Thema 1: Einleitung
Thema 2a: Griech. Antike
Thema 2b: China
Thema 2c: Frühe Neuzeit
Thema 3a: Aufklärung

Thema 3b: Kantzeit
Thema 3c: Hegel und Marx

Thema 4: entfällt in diesem Semester
Thema 5: Postkoloniale, feministische und interkulturelle Perspektiven
Thema 6: Globale Philosophiegeschichte

Alte Versionen ('95/96):


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Geschichte der Philosophiehistorie

(Vorlesungen von Franz M. Wimmer, Wien)

Philosophie in Entwicklung - Hegel und Marx oder Die Eule und der Maulwurf (Version 2014 – in Ausarbeitung)

Hegel | Marx und Marxismus | Anmerkungen
Prüfungsrelevant zu Hegel:

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. Hg.: Karl Ludwig Michelet. Berlin: Duncker & Humblot, 1833. Einleitung S. 11-118 Volltext im Internet: http://books.google.at/books?id=DIRZAAAAcAAJ&hl=de&source=gbs_navlinks_s
oder eine andere Ausgabe.

Prüfungsrelevant zu Marx/Engels:
Gerd Irrlitz und Dieter Lübke: "Einleitung." In: Karl Marx und Friedrich Engels: Über Geschichte der Philosophie. Ausgewählte Texte, S. 5-49. Leipzig: Reclam, 1983.


Es geht vernünftig zu. Mit diesem Glauben an den Weltgeist müssen wir an die Geschichte und insbesondere an die Geschichte der Philosophie gehen. (Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie)
Die philosophische Geschichtschreibung hat es nicht sowohl damit zu tun, die Persönlichkeit, sei [es] auch die geistige des Philosophen, gleichsam als den Fokus und die Gestalt seines Systems zu fassen, noch weniger in psychologisches Kleinkramen und Klugsein sich zu ergehn; sondern sie hat in jedem Systeme die Bestimmungen selbst, die durchgehenden wirklichen Kristallisationen von den Beweisen, den Rechtfertigungen in Gesprächen, der Darstellung der Philosophen, soweit diese sich selbst kennen, zu trennen; den stumm fortwirkenden Maulwurf des wirklichen philosophischen Wissens von dem gesprächigen, exoterischen, sich mannigfach gebärdenden phänomenologischen Bewußtsein des Subjekts, das das Gefäß und die Energie jener Entwicklungen ist. (Marx, Epikureische Philosophie)

Sowenig wie im Falle Kants ist es für Hegel und auch Marx in unserem Zusammenhang möglich oder auch nur sinnvoll, deren Denken im Ganzen vorstellen zu wollen, dieser Anspruch wird also hier keineswegs erhoben. Ich stelle Hegel hier lediglich als einen Denker vor, der sich mit der Philosophiehistorie befasst hat, mit deren Gegenstand, deren Funktionen und deren möglichen und angemessenen Darstellungsweisen. Ich gehe, anders gesagt, davon aus, dass man nur seine "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" und sonst nichts von seinen Schriften bzw. hinterlassenen Vorlesungen zur Kenntnis nehmen muss, um zu erfahren, was er darüber denkt. Insbesondere scheint es nicht sinnvoll, die thematisch verwandten "Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte" heranzuziehen, denn die Thesen der erstgenannten Vorlesungen können und müssen für sich selbst stehen.
Von Marx ist eine vergleichsweise allgemeine Darstellung auf diesem Gebiet nicht vorhanden, aber er hat sowohl in eigenen, als auch in Schriften, die er mit Engels gemeinsam verfasst hat, sehr häufig auf Fragen der Philosophiegeschichte und -historie Bezug genommen. Die Befassung mit diesem Gebiet hat im Marxismus und Leninismus starke Bedeutung gewonnen und eigene Standards einer internationalistisch orientierten Geschichtsschreibung entwickelt. xxx

Georg Wilhelm Friedrich Hegel

In der Einleitung zu seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie formuliert Hegel ein Dilemma:

Der Gedanke, der uns bei einer Geschichte der Philosophie zunächst entgegenkommen kann, ist, daß sogleich dieser Gegenstand selbst einen inneren Widerstreit enthalte. Denn die Philosophie beabsichtigt das zu erkennen, was unveränderlich, ewig, an und für sich ist. Ihr Ziel ist die Wahrheit. Die Geschichte aber erzählt solches, was zu einer Zeit gewesen, zu einer anderen aber verschwunden und durch anderes verdrängt worden ist. Gehen wir davon aus, daß die Wahrheit ewig ist: so fällt sie nicht in die Sphäre des Vorübergehenden und hat keine Geschichte. Wenn sie aber eine Geschichte hat, und indem die Geschichte dies ist, uns nur eine Reihe vergangener Gestalten der Erkenntnis darzustellen, so ist in ihr die Wahrheit nicht zu finden; denn die Wahrheit ist nicht ein Vergangenes. (15)1

"Die Wahrheit" ist hier das entscheidende Wort. Es wird uns in Hegels Vorlesung immer wieder begegnen und stets wird "die Wahrheit" wie eine Person, zumindest wie ein Individuum auftreten. Sie ist es, vor der ein anderes Individuum "erbleicht": die "Meinung"(20). "Die Wahrheit" steht außerhalb und über der Zeit, sie ist "ewig". Sie ist das Ziel der Philosophie (15), die die "Lehre der absoluten Wahrheit"(16) ist, doch nicht in dem Sinn, wie in der Religion, der "eine von Anfang an festbestimmte Wahrheit als Inhalt zugestanden" (17) werde. Und: "die Wahrheit" ist eine. (24) Wer diese "Wahrheit" eigentlich hat, ist ebenfalls etwas wie eine Person: der "Geist". Auch diesen kennt Hegel sehr genau, denn er kennt sein Ziel:

Dies Beisichsein des Geistes, dies Zusichselbstkommen desselben kann als sein höchstes, absolutes Ziel angesprochen werden. Nur dies will er und nichts anderes. (29)

Hegel kennt auch den Weg zu diesem Ziel: die "Entwickelung" zum "Konkreten". Was sich da unterwegs auf das "Konkrete" hin entwickelt, ist schlechterdings das Universum. Nichts in der Welt ist von diesem Prozess ausgenommen, alles entsteht, vergeht, geschieht, handelt, lebt, denkt als Teil dieses Entwicklungsprozesses:

Alles, was im Himmel und auf Erden geschieht - ewig geschieht -, das Leben Gottes und alles, was zeitlich getan wird, strebt nur darnach hin, daß der Geist sich erkenne, sich sich selber gegenständlich mache, sich finde, für sich selber werde, sich mit sich zusammenschließe. (29)2

Es ist also nur ein Teilprozess des Ganzen, den Hegel beschreiben will, wenn er die Geschichte der Philosophie beschreibt. Aber es ist ein wichtiger Teilprozess - wichtiger jedenfalls, als es der Prozess oder der bloße Verlauf des Philosophierens wäre. Damit ist auf den Gegenstand hingewiesen, den er ins Auge fasst: es ist nicht die "äußerliche Geschichte" der Philosophie, also die Geschichte philosophierender Menschen, deren Lebens- oder Denkbedingungen, deren Wirken oder Scheitern - alle derartigen Fragen sind für Hegel lediglich "interessant", sie gehen nicht in den Kern der Sache

und erst wenn wir von der eigentümlichen Natur der philosophischen Erkenntnis mehr werden berührt haben, können wir auf die Seiten mehr eingehen, die sich mehr auf die äußere Existenz und äußere Geschichte der Philosophie beziehen. (17)

Diese "eigentümliche Natur" liegt aber nun genau in der "Entwicklung" des "Geistes" zum "Konkreten". Was das bedeutet, wie es geschieht, was seine Stationen und Ergebnisse sind, haben wir zu fragen. Wir können dies an den zentralen Begriffen sehen, unter denen Hegel die Geschichte des philosophischen Denkens zu erfassen glaubt: Wahrheit, Geist, Entwicklung.3

"Wahrheit"

"Die" Wahrheit "ist" so und so: sie ist "ewig" (15), sie ist das "Ziel" der Philosophie (15), sie ist der Inhalt des Christentums (17) und steht der subjektiven Meinung gegenüber (20). Sie ist ein Individuum, "ist Eine" (21) und steht im Gegensatz zur eigenen Einsicht (104). Es ist klar, dass diese "Wahrheit" nicht so etwas ist wie eine Eigenschaft von Aussagen, sondern dass es sich um etwas Substanzartiges handelt, etwas allerdings, das im Entstehen begriffen ist. Es handelt sich jedoch dabei durchaus nicht um ein Fortschreiten in der Erkenntnis wahrer Sätze, um eine Annäherung an Wahrheit, wie dies von Popper und dem kritischen Rationalismus begriffen wird4, sondern um einen "Strudel der Bewegung", in dem der Dialektiker der "Wahrheit" zutreibt.5

"Geist"

Einer der Zeitgenossen Hegels, den mit ihm eine intime Gegnerschaft verband, war Jacob Friedrich Fries. Er fragt sich: "hielt denn der Weltgeist sich im Ernst einmal mit Thales für Wasser, mit Herakleitos für Feuer ... zugleich auch mit Epikuros für den, der gar nicht ist? Das ist sonderbar! Der Weltgeist muß entweder der Alte überall und nirgends, oder sonst ein drolliger spaßhafter Gesell sein."6 In der Tat ist es unverständlich, außer vielleicht aus einem christlich-theologischen Geschichtsbild, wie Hegel von dem, was er "objektiver Geist" oder auch "Volksgeist" nennt, zur Annahme eines "Weltgeists" kommt. Seine diesbezüglichen Ausführungen sind alles eher als überzeugend, sie klingen nach Wunschdenken. Dies ist aber ein entscheidender Punkt. Vergegenwärtigen wir uns, was dieser "Geist" sein soll, der da in der Geschichte der Philosophie zum vollen Bewusstsein seiner selbst gelangen soll.

