck religiöser Überzeugungen entstanden sind - das beträfe in christlich-abendländischer Tradition etwa die Fragen, die mit der Personalität oder der Willensfreiheit zusammenhängen, und noch eine Reihe anderer -, aber das bedeutet nicht, dass der Verlust geringer wäre, wenn irgendeine bestimmte Glaubensauffassung (religiös oder ideologisch) von vornherein als wahr angenommen und philosophische Reflexionen ihr grundsätzlich untergeordnet würden. Im ersten Fall würde die Philosophie amputiert, im zweiten abgeschafft.

These 3) Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind durch gegenwärtige Zeugnisse, d.h. durch empirische Belege oder Daten erschließbar.

Diese Festsetzung besagt zweierlei:

* erstens, dass es überhaupt empirische Belege für vergangene Erzeugnisse im Bereich der Philosophie gibt, und

* zweitens, dass Philosophiehistorie nur dort und nur so weit möglich ist, als es solche empirische Belege gibt.

Keine der beiden Teilthesen ist unproblematisch: Man muss sich fragen, welcher Art solche empirischen Belege sein können bzw. nicht sein können; man muss sich zweitens aber auch fragen, in welcher Weise und innerhalb welcher Grenzen die Philosophiehistorie über ihre empirischen Daten hinausgehen darf oder sogar muss. Die zweite Schwierigkeit führt uns zur Frage der Angemessenheiten von Interpretationen überhaupt, also zur Hermeneutik. Wie in allen historischen Wissenschaften haben wir es auch in der Philosophiehistorie mit der Schwierigkeit zu tun, dass das empirische Material auf mehreren Ebenen der Subjektivität der Forscher ausgesetzt ist. Die wichtigsten Sachverhalte in dieser Hinsicht sind die Notwendigkeit der Auswahl bei Autoren wie bei Problemen, wobei beides bereits Wertungen voraussetzt, und die Angemessenheit der Interpretation des Materials. Wir werden diesen Schwierigkeiten aber überall begegnen, wo wir geistige Äußerungen anderer Menschen aufnehmen oder darstellen wollen, es ist keine Problematik, die für die Philosophiehistorie spezifisch wäre und auch keine, die etwa erst dort auftreten würde, wenn kulturell differente Prägungen bei den AutorInnen beziehungsweise den RezipientInnen eines Gedankens anzunehmen sind.

Die erste Teilthese besagt, dass es überhaupt empirische Belege für philosophisches Denken gibt. Was solche sind, ist nicht ganz einfach zu sagen, denn der bloße Hinweis auf materielle Sachverhalte (das Vorhandensein von Druckerschwärze auf Papier z.B.) führt hier nicht weit. Vielleicht können wir sagen, dass philosophiehistorische Beschreibungen dem Kriterium gehorchen sollen, dass sie nicht den einschlägigen natur- und humanwissenschaftlich gesicherten Kenntnissen von der Natur des menschlichen Denkens und von dessen historisch-kulturellen Erscheinungsformen widersprechen, sich vielmehr auf diese stützen sollen. Die Sache wird nicht einfacher, wenn wir gewisse akademische oder kulturelle Selbstverständlichkeiten in Frage stellen, etwa wenn wir uns verdeutlichen, dass nicht nur Texte im engeren Sinn des Wortes, schon gar nicht nur Texte bestimmter Form, etwa nur Traktate, als Kandidaten dafür in Frage kommen, Träger philosophischen Denkens zu sein. Es wäre immerhin möglich, auch aus architektonischen Strukturen, aus Rechtsinstitutionen, aus Kunstwerken oder vielleicht aus Tanzformen auf ästhetische, ethische, anthropologische oder auch kosmologische Auffassungen zu schließen. Dies wird hier nur angedeutet; es eröffnen sich mit dieser Überlegung zahlreiche weitere Fragen, vielleicht aber auch neue Möglichkeiten. Heinz Kimmerle (1992, 1997) weist auf Jacques Derrridas "neuen Schriftbegriff als das Hinterlassen `lesbarer Spuren', das ebenso alt ist wie die gesprochenen Sprachen" hin und darauf, dass dadurch "der ganze Gegensatz von oralen und Schriftkulturen obsolet" werde. Er schreibt weiter: "Dies könnte Grund genug sein anzunehmen, dass auch der Gegensatz von Kulturen, die Philosophie haben, und anderen, die keine haben, zu überwinden ist. Diesen Schritt hat Derrida indessen nicht getan." (Kimmerle 1997, 94) Derridas Kritik am Logozentrismus könnte hier dennoch weiterführen.[8]

xxx Weidtmann

These 4) Alle Gegenstände der Philosophiehistorie sind vergangene Sachverhalte.

Diese Festsetzung mag trivial erscheinen, es ist jedoch nützlich, sich ihrer bewusst zu sein, denn durch sie werden grundsätzlich systematische Arbeiten von historischen unterscheidbar. Es werden in der Philosophiehistorie wie in jeder anderen historischen Disziplin beschreibende Aussagen gesucht und begründet, wobei die beschriebenen Ereignisse und Sachverhalte zeitlich vor der Beschreibung liegen.

