Franz Martin Wimmer (Hg.)

Toleranz - Minderheiten - Dialog I


Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst - IWK - Wien. H. 4, 1998

Mit Beiträgen von Michael Lackner/Liu Yi-Shan (Göttingen), Walther Lichem (Ottawa), Ram A. Mall (Bremen/München), Ernst Wangermann (Salzburg).

DOWNLOAD als PDF-File

Einleitung FMW:

"Ich mag das Wort Toleranz nicht", soll Mahatma Gandhi gesagt haben: "aber ich finde kein besseres." Als politischer und juristischer Begriff hat das Wort längst ausgedient, ist durch die Erklärung von Menschenrechten überholt worden: Nicht das bloße Zulassen von Anderssein, sondern unbestreitbares Recht auf die eigene Lebensgestaltung ist damit gemeint. Die Phänomene allerdings, die einstmals zu "Toleranzedikten" und auch wieder zu deren Aufhebungen geführt haben, sind in der heutigen Welt keineswegs verschwunden. Es ist immer noch Realität, daß kleine und auch größere Menschengruppen um die Möglichkeit kämpfen müssen, entsprechend ihren Überzeugungen und Traditionen zu leben.

Fast täglich rufen uns Nachrichtensendungen solche Fälle in Erinnerung, eben jetzt aus dem Kosovo, vor nicht langer Zeit aus Bosnien und immer wieder aus anderen Regionen der Erde. Ernst Wangermann zitiert in seinem Beitrag Grillparzer, der den gegenreformatorischen Erzherzog von Steiermark, Kärnten und Krain sagen läßt:
"An Einem Tag auf fürstlichen Befehl
Bekehrten sich an sechzigtausend Seelen
Und zwanzigtausend wandern flüchtig aus." (S. 5)
Es fällt schwer, bei einem solchen Zitat nicht an jene Brutalität zu denken, die wir als "ethnische Säuberungen" bezeichnen. Der Erzherzog, immerhin, hatte noch die Möglichkeit der "Bekehrung" zugestanden. Dem einzelnen "albanischen" oder "bosnischen Muslim" steht auch eine solche Möglichkeit kaum offen: zwar könnte er sich theoretisch zum orthodoxen oder katholischen Christenglauben "bekehren", jedoch verlangt das niemand und es würde wohl auch nicht honoriert - er bliebe "Bosnier" oder "Kosovo-Albaner". Und damit bliebe ihm in vielen Fällen doch nur die Möglichkeit, "flüchtig auszuwandern".

Wer tolerieren kann, hat auch die Möglichkeit, intolerant zu sein. Es ist daher eine Macht- und Mehrheitsfrage. Ob die von Walther Lichem genannten Indianer bereit waren, das kanadische Rechtssystem zu tolerieren, wäre eine ebenso akademische Frage wie die Frage nach dem Tolerieren des katholischen Erzherzogs durch die schwächeren Protestanten im 17. Jahrhundert oder nach der Toleranz, welche irgendeine Minderheit der jeweiligen Mehrheit entgegenbringt. Handelt es sich aber ausschließlich um eine Machtfrage, so muß es Bedingungen und Interessen geben, aufgrund deren Toleranz wächst oder abnimmt. Die jeweils stärkere Gruppe darf sich, um die schwächere tolerieren zu können, von dieser nicht ernsthaft gefährdet fühlen - es ist keine Neuigkeit, daß genau hier die Stelle ist, an der Verhetzer und Propagandisten immer angesetzt haben. Die Mehrheit sieht sich ferner zwar als überlegen, aber nicht als absolut überlegen an, sodaß eine Auslöschung oder Entfernung der Minderheit nicht möglich erscheint. Und schließlich werden Toleranzforderungen, wofür Wangermann deutliche Belege liefert, dann Erfolg haben, wenn durch das Tolerieren ein Vorteil für die Mehrheit resultiert.