Es ist ein "allgemeiner" Geist (11), mit dem wir zu tun hätten - nicht der Geist eines Volkes7; sein Wesen ist Tätigkeit (12). In ihm fällt Anfang und Ende zusammen und wenn er sich entwickelt, was ausschließlich im Denken geschieht, kann dies als sein höchstes Ziel gesehen werden (29). Er kann sich wohl erinnern an seine früheren Zustände, sonst hätte Hegels Vorlesung keinen Sinn, aber er kann sie nicht mehr ernstnehmen (49). Er äußert sich auf verschiedenen Gebieten, in der Kunst, der Wissenschaft, in der Religion8, und eben auch in der Philosophie - aber er ist immer ein und derselbe (53); er tritt immer erst dann auf, wenn "der Geist eines Volkes sich aus der gleichgültigen Dumpfheit des ersten Naturlebens herausgearbeitet hat" (54), dann aber verwertet er sozusagen den Nachlass dieses Volkes: "Der Geist flüchtet in die Räume des Gedankens, und gegen die wirkliche Welt bildet er sich ein Reich des Gedankens." (55) Ihm ist nichts Wirkliches fremd - er erkennt in allem sich selbst (77) - und man darf annehmen, dass das, was ihm fremd ist, auch nicht wirklich ist. Er ist selbstzeugend: "Der Geist zeugt sich selbst, und erst im Zeugnis; er ist nur, indem er sich zeugt, sich bezeugt, und sich zeigt, sich manifestiert." (73) Sein Mittel der Selbstzeugung ist die Sprache; Mythen und Symbole braucht er nicht. (86) In den Begriffen, die der "Geist" sich selbst von sich macht, liegt der Grund für alle menschlichen Verhältnisse, für die Gesetzgebung, die Religion usw. (92) Er beginnt seinen Weg "im Orient" (95), dort allerdings nur "auf substantielle, natürliche, patriarchalische Weise" (96), und setzt ihn im Okzident fort:

Die eigentliche Philosophie beginnt im Okzident. Erst im Abendlande geht diese Freiheit des Selbstbewußtseins auf, das natürliche Bewußtsein in sich unter damit der Geist in sich nieder. Im Glanze des Morgenlandes verschwindet das Individuum nur; das Licht wird im Abendlande erst zum Blitze des Gedankens, der in sich selbst einschlägt und von da aus sich seine Welt erschafft. (96)

"Entwicklung"

Entwicklung, wie Hegel sie versteht, ist ein Höherschreiten durch Entgegensetzungen, nicht nur eine Abfolge verschiedener Stadien. Was sich entwickelt, bleibt mit sich identisch und verändert sich doch. Wir haben gesehen, dass die Chronologie in der Geschichte der Philosophie von Hegel mit der Logik parallel gesetzt wird. Das hält er jedoch in seiner Beschreibung keineswegs durch, was denn zu einem oft wiederholten Einwand führt.9 Und der schon zitierte Fries stellt denn auch fest: " Man theilt ... die Rückschritte in der Geschichte der Philosophie (wie die Geheimenräthe) in wirkliche und nichtwirkliche, und erklärt alle in der Geschichte wirklich vorkommenden für nichtwirkliche."10

Kommentar zu den Grundbegriffen

Der "Geist" muss uns hier nur insofern interessieren, als Hegel vom "Weltgeist" spricht. Die angeführten Merkmale aus der Einleitung der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie betreffen diesen. Wozu braucht er ihn? Was spricht für eine solche Annahme, und was spricht dagegen? Dies sind keine ganz müßigen oder nur historische Fragen, wenn wir etwa sehen, wie in der Rede von einer Neuen Weltordnung heute immer noch ähnliche, teilweise auch auf Hegel aufbauende Vorstellungen auftauchen. Die Frage, auf die Hegel mit seiner Idee des "Weltgeists" antwortet, ist heute nicht weniger aktuell als jemals. Es ist schlicht die Frage, ob die unterschiedlichen Entwicklungen, welche Menschen in der Vergangenheit durchlaufen haben, einen geheimen Sinn, eine Richtung haben, sodass eine künftige Einheit der Denkweisen und Weltanschauungen zu erwarten ist - oder ob dies nicht der Fall ist, sodass Vielheit fortbestehen, neue Formen von Vielheit immer wieder entstehen werden. Die Annahme eines "Weltgeists" wäre ganz unverständlich bei der zweiten Möglichkeit, sie macht nur im ersten Fall Sinn. Es ist nun durchaus nicht einzusehen, warum Hegel in dieser Frage das endgültige Urteil haben sollte, wenn er nicht tatsächlich am Ende aller Geschichte steht und über alles Bisherige endgültig Bescheid weiß. Verdächtig bleibt jedenfalls dass Hegel den "Weltgeist" aufgrund der "Vernünftigkeit der Geschichte" annimmt und die "Vernunft in der Geschichte" mit dem "Weltgeist" erklärt.

"Die Wahrheit", von der Hegel in seiner Vorlesung spricht, ist etwas wie ein Individuum. Hier zeigt sich der Theologe, nicht der Philosoph. Man kann freilich "die Wahrheit" ebenso substantivieren und substantialisieren wie viele andere Konzepte auch, das Deutsche legt diese Möglichkeit nahe. Wenn eine solche Hypostasierung aber geschieht, so ist doch immer noch nach den Argumenten dafür zu fragen. Es ist zwar keineswegs so, dass der Ausdruck "wahr" in der Philosophie immer in derselben Bedeutung verwendet würde, doch betreffen die Unterschiede hinsichtlich des Begriffsinhalts wie auch hinsichtlich des Kriteriums für das Zutreffen des Begriffs stets irgendein Verhältnis (zwischen Geglaubtem oder Gewusstem und Wirklichem etc.). Eine Hypostasierung, wie Hegel sie vornimmt, kann sich daher gewiss nicht auf allgemeinen Sprachgebrauch stützen - außer auf einen christlich-religiösen. Im Neuen Testament findet sich zwar der Satz: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben", doch zeigt schon die Zusammenstellung dieser drei Ausdrücke, dass hier nur metaphorisch gesprochen sein kann: "der Weg" kann wohl kaum einen bestimmten "Weg" meinen, und ebensowenig kann irgendein Lebewesen anders als metaphorisch von sich sagen, es sei "das Leben". Hegel will nicht metaphorisch über "die Wahrheit" sprechen, aber er tut es.

Die Idee der "Entwicklung" der Philosophie zeigt bei Hegel eine ähnliche Zirkularität, wie dies beim Begriff des "Geistes" bereits festgestellt wurde. Der Zirkel ist vitiös: es soll sich aus dem Denkgeschehen selbst zeigen, dass darin die Entwicklung eines Identischen auf dem Weg über Gegensätze stattgefunden hat, aber dies muss andererseits vorneweg angenommen werden, um zu wissen, was denn eigentlich geschehen ist.

Kritik an Hegels Philosophiehistorie

Hegels Zugang zur Geschichte der Philosophie zu kritisieren, fällt einerseits so leicht, dass fraglich scheint, ob an dieses Unternehmen überhaupt noch erinnert werden, ob es nicht vielmehr vergessen werden sollte. Der abfällige Ton, in dem er über die unphilosophischen, einsichtslosen Historiker der Philosophie11 spricht, die sich der Mühe des Zusammenstellens und Interpretierens fremder Denkweisen und -inhalte unterzogen haben, lässt sich schwerlich überbieten. In dieser Gefahr sieht er selbst sich freilich nicht, denn nichts, worüber er spricht, ist ihm ein Fremdes, alles Wirkliche hat "der Geist", will sagen: Hegels Geist, sich angeeignet.12 Man muss sich tatsächlich in die Monomanie dieses Zugangs hineinbegeben, dann werden die Ergebnisse vorhersehbar. Es ist aus der Hegel`schen Vorlesung über die Geschichte des philosophischen Denkens der Menschheit daher wenig zu lernen; sehr viel allerdings ist zu lernen über das Selbstverständnis des Autors und eines großen Teils der okzidentalen Philosophen. Wir werden darum doch auch wieder nicht einfach Hegels Worte über Afrika aus seiner Vorlesung zur Philosophie der Geschichte abwandeln und sagen dürfen: "Wir verlassen hiemit Hegel, um seiner künftig keine Erwähnung mehr zu tun."

