Thema 1: Einleitung
Thema 2a: Griech. Antike
Thema 2b: China
Thema 2c: Frühe Neuzeit
Thema 3a: Aufklärung

Thema 3b: Kantzeit
Thema 3c: Hegel und Marx

Thema 4: entfällt in diesem Semester
Thema 5: Postkoloniale, feministische und interkulturelle Perspektiven
Thema 6: Globale Philosophiegeschichte

Alte Versionen ('95/96):


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Geschichte der Philosophiehistorie

(Vorlesungen von Franz M. Wimmer, Wien)

Philosophiehistorie zwischen Humanismus und Polyhistorie (Version 2014)


Autoren bzw. Schulen: Bacon |
Cartesianismus: Coste | Stanley
Biblische Geschichte | Polyhistorie: Morhof

Literaturhinweise


Die 'Wiedergeburt der Wissenschaften und Künste', wie die europäische Renaissance häufig bezeichnet wurde, fußt auf dem Gebiet der Philosophiehistorie wesentlich auf der Übersetzung der großen Originaltexte des Griechentums, wie sie uns etwa in Wilhelm von Moerbeke begegnet, der im 13. Jahrhundert aristotelische Bücher für Thomas von Aquin aus dem Griechischen übersetzt hat. Aber es blieben immer noch viele Texte unzugänglich, als die letzte Phase des oströmischen Kaisertums und schließlich der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen (1453) zu einer Befruchtung der westlichen Wissenschaft durch griechische Emigranten führte. Das 15. Jahrhundert in Italien (1468 gründet Bessarion die platonische Akademie in Florenz) ist in der Philosophie vor allem durch ein Aufblühen des Platonismus gekennzeichnet, aber auch dadurch, dass nun die zahlreichen weniger berühmten Schriftsteller und Bücher der Antike bekannt werden. Auch die ersten Philosophiegeschichten werden jetzt gedruckt: 1472 eine Kompilation über 119 Philosophen des Altertums, die allerdings noch gänzlich unkritisch in philologischer und historischer Hinsicht bleibt. Ihr Autor ist Gualterus Burlaeus (Walter Burley, 1275 – ca 1340), ein Schüler des Duns Scotus. 1475 erscheint das Werk des Diogenes Laertius erstmals im Druck.1

Die Übersetzungen und der Buchdruck stellen, ebenso wie die neue Gelehrtenschicht außerhalb der theologisch (in Frankreich) oder medizinisch und juristisch (in Italien) orientierten Universitäten, jene Bedingungen dar, unter denen die Disziplin der Philosophiehistorie nun neue Formen und Standards entwickelt. Der Buchdruck spielt dabei insofern eine große Rolle, als sich mit dieser Form des Reproduzierens die Gewohnheiten des Lesens, Studierens und Kommentierens grundlegend ändern. Man liest nicht mehr in Gruppen, sondern allein; die Texte werden erschwinglich und zugänglich, sodass man nicht mehr so sehr aufs Vorlesen angewiesen ist; jeder Leser hat garantiert den selben Text, Zitationen gibt man nicht mehr nur so ungefähr weiter, sie werden wortwörtlich, und der Leser eines Zitats hat jederzeit die Möglichkeit, dieses im Sinnzusammenhang aufzusuchen. All das sind Merkmale, die die Form der wissenschaftlichen Forschung und Veröffentlichung verändern, und die auf dem Gebiet der Philosophiehistorie zuerst einmal dazu führen, philologisch-kritische Texte zu erstellen.

Bevor wir uns diesen neuen Bemühungen zuwenden, die Vergangenheit der Philosophie - wobei es sich in erster Linie um die antike, nicht die zeitgenössische Philosophie handelt, wenngleich nicht nur die Griechen und Römer, sondern auch die "Barbaren" und die "vorsintflutlichen" Philosophen von Adam an in den Blick kommen - bekanntzumachen, ist es notwendig, auf die Frage einzugehen, welches Interesse daran überhaupt bestand. Dabei stellen wir fest, dass die großen geistigen und sozialen Umwälzungen etwa des 16. Jahrhunderts nicht unbedingt von Kräften ausgingen, die an der Weltweisheit der Griechen besonders interessiert gewesen wären. Zwar wendet sich die Reformation gerade auch in der Geschichtsschreibung gegen die jahrhundertelang herrschenden Richtungen, aber sie stützt sich auf einen neuen, unmittelbareren Zugang zu den Quellen der Religion: die ehemalige ancilla wird jetzt oft als Hindernis angesehen. Luther schätzt den Aristoteles als "hundertmal dunkler als die Schrift" ein, und will ihn aus dem Unterricht erst einmal ganz beseitigen. Nur Cicero, der Praktiker, hat seine Hochschätzung. So lesen wir in einer von Luthers "Tischreden":

Cicero übertrifft Aristotelem weit in Philosophia und mit Lehren ... "Aristoteles ist zwar ein guter und listiger Dialecticus gewesen, der den Methodum und richtigen ordentlichen Weg im Lehren gehalten hat; aber die Sachen und den rechten Kern hat er nicht gelehrt, wie Cicero. Wer die rechtschaffene Philosophia lernen will, der lese Ciceronem."2

Dies ist nicht durchgehend die Auffassung der reformierten Theologen und Bildungsplaner: schon Philipp Melanchthon etabliert das Studium des Aristoteles wieder in seinem Lehrplan.

Das wahre Licht der Vernunft leuchtet für die neuen Christen der Reformation nur in der Offenbarung, und die vergangene Philosophie wird noch bis zu Budde und Brucker im 18. Jahrhundert als ein Herumirren unter lauter mehr oder weniger abstrusen Gedanken erscheinen, das erst mit der Offenbarung durchschaubar und beurteilbar geworden ist.

