Franz Martin Wimmer:
Geschichte der Geschichtsphilosophie
Universität Wien, VO Sommersemester 2004


VO 4: Geschichtstheorien des christlichen Mittelalters und der frühen Neuzeit
Aurelius Augustinus | Jean Bodin


Aurelius Augustinus (354-430)

Geb. in Thagaste (Numidien), war in seiner Jugend Manichäer, später Skeptiker. 384 Professor für Rhetorik in Mailand. Begegnung mit dem Bischof Ambrosius, Lektüre neuplatonischer Schriften in Übersetzung. Konversion zum katholischen Christentum 386. Ab 396 Bischof von Hippo Regius (heute: Annaba, Algerien)

Hauptwerke:

De Academicis libri tres (386, gegen die Skeptiker)
De libero arbitrio (387-395, über Willensfreiheit)
Confessionum libri tredecim (397-401, Autobiographie)
De trinitate (399-419, über Dogma der Dreifaltigkeit)
De civitate dei (413-426, Geschichtstheorie)

In der Zeit der Zerstörung des weströmischen Reiches durch verschiedene, vor allem germanische Völker findet das christliche Denken in einem geschichtstheologischen Werk seinen Ausdruck, dessen Grundideen für sehr lange Zeit einflussreich bleiben sollten, in dem Werk des Bischofs von Hippo (Nordafrika), Aurelius Augustinus. In seinem Buch über den "Gottesstaat" (De Civitate Dei, 413-426 geschr.) entwirft er das Bild einer religiös gedeuteten Geschichte der Menschheit von der Schöpfung bis zum Jüngsten Gericht und bemüht sich vor allem, den Sinn der als Katastrophen erlebten gegenwärtigen Umwälzungen zu deuten. Augustinus geht von den Schriften des Alten Testaments aus, setzt sich aber stets auch mit Denkern der griechischen Tradition auseinander.

Die Idee der "Abfolge" - Prophezeiung des Daniel und römische Autoren

Aus der biblischen Tradition sind zur Deutung der Geschichte und der Gegenwart zur Zeit des Augustinus vor allem die im Buch Daniel vorhandenen "Prophezeiungen" von einer Abfolge von vier "Reichen" - unter den Bildern einer Abfolge von vier Stoffen (Gold, Silber, Eisen und Ton) bzw. von vier Tieren - im allgemeinen Bewusstsein. Man bezog diese Abfolge damals meist auf das babylonische, medische, griechische und römische Reich, wobei das letztere bis zum Untergang der Welt dauern sollte.

Auch von griechischen und römischen Autoren kannte man Vorstellungen über eine Abfolge geschichtlicher Epochen, und zwar meistens im Sinn eines Abstiegs, z.B. ausgedrückt in dem berühmten Gedicht Ovids, das mit der Schilderung des "goldenen Zeitalters" beginnt.

Augustinus will den Sinn der Gegenwart deuten und insbesondere der Kritik vieler Zeitgenossen entgegentreten, das römische Reich sei darum so schwach geworden und dabei, völlig zerstört zu werden, weil man sich von dem alten Götterglauben abgewandt und das Christentum angenommen hatte. Er führt dazu zwei Begriffe ein, die das gesamte menschliche Leben erfassen sollen: die "civitas terrena" (etwa: "irdische Bürgerschaft") und die "civitas dei" (etwa: "Gottesbürgerschaft"). Diese beiden Begriffe bezeichnen nicht einfach die "Kirche" und den "Staat", aber sie sind im christlichen Mittelalter häufig so interpretiert worden. Augustinus denkt jedoch auch an (bestimmte) Staaten, wenn er von der "civitas dei" spricht, etwa an den römischen Staat unter Konstantin dem Großen, der das Christentum zur Staatsreligion gemacht hatte.

Gottesstaat und irdischer Staat

Die Schilderung der Menschheitsgeschichte als Geschichte des Kampfes zwischen zwei "Reichen" oder Prinzipien führt Augustinus zunächst an den Ereignissen vor Augen, die im ersten Buch Moses berichtet werden. Das "Paradies", die erste Stufe des "Gottesstaats" geht verloren durch den Sieg des Bösen, der in der Versuchung durch die Schlange gegeben war; Kain, der Böse, erschlägt Abel, den Guten usw.