Es ist nicht so einfach, und auch nicht überflüssig, dieses Unternehmen zu kritisieren. Die wesentlichen Voraussetzungen dürften klargeworden sein: es handelt sich um die ausgebreitete Beschreibung einer Vision von Identität. Es handelt sich nicht um die Beschreibung oder die gedankliche Durchdringung der Vielheit menschlicher Denkformen. Aus diesem Grund ist Hegels Darstellung der Philosophiegeschichte abzulehnen: nicht, weil er dies und jenes nicht gewusst, weil er in diesem oder jenem Detail geirrt hat - was allerdings auch wiegt -, sondern weil er sich überhaupt nicht der Möglichkeit des Anderen aussetzen wollte; und weil dies eine Haltung ist, die nur mit Mitteln des Imperialismus aufrechtzuerhalten ist. Es handelt sich um einen Kraftakt, der ins Leere geht, wenn ringsherum Neues und Anderes entsteht. Die leidige Frage etwa, die sich aus Hegels Überlegungen zuweilen ergeben hat, ob denn nun alles zu Ende und nichts wirklich Neues mehr zu erwarten sei, ist lediglich konfus: hätte Hegel dergleichen gedacht, so sind diejenigen zu bedauern, die meinen, es darum auch schon ernst nehmen zu sollen. Es geht aber nicht nur um die Menschheit nach Hegel, es geht auch um diejenige vor ihm; und es geht um die Einschätzung Hegels als eines Historikers der Philosophie. Dazu einige Punkte, lediglich zur Klarstellung.

a) Es gibt Wissensmängel bei Hegel:
Hegel weiß relativ wenig über die Vorgeschichte. Das ist ihm nicht anzukreiden - noch Virchow hat den Schädel von Neanderthal völlig irrig datiert. Die Entwicklungsgeschichte der Menschen, die archaische Kunst, die Strukturen menschlicher Sprache sind heute weit genauer bekannt, als dies für irgendeinen Zeitgenossen Hegels der Fall war. Dies ist nicht nebensächlich, wenn jemand beansprucht, den Weg "des Geistes" zu beschreiben.
Hegel weiß wenig über die Denktraditionen Asiens, die er so eindeutig "abscheidet". Dies ist jedoch nicht einfach ein Wissensmangel, sondern bedingt einen Mangel an Urteilsfähigkeit.13 Es ist ein Mangel, der durch Interesselosigkeit bedingt ist und seinerseits Interesselosigkeit befördert hat.
Hegel weiß so gut wie nichts über afrikanische und amerikanische Denktraditionen, jedenfalls schweigt er darüber. In dieser Hinsicht scheint er sich voll und ganz an den von ihm sonst so harsch kritisierten Brucker gehalten zu haben, der 1756 befand, es sei in diesen Weltgegenden nicht nur keine Spur von Philosophie, sondern auch kaum der Gebrauch der Vernunft zu finden.14 Eine solche Zurückhaltung der Neugierde auf die Tiefe von Hegels Begriffen zurückführen zu wollen, wäre eine petitio principii.

b) Es gibt behauptetes, doch fragliches Wissen Hegels:
Was Hegel
weiß oder zu wissen glaubt, ist erstens, dass das Christentum die Religion schlechthin ist.15
Ferner
weiß er, was "der Geist" will, was er tut, wohin er sich entwickelt. Dieses "Wissen" ist (denn eine "Meinung" darüber hat er nach eigenem Bekunden nicht) die notwendige und auch hinreichende Voraussetzung dafür, über Geschichte der Philosophie sinnvoll zu sprechen. Die Voraussetzung ist bei ihm erfüllt - so meint er jedenfalls.
Auch
weiß Hegel, welche der Ausdrucksformen des Geistes unbeholfen sind: der Mythus und die Mathematik. Beides sind "Symbole"; der Geist braucht sie nicht wirklich, denn er hat etwas Besseres: die "Sprache"16. Kein Wort verliert Hegel darüber, dass es sich immer, auch hier, um eine Sprache mit ihren Besonderheiten handelt, niemals um die Sprache. Es stünde einem Philosophen besser an, hier wie auch sonst (etwa im Fall "der" Geschichte, "der" Menschheit usf.) den Singular zu problematisieren oder in aller Deutlichkeit beispielsweise zu sagen, "der Geist" habe "die deutsche Sprache" - wenn genau das doch gemeint ist.

Hegel schreibt suggestiv; seine sprachlichen Bilder sind häufig von großer Eindringlichkeit. Das bedeutet weder, dass sie klar sind, noch auch, dass sie richtig sind. Als Leser sollte man daher bei jedem dieser Bilder fragen, wie denn eigentlich belegt ist, was in dem Bild vermittelt werden soll. Die verwendeten Ausdrücke sind meist nur scheinbar einfach, ihre Zusammenfügung überrascht oft, was den Eindruck eines tieferen Sinns macht. Es empfiehlt sich jedoch, in allen derartigen Fällen zu fragen, wie die Sache einfacher gesagt werden kann. Auch wenn Hegels abfälliger Tonfall denjenigen gegenüber, die nicht vorgeben, die Einsicht in die große Einheit zu haben, dies schwer macht, sollte man ihn so lesen, als wüsste man nicht, wie er, genau über die Wege "des Geistes" Bescheid.


Marxismus

Karl Marx und Friedrich Engels haben sich in vielen ihrer Arbeiten mit Fragen der Philosophiegeschichte auseinandergesetzt. Das ist kein Zufall, denn der "wissenschaftliche Sozialismus", den sie vertraten und dessen Schöpfer sie sind, fußt wesentlich auf einer Theorie über die Gesetzmäßigkeiten historischer Entwicklung. Ihre Position ist ein materialistisch gewendeter, kritischer Hegelianismus. Das gilt für die geschichtsphilosophischen wie auch für die philosophiehistorischen Theorien. Marx formuliert seine Auffassung über den Gegenstand und die Methode der Philosophie bereits sehr früh; in den Exzerptheften über "Epikureische Philosophie" (1839) ist zu lesen:

Die philosophische Geschichtschreibung hat es nicht sowohl damit zu tun, die Persönlichkeit, sei [es] auch die geistige des Philosophen, gleichsam als den Fokus und die Gestalt seines Systems zu fassen, noch weniger in psychologisches Kleinkramen und Klugsein sich zu ergehn; sondern sie hat in jedem Systeme die Bestimmungen selbst, die durchgehenden wirklichen Kristallisationen von den Beweisen, den Rechtfertigungen in Gesprächen, der Darstellung der Philosophen, soweit diese sich selbst kennen, zu trennen; den stumm fortwirkenden Maulwurf des wirklichen philosophischen Wissens von dem gesprächigen, exoterischen, sich mannigfach gebärdenden phänomenologischen Bewußtsein des Subjekts, das das Gefäß und die Energie jener Entwicklungen ist. In der Trennung dieses Bewußtseins ist eben seine Einheit als wechselseitige Lüge nachgewiesen. (K. M. Epikureische Philosophie, Heft 7, 1839)17

Damit hat die Philosophie wie auch die übrigen Äußerungsformen des Denkens keine autonome Geschichte, sondern ist gebunden an die materiell-gesellschaftlichen Verhältnisse, die darin ihren begrifflichen Ausdruck finden. In der "Deutschen Ideologie" (1842) schreiben Marx und Engels:

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe. Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen pp., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sint durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozeß.18

und kommen zu dem Ergebnis, das in der weiteren Geschichte der marxistischen Philosophiehistorie leitend bleibt:

Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.19

Grundzüge marxistisch-leninistischer Philosophiehistorie

Ausgehend von einer allgemeinen Zuordnung zu einem geschichtsphilosophischen Typus wird im Folgenden die marxistisch-leninistische Geschichtsauffassung, wie sie vor allem in der Sowjetunion entwickelt wurde, am Beispiel der historiographischen Disziplin der Philosophiehistorie dargestellt. Das Schwergewicht liegt dabei auf der Beschreibung methodologischer Besonderheiten: die Gegenstandsbestimmung, der Stellenwert, methodologische Prinzipien (Parteilichkeit, Grundfrage, Objektivität, Historismus, Einheitsprinzip) werden ausgeführt. Als inhaltliche These wird die These von der gesetzmäßigen Entwicklung der Philosophie geschildert, dabei erscheinen die allgemein soziologischen, wie die spezifisch philosophiehistorischen Gesetzmäßigkeiten die angenommen werden, als genuiner Beitrag zur Wissenschaftstheorie der Philosophiehistorie. Abschließend wird der Versuch einer Bewertung unternommen, wobei besonders die dezentralisierte, internationalisierte Betrachtungsweise der Philosophiegeschichte, wie die marxistisch-leninistische Tradition dieser Disziplin in ihren theoretischen Reflexionen und in ihren praktisch-historischen Arbeiten sie betonen, als Positivum erscheint.