Der Rückgang auf die wahren Quellen der Religion ist jedoch nicht die einzige Form des Protests gegen die herrschende Form des Offenbarungsglaubens in dieser Zeit. Die politische und wirtschaftliche Emanzipation von den alten Mächten des Papsttums und des Kaisertums findet ihre Entsprechung im Rückgriff der Gebildeten auf das Vorbild der heidnischen Antike, deren Hervorbringungen auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaft als klassisch betrachtet werden. Zugleich legen die neuen Entdeckungen und Erfindungen auf dem Gebiet der 'Naturphilosophie' - die sich als 'Naturwissenschaft' von der 'Philosophie' abzutrennen beginnt - wie auf technischen Gebieten den Gedanken nahe, dass die natürliche Weisheit doch mehr sein könnte als ein Lückenbüßer der Theologie. Das moderne Bewusstsein misst die eigenen Errungenschaften an der Antike, es findet dort seine Vorbilder in Geschichts- und Staatswissenschaft (Livius), in der Architektur (Vitruv), der Medizin (Galen) usw., von denen es zu lernen und die es gerade dadurch zu übertreffen sucht. Machiavelli entwirft nicht mehr einen christlich-richtigen Staat, sondern sucht bei den heidnischen Römern die vernünftigen Regeln zur Leitung einer erfolgreichen Regierung; sein "Fürst" ist aus dem Kommentar zu Livius erwachsen, usw.3

Dass eine Vorliebe, geradezu ein Vorurteil für die Antike und deren Errungenschaften bestimmend ist, zeigt sich bei den ersten methodisch vorgehenden Geisteswissenschaftlern der Neuzeit, den Philologen, die nun immer bessere, genauere, kritischere Textausgaben erstellen. Justus Lipsius gibt 1604 seine "Hinführung zur stoischen Philosophie"4 heraus und bezeichnet damit das Wiederaufleben stoischen Denkens. Aber Lipsius ist kein Stoiker, er ist Eklektiker; nur in der Morallehre scheint ihm - nach geduldigen Vergleichen - die Stoa das Beste zu bieten. Von den Philologen dieser Zeit, deren Forschungen die alten Schulen und Texte der Griechen und Römer von neuem bekannt machen, seien hier nur ein paar Namen angeführt: Isaac Casaubon (1559 - 1614), Joseph Justus Scaliger (1540 - 1609) und Henricus Stephanus (Henri Estienne, 1531 - 1598), welch letzterem wir noch heute in der Seitenangabe unserer Platon- und Aristoteleszitate Reverenz erweisen. In diesem eindrucksvollen philologischen Projekt werden nicht nur Texte kritisch rekonstruiert und viele auch neu entdeckt, es werden auch Fehlzuschreibungen ausgemerzt, die sich in arabischer wie lateinischer Tradition lange gehalten hatten.5 Alle alten Gattungen der Philosophiehistorie (vgl. griech. Antike) finden im 16. Jahrhundert neue Vertreter, worauf hier im einzelnen nicht eingegangen wird.6


Francis Bacon von Verulam (1561-1626)

Neue Forderungen auch für diesen Bereich formuliert jedoch Francis Bacon ;es handelt sich um folgende Postulate:

Die Aufarbeitung der Geschichte der Philosophie stand also nach Bacons Absicht in einem systematischen und zugleich einem kulturpolitisch-technischen Zusammenhang mit der gegenwärtigen und der zukünftigen Philosophie.

Bacons Programm kann zwar nicht durchgeführt werden ohne die akribischen Methoden philologischer Kritik. Aber die Philologie von sich aus hat dieses Programm nicht entwickelt, aufgrund ihres auf Authentizität beschränkten Interesses nicht entwickeln können. Es wirkt geradezu absurd, wenn Bacons Wünsche 1711 in der lateinischen Version von Stanleys „History“ (s.u.) plötzlich und unvermittelt auftauchen, zusammen mit ähnlichen Vorstellungen von Michel de Montaigne. Der erste Philosophiehistoriker der Frühaufklärung, der sich ausdrücklich auf Bacons Programm berufen wird, ist Heumann.


Cartesianismus

Zunächst blieben Bacons Forderungen ein bloßes Programm, denn die europäische Philosophie drehte sich um eine zentrale Frage, für die aus der Geschichte der philosophischen Meinungen scheinbar nichts zu gewinnen war. Es ist die Frage, ob unsere gewissen Erkenntnisse aus der Sinneserfahrung oder aus der Vernunft stammen. Dass sie nicht aus einer Untersuchung fremder Meinungen oder sonst woher außerhalb von Vernunft und Sinneswahrnehmung stammen, darin sind sich Rationalisten und Empiristen einig. Descartes, der bestimmende Rationalist des 17. Jahrhunderts, verwirft das gesamte, seit Generationen emsig zusammengetragene philologisch-historische Wissen mit einem Federstrich:

"bei den von uns vorgenommenen Gegenständen dürfen wir nicht das, was andere darüber gemeint haben, noch was wir selbst mutmaßen, untersuchen, sondern allein das, was wir durch klare und evidente Intuition oder durch sichere Deduktion darüber feststellen können, denn auf keinem anderen Wege kann die Wissenschaft erworben werden." (3. Regel zur Leitung des Geistes8)

Descartes hält das Reden über historisch nachweisbare philosophische Meinungen nicht nur für belanglos, sondern für gefährlich: man könnte Gefallen an den Abstrusitäten der Alten finden und damit seine eigene Urteilsfähigkeit verlieren. Deshalb interessiert Descartes auch nicht, ob Epikur, wie Gassendi sagt, dem Aristoteles vorzuziehen sei, oder ob die Stoa die besten Morallehren habe; was gewußt werden kann, kann aus klaren und distinkten Begriffen abgeleitet werden, dazu braucht es weder einen Aristoteles, noch einen Demokrit oder Epikur.