Obwohl ... auf dem Erdkreis so viele und große Völker mit mannigfachen Sitten und Bräuchen leben und sich durch eine Vielfalt von Sprachen, Waffen und Kleidern unterscheiden, gibt es doch nicht mehr als nur zwei Arten menschlicher Gemeinschaft, die wir mit unserer Heiligen Schrift sehr wohl zwei Staaten nennen können. Der eine besteht aus den Menschen, die nach dem Fleisch, der andere aus denen, die nach dem Geist leben wollen, jeder in dem seiner Art entsprechenden Frieden, und wenn sie erreichen, was sie anstreben, leben sie tatsächlich in diesem ihrer Art entsprechenden Frieden. (XIV,1)

In jeder Generation seit Adam findet die Auseinandersetzung zwischen den beiden Prinzipien oder "Staaten" statt, und dies sieht Augustinus im weiteren Bericht der Bibel dargestellt:

Es lag Gott daran, ... die beiden Menschengruppen in ihren gesonderten Geschlechterfolgen von Anfang an darzustellen und zu unterscheiden, so dass auf der einen Seite die Geschlechter der Menschen, das ist der nach Menschenweise Lebenden, auf der anderen die der Gotteskinder, das ist der nach Gott lebenden Menschen, aneinandergereiht wurden bis zur Sündflut. So lesenwir denn hier sowohl von der Absonderung als auch der Verschmelzung der beiden Gruppen. Die Absonderung tritt zutage, wo die beiderseitigen Geschlechter getrennt voneinander aufgeführt werden, das eine des Brudermörders Kain und das andere, das sich von Seth herleitet, ... die Verschmelzung aber darin, dass die Guten auf die schlimme Seite hinüberschwenkten und alle nun derart waren, daß sie von der Sündflut vertilgt wurden, mit Ausnahme eines einzigen Gerechten... (XV, 8)

Auch nach der Sintflut entwickeln sich dieselben zwei Prinzipien in einem steten Kampf gegen einander, der bis zum Jüngsten Gericht fortdauern wird.
 


Jean BODIN(US) (1529-96)

Bedeutender französischer Staatstheoretiker.

Hauptwerke:

Methodus ad facilem historiarum cognitionem (1566)
(Die Zitate im folgenden stammen aus diesem Text und sind, sofern hier deutsch, von mir übersetzt. Ich zitiere nach Pierre Mesnard, Hg., Oeuvres Philosophiques de Jean Bodin, tome V,3, Paris: PUF, 1951)
Les six livres de la République (1576; lat. 1586)
Colloquium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis (1593)

Kritik am mittelalterlich-christlichen Geschichtsbild an Hand seiner Auseinandersetzung mit den Interpretationen des Buches "Daniel"

Als Bodin im Jahre 1566 seinen "Zugang zum einfachen Erkennen der Geschichte" (Methodus etc.) schrieb, war die Auslegung der Prophezeiung des Buches Daniel, wo von vier Reichen die Rede sei, eine allbekannte und langvertraute Angelegenheit; bei Daniel wird von vier Tieren berichtet und von einer Statue, die aus vier verschiedenen Stoffen besteht. Die Tiere symbolisieren nach herrschender Auffassung das babylonische, persische, griechische und römische Reich und damit die ganze Geschichte: danach kommt nichts mehr. Es ist eine Hauptthese der mittelalterlichen Geschichtsinterpretation, dass das letzte, das römische Reich, durch mehrere Translationen auf die Deutschen übergegangen sei. Die meisten und besten Historiker der Zeit vertreten die These von den vier Reichen und sehen im deutschen Imperium das vierte.