Was an der Philosophie gehört sicher der Vergangenheit an? Vergangen sind die Akte, Ereignisse, Reflexionstätigkeiten, Kontroversen, die zur Formulierung und Veröffentlichung (als Rede, Text, Bild oder in welchem Medium immer) einer These geführt haben. Vergangen sind auch die Lese-, Aufnahme-, Verstehensakte, die Argumentationssituationen, all das, was zum Betrieb des Philosophierens gehört.

Sind aber auch Theorien, Thesen, ihr Inhalt, ihre Implikationen vergangen? Im strengen Sinn kann man das wohl nur dort sagen, wo solche Thesen eindeutig widerlegt worden sind, wo also ihr Inhalt zu keinem Zeitpunkt das war, was er schien: ein intelligibler Sachverhalt. Eine so eindeutige Widerlegung ist jedoch nicht der Normalfall in der Philosophie. Der übliche Fall ist vielmehr, dass Thesen, Sprechweisen, Themen nach und nach aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden, dass ihre Neuinterpretationen nicht mehr überzeugen; dass wesentliche Teile einer Position aufgegeben, diese dem Namen nach aber noch immer vertreten wird; dass Thesen nur noch in archivierter Form, zum Zweck und in Form von Kommentaren weitergegeben werden. Da philosophische Thesen und Autoren gewöhnlich ihrer Klasse oder ihrem Volk nicht nur ideologische Hilfsmittel zur Orientierung des Lebens, sondern auch eine gewisse Reputation verschaffen, ist das Verschwinden oder Weiterbestehen von philosophischen Richtungen in jeder Epoche von ziemlicher Unregelmäßigkeit: Es ist von allzu vielen Faktoren bedingt.

Das Vergangene an den vergangenen philosophischen Theorien ist ihr Entstandensein in einem anderen gesellschaftlichen, historischen Zusammenhang als dem gegenwärtigen; und genau in diesem Sinn bilden sie den Gegenstand der Philosophiehistorie: Insofern eine These, die überhaupt inhaltlich zum Bereich der Philosophie gehört, nicht gerade jetzt, in aktueller Diskussion entwickelt wird, kann sie als vergangen gelten und Gegenstand philosophiehistorischer Forschung werden. Die Größe des zeitlichen Abstands spielt dabei keine Rolle. Ob ein vergangenes Philosophieren aber zum Gegenstand von Philosophiehistorie wird, hängt immer auch davon ab, dass es nach Auffassung der PhilosophiehistorikerInnen geschichtswirksam ist oder sein sollte. Wir können als "geschichtswirksam" einerseits ein Denken verstehen, das "folgenreich" in dem Sinn ist, dass es eine notwendige Voraussetzung für späteres, gegenwärtiges oder zukünftiges Denken darstellt, oder andererseits ein Denken, das ohne Hinblick auf späteres Denken als "symptomatisch" für eine bestimmte Epoche, Gesellschaft oder Gruppe angesehen werden kann - wobei wir im letzten Fall allerdings eine Kenntnis von dieser Epoche, Gesellschaft oder Gruppe wiederum in irgendeiner Weise für wichtig erklären müssen.[9]

Thesen zur Philosophiehistorie in interkultureller Perspektive

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These 5) In interkultureller Orientierung von Philosophiehistorie sind Klassifikationen und Terminologien zu suchen, die weitgehend kulturübergreifend sind.

Klassifikationen von philosophischen Positionen oder Traditionen sind in der Philosophiehistorie unerläßlich, sie werden aber auch sonst häufig gebraucht, um bestimmte Schulen oder Richtungen auszugrenzen bzw. andere als klassisch darzustellen; Klassifikationen dienen in diesem Bereich also nicht nur der Ökonomie der Darstellung, sondern auch der Merk- und Lernbarkeit des historischen Materials. Nun gibt es allerdings im Bereich der Klassifikationen kaum so etwas wie eine systematische Behandlung des Stoffes, wenigstens nicht, soweit umfassende Darstellungen gemeint sind. In erster Linie läßt die jeweilige Klassifikation einen Schluß darauf zu, was unter Philosophie verstanden wird und welcher Tradition jemand sich zuordnet.[10]

Grob gesprochen kann man zwei Arten von Klassifikationsbegriffen in der Historiographie der Philosophie vorfinden, die jeweils entweder von Fragestellungen der Philosophie selbst ausgehen, also philosophie-immanent sind, und solche, die diese Fragestellungen grundsätzlich transzendieren, die zu ihnen in einem kontingenten Verhältnis stehen.

Zu den ersteren zähle ich z.B. Ausdrücke wie "Realismus", "Materialismus", "Idealismus", "Nihilismus", aber auch "Skeptizismus", "Rationalismus", "Empirismus", "Monismus" und ähnliche.