Es ist durch die Forschungen über die scholastische Philosophie des Hochmittelalters offensichtlich geworden, wie viel an Begriffsbildungen, Assoziationen und stillschweigenden Voraussetzungen Descartes von seinen Vorgängern übernommen hat, und dass also zumindest er selbst nicht ein perfekter Cartesianer war. Er tut durchaus nicht immer, was er fordert: einzig und allein den zwingenden Intuitionen seiner Vernunft zu folgen. Die cartesische Kritik an Praxis und Methodologie der Geschichtsschreibung blieb indessen nicht ohne Wirkung; aber sie bewirkte nicht, dass die Gelehrten nun jede Beschäftigung mit historischen Sachverhalten aufgegeben hätten, sondern sie bewirkte, dass neue kritische Methoden in diesem Bereich entwickelt wurden. Descartes selbst spricht ja von einem Ideal, das er in "treuesten historischen Berichten" sieht, die "den Wert der Dinge weder verändern noch erhöhen" (Von der Methode).

Dies wäre, so meint er, erreicht, wenn die Geschichtsschreibung alle Umstände im Zusammenhang mit ihrem Gegenstand berichtete. Niemand, und wäre er noch so sehr dem Ideal einer exakten Wissenschaft verhaftet, würde heute so etwas fordern: erstens ist längst klar geworden, dass eine zutreffende Beschreibung auch in den Naturwissenschaften immer nur eine Auswahl von - allerdings relevanten, aber relevant in Hinsicht auf Hypothesen - Umständen bieten kann, dass das Postulat einer absoluten Vollständigkeit selbst hier kein Ideal sein kann, und zweitens beginnt sich mehr und mehr auch die Einsicht durchzusetzen, dass eine Beschreibung menschlicher Handlungen oder Verhaltensweisen über eine solche theorienabhängige Auswahl hinaus auch schon im Konstatieren und Benennen der Dinge nicht einfach neutral beobachtend ist. Descartes jedoch scheint dies nicht bedacht zu haben, sein Ideal ist die Vollständigkeit, und dieses Ideal bestimmt nun auch, zusammen mit einer neu definierten Exaktheit, die philologischen Disziplinen. Leibniz hat diese Neuorientierung der Geschichtswissenschaft bemerkt. "Cette exactitude que les vrais savants demandent aujourd'hui s'est répandue jusque dans l'histoire, qui en parait la moins susceptible." (Leibniz: Entwürfe zu seinen Annalen)

Neben dem Ideal der Exaktheit und Umfassendheit ist ein zweiter Zug der neuen Geschichtsschreibung von cartesischem Denken beeinflusst: wenn man mit Descartes die Welt als etwas grundsätzlich mathematisch Geordnetes auffasst (und nur auf eine solche Welt passt die Erkenntnismethode durch Intuition und Deduktion), so sind die wunderlichen Dinge zwischen Himmel und Erde zu Recht nicht Gegenstand der Schulweisheit, denn sie sind, da nicht klar erfassbar, unmöglich; oder doch zumindest etwas, worüber man nicht ernsthaft sprechen kann. Der neue Philologe und Historiker hat damit zugleich auch einen kritischen Raster: er braucht sich nicht darauf zu beschränken, nur möglichst genau wiederzugeben, was er in seinen Quellen vorfindet. Dies tat ja noch die von Protestanten und Katholiken in heftiger Auseinandersetzung entwickelte "Diplomatik" im 16. und 17. Jahrhundert. Pierre Bayle aber, der bereits über Möglichkeiten der inhaltlichen historischen Kritik verfügt, kritisiert z.B. Diogenes Laertius, wenn dieser in seinen Augen Unsinn redet, auch dann, wenn der Text ganz sicher überliefert ist.

Damit in engem Zusammenhang steht die Trennung von Natur und Geschichte als Gegenständen der Erkenntnis. Über die Natur sind nach Descartes gewisse Erkenntnisse möglich, nicht aber über den großen Bereich des Fühlens und Wollens. Die Ethik klammert Descartes bewusst von seinem methodischen Zweifel aus, damit aber bleibt er nicht nur bei einer traditionellen Ethik stehen, sondern verzichtet zugleich darauf, in diesem Bereich Wissen von Nichtwissen abzugrenzen und regelgerechte Erkenntnis zu erlangen. Erst G. Vico in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unternimmt den lange unbeachteten Versuch, eine "Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker" zu entwickeln, also eine Theorie über die grundlegenden Verhaltensmaximen und Denkformen der Geschichte der Menschheit, die zugleich eine Methodologie der Rekonstruktion dieser Geschichte enthält.

Was übrigens die Kritik historischer Nachrichten mit Hilfe der Kenntnis von Naturgesetzen - das Fundament jeder neuzeitlichen Archäologie - betrifft, so hätte die Geschichtsschreibung hierzu bereits eine differenzierte Diskussion bei dem arabischen Historiker Ibn Khaldun (1332 - 1406) vorfinden können. Sein Werk, das allerdings erst im 19. Jahrhundert ins europäische Blickfeld geriet, enthält eine methodologische Reflexion über den möglichen Wahrheitsgehalt und den Wahrscheinlichkeitsgrad historischer Nachrichten, wobei die Kriterien hierfür dem Stand der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Kulturepoche entsprechen.

Pierre Coste (1668-1747)

1691 erscheint in dritter Auflage in Amsterdam eine Einführung in die Philosophie „nach den Prinzipien des Descartes“9. Dieses Werk eines bekannten Cartesianers enthält, quasi als Einführung, einen Abriss der Geschichte der Philosophie10; er stammt von Pierre Coste, einem jungen Philologen, wird 1705 ohne Nennung des Autors in lateinischer Übersetzung veröffentlicht und von da an wiederholt dem Autor des „Cours entier de la philosophie“, Pierre-Sylvain Régis, selbst zugeschrieben. Heumann rezensiert Costes Arbeit unter dem Namen Régis', und lobt ihn sehr:

Weil diese Historia philosophiae von einem philosopho ist verfertigt worden, und also den Nahmen einer Historiae philosophicae mit Recht verdienet, … so können wir uns schon zum voraus gute Hoffnung machen, dass wir hier keine ohne iudicio zusammen geschriebene Collectanea de Historia philosophorum, … sondern etwas gutes und gründliches antreffen werden.11