Bodin zweifelt, beruft sich auf das Recht des Richters (er ist Jurist), nicht überzeugt zu sein und nimmt Kalvin zum Zeugen, daß man das als guter Christ auch bei Büchern der Bibel dürfe: Kalvin habe, nach seinem Eindruck über die Apokalypse befragt, ohne Zögern gestanden, den Sinn eines so dunklen Buches nicht zu kennen und vermutet, dessen Autor, wer immer das sei, würde nicht unter die wissenschaftlichen Schriftsteller zu zählen sein. Bodin vermutet für den Autor des Daniel das Gleiche:

"Ich sehe nicht, warum wir mit Gewalt in der Statue und den wilden Tieren ... das Bild von Reichen sehen sollen, die vor uns waren oder heute blühen."

Es bleibt selbstverständlich nicht beim Zweifel allein, Bodin will Gewissheit; so untersucht er die Konsequenzen der Annahme, die hergebrachte Interpretation des Daniel würde stimmen, und findet sie absurd. Die Verfechter der These wüßten selbst nicht, was sie unter einem "Reich" verstehen sollten. Wäre das "Reich" qualifiziert durch Ausdehnung und Bevölkerungsanzahl, wie sollte dann nicht Spanien oder Portugal dieses "Reich" sein, da diese Länder unermeßliche Gebiete in der Neuen Welt und in Afrika beherrschen? Wäre die reale militärische Macht ausschlaggebend: wer (außer Frankreich) hätte Karl V. davon abhalten können, das großartige römisch-deutsche Imperium zu einer Provinz unter vielen zu machen? Schließlich: "Worin sollte der Souverän Deutschlands sich mit dem Sultan der Türken zu vergleichen wagen?" Und selbst wenn man nicht viel von Geographie hält, man müsse doch den Fürsten von Äthiopien kennen und den Kaiser der Tataren,

"der über barbarische und ungezähmte Völker gebietet, an Zahl so gut wie grenzenlos, sodaß Deutschland sich daneben ausnimmt wie eine Fliege neben einem Elefanten."

Zu behaupten, die Deutschen besäßen das Imperium Romanum, sei in jedem Fall absurd: die meisten der ehemals römischen Provinzen und noch andere Gebiete sind in türkischer Hand, auch Altbabylonien und man kommt also auf keinen Fall darum herum: wenn da eine translatio imperii von den Babyloniern bis zu einem heutigen Reich anzunehmen ist, so gebührt der Titel des Kaisers dem Großtürken.

"Danielis oraculum de principe Turcarum interpretari aequius erit."

Den Sultan als den wahren Erben des Weltreichs anzusehen, geht aber nun doch zu weit. Da Bodin aber darin die einzige mögliche Konsequenz sieht, wenn mit "imperium" überhaupt etwas Reales verbunden sein soll, müht er sich, zu zeigen, dass im Daniel ein solcher Unsinn gar nicht gemeint gewesen sein könne. Einmal findet er es inkonsequent, in der Regierung des Cyrus eine um so viel einschneidendere Veränderung als etwa in derjenigen Trajans zu sehen, dem man aber doch seltsamerweise ebensowenig die Gründung eines spanischen Reiches zuschreibt wie dem Caracalla, Carus und Carinus die Gründung eines gallischen; gänzlich unverständlich scheint ihm schließlich, warum man nicht von einem spätantiken bretonischen Reich sprechen wolle, da doch der Bretone Konstantin die Hauptstadt Rom erobert, dessen Religion geändert und schließlich dem Reich eine neue Hauptstadt gegeben hat, die seinen Namen trägt. Offensichtlich messen die Translationstheoretiker bei Cyrus und Konstantin mit ganz verschiedenen Ellen.

Nachdem Bodin, so sagt er, lange nachgedacht hat, was der Prophet denn nun gemeint haben könnte, findet er keine befriedigendere Interpretation, als die ganze Weissagung auf Babylon selbst zu beziehen: diese Stadt ist nacheinander in die Gewalt von Medern, Persern und Griechen geraten und schließlich zerstört worden. Er führt hier auch einen theologischen Grund seiner Interpretation an: wie die andern Prophetien des Alten Testaments sei auch diese vor Christus schon zu ihrem natürlichen Ende gekommen.