Zur zweiten Gruppe gehören Ausdrücke wie "griechische", "abendländische", "afrikanische" oder "chinesische Philosophie" u.dgl. Auch Ausdrücke wie "christliche" oder "buddhistische Philosophie", "Scholastik" u.ä. zählen hierher. Deren interpretatorischer Bezugsrahmen ist weniger als im ersten Fall die Philosophie selbst, sondern etwas, worin die Philosophie eine vielleicht wichtige, aber eben doch nur eine teilweise Rolle spielt oder eine bestimmte Art der Organisation von Forschung und Darstellung entwickelt.

Mischformen, die eigentümliche Lehren von Schultraditionen oder Schulgründern oder auch bestimmte Wirkungszusammenhänge als klassifizierendes Merkmal annehmen, sind etwa "Platonismus", "Stoa", "Neuplatonismus", "Daoismus", "Thomismus", "Kantianismus", "Deutscher Idealismus", "Marxismus" u.ä. Wenn dann noch der Deutlichkeit halber unterschieden wird zwischen "thomasisch" und "thomistisch" oder zwischen "marx'sch" und "marxistisch", so wird dadurch jedenfalls eines deutlich: Es braucht geradezu eine Initiation, um sich in solchen Klassifikationen zurechtzufinden.

Die herkömmlichen Modi des Klassifizierens in der Philosophiehistorie, soweit sie mir bekannt sind, sind von bemerkenswerter Urwüchsigkeit und Unübersichtlichkeit. Dies ist schon dann kein Vorteil, wenn sich jemand in den begrifflichen Bahnen und Formen einer etablierten, etwa der okzidentalen Tradition bewegt. Es wird aber vollends zu einem Hindernis für Verständigung, wenn der Versuch unternommen wird, über hergebrachte Grenzen hinaus Philosophie wahrzunehmen und zu verstehen. Darum scheint es sinnvoll, sich Gedanken über die Möglichkeit klassifikatorischer Begriffe für philosophische Positionen zu machen.

Hier scheint eines zunächst klar: dass bei einer Klassifikation in philosophiehistorischer Absicht geordnete Mengen von Sätzen zu klassifizieren sind, die in philosophiehistorisch relevanten Quellen vorkommen. Ist so der Gegenstand der Klassifikation wenig problematisch, so folgt die Frage nach dem Inhalt oder dem Merkmal, wonach klassifiziert werden soll. Hierbei scheint es mir sinnvoll, von der Unterscheidung zweier Begriffe auszugehen, die zwar keineswegs univok gebraucht werden, die jedoch in vielen wenn nicht allen philosophischen Traditionen eine Rolle spielen: den Begriffen "materiell" und "immateriell". Versucht man, jeweils ontologische, epistemologische und ethische Thesen, in denen eine positive oder eine negative Aussage über Materielles bzw. über Immaterielles enthalten ist, auf ihre logische Verträglichkeit hin zu bestimmen, so erhält man eine große Anzahl von denkmöglichen Positionen, von denen wahrscheinlich nicht alle in den tatsächlich vorhandenen Quellen vertreten werden. Dies ist jedoch kein Nachteil, weil damit die wichtige Frage verbunden ist, warum von allen überhaupt denkmöglichen Positionen in einer bestimmten Tradition jeweils gerade die aus den Quellen rekonstruierbaren entwickelt werden. So kann die Klassifikation selbst heuristischen Wert haben.

Eine in der angedeuteten Weise[11] angewandte Klassifikation hätte den Vorzug, eine deutlichere Kennzeichnung inhaltlicher Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu ermöglichen, als dies bei herkömmlichen Benennungsweisen der Fall ist. Sie hat allerdings den möglichen Nachteil, wiederum von den Begriffsfeldern einer einzigen philosophischen Tradition auszugehen - was aber nicht der Fall sein muss.

xxx Terminologien, Hermeneutik, Holensteins Daumenregeln und Quines principle of charity

Welche Schwierigkeiten im Detail zu erwarten sind, kann man sich etwa an solchen Beispielen wie der Übertragung des Terminus "Kategorie" in die chinesische Sprache verdeutlichen. Lee (1988) schildert den Fall folgendermaßen:

In den vergangenen Jahren gab es eine hitzige Debatte in China um den Punkt, wie das grundlegende fan-ch'ou der chinesischen Philosophie zu identifizieren sei. Fan-ch'ou wird heute allgemein verwendet, um die Kategorie der westlichen Philosophie zu übersetzen ... Ein sehr aufmerksamer chinesischer Leser wird sich vielleicht erinnern, dass der Ausdruck ursprünglich im antiken Shu-ching (Buch der Urkunden) vorkommt. Dort wurde fan-ch'ou verwendet, um die Grundelemente wahrer Herrschaft und Regierung zu bezeichnen. Für einen heutigen chinesischen Denker hat fan-ch'ou jedoch eher philosophische als politische Obertöne, und nur wenige Leser haben die nötige Bildung, um zu wissen, dass der Ausdruck diesen historischen Ursprung und diese Konnotationen hatte. Für einen heutigen Chinesen bedeutet ein fan-ch'ou eher irgendeine Art Grundeinheit des Wissens oder eine philosophische Idee, und wenn er auch vielleicht weiß, dass fan-ch'ou ein erkenntnistheoretischer Ausdruck für etwas ist, worüber besonders ARISTOTELES und KANT schreiben, so wird er wahrscheinlich eben denken, dass Kategorie ein philosophischer Schlüsselbegriff sei.
Die Verwendung von fan-ch'ou im chinesischen Kontext bedeutet also zwei Dinge zugleich. Erstens ist dies ein Ausdruck mit politischen Nebenbedeutungen, der in Beziehung steht zu einem wieder geschätzten antiken Dokument über die Kunst des Regierens. Zweitens ist es etwas aus der traditionellen westlichen Erkenntnistheorie Entlehntes. Es wird daher irreführend sein, ein fan-ch'ou einfach als Kategorie zu betrachten, zu dessen Übersetzung das Wort dient. Ohne ernsthafte und wissenschaftliche Reflexion auf die Geschichte der Bedeutungsveränderungen dieses Ausdrucks besteht keine Hoffnung, ihn in seiner Verwendung durch heutige chinesische Philosophen zu verstehen. [12]