Auch wenn dieser historische Abriss nicht von Régis stammt und vielleicht auf die Anregung des holländischen Verlegers hin aufgenommen wurde12, so dürfte er doch dem Autor des „Cours“ auch nicht missfallen haben. Coste positioniert sich in der querelle des anciens et des modernes eindeutig: die neueren Philosophen sind den Alten überlegen, es gibt einen Fortschritt der Vernunft. Diese wurde im Altertum oft gehemmt aufgrund von Autoritätsgläubigkeit und Aberglaube (Thales hat alles für belebt gehalten, Pythagoreer hatten ein Schweigegebot), vorangebracht wurde sie von Leuten wie Sokrates, der methodisch vorging, oder Aristoteles, der seinen Meister in Frage stellte. In der Zeit der Scholastik wurde viel Zeit vergeudet, indem man Platon oder Aristoteles studierte, statt seine eigene Vernunft methodisch zu klären. Es gab im Altertum und bis in die neuere Zeit auch immer „Sekten“, die Leute schworen auf ihre Meister. Das hat sich geändert. Es gibt keine Sekten mehr, weil die einzige Autorität die objektive Wirklichkeit ist. Die neue Philosophie ist eine exakte Wissenschaft, ihre Leuchten sind Galilei, Kopernikus, Gassendi und Descartes. Diese werden auch ausführlich dargestellt (wie auch Aristoteles, Epikur; wesentlich kürzer Plato und Sokrates), wobei Coste biographische Details übergeht (bei Descartes wird nichts außer dem Geburtsjahr dazu genannt). Der systematische Gesichtspunkt herrscht vor.

Allgemein sei man sich einig, sagt Coste, dass der Ursprung der Philosophie im Orient (bei den Chaldäern etc.) zu suchen sei und er scheint sich bei diesem Thema auf neueste Literatur zu stützen13. Aber das sei ein Irrtum, den Beginn der wirklichen Philosophie haben die Griechen gemacht, ihre orientalischen Vorläufer nichts als eine abergläubische Theologie hervorgebracht. Heumann sieht sich bestätigt und vorweggenommen, wenn er seine Rezension zu „Regis“ (Coste) beschließt:

Daß ich hier etliche principia finde, von welchen ich vorher glaubete, daß sie mir zu erst wären in den Sinn, oder doch in die Feder gekommen, und daß meine Einleitung in die Historiam philosophiae mit diesen veritatibus als mit gantz neuen Wahrheiten prangete, z.E. daß die Orientalische Philosophi abusive also genennet würden; daß die Griechen zu allererst philosophiret hätten; daß die Pythagorische Philosophie elendes Zeug und keiner Hochachtung würdig sey. Jedoch ich bin deßwegen auf den Regis nicht böse ...14

Folgenreicher für die Entwicklung der Disziplin als dieser cartesianische Versuch sind allerdings die Werke einer cartesianisch reformierten Philologie. Wir können hier diese Unternehmungen nicht im einzelnen betrachten. Erwähnung verdient jedoch, dass insbesondere in der holländischen Philologie des 17. Jahrhunderts Arbeiten entstanden sind, die in wesentlichen Belangen die Wissenschaftsauffassung des Descartes aufnehmen. Zwar werden hier immer noch Texte, die als 'philosophische' traditionell überliefert sind, nach Rubriken zusammengestellt, aber es zeichnet sich - etwa im Werk von Georg Horn(ius) "Historiae philosphicae libri VII etc." (1655) das Ideal der Exaktheit und Umfassendheit ebenso ab wie der Gedanke von einem kontinuierlichen Fortschritt. Letzteres führt wie natürlich wieder dazu, Antworten auf die Frage zu geben, wo und wann dieser Prozess begonnen habe. Horn spricht von der Philosophie vor der Sintflut - z.B. der Kainiten und Sethiten -, von der Philosophie der Barbaren usw. Dies sind Kapitel, die auch Brucker im 18. Jahrhundert noch ganz selbstverständlich behandelt. Übrigens gliedert Horn sein Werk nach einem grundlegend von den bisherigen Kompendien abweichenden Plan, und Heumann (1715) wie Brucker (1742) bescheinigen ihm, der erste gewesen zu sein, der die Geschichte der Philosophie nicht nach einem außerphilosophischen, sondern nach einem gerade für sie passenden Schema geordnet habe.

Im selben Jahr wie das Werk von Horn erscheint in England 1655 das letzte große Werk der philologisch-humanistischen Geschichtsschreibung:


Thomas Stanley (1625-78)

Thomas Stanleys „The history of Philosophy" (lat. von Olearius und le Clerc 171115) umfasst mehr als 1200 Seiten im Quartformat. Was er aufnimmt und darstellt, das schildert er mit einer Genauigkeit, "wie man dies getreuer nicht tun kann." (Jean le Clerc16 in der Ausgabe 1711) Das bescheinigt ihm auch Heumann, der Theoretiker einer wissenschaftlichen Philosophiehistorie, der das Buch 1715 im 3, Stück seiner „Acta“ rezensiert17: wir sind ihm „grossen Danck schuldig, daß er mit grosser Mühe alles von denen alten Philosophis zusammen gesuchet, ohne welche Hülffe wir von denenselben nicht recht würden urtheilen können“ (Heumann Acta III, 541). Stanley betreibt noch ganz den Kult der Antike, die Alten hätten eigentlich schon alles gewusst, man müsse ihre Meinungen daher aus den Textruinen wieder rekonstruieren, aber man solle sich davor hüten, sie zu kritisieren. Dieser „Engelländische Diogenes Laertius(Heumann Acta III, 538) führt sein antikes Vorbild umfassend aus, ordnet stellenweise etwas um, führt ihn aber weder zeitlich weiter, noch hat er außer neuen und besseren Quellen irgendeinen sachlichen Begriff von Philosophie