These (1): Marx` Geschichtsauffassung wird hier als geschichtsphilosophischer Typus bestimmt, in dem jeder einzelne historische Sachverhalt .(wie: Handlungen, Verhaltensweisen, Denkweisen etc.) zumindest teilweise nicht intentional, sondern durch allgemeine, dem jeweiligen Subjekt nicht inhärente oder bewusste Gründe zu erklären ist. Diese Auffassung hat bedeutsame Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft.

Daraus ergeben sich bestimmte Annahmen für eine Theorie der Geschichte in der zweiten Wortbedeutung, und zwar auf drei Ebenen:
a) die Relevanzgesichtspunkte (für Auswahl, Problemstellung etc.) orientieren zur Untersuchung von ökonomischen Bedingungen, der Arbeitsgeschichte, der Geschichte von zunehmend antagonistischen Kollektiven, Klassen;
b) dementsprechend werden die für die Beschreibung zentralen Begriffe gewählt (z.B. Klasse);
c) Hypothesen für die Verlaufserklärung werden formuliert und geprüft, wobei diese mit den theoretisch bestimmenden Begriffen wie Gesellschaftsformation, Entwicklung und Revolution arbeiten.
Damit ist angedeutet, dass und inwiefern eine Theorie über Geschichte in der ersten Wortbedeutung Konsequenzen für die Geschichtswissenschaft und deren Theorie hat: diese Folgerungen beziehen sich auf Auswahl, Beschreibung und Erklärung (und betreffen weiter auch noch den Stil der Darstellung, also c), was ich aber hier ausspare).

These (2): Folgerungen für die Erfassung der Geschichte lassen sich in jedem Bereich historischer Forschung zeigen. Als Beispiel dafür werden hier Grundzüge der Behandlung von Philosophiegeschichte unter der Annahme der Richtigkeit der marxschen Geschichtsauffassung dargestellt. Konkret wird die v. a. in der Sowjetunion entwickelte marxistisch-leninistische Theorie und Praxis der Philosophiehistorie vorgestellt.

Gerade die Diskussion um die Philosophiehistorie hat unter marxistischen Annahmen (in der Sowjetunion) ein so hohes theoretisches Niveau erreicht, wie dies in den methodologischen Diskussionen außerhalb des Marxismus m. E. für die Philosophiehistorie gar nicht, für andere historische Disziplinen selten der Fall ist - weswegen aus dieser methodologischen Diskussion so gut wie aus irgendeiner die marxistisch-leninistische Auffassung von einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung zu erkennen ist.

Wenn ich von den in marxscher Tradition entwickelten Formen der Philosophiehistorie die sowjetische (nach 1947) auswähle, so spricht auch hierfür mehreres: erstens sind in der Sowjetunion Werke über die Geschichte der Philosophie von einer Umfassendheit und Detailliertheit geschaffen (und teilweise auch übersetzt) worden, wie sie m. E. von nicht-leninistischen Marxisten nicht vorliegen; zweitens war die sowjetische Theorie und Praxis der Philosophiehistorie weiten Kreisen im Westen ziemlich unbekannt, es besteht.also eine Bekanntheitslücke; drittens sind die Arbeiten der sowjetischen Historiographen der Philosophie zumindest hinsichtlich ihrer internationalistischen Tendenz dem erst in jüngerer Zeit entwickelten neuen Typus der interkulturellen Philosophiehistorie zuzuordnen, den ich nicht nur für den wesentlichen Beitrag des 20. Jahrhunderts auf dem Gebiet der Philosophiehistorie, sondern auch für etwas über die Philosophie hinaus Nützliches und Wichtiges halte. Nach vier Themen will ich nun die Historiographie der Philosophie vorstellen: wie der Gegenstand bestimmt wird, welcher Stellenwert dieser Disziplin zugeschrieben wird, welchen Prinzipien die Darstellung gehorchen soll und welche Gesetzmäßigkeiten für den Verlauf der Philosophiegeschichte angenommen werden.

A. A. Zdanov wirft 1947 seinen Philosophenkollegen vor, sie seien zu sehr "historistisch" interessiert, und A. F. Okulov stellt 1962 fest, "Stalins Personenkult" habe "viele philosophische Kader dazu verleitet, sich von aktuellen Problemen ab- und den Problemen der Philosophiegeschichte zuzuwenden."20 Wie es mit dieser Erklärung auch stehen mag, sicher ist, dass mit der Diskussion um G. F. Aleksandrovs "Geschichte der westeuropäischen Philosophie" (1946), die zur Selbstkritik des Autors führte und die den Inhalt von Heft 1 des ersten Jahrgangs der "Voprossy Filosofii" (1947) bildete, die Phase der vorwiegend edierenden, nach Zdanov "historistischen" Beschäftigung mit der Philosophie und deren Geschichte ihren Abschluss gefunden hat und dass in dieser Diskussion die Definitionen, Richtlinien, Pläne entwickelt wurden, die zu einem Aufschwung der sowjetischen Philosophiehistorie führten, so dass Rybarczyk21 in seiner Freiburger Dissertation 1975 feststellen konnte:

"die sowjetische Historiographie der Philosophie bildet wahrscheinlich die lebendigste Disziplin in der sowjetischen Philosophie; sie ist voll von ernsten Diskussionen über grundlegende Probleme, ihr neuestens erreichtes Niveau ist beachtlich; sie kann auch den nichtsowjetischen Historikern der Philosophie manche nützliche Anregungen geben."

In der Bestimmung des Gegenstandes dieser Disziplin wurde grundsätzlich von Friedrich Engels ausgegangen, der als die Grundfrage der Philosophie die Frage nach dem Primat von Materie oder Geist bestimmt hatte, worauf es zwei mögliche Antworten gebe: Materialismus oder Idealismus. Da der Marximus-Leninismus als die entwickeltste Form des Materialismus, und die Materialisten früherer Zeiten als die jeweils fortschrittlichsten Denker ihrer Zeit angesehen werden, lag es nahe, wenn Zdanov als den Gegenstand der Philosophiehistorie "die Geburt, die Entstehung und Entwicklung der wissenschaftlichen materialistischen Weltanschauung und ihrer Gesetze"22 ansah Diese Festsetzung wurde jedoch als zu einseitig verworfen, insbesondere deshalb, weil bedeutende Idealisten wie Hegel oder Halbidealisten wie Aristoteles aufgrund einzelner ihrer Thesen, aufgrund methodologischer Reflexionen – und jedenfalls trotz ihres Idealismus – als wichtig und insgesamt fortschrittsfördernd eingestuft wurden. Diese Diskussion kam zu einem klaren Ergebnis, sodass für Lange und Barth23 "der Hinweis auf den objektiven Idealisten Hegel und auf den anthropologischen Materialisten Feuerbach sowie auf ihre subtile Einschätzung durch die Klassiker des Marxismus-Leninismus" genügt, um zu verdeutlichen, "daß es die objektive Widersprüchlichkeit und Kompliziertheit des philosophiehistorischen Prozesses verfehlte, wollte man – worauf Marx und Engels nie verfielen – simplifizierend Materialismus gleich Fortschritt und Idealismus gleich Reaktion setzen." Wird eine solche Gleichsetzung aufgegeben, so gewinnen auch andere als nur materialistische Traditionen eigenes Interesse: sowohl die "Geschichte der Philosophie"24 als auch der "Abriß der Geschichte der Philosophie"25,beides als Gemeinschaftswerk der bekanntesten sowjetischen Philosophiehistoriker an der Akademie der Wissenschaften in Moskau entstanden, enthalten folgerichtigerweise eine umfassendere Gegenstandsbestimmung der Philosophiehistorie. Den Text aus dem Abriß will ich vollständig wiedergeben:

"Der Gegenstand der Geschichte der Philosophie als Wissenschaft ist die Entstehung und Entwicklung des philosophischen Denkens von den Anfängen bis zur Gegenwart unter dem Gesichtspunkt seines Anteils an der Herausbildung einer wissenschaftlichen Weltauffassung und seiner sozialen Rolle in der Geschichte.
Die marxistische Geschichte der Philosophie, die in der Hauptsache die Entwicklung der materialistischen Philosophie, ihren Kampf gegen den Idealismus sowie die Ablösung einer Form des Materialismus durch andere untersucht, erforscht dabei gleichzeitig die Geschichte der ideali stischen Lehren und deren Auseinandersetzung mit dem Materialismus. Sie untersucht die Entstehung und Entwicklung der dialektischen und der metaphysischen Denkmethode.
Da die Philosophie eine spezifische Form des gesellschaftlichen Bewußtseins und insofern eine bestimmte Erkenntnis der Wirklichkeit ist, die in spezifischen Begriffen, Kategorien und Aussagen fixiert wird, erforscht die marxistische Philosophiegeschichte auch die Heraus- und Umbildung der philosophisch relevanten Kategorien und Begriffe.
Zu ihrem Gegenstand gehört ferner die Vorbereitung, Entstehung und Entwicklung der marxistischen Philosophie. Sie zeigt deren grundlegenden Unterschied zu allen anderen philosophischen Lehren und ihre Rolle bei der sozialistischen und kommunistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Schließlich gibt die marxistische Geschichte der Philosophie eine wissenschaftliche Kritik der bürgerlichen Weltanschauung, insbesondere ihrer zeitgenössischen Strömungen." (Abriß 1966, 6)