Mit dem Realsymbol des Imperiums ist es also nach Bodins Meinung vorbei, was die Weissagung Daniels angeht. Man kann von keinem derzeitigen oder künftigen, nicht einmal vom alten römischen Imperium sagen, es sei damit gemeint gewesen. Der Untergang des dort gemeinten vierten Reiches sei längst vollzogen, Sand ist über Babylon geweht, wir kennen nur noch Namen.

 

Fortschritt oder Rückschritt in der Geschichte

Nun steht aber im Zusammenhang mit den dunklen Worten über die vier Reiche ein anderes Bild, das zu einem "Irrtum derselben Art" geführt habe: die Statue, deren Haupt aus Gold, Brust aus Silber, Schenkel aus Bronze, Beine von Eisen und Füße aus Ton sind. Daraus hatte man geschlossen, dass die Menschheitsgeschichte vier oder mehr Zeitalter kenne: goldene, silberne usw. Man dürfe aber hier nicht den Dichtern folgen, sondern den Historikern, und werde dann die Wahrnehmung machen, dass die Umwälzungen ("conversiones") in den menschlichen Angelegenheiten denjenigen des Weltalls gleichen (für die der Ausdruck "revolutiones" verwendet wird), und das bedeutet: Nichts Neues unter der Sonne.

Es sei aber überhaupt ein Irrtum, die erste Zeit der Menschengeschichte zu idealisieren:

"Vergleicht man dieses vorgeblich goldene Zeitalter mit unserem, so könnte es recht wohl als ein eisernes erscheinen." (427/b/43 f.)

Es habe keine Sitten vor der Sintflut gegeben, sonst hätte die Vorsehung nicht zu diesem Mittel greifen müssen. Es gab aber auch keine Sitten nach der Sintflut, dies war vielmehr die Zeit Hams oder Nimrods, also der Zuchtlosigkeit und Gewalttätigkeit. In allen Mythen seien es Monster, die die Frühzeit beherrschen. Man erinnere sich nur an den großen Räuber Herkules, an all die Geschichten von Frauenraub und Menschenfresserei.

Bodin beruft sich noch auf andere Zeugen als die Mythen: Thukydides der "vertrauenswürdigste Historiker" (428/b/5) berichtet, dass noch kurz vor seiner Zeit die Wildheit der Menschen selbst in Griechenland so groß gewesen sei, dass sie ihre Räubereien ganz offen durchgeführt hätten, dass das Recht jedes einzelnen ganz auf seinen Waffen beruht habe.

Jene Völker, die (wie die Germanen) von der Zivilisation am weitesten entfernt waren, seien auch am längsten eine reine Räuberbande geblieben.

"Das also war das goldene und silberne Zeitalter, da die Menschen nach Art wilder Tiere in Wäldern und Feldern verstreut waren und nur soviel hatten, wie sie mit Gewalt und Verbrechen festhalten konnten: es hat sehr lange gedauert, bis man es nach und nach von dieser wilden, barbarischen Lebensweise zu zivilisierten Sitten und zu einer wohlgeordneten Gesellschaft brachte, wie wir sie heute vorfinden." (428/b/41-50)

Es sei im übrigen auch gar nicht denkmöglich, einen beständigen Niedergang anzunehmen, denn wenn schon die ersten Zeiten so wild waren, wie wir sie kennen, wo stünden wir dann heute? Es war aber auch nicht möglich, im ursprünglichen wilden Zustand weiter zu verharren, und zwar aus drei Gründen: einmal widerstrebte dem die "Scham", die jedem Menschen von Natur innewohne, und erforderte zumindest Kleidung; dann die "Notwendigkeit", denn keine Gesellschaft konnte bei ständigen Verbrechen bestehen; schließlich bewirkte die "Güte Gottes" eine nachhaltige Verbesserung.