Abgesehen von seiner Umfassendheit ist Stanley vor allem durch zwei Ideen bemerkenswert: erstens stellt er eine neue Zeitrechnung der "aera philosophica" auf, zweitens gibt er neue Antworten auf die Frage nach dem Ursprung der Philosophie. Die "aera philosophica" lässt Stanley mit dem Zeitpunkt beginnen, als im 3. Jahr der 49. Olympiade (= 582 v.Chr.) Thales und andere zum ersten Mal mit dem Titel "sophos" bezeichnet worden seien (Stanley 1711,29). Ein bemerkenswerter Einfall: hier beginnt eine Ära in dem Augenblick, wo etwas Besonderes erkannt und benannt wird. Der Ausgangspunkt liegt nicht in einem Lebensdatum - der Geburt oder der "akmé" eines Autors wie Thales, Pythagoras oder Sokrates - sondern dort, wo die Rezeption stattgefunden und erstmals zu einer bewussten Benennung geführt hat. Nach Stanleys Chronologie ist Sokrates im Jahre 113 der "aera philosophica" geboren (Stanley 1711, 35). Dieser eigenwillige Versuch Stanleys, eine disziplinspezifische Zeitrechnung einzuführen, ist in der Philosophiehistorie indessen nicht aufgegriffen, nicht einmal von ihm selbst wirklich durchgeführt worden. Die tabellarische Übersicht endet mit dem Tod des Karneades im Jahr 454 dieser Ära.18

Den Ursprung der Philosophie setzt Stanley aber doch nicht bei den von ihm so sehr verehrten Griechen an, sondern lässt sie in einer Vorgeschichte der "aera philosophica" im Orient bei Chaldäern, Persern und Arabern bzw. Sabäern beginnen. Das Inhaltsverzeichnis zeigt darum eine gewisse Hybridität: Behandelt der erste Teil (beginnend mit Thales) eine Gruppe von „Weisen“, hier sind es neun einschließlich „Anacharsis“, so handeln die folgenden Teile von den Joniern (Anaximander, Anaximenes, Archelaus), von Sokrates und den Sokratikern (Xenophon u.a.), von der „philosophia academica“ (Plato und seine Schule), der „philosophia peripatetica“ (Aristoteles und dessen Schule), den Kynikern, den Stoikern. Der achte Teil beginnt – ganz nach der Zweiteilung, die Diogenes Laertius vorgegeben hatte – zeitlich wieder zu Beginn mit der „secta italica“ (Pythagoras und die Pythagoreer), woran sich Heraklit in einem eigenen Teil anschließt; Teil X fasst eine nicht benannte Gruppe zusammen (Xenophanes, Parmenides, Melissus, Zeno, Leukipp und Demokrit, Protagoras, Anaxarchos). Der elfte Teil behandelt die Skeptiker (Pyrrho, Timon), der zwölfte Epikur und die Epikureer. Dann kommt ein Bruch, Stanley beginnt noch einmal, vorgängig zur griechischen Ära: Teil XIII handelt von der Philosophie der Chaldäer, die folgenden Teile von derjenigen der Perser und Sabäer bzw. Araber. Außer mehreren mit identischem Namen (Zoroaster) werden hier kaum mehr Individuen genannt.

Allerdings kann Stanley kein Kriterium angeben, warum er die Philosophie „der Hebräer, der Egyptier, der Phönicier und der Indianer(Heumann Acta III, 541) ausschließt, er kann nicht ausschließen, dass der Sache nach auch andere als die von ihm behandelten Traditionen in die Geschichte der Philosophie einzubeziehen wären, aber im Zweifelsfall hält er sich - und erweist sich darin als Philologe - an die besser bezeugten Überlieferungen. Er steht im Übergang vom philologischen zum systematisch-philosophischen Interesse an der Geschichte der Philosophie. Seine Materialsammlung ist perfekt. Ein kritisches historisches oder gar ein sachlich-philosophisches Urteil gesteht ihm der Rezensent Heumann in keiner Weise zu: vom „Landlügner Jamblichus“ hat er Absurditäten abgeschrieben, er „giebet dem Laertio an Leichtglaubigkeit nichts nach“, in philosophischen Fragen hat er keinerlei Urteil, und verhält sich wie Arbeiter, „welche bey einem Gebäude allerhand Materialien zutragen: die aber der Meister erst betrachtet, und, was ihm nicht anstehet, wegwirffet“ (Heumann Acta III, 539f). Ganz misslungen ist Stanley, was er im letzten Teil unter dem Titel einer orientalischen Philosophie zeigen wollte. Daraus kann man nur lernen, dass „die Chaldäer, Perser und Sabäer keine philosophi, sondern in Heydnischen Greueln ersoffene Pfaffen, gewesen sind, und also in die Historiam philosophiae gar nicht gehören(Heumann Acta III, 542)


Biblische Geschichte der Philosophie

Als Vertreter einer Richtung der Philosophiehistorie, die sehr stark an der Bibel orientiert ist und im Lauf des 17. Jahrhunderts bemerkenswert einflußreich war, kann Paul(us) Bolduan(us) stehen, der 1616 seine "Bibliotheca philosophica" herausbringt. In der "epistula dedicatoria" findet sich da eine überraschende Geschichte: Adam und Eva hätten ein "coetum scholasticum" gebildet, indem sie Gott lobpreisten und theoretische Untersuchungen über die Schöpfung anstellten. Adam als der erste Schüler des ersten Meisters, habe somit das "specimen philosophicum" begründet und Eva war seine erste Schülerin. Von Generation zu Generation wurde diese Urweisheit weitergegeben, und noch Noah habe in der Arche seine Söhne gelehrt; später folgten die Schulen des Abraham und des Moses, wobei der letztere einen "coetus docentium et discentium", also eine Art Akademie begründet habe (die "Leviten"), die bis zur Ankunft Christi bestanden habe. Auch die Propheten werden als Philosophen betrachtet, und während des Exils der Juden in Babylon habe sich ihre Weisheit auch unter den Orientalen verbreitet, sei nach Persien gelangt, von wo dann die "Magi" gekommen seien. Jesus selbst sei dann der wahre Meister gewesen, habe sich auch als solcher deklariert (Math. 23,8) und eine neue, endgültige Weisheitsschule begründet: mit den 12 Aposteln und den 70 Schülern. Dieser heiligen, der biblischen Geschichte gegenüber ist die profane Weisheit der Griechen und anderer Völker sekundär.