Welcher Stellenwert, welche Funktion wird nun dieser historiographischen Disziplin zugesprochen, was soll sie leisten? Das Studium der Geschichte der Philosophie soll vor allem die Entwicklung des menschlichen Denkens erkennen helfen; der Höhepunkt dieser Entwicklung ist mit dem dialektischen und historischen Materialismus gegeben, und dieser wird nicht als etwas bloß Kontingentes betrachtet: "Die Geschichte der Philosophie als Wissenschaft zeigt, dass ihr Weg notwendigerweise, historisch gesehen, zur marxistischen Philosophie führte", lesen wir im Abriß (1966, 18). Sie zeige auch, "daß die Quelle der Entwicklung und Bereicherung jeder fortschrittlichen, progressiven Philosophie die Verbindung zum Leben, zur Praxis war, ist und immer sein wird. Es handelt sich hier insbesondere um die gegenwärtige wissenschaftliche, d. h. marxistische Philosophie . . ." (Geschichte 1959, I, S. 21) So sollte durch historische Untersuchungen der Primat oder vielmehr die ausschließliche Wissenschaftlichkeit und Fortschrittlichkeit der marxistisch-leninistischen Philosophie erwiesen werden. Aber "die Untersuchung der Geschichte der Philosophie ist nicht nur von theoretischem Interesse, sondern sie hat auch praktisch-politische und erzieherische Bedeutung", schreiben die Autoren des Abriß (Abriß 1966, S. 18) und Lange und Barth stellten fest:

"Das Studium der Philosophiegeschichte hat zumindest einen vierfachen Wert: einen mittelbar oder sogar unmittelbar praktischen, einen ideologischen, einen intellektuellen und einen erzieherisch-sittlichen."26

Die Geschichte führt den praktisch-ideologischen Wert näher aus:

"Aufs engste mit der Politik der kommunistischen Parteien verbunden, ist sie berufen, als Waffe im ideologischen Kampf der progressiven Kräfte der gegenwärtigen Gesellschaft gegen die Kräfte der Reaktion und des Obskurantismus zu dienen. (Geschichte 1959, I, S. 20f)

Sie hilft nicht nur im Kampf gegen Religion und Aberglauben, sondern

"sie lehrt die fortschrittlichen Menschen aller Völker das Beste, was im Bereich des philosophischen Denkens nicht nur des eigenen, sondern auch anderer Völker geschaffen worden ist, zu schätzen und zu studieren und dies auszunutzen für die Entwicklung einer progressiven Kultur und den Kampf gegen die heutige Reaktion." (Geschichte 1959, I, S. 22)

Auch als Unterrichtsfach, zur Aneignung dialektischen Denkens, sei die Geschichte der Philosophie zu schätzen, sowie als Orientierungshilfe und Überzeugungsmittel für Intellektuelle:

"Sie kann den Gelehrten und Kulturschaffenden helfen, die noch nicht die Position der echten wissenschaftlichen Weltanschauung bezogen haben, sich vom Einfluß der idealistischen und metaphysischen philosophischen Strömungen zu befreien, das Wesen und die Bedeutung der neuen Entdeckungen und technischen Erfindungen richtig einzuschätzen und deren idealistische Auslegung und Ausnützung zu reaktionären Zielen zu verhindern." (Geschichte 1959, I, S. 23)

Es war also nicht übertrieben, wenn Rybarczyk betont: "Der Geschichte der Philosophie in der SU wird unzweifelbar große Bedeutung zugemessen"27,und darauf hinweist, dass daraus auch für das Studium der systematischen Philosophie sich deutliche Verbesserungen ergeben hätten: Das Begriffsarsenal habe sich erweitert, das Problembewusstsein sei gestiegen; systematische Probleme seien zunehmend in ihrem historischen Zusammenhang gesehen worden; die Philosophiehistorie sei zur eigenständigen Disziplin geworden, die sich in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Praxis entwickelt habe.28 Dazu noch einmal Lange und Barth:

"Offenbar ist die Philosophie unter allen Wissenschaften diejenige, für deren Verständnis, Aufbau und Weiterentwicklung die eigene Geschichte die größte Bedeutung besitzt." Dies komme daher, dass die (marxistisch-leninistische) Philosophie "in exemplarischer Weise die Einheit von Historischem und Logischem verkörpert, daß sie gleichermaßen und vollgültig logische (theoretische) und historische Wissenschaft ist."29

Besonders deutlich wird bei Lange und Barth der auch in sowjetischer Literatur betonte sittlich-erzieherische Wert der Philosophiehistorie unterstrichen und mit zentralen Thesen des Marxismus-Leninismus verknüpft:

"Schon wegen ihres Ideologiecharakters kann man Philosophie nicht ,unparteiisch` und ,unpersönlich` betreiben. Sowohl die Produktion als auch die Konsumtion von Philosophie beansprucht die ganze Persönlichkeit, nicht nur ihre intellektuell-rationalen, sondern auch ihre emotionalen und volitiven Fähigkeiten. Das Studium der Philosophie und ihrer Geschichte wirkt persönlichkeitsbildend. Ohne das tiefe Eindringen in die Philosophie und ihre Geschichte wären auch unsere Klassiker nicht zu denen geworden, als die sie in die Geschichte eingegangen sind."30

Methodologische Prinzipien

Was sind nun die methodologischen Prinzipien, die eine so anspruchsvolle Disziplin leiten sollten? Schlagwortartig kann man fünf Prinzipien oder methodologisch relevante Thesen nennen, die hier in der sowjetischen Literatur angeführt wurden:

Sehen wir uns jedes einzelne dieser Prinzipien, d. h. das, "was Grundlage einer Gesamtheit von Fakten oder Kenntnissen ist"31 näher an.

Das Prinzip der Parteilichkeit hat Lenin in "Materialismus und Empiriokritizismus" (1908) explizit formuliert; vier Thesen sind für uns wichtig: erstens, dass es in der Grundfrage der Philosophie (s. u.) nur entweder Materialismus oder Idealismus gebe; zweitens, dass die Einstellung zur Grundfrage (und deren Beantwortung) von "außerhalb der Philosophie liegenden Ursachen" abhänge; drittens, dass philosophische Meinungen außerphilosophische Folgen haben; und viertens, dass philosophische Erkenntnisse nicht wertfrei seien, sondern stets emotional, wertend engagiert (auch wenn ihr Wortlaut dies verdeckt). Dies alles angenommen, ergibt sich, dass philosophische Produkte auch nicht unparteiisch dargestellt werden können oder sollen: diese Möglichkeit besteht schon darum nicht, weil der Historiker ja stets das ,Bedeutsame`, das ,Wichtige` o. ä. auswählt, und darin ergreift er bereits Partei. Er kann höchstens, wie dies der "bürgerlichen" Philosophiehistorie attestiert wird, den Schein der Unparteilichkeit zu erschleichen suchen, was aber natürlich echtem Wissensgewinn abträglich ist und was selbst einem verbrämten parteilichen Interesse (etwa chauvinistischer oder klassenmäßiger Art) dient. Es kommt also alles darauf an, die richtige Parteilichkeit zu üben.32

Dieses Prinzip der Parteilichkeit steht in enger Verbindung mit dem ebenfalls erkenntnisleitenden Prinzip, sich in Problemstellung, Auswahl, Erklärungsformulierung, Klassifikation usf. stets an der Grundfrage zu orientieren. Je nachdem, wie ein Denker der Vergangenheit oder Gegenwart diese "Grundfrage" beantwortet, bestimmt sich seine Bedeutung für die Geschichte, bestimmt sich Art und Form seiner Verlebendigung in der Philosophiehistorie. Als universelles Klassifikationskriterium für Philosophen und Philosophien ist die jeweilige Stellung zur "Grundfrage" zwar nicht in dem Sinn zu verstehen, als hätte man damit bereits untrügliche Beurteilungsmaßstäbe zur Hand wie schon Lenin betont hatte: "Der philosophische Idealismus ist nur Unsinn vom Standpunkt des groben, einfachen metaphysischen Materialismus aus."33 M. K. Petrov bezweifelt sogar, dass "im Gegensatz von Materialismus und Idealismus eine universelle Begründung der Klassifikation aller philosophischen Schulen zu sehen sei"34. Doch bleibt im Ganzen die Stellung zur "Grundfrage" als das wichtigste Einordnungs- und ein sehr wichtiges Beurteilungsprinzip für Philosophien bestehen.