Das spricht zwar für Vorsicht und Umsicht, aber nicht gegen die Nützlichkeit einer möglichst klaren Klassifikation im Umgang mit philosophiehistorischen Gegenständen, denn benannt werden die Dinge ohnehin immer, nur eben nicht immer in möglichst unmißverständlicher Weise.

These 6) In interkultureller Orientierung ist Problem und Institutionengeschichte der Philosophie angemessen.

Entsprechend der jeweiligen Auffassung vom Gegenstand ist in der okzidentalen Tradition von Philosophiehistorie zu unterscheiden zwischen Bibliographie, Doxographie, Problemgeschichte, Biographie und Institutionengeschichte.[13] Außer der hier diskutierten Frage nach der Gegenstandsauffassung ist bei einer Reflexion auf Philosophiehistorie auch die Frage nach deren Darstellungsform und nach deren Funktion zu stellen. Als wichtigste Darstellungsformen können wir auf die chronologische, die entwicklungsmäßige, die kanonische und die systematische Darstellung verweisen. Als Funktionen von Philosophiehistorie wären zu nennen: Traditionsbildung oder -kritik, Wissenschaftsplanung, Heuristik und Wertorientierung. Die beiden letzten Fragen werden hier nicht ausgeführt.

Die Instituitionengeschichte findet sich erst in der Neuzeit, wogegen die anderen in unterschiedlichen Spielformen (der Häresographie, der Diadochographie etc.) bereits in griechischen Werken vorliegen. In chinesischer Tradition finden sich, bezogen auf Philosophie, ebenfalls Bibliographie, Doxographie und Biographie, in einzelnen Perioden auch problem- und institutionsgeschichtliche Ansätze. Ähnliches läßt sich für indische Traditionen sagen - wenngleich etwa die Erstellung genauer Chronologien, in chinesischer wie in griechischer Tradition als sehr wichtig angesehen, dort kein vorrangiges Interesse fand. Die Unterschiede zwischen diesen Traditionen bezüglich der einzelnen Literaturgattungen und ihre jeweiligen Entwicklungsstadien herauszuarbeiten, ist eine Aufgabe, die noch nicht in Angriff genommen wurde. Für die okzidentale Tradition liegen erst seit kurzer Zeit detaillierte Studien über die Geschichte der Philosophiehistorie vor.[14]

Um die formulierte These zu erläutern, ist es notwendig, auch die anderen angesprochenen Gegenstandsbestimmungen anzusprechen.

a) Bibliographie:

Gegenstand der Bibliographie sind Texteinheiten, die dem Bereich der Philosophie zugeordnet werden. Dabei wird das vorgegebene Material in einer funktional bestimmten Weise ausgewählt (z.B. als Literatur zu einem Problem, zu einer Schule, zu einem Autor, über eine philosophische Disziplin u.ä.) und geordnet oder klassifiziert. Die Bibliographie hat stets theoretische oder systematische Voraussetzungen als Grundlage:

* Erstens wird relativ zu einem als wichtig beurteilten Thema eine Bibliographie erstellt; dies trifft bei einer Bibliographie über die Frage der Unsterblichkeit ebenso zu wie bei einer über österreichische PhilosophInnen der Gegenwart: Der Autor (oder das intendierte Publikum) der Bibliographie hält sein Auswahlthema für wichtig.

* Zweitens ist entweder vorausgesetzt, dass die schriftlichen, d.h. die veröffentlichten oder zumindest fixierten Auffassungen zu einem Thema auch die wichtigsten (gewichtigsten) vorfindbaren historischen Quellen zu diesem Thema sind, oder - stärker formuliert -, dass die wichtigsten Äußerungen zu einem Thema der Philosophie eben auch schriftlich veröffentlicht oder zumindest fixiert sind.