Eine vergleichbare Weise des Zugangs zu den überlieferten Thesen der Philosophie entwickelt später die Schule von Cambridge. Theophilus Gale (1628 - 1678) mit seiner "Philosophia generalis" (1676) ist einer ihrer Vertreter. Darin wird der Leitgedanke entwickelt, dass alle Philosophen aus ein und derselben Quelle geschöpft hätten, nämlich aus der Offenbarung. In erster Linie sei also unter den Philosophen Moses zu nennen, aber auch die orientalischen und griechischen Philosophen werden auf diese Quelle zurückgeführt. Die Philosophie der Hebräer erscheint als die "philosophia prima".

Abraham, Moses, Salomon und Hiob sind ihre bedeutendsten Vertreter. Unter den Griechen stehe Platon der Bibel am nächsten, und Gale greift hier einen Topos von neuem auf, der sich schon bei Philon und Clemens von Alexandrien findet: Platon sei ein indirekter Schüler des Moses und der Bibel.

Die Vergangenheit der Philosophie erscheint, so betrachtet, als etwas Veränderliches, Vielfältiges, dessen Ursprungspunkt und Endpunkt jedoch bekannt sind, man kann daher aus dieser Kenntnis der Bezugspunkte auch jede einzelne Entwicklung als Abweg oder als Annäherung erkennen und beurteilen. Die methodologische Formulierung dieses Ansatzes findet sich in der "Arcaeologia philosophica" (1692) des Thomas Burnet (1632 - 1715): Ziel ist es, präzise darzustellen, was jede Schule gedacht hat, in welchem Bereich des Denkens sie zur Errichtung des Gebäudes der Wissenschaft beigetragen und bis zu welchem Grad sie diese gefördert hat. Hingegen hält Burnet die Lebensumstände der Philosophen für sekundär. Die Lehren der Philosophen sind durchwegs hinsichtlich ihrer Nähe oder Ferne zur Offenbarung zu beurteilen. Burnet entwirft die Durchführung seines Programms an der Fragestellung, welche Auffassungen über den Ursprung und das Wesen der Welt entwickelt worden sind. Dabei wird immer wieder festgestellt, wie die Weitergabe der Offenbarung zu einer Annäherung an die Wahrheit geführt habe, wie jedoch insgesamt eher ein Abstieg als ein Fortschritt im Maße der Abweichung von der Offenbarung gegeben sei. Religiöse wie philosophische wie wissenschaftliche Auffassungen haben für Burnet ihre gemeinsamen Quellen in der Offenbarung. Um den wahren Sinn der oft kryptischen, hinter Mythen und Allegorien verborgenen Aussagen wiederzufinden, ist die Kenntnis der Wahrheit notwendig, also jener Instanz, die in diesen Äußerungen nur auf verschiedenartige Weise, unter verschiedenen Namen und oft in entstellter Gestalt zum Ausdruck komme.

Das Ziel der Schule von Cambridge bestand also nicht darin, eine philologisch möglichst exakte Rekonstruktion der philosophischen Lehren zu liefern, sondern darin, die wirkliche Aussage dieser Lehren - hinter all den unterschiedlichen Terminologien - wiederzufinden. Dabei kommt es zu einer bedeutsamen Aufsplitterung: zwar sind die Griechen den Barbaren in den Wissenschaften überlegen, dies trifft nach Auffassung dieser Autoren jedoch nicht für die Philosophie zu. Der Verlauf der Denkgeschichte stellt sich also hier nicht mehr als ein einheitliches Ganzes dar, sondern splittert sich auf in die Geschichte mehrerer Disziplinen.


Polyhistoren - Daniel Georg Morhof

Die zuletzt genannte Auffassung prägt dann auch schon rein äußerlich die Werke derjenigen Autoren, die als 'Polyhistoren' in die Geistesgeschichte Eingang gefunden haben.19 Der Polyhistor stellt jede Disziplin, die er unterscheidet, gesondert dar. Sein Werk wird dadurch zu einem Kompendium einzelner Disziplingeschichten, und die Philosophie ist nur mehr eine unter diesen.

In der Polyhistorie ist das Ideal der Umfassendheit vor allem wirksam geworden: alles, was geschrieben ist, findet ihr Interesse, ihr Gegenstand ist die res literaria als solche. Der Polyhistor bibliographiert und rezensiert, und was er veröffentlicht, ist eine möglichst umfassende kommentierte Bibliographie. Solche Bücher, nach Disziplinen geordnete Werkverzeichnisse, erscheinen schon ab der Mitte des 16. Jahrhunderts. Der bedeutendste Polyhistor des 17. Jahrhunderts, Daniel Georg Morhof (1639 - 1691) schafft in seinem "Polyhistor literarius, philosophicus et practicus" die Voraussetzung für die Weltgeschichten der Philosophie, die im 18. Jahrhundert entstehen. Er beschränkt sich nicht mehr auf die Antike, er verläßt die narrative Form der bisherigen Darstellungen, er arbeitet die gesamte Sekundärliteratur auf und er bietet Ordnungsschemata für die Behandlung der verschiedenen Disziplinen. Morhof weiß, dass er die vertrauten Ufer verlassen hat: "Oceanum enim ingressus sum, in quo portum invenire difficile est."

