Franz M. Wimmer

Identität und Kulturbrüche


In: Notker Schneider, Ram Adhar Mall und Dieter Lohmar (Hg.): Einheit und Vielfalt. Das Verstehen der Kulturen. Amsterdam: Rodopi 1998, S. 61-84 (=Studien zur interkulturellen Philosophie Bd.9)

Wiederabdruck in:
Globalität und Philosophie. Studien zur Interkulturalität. Wien: Turia + Kant 2003, S. 92-114


Zusammenfassung:
Zunächst werden sechs mögliche Perspektiven unterschieden, die im Fall eines kulturellen Bruchs orientierend und identitätsstiftend sein können: eine retrospektive, prospektive, momentive, touristische, repetitive und perenne Perspektive. Dann werden (fiktionale) Biographien für die einzelnen Typen vorgestellt und anschließend ein Vergleich hinsichtlich der Brauchbarkeit für die Beschreibung von Lebensläufen versucht. Der letzte Abschnitt bringt Überlegungen für die Philosophie, die sich aus den vorgeschlagenen Unterscheidungen ergeben. Es wird dafür plädiert, Philosophie als ein pluripolar orientiertes Unternehmen zu verstehen, das bestehende Differenzen kultureller Traditionen ernstnimmt und in Polylogen durchzuführen ist.

Aus dem Text:
Ein "Leben" zu beschreiben setzt die Idee irgendeiner Einheit oder "Identität" dieses Lebens voraus. Sofern "Kulturalität" oder auch "Inter-Kulturalität" damit in Beziehung gedacht wird, sind weitere Einheiten, nämlich kulturelle Konstanten gedacht. Diese können über das beschriebene Leben des einzelnen hinaus bestehen – vor diesem Leben, nach diesem Leben –, sie können aber auch während dieses Lebens zerfallen oder zumindest schwinden. Die Ausgangsfrage meiner heutigen Überlegungen ist daher: welcher Art sind Brüche, die hier stattfinden können? Unter einem "Bruch" verstehe ich in diesem Zusammenhang das Phänomen, daß etwas, das bisher (bzw. später wieder) im Verhalten, Handeln, Denken, Fühlen oder Werten für einen Menschen selbstverständlich war (bzw. sein wird), nicht mehr (oder noch nicht) selbstverständlich ist.

Das Phänomen kann sich in unterschiedlichen Manifestationen äußern, wie zum Beispiel: in sprachlosem Fehlverhalten von Individuen oder Gruppen (etwa in einem Verhalten, das eine irrige Einschätzung von Zweck-Mittel-Relationen erkennen läßt); in einer hypertrophen Entwicklung von Erinnerungstechniken (woraufhin Dokumentationstechniken wie die Fotografie oder alle Arten von Recording untersucht werden könnten); in reflektierten und gegebenenfalls literarisch geformten Standortbestimmungen (wobei große Unterschiede je nach kulturellen Ausprägungen auftreten: die chinesische "Narbenliteratur" unterscheidet sich stark von afrikanischen Identitätstexten oder ostdeutscher Nach-DDR-Literatur ), oder auch in bestimmten psychotischen Symptomen (wie sie beispielsweise der Psychiater und Kämpfer im algerischen Unabhängigkeitskrieg Frantz Fanon als "kolonisiertes Bewußtsein" beschrieben hat ). In allen diesen Fällen gibt es eine angenommene Normalität, im Vergleich zu der die eigene Situation als abweichend oder als defizient erlebt und beschrieben wird.

Die angeführten Beispiele können den Eindruck erwecken, "Brüche" repräsentierten stets einen erlebten Mangel in der jeweiligen Gegenwart, der zu beheben versucht wird. Dieser Eindruck ist naheliegend, aber er vermag keineswegs das Phänomen so zu erfassen, wie es einleitend formuliert ist: es ist immerhin denkbar, daß die Gegenwart als Anfang oder als Ursprung erlebt oder erfahren wird; es liegen hinreichend viele Zeugnisse aus der Geschichte für ein utopisches oder Ursprungsbewußtsein vor, um diesen Fall ebenso als "Bruch" einzureihen. Ein solches Ursprungsbewußtsein kann wiederum auf die Gegenwart bezogen oder auch in eine ferne Vergangenheit retrojiziert werden.

Es handelt sich um paradigmatische Sichtweisen oder Perspektiven, aufgrund derer in einer jeweiligen Gegenwart eine Ganzheits– oder Standortbestimmung eines Individuums – eines Selbst, eines Subjekts, einer Person, einer Gemeinschaft – getroffen wird. Darum werden entsprechende Termini vorgeschlagen, wobei die Vermutung besteht, daß diese sowohl in Bio-Graphien wie in Sozio-Graphien Anwendung finden könnten. Letzteres wird hier nur angedeutet. Die unterschiedenen Sichtweisen sind dabei nicht so zu verstehen, daß in realen Lebensgeschichten jeweils eine und nur eine Perspektive leitend würde: der Wechsel von der einen in die andere Perspektive scheint der übliche Fall zu sein.
Abstrahierend und generalisierend sind jedoch folgende Grundtypen unterscheidbar:
1) Retrospektive Identität: Traditionalismus; Vergangenheit als Ursprung
2) Prospektive Identität: Utopismus; Gegenwart als Ursprung. Eine Herstellung von Kontinuität ist erst im nachhinein möglich: Adam hat keine Vorfahren, aber er hat Nachkommen.
3) Momentive Identität: Evolutionismus; Gegenwart als Übergang. Der Bruch liegt in der Mitte des Lebens und kann sich jederzeit wiederholen.
4) Pluripolare Identität: Tourismus; Gegenwart als offenes Ergebnis. Wiederholte Brüche lassen Rückkehr zu.
5) Repetitive Identität: Seelenwanderung; Voraussetzung von Identität und Kontinuität jenseits der erlebten Welt und Kultur. Der Bruch findet wiederholt jeweils am Ende eines "Lebens" statt.
6) Perenne Identität: Existenz "per omnia saecula saeculorum" oder Die Welt der Ideen. Unentstanden, unvergehend, unwandelbar.


Vgl. zu diesem Thema auch meine Studien:

-- Identität und Perspektivität. Orientierung von Einheit. In: Rita Franceschini (Hg.): Biographie und Interkulturalität. Diskurs und Lebenspraxis (2001)


-- Perspectives of Cultural Identity.  In: "Essays on Intercultural Philosophy" (2002)


Zur Startseite
Diese Seiten werden eingerichtet und gewartet von Franz Martin Wimmer