Das als drittes genannte Prinzip der Objektivität scheint sich auf den ersten Blick mit dem der Parteilichkeit zu schlagen; dieser Eindruck entsteht jedoch nur dann, wenn Objektivität mit Äquidistanz in Verbindung gebracht oder gar gleichgesetzt wird: Eine solche Auffassung aber wird als "bürgerlicher Objektivismus" abgelehnt.35 Tatsächlich ist ja auch in außermarxistischen Traditionen die primäre Bedeutung von "objektiv" die, dass etwas "objektgemäß", also gegenstandsgerecht benannt, beschrieben, erklärt wird; und damit bleibt die marxistisch-leninistische Vereinbarkeit von Objektivität und Parteilichkeit solange ganz unkritisiert, solange die von Lenin, aber auch schon von Engels und Marx gesehene Interessen- und Klassenbedingtheit aller philosophischen Reflexion nicht als irrig nachgewiesen werden kann. Es nützt in diesem Zusammenhang nichts, unter Berufung auf das Sprachgefühl oder mit anderen mehr oder weniger ästhetischen Argumenten einen Gegensatz zwischen Parteilichkeit und Objektivität zu konstruieren - man muss sich mit dem Wahrheitsgehalt des der Terminologie zugrundeliegenden Arguments auseinandersetzen, wozu hier Zeit und Platz nicht reicht, das ich aber in der Form noch anführen will, die ihm Lange und Barth gegeben haben:

"Zu den folgenreichsten Neuerungen des Marxismus zählt es, daß er die Beschränkung der Methodologie auf die Erkenntnis überwunden hat.... Nur eine Philosophie und Weltanschauung, die die Volksmassen als die eigentlichen Schöpfer der Geschichte, der Menschheit und ihrer Kultur erkannt hat, die in den Revolutionen die Lokomotiven der Geschichte sieht und den Ursprung, das Ziel und das Kriterium der Erkenntnis in die Praxis verlegt, kann eine solche einschneidende Veränderung in der Methodologie durchsetzen. Das bleibt auch für die Methodik der Philosophiegeschichtsschreibung nicht folgenlos. So untersucht der marxistische Philosophiehistoriker nicht zuletzt den Einfluß der Volksmassen auf die geistige Produktion, voran die Philosophie. Er läßt sich nicht von abstrakten und elitären Originalitätsmaßstäben leiten, sondern prüft Richtungen, Systeme, Philosopheme usw. darauf, auf welche Art und in welchem Grade sie in die aktuellen Klassenkämpfe eingriffen, wie sie nachwirkten."36

Da es sich bei der Theorie der Parteilichkeit nicht um eine Verteidigung der Privatmeinung handelt, gehen viele Einwände, die hierzu vorgebracht werden, am Ziel vorbei.

Der Historismus als nächstes Prinzip der Philosophiehistorie verlangt unter Berufung auf Lenin,

"daß es falsch sei, die Denker der Vergangenheit danach einzuschätzen, was sie im Vergleich zu gegenwärtigen Forderungen nicht geleistet haben, man müsse sie vielmehr danach beurteilen, was sie Neues im Vergleich zu ihren Vorgängern geleistet haben. Zugleich trat Lenin für strenge Historizität bei der Betrachtung der Geschichte der Philosophie ein, dafür, daß z. B. den Alten nicht eine Entwicklungsstufe ihrer Ideen zugeschrieben werde, die sie praktisch nicht aufweisen können, und daß frühere philosophische Ansichten nicht wie moderne dargestellt werden." (Geschichte 1959 I, S. 20)

In diesem Sinn muß der Philosophiehistoriker auch stets die objektiven, d.h. gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen untersuchen, die ein bestimmtes Denken und auch die Abfolge von Gedankengebäuden erklären können.

Schließlich ist das Prinzip der Einheit zu nennen:

"die marxistische Geschichte der Philosophie hält das philosophische Denken der Menschheit . . . durchaus nicht für eine mechanische Summe philosophischer Systeme, die sich aus den Beiträgen der verschiedenen, voneinander isoliert betrachteten Länder zusammensetzt." (Geschichte 1959 I, S. 14)

Die einzelnen philosophischen Entwicklungen werden vielmehr in einer Wechselwirkung gesehen in dem Sinn, daß erstens stets nach der Einheit von (bestimmter, vergangener) Theorie und Praxis gesucht wird; daß zweitens die Einheit einer Entwicklung aufgefunden werden soll und nicht bloß die Ablösung des Früheren durch Späteres; und daß drittens im Sinne des Internationalismus allen Zentrismen (insbesondere Euro- und Asiozentrismus) bzw. der ausschließlichen Fokusierung der Philosophiehistorie auf die traditionellen "Hochkulturen" der Kampf angesagt wird. "Dergestalt demonstriert die marxistische Geschichte der Philosophie die Einheit und den wechselseitigen Zusammenhang der nationalen und internationalen Bedingungen der Entwicklung des philosophischen Denkens.“ (Geschichte 1959 I, S. 14)

Die genannten "Prinzipien" oder, wie man sie auch nennen könnte, methodologisch orientierenden Thesen sind keineswegs so trivial bzw. so platt, wie sie in dieser verkürzten und plakativen Darstellung erscheinen mögen. In der Theoriediskussion darüber fand eine ständige Entwicklung und Differenzierung statt; in der philosophiehistorischen Praxis haben diese "Prinzipien" zu höchst interessanten und teilweise zu gänzlich neuen Untersuchungen geführt. Dies ist am auffallendsten im Bereich der Periodisierung, der Klassifikation, der Erklärungshypothesen und schließlich in der Förderung der philosophiehistorischen Erforschung der Traditionen von Völkern, die zuvor gänzlich außerhalb des Interessenkreises von Philosophiehistorikern gelegen waren. "The intention to decentralize history of philosophy certainly offers many advantages insofar as unknown philosophers are made accessible."37 Und Rybarczyk stellt bezüglich der anfangs gegebenen Prädominanz der russischen Tradition in der Philosophiehistorie der Sowjetunion fest:

"Auf diesem Gebiet hat sich eine echte Wandlung vollzogen. Von der ,patriotischen Linie` der ,vaterländischen`, d.h. russischen Philosophie ist man zur Geschichte der Philosophie der einzelnen Völker der Sowjetunion übergegangen. Über den Wert dieser letzteren kann man schwer etwas aussagen, da entsprechende Studien in der nichtsowjetischen Literatur darüber gar nicht vorhanden sind."38

Dass ganz neue Studien angeregt und durchgeführt wurden, trifft aber nicht nur für den Bereich der Völker der Sowjetunion zu, wie man sich durch einen kurzen Blick in die "Geschichte der Philosophie" (1959ff) und einen Vergleich mit beliebigen anderen zeitgenössischen Gesamtdarstellungen der Philosophiegeschichte überzeugen kann.

Um diese Darstellung abzuschließen, will ich noch ein inhaltliches, nicht methodologisches Problem herausgreifen, über das die Diskussion der marxistisch-leninistischen Philosophiehistoriker offen geblieben ist, das aber als Fragestellung sowohl wie in seinen Antwortvorschlägen einen genuinen und wichtigen Beitrag zur Erklärung der Geschichte der Philosophie darstellt: das Problem einer gesetzmäßigen Entwicklung der Philosophie. Eine terminologische Zwischenbemerkung ist hier von Nutzen: die marxistisch-leninistische Wissenschaftstheorie unterscheidet zwischen "Gesetz" (russ.: zakon) und "Gesetzmäßigkeit" (russ.: zakonomernost)39. Es ist nun eine wichtige These der marxistisch-leninistischen Philosophiehistorie, dass die Entwicklung der Philosophie der Menschheit ein "gesetzmäßiger", nicht aber, dass sie ein "gesetzlicher" Prozeß sei. Noch eine weitere Bemerkung sei gestattet: Es werden universelle Gesetze (die "Gesetze der Dialektik"), allgemeine Gesetze (z. B. allgemeine soziologische Gesetze, die jedoch zur Bestimmung der konkreten Gesetzmäßigkeit bereits nötig sind) und spezifische Gesetze (z. B. geschichtsphilosophische Gesetze) unterschieden. Die Zusammenordnung der relevanten Fälle der beiden letztgenannten Gruppen ergibt die Formulierung jener Gesetzmäßigkeit, die als These folgendermaßen lautet:

"Die Geschichte der Philosophie stellt einen sich gesetzmäßig entwickelnden Prozeß des ideellen Lebens dar, in dem die verschiedenen philosophischen Lehren und Ideen wechselseitig zusammenhängen, einander bedingen und sich im Kampf der entgegengesetzten Richtungen entwickeln."40

Hier werden nun zunächst die "allgemeinen soziologischen Gesetzmäßigkeiten" genannt, "die für alle Formen des gesellschaftlichen Bewußtseins gelten" (Abriß, 1966, S. 12):
(1) "die entscheidende Rolle der materiellen Produktionsweise bei der Entstehung und Entwicklung aller gesellschaftlichen Ideen."
(2) "die Abhängigkeit des gesellschaftlichen Bewußtseins und seiner Formen vom Klassenkampf" (Abriß, 1966, S. 13) - eine "Gesetzmäßigkeit" im oben angegebenen Sinn, die natürlich nur für Klassengesellschaften gelten kann.
(3) "eine gewisse relative Selbständigkeit ihrer Entwicklung" habe die Philosophie wie alle anderen Formen geistigen Lebens: "Als bestimmte Form der Ideologie hat sie ihre Spezifik, ihre Entwicklungsgesetze und eine gewisse innere Logik..." (Geschichte 1959, I, S. 20)