Was jemand tolerieren will oder überhaupt für tolerierbar hält, ist weitgehend eine Frage des Selbstverständnisses. Einen interessanten Hinweis in dieser Richtung geben Michael Lackner und Liu Yi-Shan, wenn sie das Datum diskutieren, daß in Taiwan eine besonders große Abneigung gegen "Rassisten" festzustellen war: "beim Wort `Rassist' wird in der alltäglichen Anwendung oft nur an weiße Rassisten gedacht." (S. 16) Rassisten sind also die Anderen. Das könnte auch für Selbstbeschreibungen in Bezug auf Toleranz gelten: intolerant sind die Anderen. Es wäre aber falsch, dies rein relativistisch zu verstehen, denn es gibt tatsächlich Herrschaftsverhältnisse.

Toleranz und Intoleranz sind nicht nur machtpolitische Phänomene, sie sind insofern von grundlegender Bedeutung, als in ihrem Ausmaß die Möglichkeiten und die Grenzen von Begegnungen überhaupt liegen. Darauf konzentriert sich Ram Adhar Malls Reflexion auf die Voraussetzung dessen, was er "interreligiöse Hermeneutik" nennt. Religionen, Weltbilder, auch Philosophien bedingen, daß ihre Vertreter in die Versuchung geraten, das jeweils Eigene für das Absolutgültige zu halten. Dies führt oft zu gegenseitiger Ausgrenzung - aber es muß nicht dazu führen, wie Mall zeigen will, wenn er von "Absolutheit nach innen" spricht, die der "Absolutheit nach außen" vorzuziehen sei und deren Motto lautet: "Mein Weg ist wahr, ohne daß dein Weg deswegen falsch sein muß." (S. 30) Eine praktische Anwendung dieser Idee scheint in Projekten wie der von Lichem beschriebenen Reform des kanadischen Rechtswesens zumindest teilweise leitend zu sein, sofern sie sich nicht am Ziel einer Ghettobildung orientiert, sondern auch ein Lernen voneinander anstrebt.

Abstrakt genommen müßten zwei Menschen, die unterschiedliche Religionen vertreten, einander notgedrungen tolerieren, weil keiner von ihnen etwas anderes als die innere Überzeugung für die Richtigkeit seiner Glaubenswahl anführen kann - und wenn es keine bewußte Wahl ist, nicht einmal dies, sondern nur den Zufall der Herkunft. Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprache, Ethnie oder Tradition ist für den einzelnen theoretisch natürlich genausowenig ein Argument, andere zu verachten oder deren Anderssein nicht zu tolerieren. Doch geraten wir hier in ein Dilemma: das Eigene, mit dem wir uns identifizieren, können wir nicht leichthin relativieren. Doch kann, um der leidigen Alternative der Intoleranz zu entgehen, der Dialog gesucht und wo immer möglich praktiziert werden.

Eine wichtige Frage im Zusammenhang mit Toleranz bleibt hier noch offen: die Frage nach deren Grenzen. Theoretisch wäre auch diese Frage nicht schwer zu beantworten: Intoleranz ist nicht zu tolerieren. Jede Andeutung darüber, was dies bedeuten könnte - in der Wissenschaft, in politischen und religiösen Konflikten, in der Gesetzgebung usw. - müßte jedoch weit genauer sein, als dies hier möglich ist.

Die Beiträge dieses Heftes gehen auf das Symposium "Toleranz oder Dialog?" des Instituts für Wissenschaft und Kunst zurück, das 1996 stattgefunden hat. Andere Vorträge desselben Symposiums sind zur Veröffentlichung in einem späteren Heft vorgesehen. Manche der Einzelheiten, die insbesondere in den Aufsätzen von Lackner/Liu und von Lichem genannt werden, könnten heute durch aktuellere Daten ersetzt werden - aber auch in diesen Fällen würde sich wenig an der allgemeinen Problematik ändern.


Zurück zur Publikationsliste.


Diese Seiten werden eingerichtet und gewartet von Franz Martin Wimmer