Es gibt also einen Fortschritt der menschlichen Art. Man vergleiche nur die - ohnehin schon nicht mehr ganz so wilde - Antike mit Bodins Gegenwart, so zeigt sich der ganze Grausen des Altertums: blutige Opfer waren an der Tagesordnung, selbst von Menschen, bei öffentlichen Spielen wurden unschuldige Menschen durch wilde Tiere zerrissen, Gladiatorenkämpfe galten als Gaudium. Heute ist das vorbei, etwaige Reste möge man bald beseitigen:

"... unsere Zeitgenossen waren viel weiser als die Römer, wenn sie in der ganzen Christenheit die Zirkuskämpfe, die blutigen Schauspiele mit wilden Tieren abgeschafft und sie durch öffentliche Disputationen über die Heilige Lehre ersetzt haben. Ist es nicht viel besser und ehrenvoller, sich in den Freien Künsten zu üben als an der Palästra?" (429/a/40 ff.)

Im übrigen seien nicht nur die allgemeinen Sitten heutzutagen denjenigen der Alten überlegen, auch im einzelnen fänden sich Menschen, die keinen Vergleich zu scheuen brauchten. Karl der Große sei dem Alexander in militärischer Hinsicht gewiss ebenbürtig und die die Frömmigkeit eines Antoninus werde durch Ludwig IX. noch übertroffen.

Schließlich aber beruhe die Überlegenheit der Gegenwart nicht nur auf den Sitten, sondern auf den Kenntnissen. (vgl. 429/b/22) In den Wissenschaften gibt es Veränderungen, die denjenigen der Staatsformen durchaus vergleichbar seien: sie entstehen unter bestimmten Umständen durch die Tätigkeit außerordentlicher Menschen, wachsen dann und bleiben eine Zeitlang auf ihrem Höhepunkt, um endlich wieder abzusteigen und für lange Zeit in Vergessenheit zu fallen. Bodin führt drei mögliche Gründe für einen solchen Stillstand an: einmal kann es sein, dass allzulange Kriege die Schönen Künste vernichten; es ist aber auch möglich, dass eine übermäßige Produktion auf diesem Gebiet eine gewisse Übersättigung hervorruft oder dass Gott diejenigen straft, die die Wissenschaften zum Verderben der Menschen anwenden, da sie doch zu deren Heil geschaffen seien. So etwa sei Griechenland in einer solchen Weise umgewälzt worden, dass man sich fragen könne, ob denn dort, wo wir heute Griechenland sehen, jemals die Wissenschaften geblüht haben können. Gleiches sei mit den Römern geschehen, deren Kultur von der "skythischen Invasion" zur Gänze zerstört, deren Bibliotheken verbrannt, deren Monumente vernichtet worden sind.

"Dieser Akt des Vandalismus versetzte der wissenschaftlichen Kultur einen derartigen Schlag, dass sie für tausend Jahre in einer beinahe vollständigen Sterilität versank." (429/b/58 ff.)

Wären die Araber nicht gewesen, wo wären wir geblieben!

 

Die Gegenwart Bodins

Nun aber die Gegenwart: nie waren die Wissenschaften fruchtbarer als heute, die Kultur hat sich erholt, wir schauen nicht mehr zurück; noch im letzten Jahrhundert habe man sich an der Art der Alten orientiert, doch dies sei vorbei:

"Und diese Umwälzung der Geister ist so allgemein, dass wir notwendigerweise die Geltung des Gesetzes zugeben müssen, dass die menschliche Intelligenz wie die Äcker durch Brachliegen ihre Fruchtbarkeit vermehrt." (430/a/30 ff.)

Bodin hat hier gegen Widerstände zu argumentieren, die heute nicht mehr aktuell sind und nur noch anklingen, wenn wir etwa von "Renaissance" sprechen: diese "Renaissance" ist ja nicht nur eine einfach neue Blüte der Kultur, sondern eine Wiederholung der Antike. Die Antike stellt für die "anciens" ein unbestrittenes Vorbild dar und wenn man schon darüber hinauszugehen vorgab, so war es doch auch lange Zeit ein Ideal, das Vorbild überhaupt zu erreichen. Bodin gehört nicht mehr dieser respektvollen Renaissance an, er strebt zum Pro-spekt. Er bezweifelt keineswegs, dass die Alten viele nützliche Dinge entdeckt, viele Wissenschaften entwickelt haben. Er wendet nur ein: kann man denn wirklich die Sommerschiffahrt auf dem Mittelmeer mit den Weltreisen seiner Zeitgenossen vergleichen? Kann man ihre kleine, begrenzte Weltkenntnis den neuentdeckten Erdteilen gegenüberstellen? Aus dem heutigen Wissen und Handeln entsteht das, wovon die Alten nur geredet haben: ein universaler Handel, ein Weltstaat:

"omnes homines secum ipsi, et cum Republica mundana, velut in una eademque civitate mirabiliter conspirant." (228/a/14 f)

Die Errungenschaften der neuzeitlichen Geographie und Astronomie führen zu echtem Wissen, wo die Alten höchstens fabulieren konnten. Die antiken Kriegsmaschinen wiederum könne man heute nur noch als Kinderspielzeug betrachten. Von all den neuen Entwicklungen der Metall- und Textilindustrie einmal ganz abgesehen:

"Die Kunst der Buchdruckerei allein könnte mit Leichtigkeit alle Erfindungen der Alten aufwiegen." (430/b/33 f.)

All das aber besagt doch nicht, dass Bodin einfach an einen unbegrenzten Fortschritt denkt. War dies schon im Bild des brachliegenden Ackers zum Ausdruck gekommen, hier wiederholt er es: die Alten konnten schon deshalb nicht alle Künste erfinden, weil

"die Natur einen derartigen Schatz an Wissenschaft in ihrem Schon enthält, dass kein einzelnes Jahrhundert oder Zeitalter dazu gelangen kann, ihn gänzlich auszuschöpfen." (430/b/40 ff.)

Obgleich für Bodin die Gegenwart zweifellos höher entwickelte Wissenschaften und auch Sitten hat als die Antike, kann man doch nicht von einer linearen Fortschrittstheorie sprechen. Allerdings scheint mir auch auch nicht ein bloßer Zyklus gemeint zu sein, wenn auch davon spricht, dass die Natur einem Gesetz der ewigen Wiederkehr unterworfen scheine: "aeterna quadam lege naturae conversio rerum omnium velut in orbem redire videatur". (228/a/43 ff.) Stellt man dies mit seinen Beteuerungen der Überlegenheit der Gegenwart und vor allem mit dem Bild des Ackers zusammen, dessen Fruchtbarkeit durch das Brachliegen nicht nur wieder auf den gleichen Stand kommt, sondern anwächst (in 227/b/49 spricht er von der "major ubertas"), so wird das klar. Es wird daher am ehesten zutreffen, in Bodin den Vertreter einer zyklischen Fortschrittstheorie zu sehen, d.h. einer Theorie, die besagt, dass es durch zyklische, in ihren wesentlichen Formen stets wiederkehrende Entwicklung im Verlauf mehrerer Zyklen ein insgesamt höherer Kulturstand erreicht wird.

Aufschlussreich scheint mir noch eine letzte Bemerkung zur Deszendenztheorie zu sein: ihre Verfechter seien meistens Greise; da sie keinerlei frische, frohe Erlebnisse mehr haben können, geben sie sich traurigen Gedanken hin und glauben, weil sie noch dazu eine ungenaue Vorstellung von den tatsächlichen Sachverhalten haben, Treue und Freundschaft seien aus der Welt verschwunden. Und so meinen sie dann, ihre Jugend sei dem Goldenen Zeitalter näher gewesen. Diese ihre Illusion vergleicht Bodin mit der Illusion von Seefahrern, die aus dem Hafen fahren und dabei Häuser und Städte kleiner und kleiner werden, schließlich ganz verschwinden sehen: sie verschwinden nicht, die Seefahrer entfernen sich von ihnen. So verschwinden auch nicht Recht und Glauben mit zunehmendem Alter der Welt, nur: Die Alten entfernen sich von der wirklichen Welt.

Damit schließt das siebte Kapitel von Bodins "Methodus".