Die drei bisher genannten Gesetzmäßigkeiten werden also allen Bereichen des geistigen Lebens zugeschrieben; daneben werden noch weitere Gesetzmäßigkeiten genannt, die für die Philosophie und ihre Geschichte spezifisch seien.
(4) "Die wichtigste spezifische Gesetzmäßigkeit in der Geschichte des philosophischen Denkens ist seine Entwicklung auf der Grundlage des Kampfes des Materialismus gegen den Idealismus." (Abriß, 1966, S. 14)
(5) "Eine zweite spezifische Gesetzmäßigkeit der Geschichte der Philosophie ist die Entwicklung der philosophischen Denkmethode im Kampf der Dialektik gegen die metaphysische Denkweise."
(6) ferner die Abhängigkeit der Formen und Arten des Materialismus vom Charakter der gesellschaftlichen Verhältnisse und vom Klassenkampf sowie vom Entwicklungsstand der Naturwissenschaften."
(7) "Die innere Logik der Entwicklung des philosophischen Denkens liegt darin, daß dieser Prozeß im wesentlichen vom Einfachen zum Komplizierten, vom Niederen zum Höheren verläuft." (Abriß, 1966, S. 14)

Noch andere Eigenheiten der philosophischen Entwicklung werden genannt, etwa, daß diese sich über das Medium von Begriffen und Systemen vollzieht u. dgl. Die wichtigsten aber dürften die oben aufgezählten sein. Nur zu einer der genannten "Gesetzmäßigkeiten" will ich noch einige (allerdings auch eher referierende) Bemerkungen anfügen: zur "relativen Selbständigkeit". Man kann versucht sein, in dieser These eine bloße Immunisierungshilfe zu sehen, dergestalt, daß immer bei unerklärten Ausnahmen von einer einer angenommenen "Gesetzmäßigkeit" von "relativer Selbständigkeit" gesprochen werden kann. Und wenn dies die Praxis ist oder war, in der die These verwendet wird, so handelt es sich tatsächlich um Immunisierung. Aber das muß nicht so sein, sondern die These von der "relativen Selbständigkeit" führt ihrerseits zu wichtigen Teilfragen, die in anderen Traditionen der Philosophiehistorie meist gar nicht expliziert werden. Es ist Lange und Barth zuzustimmen, wenn sie betonen:

"Die Frage nach der relativen Selbständigkeit oder Eigengesetzlichkeit der Philosophie kann überhaupt nur innerhalb einer materialistischen Lehre auftauchen.... Genaugenommen ist sie eine genuine Frage der marxistisch-leninistischen Philosophie, und keine von den leichten." (Es ist dies eine Frage, die nicht nur nicht gelöst ist, sondern die zu interessanten Teilfragen weiterführt:) "Wie äußert und wie entwickelt sich die relative Selbständigkeit der Philosophie? Welche Auswirkungen auf sie hat die Entstehung des Marxismus und seine Fortentwicklung zum Leninismus? Worin unterscheidet sie sich von der relativen Selbständigkeit der anderen gesellschaftlichen Bewußtseinsformen? In welcher Weise beeinflußt sie die Methodik bzw. Methodologie der Philosophiegeschichtsschreibung? Welcher Stellenwert kommt ihr in den ideologischen Auseinandersetzungen der Gegenwart zu?"41

Eine durchaus fruchtbare These also und ernstzunehmen als einer der Motoren der Theoriediskussion marxistisch-leninistischer Philosophie- und Wissenschaftshistoriker. Ich breche die Darstellung der als Beispiel gewählten Diskussion einer marxistisch-leninistischen Philosophiehistorie hier ab und komme zur abschließenden dritten These.

Versuch einer Wertung

These (3): Es stellt sich dann die Frage, ob die geschilderte Auffassung von der Geschichte der Philosophie mehr oder weniger Anspruch auf Zustimmung hat als andere, und warum. Ohne auf eine umfassende Wahrheits- oder Falschheitsbehauptung hinsichtlich derart umfassender Theorien abzuzielen, muss nach sachbezogenen Möglichkeiten der Beurteilung gefragt werden. Diese sehe ich gegeben, wenn nach dem relativen Erkenntniswert von Theorien für die Formulierung von Auswahlgesichtspunkten, für Erklärungen und für begründete Verwertung des historischen Wissens gefragt wird.

Suchen wir nach Wertungsmaßstäben für eine Disziplin, so ist es nützlich, sich deren unterschiedliche Funktionen zu verdeutlichen, denn daran wollen wir ja den relativen Wert dieses oder jenes Ansatzes messen, und diese Funktionen sind es schließlich auch, die wir ihrerseits zuletzt bewerten. Ich habe in der Einleitung dieser Vorlesung bezüglich der Philosophiehistorie vier Funktionen unterschieden, deren jeweilige Betonung in den unterschiedlichen Produktionen im Verlauf der Geschichte der Philosophiehistorie ersichtlich ist:
die Funktion der Traditionsbildung, -erhaltung oder -verstärkung
die Funktion der Wissenschaftsplanung und -politik
die Funktion der Heuristik und
die Funktion der Wertorientierung.
Alle diese Funktionen werden von den unterschiedlichen Arbeitsrichtungen der marxistisch-leninistischen Philosophiehistorie erfüllt, wobei im Vergleich zu nicht marxistischen Traditionen das Schwergewicht nicht so sehr auf dem Beitrag zur Heuristik liegt, auch nicht zur Traditionsbildung, sondern auf der Wertorientierung und dem Beitrag zu Wissenschaftspolitik und -organisation.

Ich möchte auch hier wieder nur einen Punkt herausgreifen, der mir besonders wichtig erscheint und der den genuinen Beitrag der marxistisch-leninistischen Philosophiehistoriker zur Entwicklung ihrer Disziplin sowohl als auch zur Bewältigung von Problemen deutlich macht, die weit über die Philosophie hinausreichen: den Internationalismus bzw. Interkulturalismus. Es sind zwei Dinge, die daran wichtig sind: einerseits das entschiedene Abgehen von der Beschränkung der Philosophiehistorie auf Traditionen der sogenannten "Hochkulturen" oder gar nur auf ganz bestimmte Traditionen europäischer Provenienz – dem wird eine Aufgeschlossenheit für das geistige Erbe aller Völker entgegengestellt, die man als Humanismus bezeichnen muss. Das zweite ist, dass diese Aufgeschlossenheit nicht in Neutralismus und Indifferenz mündet, sondern dass man sich bemüht, die jeweiligen Beiträge zu werten und für die Gegenwart und Zukunft fruchtbar zu machen.

Ein weiterer Punkt, der zur Beurteilung herangezogen werden kann ist die Überprüfbarkeit der Ergebnisse, zu denen man gelangt zu sein behauptet. Ich kann hierbei weniger als bei der vorigen Frage einen Vorsprung methodologischer Art bei der marxistisch-leninistischen Philosophiehistorie gegenüber anderen Traditionen feststellen, möchte aber doch betonen, was in der Darstellung schon klargeworden sein dürfte: Es handelt sich um eine Methodologie, deren einzelne Begriffe und Thesen sehr bewusst und explizit formuliert, sehr genau, bis zur Wortwörtlichkeit stereotyp, gehandhabt und doch immer wieder zur Diskussion gestellt werden. Diese Genauigkeit als bloß scholastische Pedanterie abtun zu wollen, wäre Sache eines schlechten Geschmacks. Selbst wer in den meisten inhaltlichen Thesen zu anderen Ergebnissen käme, müsste bei einem Vergleich der verschiedenen Arten, die Geschichte der Philosophie zu behandeln, der vor allem in der Sowjetunion entwickelten Form sehr hohen Rang und die Priorität oder zumindest eine hervorragende Stellung in wichtigen Zielsetzungen und Methodenentwicklungen dieser Disziplin zusprechen.


ANMERKUNGEN

1Zitiert wird im Abschnitt über Hegel mit einfachen Seitenzahlen in Klammern, sofern es sich um Texte handelt aus: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, 3 Bde. Hg.: Gerd Irrlitz und Karin Gurst. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1982.

2Das Gegebensein dieses "Geistes" wird auch von Fichte als evident prätendiert. In der "Bestimmung des Menschen" (1800) lesen wir: "Das Denken ist nun einmal, es ist schlechthin, sowie die Bildungskraft der Natur nun einmal ist, und schlechthin ist. ... Diese ursprüngliche Denkkrafte des Universums schreitet fort, und enwickelt sich in allen möglichen Bestimmungen, deren sie fähig ist, so wie die übrigen ursprünglichen Naturkräfte fortschreiten und alle möglichen Gestalten annehmen." (in: Werke, Darmstadt 1962, Bd. III, S. 276)

3Auch für eine ablehnende Kritik an der hegel`schen Philosophiehistorie gilt, was Fain (1970, 221) über seine Geschichtsphilosophie sagt: "If we reject Hegel`s philosophy of history, we should do so for the right reason ... The only good reason for rejection Hegel`s philosophy of history is that history as it happened is not intelligible on Hegel`s terms."