Diese beiden Voraussetzungen sind jedoch nicht für alle Kulturen in gleicher Weise zutreffend. Mag die erste noch für weite Bereiche des Philosophierens in unserer Tradition zutreffen - obgleich es auch in Europa wichtige geistige (eben auch philosophische) Strömungen gab und gibt, die kaum im offiziell-wissenschaftlichen Publikationswesen dokumentiert sind -, so ist die zweitgenannte Voraussetzung dazu angetan, die Sicht auf das geistige Erbe solcher Kulturen vollends zu verstellen, deren Medium nicht in einem vergleichsweise hohen Maß die Schrift war. Insbesondere sollte durch eine solche Voraussetzung nicht die Annahme gerechtfertigt werden, es sei in jenen Kulturen, aus deren Produzieren selbst die aufwendigste Bibliographie nur wenige (in absoluten Zahlen) Werke etwa zur Metaphysik oder zur Ethik verzeichnen kann, nichts an wesentlicher oder gewichtiger metaphysischer Reflexion oder an ethischen Maximen zum Gedankengut der Menschheit beigetragen worden. Da die Beherrschung der Schrift nicht nur als eine Steigerung der Kommunikations- und Reflexionsfähigkeit, sondern auch als eine Steigerung der Herrschaftsfähigkeit anzusehen ist, sind die weniger schriftintensiven oder weitgehend schriftlosen Kulturen als qualitative Minderheiten einzustufen; was diese denken, kann sehr trefflich sein, Gehör verschaffen sie sich nur schwer oder gar nicht. Die Bibliographie schließt sie eher aus, als dass sie ihr Denken erschließt: Sie erfaßt nur veröffentlichte schriftliche Produkte.

b) Doxographie:

Den Gegenstand der Doxographie bilden überlieferte Formulierungen von PhilosophInnen, wobei diese sowohl unkommentiert wiedergegeben, als auch in einen systematischen Zusammenhang gebracht werden können. In beiden Fällen ist kennzeichnend, dass die Gliederungsgesichtspunkte der Texte sich nicht aufgrund der systematischen Reflexionen der referierten PhilosophInnen ergeben, sondern aufgrund eines Rasters an Themen oder Meinungen, die über die überlieferten Texte gestülpt werden. Es handelt sich bei der doxographischen Erfassung philosophiehistorischer Sachverhalte also um das Anlegen von traditionellen Einteilungs- und Benennungsmustern an vorhandene Texte oder Textfragmente.

Das doxographische Interesse scheint in der Geschichte der Philosophiehistorie von ausschlaggebender Bedeutung zu sein. Es tritt überall dort auf, wo sich Philosophie zum Zweck der Einführung oder der Darstellung gegenüber einem breiten Publikum auf ihre vergangenen Leistungen berufen will. Es ist daher grundsätzlich von einer appellativen, auf Zustimmung hin ausgerichteten Haltung gekennzeichnet. Die Gedanken der PhilosophInnen werden dabei in einer interpretierenden, klassifizierenden und meist auch ausdrücklich übersetzenden Weise dargeboten, die dem vorausgesetzten Leserinteresse entspricht. In mehr oder weniger hohem Grad sind wohl alle Darstellungen der Philosophiegeschichte (zumindest auch) doxographisch. In so unterschiedlichen Textgattungen wie den Gesprächen des Konfuzius und dem philosophiehistorischen Hauptwerk der europäischen Aufklärung, der Historia Critica Bruckers, stoßen wir auf ein vorrangig doxographisches Interesse.

Die Doxographie - von Theophrast und dem Lunyu bis zu Sofies Welt - hat eine Voraussetzung, die jener der Bibliographie vergleichbar ist: dass klar sei, dass die "doxa", die "Meinungen" von dem- oder derjenigen wert seien, im Gedächtnis behalten zu werden. Es ist eine Weise des Darstellens und Aneignens von Gedanken, die darauf beruht, dass die UrheberIn der jeweils vorgestellten Meinungen in einer als gesichert und wichtig erachteten Tradition gesehen wird. Insofern dient diese Gattung eher der Selbstbestätigung der jeweiligen Tradition als der Ausweitung des Horizonts.

c) Biographien:

Von den ersten Biographien der aristotelischen oder konfuzianischen Schulen bis zu Erinnerungen an Wittgenstein und ähnlichen Werken der Gegenwart steht biographische Literatur immer im Dienst einer Selbstverständigung mit Hilfe der Erinnerung an Vorbilder.

Biographien können sympathetisch oder kritisch-entlarvend verfaßt sein, aber in jedem Fall bilden sie Solidarität - indem sie die jeweils eigene Tradition stärken oder die gegnerische angreifen. Ob sie freundlich oder feindlich mit den geschilderten Personen umgehen, stets streben Biographen danach, eine Einheit darzustellen und herzustellen. Gewiß ändern sich manche Gesichtspunkte dabei, auch methodische Voraussetzungen. Wenn etwa in Biographien Kindheits-Begebenheiten den Rang von paradigmatischen Brennspiegeln des künftigen Lebensinhaltes erlangen (in den Erzählungen über die Kindheit von Religionsstiftern am deutlichsten, aber auch bei Gestalten wie Konfuzius oder Sokrates vorhanden), so fallen derartige Nachrichten seit der frühen Neuzeit zunehmend der quellenkritischen Analyse zum Opfer.