Die Ordnungsidee, die es dem Polyhistor ermöglichen soll, sich im unendlichen Stoff zu orientieren, ist die Zuweisung eines bestimmten Erkenntnisbereiches zu jeder Disziplin. Zwar gibt es für Morhof im Grunde nur eine einzige Wissenschaft, aber diese erwirbt man doch nur, wenn man allen einzelnen Erkenntnisbemühungen nachgeht: in ihren gegenwärtigen und in ihren früheren Gestalten. Hierbei wird jeder Umstand wichtig; man muß die literarischen Produkte einer Disziplin, ihre Textausgaben, Zeitschriften, gelehrten Gesellschaften usw. kennen. Eine derartige Geschichte der Wissenschaften, sagt Morhof, gibt es noch nicht. Bisher habe man sich nur auf die Interpretation von (philosophischen) Texten beschränkt, und dies zumeist mit Einschränkung auf die Antike. Als Polyhistor ist er dagegen ganz offen: wo immer er ein Zeichen von philosophischer oder sonst wissenschaftlicher Tätigkeit wahrnimmt, verzeichnet er es.

Allerdings gibt es eine bedeutsame Einschränkung: was der Polyhistor in seine Geschichtsdarstellung aufnimmt, muß zumindest geschrieben sein. Geschichtsschreibung als Sammeln möglichst aller schriftlichen Spuren der geistigen Produktion der Vergangenheit ist Polyhistorie. In diesem Zusammenhang entwickelt sich die Frage nach dem Ursprung der Philosophie in einer eigenartigen Weise: es schien keinen Zweifel daran zu geben, dass die Entstehung der Philosophie die Entstehung der Schrift vorausgesetzt habe. Die Frage war nun, ob Moses - von dem ja nach Ansicht der Zeit die ersten Bücher stammten - der Entdecker der Schrift und damit vielleicht auch der erste Philosoph gewesen sei, oder ob Adam dafür gelten sollte, für den immerhin sprach, dass er die Sprache erfunden habe (nach dem Bericht der Genesis gibt Adam den Dingen ihre Namen. Es schien wahrscheinlich, dass der "primus auctor sermoni" auch der "primus inventor literarum" gewesen sei. Dieser Streit um Moses oder Adam braucht uns hier nur insofern zu interessieren, als dabei auffällt, dass ein Vorbegriff von Geschichtswissenschaft ( Sammlung möglichst aller schriftlichen Spuren) zurückwirken kann auf den Begriff des Gegenstandes dieser Geschichtswissenschaft.

Zwei Gesichtspunkte außer der Disziplinentrennung formuliert Morhof, die ihm eine Orientierung im Meer des Geschriebenen erlauben sollen, und die zu seiner Zeit neu sind: die Interpretation aus dem Kontext und die Arbeitsteilung.

Nicht einfach wörtliche, philologisch-kritische Wiedergabe wird nach Morhof den alten Texten gerecht, sondern dazu braucht es Angaben darüber, in welchem Zusammenhang ein Autor was gesagt hat. Morhof fordert daher, nicht einfach alles zusammenzuordnen, was dem Anschein nach ähnlich ist, nicht einen Autor nach isoliert herausgegriffenen Sätzen zu beurteilen, sondern eher die Sätze nach dem Autor. Also, wie sich ein heutiger Theoretiker der Hermeneutik ausdrückt, die Verhältnisse von Textteilen und Textganzem, vom Autor als einer Gesamtheit von Sinngehalten und einem Text als einem dieser Sinngehalte zu berücksichtigen. Die Methode, die Morhof hierzu vorschlägt, besteht darin, dass bei einem Zitat jeweils auch die anderen Stellen angegeben werden, an denen der Autor vom selben Gegenstand spricht; ein Text wird so durch andere Texte erläutert. Nicht mehr die buchstabengetreue Wiedergabe allein steht hiermit zur Aufgabe, sondern die Klärung des Sinns einer Aussage aus deren Geist und mittels ihres Kontexts.

Das zweite ist die Arbeitsteilung: jeder einzelne Gelehrte stützt sich auf die Arbeiten der anderen, und diese gemeinsame Anstrengung ist dann auch imstande, einen Ozean von Gegenständen durch beharrlichen Vergleich übersichtlich zu machen.


Literatur

Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Übersetzt von Franz Martin Wimmer. Hg.: Ulrich Johannes Schneider. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990. (Erstdruck: frz. 1973)
Giovanni Santinello (Hg.) Models of the History of Philosophy. From Its Origins in the Renaissance to the Historia Philosophica. (International Archives of the History of Ideas. Hg. von C.W.T. Blackwell und Philip Weller. Bd. 135). Dordrecht: Springer, 1993. (Erstdruck ital. 981)
Giovanni Santinello und Gregorio Piaia (Hg.): Models of the History of Philosophy. Volume II: From Cartesian Age to Brucker. (International Archives of the History of Ideas. Hg. von C.W.T. Blackwell und Philip Weller. Bd. 204). Dordrecht: Springer, 2010. (Erstdruck: ital. 1979)
Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Theorie und Geschichte. Wien: Passagen, 1990. Im Internet: http://homepage.univie.ac.at/franz.martin.wimmer/intkult90.html



Anmerkungen


1Vgl. Lucien Braun: Geschichte der Philosophiegeschichte. Übersetzt von Franz Martin Wimmer. Hg.: Ulrich Johannes Schneider. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990. (Erstdruck: frz. 1973), S. 52, 59;

2Martin Luther: Tischreden oder Colloquia. Hg.: Friedrich von Schmidt. Leipzig: Reclam, 1878. S. 359

3Vgl. dazu die Reflexionen von Jean Bodin über den Fortschritt in der Geschichte; Skriptum Geschichte der Geschichtsphilosophie 1, 1992

4Justus Lipsius: Manuductionis ad Stoicam philosophiam libri III. Antverpiae: Moretus, 1604. Vollansicht im Internet: http://books.google.at/books?id=Wl08AAAAcAAJ&hl=de&source=gbs_navlinks_s

5So sah man in Aristoteles etwa den Verfasser einer "Theologie des Meisters", die eindeutig neuplatonischen Ursprungs ist (es handelt sich um Plotin, Enneaden, IV-VI), es gab Buchtitel wie „Secreta Secretorum Aristotelis“ etc. Auch das erste überhaupt in England gedruckte Buch, eine aus arabischer Tradition stammende Sammlung von Philosophensprüchen, (The dyctes and the sayenges of the Philosophers other Wyse called Dicta Philosophorum. London: William Caxton, 1477) vermittelt ein in vieler Hinsicht heute überraschendes Bild von Philosophen, wie z.B. von Sokrates. Vgl. die Darstellung in Wimmer 1990, 237 ff.