4Etwa in dem Sinn, wie Albert schreibt: "Wir haben heute allen Anlaß, an die Möglichkeit zu denken, daß keine einzige der bisher vorliegenden wissenschaftlichen Theorien im strengen Sinne des Wortes wahr, d.h. ohne jede falsche Konsequenz, ist und daß dasselbe auch für spätere Systeme gilt." (Albert 1972, 8f)

5Robert Heiss: Wesen und Formen der Dialektik. Köln und Berlin: Kiepenheuer und Witsch, 1959, 133: "Der erste Grundsatz der formalen Logik verlangt, daß die Aussage mit sich identisch und in sich stabil ist. Dies ist für den Dialektiker nicht notwendig und gar nicht möglich, weil überhaupt nichts diese Stabilität der, wie Hegel sagt, ,bewegungslosen Wesenheit` hat. Hier zeigt sich dann, daß für das dialektische Denken das Erkennen ganz offenbar nicht den Charakter hat, der ihm im wissenschaftlichen Denken zugeschrieben wird. Solches Denken bindet und bannt die Wirklichkeit nicht, es kennt nicht die fixierte und fixierbare Wahrheit, sondern zieht auch diese in den Strudel der Bewegung." - Was ein solches Denken dann allerdings für Ergebnisse haben soll, ist kaum vorstellbar. Die Beschreibung ist wohl auch nicht zutreffend: Hegel "bindet und bannt die Wirklichkeit" in vielen seiner Aussagen durchaus.

6Jakob Friedrich Fries: Die Geschichte der Philosophie, dargestellt nach den Fortschritten ihrer wissenschaftlichen Entwickelung, Bd. 2. Halle: Buchhandlung des Waisenhauses, 1840. S. XVII

7Der "Volksgeist" ist zwar ganz ebenso substantialistisch beschrieben, doch kann man sich immerhin darunter noch etwas Sinnvolles vorstellen insofern, als jede Erscheinungsform, jede Handlung aus Vernunft in eine Tradition, eine Sprache etc. eingebunden ist, die nicht einfach vom Subjekt ausgetauscht oder überwunden werden kann. Niemand hat als Subjekt die Äußerungsmöglichkeiten seines Denkens gänzlich selbst erfunden.

8Doch natürlich nicht in derselben Weise: "Ob nun gleich in der wahrhaften Religion das unendliche Denken, der absolute Geist, sich offenbar gemacht hat und offenbar macht: so ist das Gefäß, in welchem es sich kundtut, das Herz, das vorstellende Bewußtsein und der Verstand des Endlichen." (70)

9Albert Schwegler: Geschichte der Philosophie im Umriß. Ein Leitfaden zur Uebersicht. 4.verb. Aufl. Stuttgart: Franckh, 1861., 3f: "... hätte Hegel die jonische Philosophie ganz wegwerfen sollen, denn die Materie ist keine logische Kategorie; ferner hätte er den Pythagoreern ihre Stelle nach den Eleaten und Atomisten anweisen sollen, denn die Kategorieen der Quantität folgen denen der Qualität nach u.s.f., kurz er hätte die Chronologie ganz über den Haufen werfen müssen."

10Fries 1840, XVII

11Zu Tiedemanns Werk sagt Hegel: "Das Ganze ist ein trauriges Beispiel, wie ein gelehrter Professor sich sein ganzes Leben mit dem Studium der spekulativen Philosophie beschäftigen kann und doch gar keine Ahnung von Spekulation hat." (S. 108)

12"Man sagt: Die Philosophie erkennt das Wesen. Der Hauptpunkt ist hier dann dieser, daß das Wesen nicht ein dem Äußerliches ist, dessen Wesen es ist. Das Wesen meines Geistes ist in meinem Geiste selbst, nicht draußen." (S. 75)

13Nirgendwo kommt Hegel auf eine Idee, wie Klaus Held sie ausgedrückt hat: "...erstens können wir nicht ausschließen, daß es Grundstimmungen anderer Kulturen gibt, die ebenfalls eine ... universale Ontologie ermöglichen. Dies scheint beispielsweise auf ... (den) Buddhismus zuzutreffen. Zweitens gibt es in weiten Bereichen dieser Erde Kulturen, die ... sich entschieden auf ein Leben gemäß den beiden Daseinsprogrammen eingelassen haben, die ursprünglich in Griechenland auf den Weg gebracht wurden: Wissenschaft und Demokratie." (Klaus Held: Europa und die interkulturelle Verständigung. Ein Entwurf im Anschluß an Heideggers Phänomenologie der Grundstimmungen, in: Hans-Helmuth Gander (Hg.): Europa und die Philosophie. Frankfurt/M.: Klostermann, 1993, S. 102.)

14Jakob Brucker: Institutiones Historiae Philosophicae Usui Academicae Iuventutis Adornatae. 2. Aufl. Lipsiae: Bernh. Christoph Breitkopf, 1756. (Erstdruck: 1747 Leipzig), S. 884: "In Africa enim et America tam detestabilis ubique superstitio regnat, ut non modo philosophiam omnem, sed et usum rationis eiurasse videantur."

15In der Vorlesung nennt er sie "die Wahrheit in einer viel allgemeineren Gestalt, als sie in der philosophischen Gestalt ist", op. cit., S. 16; der Frage nach einer Hierarchie der Religionen hat Hegel große Aufmerksamkeit gewidmet, wie seine "Religionsphilosophie" zeigt. Darin ist er ein Wegbereiter für die seitherige Religionswissenschaft geworden. Es ist hier nicht der Ort zu einer Auseinandersetzung mit seiner diesbezüglichen Auffassung, aber Skepsis gegenüber derartiger Gewissheit ist in jedem Fall angebracht. Es wäre sonst wirklich nicht leicht zu erklären, warum es religiöse Menschen gibt, die das Christentum nicht annehmen, wenn sie es kennenlernen.

16"So kann man sagen: die Ewigkeit sei ein Kreis ... es ist ein Bild. Der Geist bedarf aber solches Symbols nicht; er hat die Sprache." (S. 86)

17Zitiert nach: G. Irrlitz, Hg.: Marx und Engels über Geschichte der Philosophie, Leipzig: Reclam 1983, S. 53

18ebd., S. 57

19ebd., S. 62

20Nach Karl G. Ballestrem, Soviet Historiography of Philosophy. In: Studies in Soviet Thought 111, 2, June 1963, S. 114

21Marian L. Rybarczyk, Sowjetische Historiographie der Philosophie, Phil. Diss., Fribourg 1975, S. 2

22ebd., S. 68

23Erhard Lange/Helmut Barth, Methodologische Fragen der Geschichte der Philosophie. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 27. Jg., 1979, H. 9, S. 1051

24Geschichte der Philosophie, 6 Bde., Berlin-DDR, 1959--1967 (russ.: Moskau 1957--1965), im folgenden ,,Geschichte 1959"

25Abriß der Geschichte der Philosophie, Berlin-DDR, 1966 (russ.: Moskau 1961, 1967), im folgenden "Abriß 1966"

26Lange/Barth, a.a.O., S. 1056

27Rybarczyk, a.a.O., S. 78

28ebd., S. 79

29Lange/Barth, a.a.O., S. 1056

30ebd., S. 1056

31nach Rybarczyk, a.a.O., S. 91 ff

32"Der Marxismus geht an alle Wissenschaften, darunter auch die Geschichte der Philosophie, vom Standpunkt der Arbeiterklasse heran, die die fortschrittlichste Kraft der modernen Gesellschaft ist, die Klasseninteressen des Proletariats bringen die herangereiften Erfordernisse der historischen Entwicklung zum Ausdruck." (Abriß 1966, S. 8)

33Lenin, Philosophischer Nachlaß. Zit. Nach: Geschichte, 1959 I., S. 19

34nach Rybarczyk, a.a. O., S. 94. Ich kann allerdings aufgrund meiner Unkenntnis der Originalbeiträge zu dieser Diskussion nicht erkennen, ob mit solchen Zweifeln nicht doch eine heuristisch wünschenswerte größere Differenzierung von unterschiedlich "starken" oder "schwachen" Formen bzw. Typen von Materialismus bzw. Idealismus erreicht werden soll.

35ebd., S. 96, vgl. auch Geschichte, 1959 I., S. 12

36Lange/Barth, a.a.O., S. 1053

37Ballestrem, a.a.O., S. 110

38Rybarczyk, a.a.O., S. 4f

39Rybarczyk stellt den Unterschied so dar: "Die Gesetzmäßigkeit bringt Globalphänomene zum Ausdruck, ohne daß dabei die Struktur dieser Zusammenhänge im einzelnen aufgezeigt wird. Das Gesetz hingegen ist eine innere Verbindung und gegenseitige Bedingtheit der Erscheinungen. Die Gesetzmäßigkeit eines bestimmten Bereiches der Wirklichkeit ist also bedingt durch die Gesamtheit der für diesen Bereich maßgebenden einzelnen Gesetze." (ebd., S 82 f)

40Abriß, 1966, S. 12

41Lange/Barth, a.a.O., S. 1053 f


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Letzte Bearbeitung: WS 2014/15