In der pragmatischen Erklärung aufklärerischer Philosophiehistorie hat die Biographie vorübergehend explizit systematische Züge angenommen: Es ist nach deren Auffassung nur aufgrund der Lebensumstände eines Denkers zu erklären, wenn er irrige Auffassungen entwickelt hat. Dieser Gedanke - überzeugend lediglich unter der Voraussetzung einer Normalvernunft, die, ungehindert angewandt, zu wahren Erkenntnissen gelangen müsse - ist jedoch implizit in vielen Phasen biographischer Beschreibungstradition vorhanden.

Die biographischen Aussagen über Konfuzius (z.B. im Lunyu) sind nicht rein deskriptiv. Sie sind, deutlicher ausgedrückt, überhaupt nicht oder nicht in erster Linie als Informationen intendiert, sondern als Appelle. Wenn gesagt wird, dass Konfuzius bei bestimmten Gelegenheiten geschwiegen bzw. gefragt habe, so heißt das für den Leser, dass es bei derartigen Gelegenheiten angebracht ist, zu schweigen bzw. zu fragen; schwierig mag es für ihn sein, jeweils zu wissen, welche Gelegenheiten von derselben Art sind. Der biographische Bericht hat also erzieherische Funktion. Woher kommt ihm diese zu? Wir haben es bei dem Wunsch nach Solidarität, der der Biographie ihren Sinn gibt, mit einem Autoritätsargument zu tun. Was aber ist es, das Lebensumstände und Verhaltensweisen von PhilosophInnen autoritativ macht? Die Antwort ausschließlich im Rang oder im Wahrheitsgehalt ihres Denkens zu suchen, wäre naiv. Gelegentlich läßt sich gerade im Gegenteil der Eindruck nicht vermeiden, dass die Autoritätsvermutung bezüglich des Denkens von Berichten über Handlungen und Lebensumstände getragen ist. Dies kann gerade dann jedoch eine trügerische Neigung sein, wenn es sich um DenkerInnen aus fremden Traditionen handelt. Dann nämlich ist beides möglich: dass der Bericht über ihre Lebensumstände und Verhaltensweisen verhindert, sie als denkende Menschen ernstzunehmen; aber auch: dass dieser Bericht es erschwert, sich mit ihrem Denken kritisch auseinanderzusetzen.

Obgleich bibliographische, doxographische und biographische Arbeiten in Bezug auf nichtokzidentale philosophische Traditionen nützlich und notwendig sind, plädiere ich doch in erster Linie für problem- und institutionengeschichtliche Projekte.

d) Problemgeschichte

Als Gegenstand der Problemgeschichte sind Fragestellungen und Lösungsvorschläge anzusehen, die im Verständnis der HistorikerInnen als philosophisch zu klassifizieren sind. Es handelt sich also um eine Zugangsweise, die in erster Linie von den in den systematisch philosophischen Diskursen der jeweiligen Gegenwart leitenden Gesichtspunkten und Fragestellungen bestimmt ist. Das rekonstruierte Denken der Vergangenheit wird dabei entweder in einem Entwicklungsmodell oder im Rahmen der gegenwärtigen Forschungssituation dargestellt.

Gregor Sebba hat im Zusammenhang mit der Philosophiehistorie in analytischer Tradition von "doctrinal analysis" gesprochen, worunter er "the study of philosophical concepts, propositions, doctrines and systems, to determine their precise meaning, structure, and internal validity" versteht. Es kann zwar eine Menge an historischer Arbeit notwendig sein, um eine solche "doctrinal analysis" vorzubereiten, wie etwa: "text criticism, historical study of the language used, contemporary and earlier literature on the subject, and so forth". Jedoch bleibt, bei aller historischen Arbeit, die Zugangsweise zur Geschichte der Philosophie, wenn sie rein problemgeschichtlich vorgeht, solange unhistorisch, als sie die Vergangenheit der Philosophie als etwas Zeitloses, Nicht-Geschichtliches behandelt. Sebba fordert daher, sie durch eine "historische Analyse" zu ergänzen: "Historical analysis by contrast, treats the same material as historical fact, as an object in time to which its precise position in the flux of change is essential and constitutive."[15]

Die problemgeschichtliche Zugangsweise in der Philosophiehistorie ist vor allem für solche Traditionen kennzeichnend, die eine stark entwickelte Methodologie der Erkenntnis aufweisen, im europäisch-neuzeitlichen Kontext also etwa für den Kantianismus, den Positivismus und die Analytische Philosophie. In der indischen Tradition können die Arbeiten, die zur Unterscheidung der sechs klassischen astika-Schulen geführt haben, dazu gezählt werden.