6Vgl. Braun 1990, S. 59; Giovanni Santinello (Hg.) Models of the History of Philosophy. From Its Origins in the Renaissance to the Historia Philosophica. Dordrecht: Springer, 1993

7Francis Bacon: "De dignitate et augmentis scientiarum." In The Works of Francis Bacon, vol. III, cap. IV. Stuttgart: Frommann Holzboog, 1963. (Erstdruck: 1605) xxx
Vgl. Braun 1990, S. 63

8René Descartes: "Regeln zur Leitung des Geistes: die Erforschung der Wahrheit durch das natürliche Licht." Hg.: Artur Buchenau. Hamburg: Meiner Verlag, 1966. (Erstdruck: 1906) S. 10

9Pierre-Sylvain Régis: Cours entier de philosophie, ou système général selon les principes de M. Descartes, contenant la logique, la métaphysique, la physique, et la morale. 3. Aufl. 3 Bde. Amsterdam: Huguetan, 1691. (Erstdruck: 1690)

10Pierre Coste: "Discours sur la philosophie ancienne et moderne, où l'on fait en abrégé l'histoire de cette science." In Cours entier de philosophie, ou système général selon les principes de M. Descartes, etc., Hg.: Pierre-Sylvain Régis. Amsterdam: Huguetan, 1691.

11Christoph August Heumann: Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica. Sechstes Stück. Halle: Rengerische Buchhandlung, 1716. S. 1064

12Vgl. Gregorio Piaia: "The General Histories of Philosophy in France and in Italy 1650-1750." In Models of the History of Philosophy. Volume II: From Cartesian Age to Brucker, Hg.: Giovanni Santinello und Gregorio Piaia, S. 3-300. Dordrecht: Springer, 2010. (Erstdruck: 1979 ital.), hier S. 87. Außer Heumann hat auch Brucker zunächst diese falsche Zuordnung gesetzt (und wieder korrigiert). Aber auch Braun schreibt irrtümlich die Schrift Régis zu, wodurch er, wie Piaia zeigen konnte, zu einer Fehleinschätzung gelangte. Die Darstellung durch Braun in der deutschen Fassung (1990) ist zudem durch den Herausgeber sehr stark gekürzt worden, sodass in diesem Fall auf Brauns Original zu verweisen ist: Lucien Braun: Histoire de l'histoire de la philosophie. Paris: Ophrys, 1973. S 62-63.

13Le Clerc hatte 1690 den vierten Teil von Stanleys „History“, worin die orientalische Philosophie behandelt wurde, in lateieinischer Übersetzung veröffentlicht und mutmaßt selbst, dass Coste darauf rekurriert; vgl. Piaia 2010, 86.

14Heumann a.a.O., 1069

15Thomas Stanley: Historia philosophiae, Vitas opiniones, resque gestas et dicta Philosophorum Sectae. Übersetzt von Gottfried Olearius. 2 Bde. Lipsiae: T. Fritsch, 1711. (Erstdruck: engl. 1656)
Vollansicht im Internet: http://reader.digitale-sammlungen.de/de/fs1/object/display/bsb10008599_00005.html

16Le Clerc hatte den vierten Teil von Stanleys Werk, die Darstellung der orientalischen Philosophie bereits 1690 in einer lateinischen Übersetzung in Amsterdam veröffentlicht. Diese, mit Korrekturen und Ergänzungen versehene Übersetzung wurde von Olearius in die Ausgabe 1711 übernommen.

17Christoph August Heumann: Acta philosophorum, das ist gründliche Nachrichten aus der historia philosophica. Drittes Stück. Halle: Rengerische Buchhandlung, 1715. S. 523-544.

18Die chronologische Tabelle dieser Zeitrechnung wird im Buch zweimal abgedruckt: zu Beginn und dann noch einmal ab S. 203 (lat. Ausg. 1711). Der Sinn dieser Wiederholung wird nicht klar.
Zu dieser Idee schreibt Braun 1990, 77: „Dieses originelle Unterfangen, dem Ablauf der Philosophie einen eigenen Raum zu eröffnen, ist folgenlos geblieben. Die Tradition hat es nicht gebilligt. Dennoch wird hier auf eine Disposition verwiesen, für die die Vervollkommnung eines chronologischen Rahmens der Lektüre ein wesentliches Element darstellt. Das wird in der Folge immer weniger der Fall sein. An dem Tag, da die Philosophie das Mittel finden wird, die Vergangenheit von sich selbst aus in Erinnerung zu rufen, wird der chronologische Rahmen viel von seiner Notwendigkeit verlieren. Er wird in seiner Gliederungsfuktion ersetzt werden von der Tabelle (Brucker), von der Idee des kumulativen Fortschritts (Tiedemann), von den Möglichkeiten der Vernunft (Kant), von der dialektischen Entwicklung des Begriffs (Hegel) – so daß ein Geschichtswerk ohne Chronologie nicht unbedingt absurd erscheint. Für den Augenblick bleibt die chronologische Einteilung unentbehrlich.“ Heumann hält 1715 den Vorschlag Stanleys für einigermaßen absurd: „mich düncket, diese neue aera sey zu gar nichts nütze, indem doch kein Professor Philosophiae sich wird bereden lassen, anstatt A.C. 1715 zu schreiben Anno aerae philosophicae 2063.“ (Acta, 3. Stück, S. 537)

19Vgl. Braun 1990, S. 85-91; Ilario Tolomio: "The 'Historia Philosophica' in the Sixteenth and Seventeenth Centuries." In Models of the History of Philosophy. From Its Origins in the Renaissance to the Historia Philosophica, Hg.: Giovanni Santinello, S. 66-160. Dordrecht: Springer, 1993. (Erstdruck: ital. 1981), hier S. 82-85.



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Letzte Bearbeitung: WS 2014/15