In allen diesen Fällen treten hinsichtlich der Philosophiehistorie Tendenzen auf, in einer möglichst rein systematischen Weise die Ergebnisse, Mißergebnisse und Fragestellungen der vergangenen Philosophie zu der als einigermaßen gültig angesehenen gegenwärtigen Philosophie in Bezug zu setzen. Nach meinem Verständnis des Projekts einer interkulturell orientierten Philosophie ist darin deren zentrales Interesse zu sehen, auch im Hinblick auf die Geschichte: Die differenten Traditionen miteinander ins Gespräch zu bringen nicht nur zum Zweck des Kennenlernens oder um einander besser zu verstehen, sondern letztlich, um mit den Mitteln des Philosophierens in Sachfragen gemeinsam weiter zu kommen. Das schließt natürlich Kritik und Selbstkritik ein, es läßt nicht einfach bestehen, was besteht.

e) Institutionengeschichte

Institutionen als Gegenstand der Philosophiehistorie können von unterschiedlichem Typ sein. Grundsätzlich handelt es sich jeweils um kollektive Bedingungen, unter denen Entwicklungen des philosophischen Denkens vor sich gegangen sind. Hierbei muss unterschieden werden zwischen solchen Institutionen, die den akademischen oder wissenschaftlichen Betrieb der Philosophie (in der älteren Literatur: der Wissenschaften) betreffen wie z.B. Akademien, Universitäten, Bibliotheken, Kommunikations- und Organisationsformen etc. - und anderen Institutionen, welche die allgemeine gesellschaftliche Organisation einer Epoche bestimmen (wie z.B. das Rechtswesen, die Staatsorganisation, Religionen, Wirtschaftsformen, Sprachgeschichte etc.). Der Gegenstand wird in der Institutionengeschichte mit dem Ziel bearbeitet, empirisch-sozialwissenschaftliche Erklärungshypothesen für den Ablauf der Philosophiegeschichte zu finden oder Wissenschaftsplanung auf eine historische Basis zu stellen.

Wenn ich meine, dass die Geschichte von Institutionen zusammen mit Problemgeschichte wichtig für die Historiographie der Philosophie im Zusammenhang mit kulturellen Differenzen ist, so ist dies keineswegs ein Plädoyer für Ethnophilosophie. Ein Projekt, in dem eine gelungene Verbindung institutionsgeschichtlicher mit problemgeschichtlichen Fragestellungen zugleich mit dem erstmaligen Bekanntmachen individueller PhilosophInnen vorliegt, ist beispielsweise die Rekonstruktion der sogenannten "sage-philosophy" von DenkerInnen der Luo in Kenya durch Henry Odera Oruka. [16]

Hier werden die Lebensumstände, die gesellschaftliche Organisation von Wissen und die Funktion der Weisen zugleich mit deren Thesen und Argumentationen vorgestellt. Das ist dem kollektivistischen Ansatz der Ethnophilosophie ebenso entgegengesetzt wie einem bloßen Verstärken von bereits etablierten Traditionssträngen. Es bringt Stimmen zu Gehör und zwar so, dass es bei dem, was sie sagen und wie sie dies tun, wirklich schwerfällt, zu bestreiten, dass es sich dabei im strikten Sinn um Philosophie handelt.

These 7) Kultur und Philosophiegeschichte sind im allgemeinen eurozentrisch. Damit ist eine Begrenzung oder Beschränkung gegeben: Okzidentale Philosophie ist (auch) eine Regionalphilosophie (ebenso wie diejenige anderer Regionen)

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Amady Aly Dieng, Hegel, Marx, Engels et les Problèmes de l'Afrique Noire (Sankoré, o.J.) 47: "Hégel affirme qu'il n'y a ni liberté, ni pensée chez les peuples non européens. La philosophie, la pure pensée et la liberté, ne se retrouve qu'en Occident, seul continent historique. C'est au nom de ce principe que Hégel justifie la domination de l'Europe sur les autres parties du monde. En ce sens, il est le plus grand idéologue de l'impérialisme colonial." Und Dieng führt hier auch Marcien Towa an, der über Hegels "véritable idéologie de l'impérialisme occidental" schreibt: "Le refus de la philosophie aux peuples coloniaux en demeure l'expression la plus élaborée et la plus constante." Marcien Towa, Essai sur le problématique philosophique dans l'Afrique actuelle, (Yaoundé 1971) 22

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Wenn es sich bei der okzidentalen Philosophie tatsächlich nur um eine regionale, wenngleich um eine hochdifferenzierte Spielform von Philosophie überhaupt handelt, so wäre jedes Argument, das sich ausschließlich auf Autoritäten dieser Tradition beruft, selbst "ethnophilosophisch" und könnte insofern keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Intelligibilität erheben. In jeder Sachfrage der Philosophie sind unter dieser Annahme möglichst differente philosophische Denkformen und Begriffsfelder aufzusuchen und aneinander zu messen. Es ist daher zu Recht von einem "Antizentrismus der Interkulturellen Philosophie" gesprochen worden, wobei aber nicht zu vergessen ist, dass jeder interkulturelle Dialog oder Polylog[17] notwendig vom je Eigenen ausgehen muss. Dies betrifft natürlich schon den Begriff des Philosophischen selbst. Jeder Zugang zu philosophischen Fragen, welcher Orientierung auch immer, muss seinen Gegenstand definieren, mithin von nicht-philosophischen Gegenständen abgrenzen. Es liegt auf der Hand, dass das bloße Faktum der Namensverwendung "Philosophie" dafür nicht ausreicht. Weder ist es so, dass im akademischen Diskurs bereits alles unter diesem Namen subsumiert ist, was rechtens dazugehört - dies hat die Diskussion um "afrikanische Philosophie" deutlich gemacht. Noch aber kann ein inflationärer Gebrauch des Namens, wie ihn der Büchermarkt spiegelt, ohne Orientierungsverlust übernommen werden. Vielmehr wird interkulturell orientiertes Philosophieren einen Philosophiebegriff zu entwickeln haben, der sowohl inhaltliche als auch formale Bestimmungen enthält. Beim gegenwärtigen Stand der Diskussion um interkulturelle Philosophie ist dies ein, allerdings dringliches, Desiderat.

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These 8) Eine Ausweitung des kulturellen Horizonts der Philosophiegeschichte ist möglich und nötig: Neue Quellen sind zu erschließen, neue Traditionen zu interpretieren, neue Textsorten einzubeziehen.

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[1] Amaury de Riencourt: Die Seele Chinas. Frankfurt/M.: S. Fischer 1962, S. 107 und 122

[2] Paul Graf von Yorck von Wartenburg, Weltgeschichte in Umrissen. Federzeichnungen eines Deutschen, (Berlin, 32. Auflage 1933 <1.Aufl. 1897, 21. Aufl. 1919, bearb. v. Hans Helmolt>) S. 5.

[3] Vgl. dazu Wimmer (1989) S. 89-114

[4]Hegel, Philosophie der Geschichte, 285 f.
"Als Staat betrachtet", so hatte schon Herder in den Ideen festgestellt: "kann also kaum ein Volk eine elendere Gestalt darstellen, als dies, die Regierung zweier Könige ausgenommen." (313) Und einige Seiten weiter lesen wir bei Herder: "Das Volk Gottes ... ist Jahrtausende her, ja fast seit seiner Entstehung eine parasitische Pflanze auf den Stämmen andrer Nationen; ein Gechlecht schlauer Unterhändler beinah auf der ganzen Erde, das trotz aller Unterdrückung nirgend sich nach eigner Ehre und Wohnung, nirgend nach einem Vaterlande sehnt." (316)
Wilhelm Wundt wiederholt Hegels These 1915, die Juden gehörten "keiner Nation" an, wenn er über Spinoza schreibt: "Er gehört keiner Nation und allen zugleich an, analog wie die jüdische Rasse selbst, die, wo immer sie sich den europäischen Völkern assimilierte, stets zugleich ihre Eigenart bewahrt hat." (Wundt, Nationen, 26)
Auch Weinhandl, Philosophie - Werkzeug, 8 bemerkt an dem "Bild ..., das die jüdischen Gruppen des Neukantianismus und die jüdischen Hegelausleger zeichneten", vor allem, es sei "eine abstrakte, dünne, neutralisierte, internationale Geist- und Begriffsphilosophie" gewesen.

[5]Georg Wilhem Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie, (Leipzig 1982, Bd.III) 22.

[6]Schondorff, Wörterbuch, 83, 248; Weinhandl, Philosophie - Werkzeug, 16.
Im Handbuch zur Judenfrage war schließlich dazu zu lesen: "Was der Jude uns von der herrlichen schöpferischen Aufbauarbeit der idealistischen Systemdenker übriggelassen hat, ist ein Wust von sogenannten erkenntniskritischen Begriffsspaltereien, ein rein formalistischer Wissenschaftsbetrieb, der die Grundlagen unserer Weltanschauung entgöttert, entseelt und aus der philosophischen Debatte ausgeschieden hat." Vgl.: Raymund Schmidt, Das Judentum in der deutschen Philosophie. In: Theodor Fritsch (Hg.): Handbuch zur Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes., (Leipzig 1938, 42. Aufl.) 395, zit. nach Hartmann, Philosophie)

[7] Raimon Panikkar: Religion, Philosophie und Kultur. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Jg. 1 1998, Nr. 1, S. 13

[8] Ich danke Mathias Thaler für den Hinweis auf diese Diskussion.

[9] Zur Unterscheidung von vier Bedeutungen von "folgenreich" in diesem Zusammenhang vgl. Wimmer (1978) S. 115f.

[10] Als Teilbereich der Klassifizierung ist die jeweilige Periodisierung zu sehen. Vgl. dazu Plott (1999).

[11] Ein entsprechender Entwurf wurde im Detail ausgeführt in: Wimmer (1990b)

[12] Vgl. dazu Thomas H.C. Lee: "Chinesische Ideen in transkultureller Begrifflichkeit. Die Bedeutung der Geistesgeschichte". In: Wimmer (Hg.) Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien: Passagen 1988, S. 117-143. Hier S. 126-128

[13] Vgl. dazu Wimmer (1990a), S. 267-276

[14] Vgl. z.B. Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990; Ulrich Johannes Schneider: Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990 sowie die von Giovanni Santinello und Gregorio Piaia seit 1979 herausgegebenen Bände einer "Storia delle Storie Generali della Filosofia".

[15]Sebba (1970), S. 252; vgl. auch Fischer und Wimmer (1986)

[16] Vgl. Oruka (1988, 1990), Graneß und Kresse (1997)

[17] Zum Konzept des Polylogs als Verfahren interkulturell orientierten Philosophierens vgl. Wimmer 1996.


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