Mit dem Terminus "Postkolonialismus" wird in aller Regel eine
Diskussion angesprochen, die ihren Schwerpunkt nicht in der Philosophie
hat, sondern in politischer Theorie, in Sozial-, Kultur- und
Geschichtswissenschaft. Vgl. dazu "Colonialism,
Postcolonialism, and Literature: Theorists and Critics" oder auch
den Wikipedia-Artikel Postkolonialismus.
Auch bestimmte Themen literarischer Werke oder die literarische
Produktion ehemaliger Kolonialgebiete überhaupt werden mit dieser
Bezeichnung angesprochen - letzteres trifft v.a. für die ehemals britischen
und französischen
Kolonialreiche zu, kaum für die spanischen, portugiesischen oder
andere. Im Spanischen etwa bezeichnet "Literatura Postcolonial"
literarische Strömungen im ehemals britischen Imperium ("Estudio sistemático de los principales
autores y corrientes de los países de la antigua
colonización inglesa", vgl. Univ. Navarra);
die Literatur ehemals spanischer Kolonialgebiete wird gewöhnlich
nicht so, sondern z.B. als "literatura latinoamericana" bezeichnet -
und die Google-Suche im japanischen "Kinokuniya BookWeb" nach ポ
ストコロニア ergibt wesentlich weniger Treffer als diejenige nach dessen
englischem Pendant "postcolonial",
wobei die ersteren anscheinend ebenfalls den englischen Sprachgebrauch
spiegeln (und nicht sich auf Literatur der ehemaligen japanischen
Kolonien beziehen, was immerhin denkbar wäre). Es ist also
zumindest in theoretischer Hinsicht kaum ein klarer,
kulturunabhängiger Begriff, mit dem wir es hier zu tun haben.
Sollen wir uns im Zusammenhang mit Philosophie bei dieser Sachlage
überhaupt mit postkolonialen Diskursen beschäftigen? Aus zwei
Gründen denke ich, dass dies angebracht ist:
Es wird in postkolonialer Literatur und Theorie das
hermeneutische Monopol des Okzidents bestritten, das besagt hat, es sei
jede Art von Wirklichkeit, Bewusstsein, Denken, Kunst usw. mit den
begrifflichen Mitteln der okzidentalen Tradition zu erfassen und die
entsprechenden Mittel jeder anderen Tradition seien nicht nur dazu,
sondern auch zur adäquaten Erfassung ihrer eigenen Welt nicht
imstande.
Diesem hermeneutischen Monopol wird nun
widersprochen und das ist eine Herausforderung für philosophische
Hermeneutik überhaupt:
"Die
postkoloniale Literaturbewegung signalisiert: Diejenigen, die in den
europäischen Diskursen über das Fremde jahrhundertelang
bloß als Objekte, als Repräsentierte vorkamen, sprechen nun
für sich selbst." (Alexander Honold: "Das Fremde verstehen
– das Verstehen verfremden: Ethnographie als Herausforderung für
Literatur- und Kulturwissenschaft" in: Trans -
Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften)
Zweitens ist bei vielen sonstigen Unterschieden zwischen
einzelnen AutorInnen die Frage nach Inhalt und Stellenwert von
"Kulturalität" und "kultureller Identität" ein durchgehendes
Thema. Es wird nach der Identität von Individuen und von
Kollektiven gefragt, nach möglichen "kulturellen" Bedingtheiten
von Denkformen, Argumentationsweisen usw. Das betrifft zumindest die
Kulturphilosophie, aber auch die (philosophische) Anthropologie und
zuletzt die Erkenntnistheorie.
In der Vorstellung eines jüngst
erschienenen Buches von Mona Singer ist zu lesen: "Postkoloniale und feministische
Kritik führt abendländische Wissenschaftstraditionen als
eurozentrisch, imperialistisch und patriarchal vor und stellt ihnen das
Paradigma des „situierten Wissens“ entgegen – ein Wissen, das den
eigenen (politischen) Standpunkt reflektiert." (Rezension der
ÖH zu: Mona
Singer: Geteilte Wahrheit. Feministische Epistemologie,
Wissenschaftssoziologie und Cultural Studies. Wien. Löcker
Verlag 2005)
Ich will nun eine kurze Darstellung in drei Punkten versuchen, indem
ich zuerst auf den
Fall einer hermeneutisch-monopolistischen Behandlung
"afrikanischer Philosophie" hinweise, der zu Recht als
"Ethnophilosophie" qualifiziert worden ist;
dann einige AutorInnen nenne, die im postkolonialen Diskurs
eine zentrale Rolle spiel(t)en und
schließlich das Projekt einer "Entkolonisierung
philosophischer Begriffe" schildere, das meiner Einschätzung nach
ein zugleich eminent philosophisches und postkoloniales ist.
Diese Darstellung weicht insbesonders in einem Punkt von anderen
Darstellungen ab, indem ich als Referenzpunkt mehr oder weniger die
Auseinandersetzung um Existenz und Eigenart von "afrikanischer"
Philosophie wähle. Dies scheint mir jedoch ein brauchbarer Ansatz
zu sein, sofern in dieser Debatte sowohl die eurozentrischen
Vorannahmen, als auch die Schwierigkeiten von Alternativen sehr
deutlich wahrzunehmen sind.
Placide Tempels und die
Ethnophilosophie
In der Regel wird unter dem Ausdruck "Ethnophilosophie" ein Denken
verstanden, das im wesentlichen durch Implizitheit
und durch Kollektivität
gekennzeichnet ist. Hountondji, der den Ausdruck in kritischer Absicht
einführte, hat dies als die wesentlichen Bestimmungsmerkmale
genannt; bis in die neueren Diskussionen darüber finden sie
sich. Vgl. dazu meinen Aufsatz "Ethnophilosophie
- Ausweg oder Irrweg?
(1995)
Das Werk, worum die Debatte in Afrika entbrannte, ist das Buch des
flämischen Missionars Placide Tempels über die
"Bantu–Philosophie"(zuerst 1945).
Näher siehe dazu die Darstellung
von Sascha Maier, Berlin (2003) im Internet.
Tempels' entscheidende Thesen kann man in folgender Weise
zusammenfassen:
1) Es gibt eine traditionelle Philosophie der Bantu.
2) Es handelt sich dabei um eine Ontologie.
3) Darin entspricht ein Begriff der Kraft dem, was in europäischer
Philosophie "Sein" genannt wird.
4) Die
Bantu–Philosophie kommt nicht von sich aus zur Sprache, sie ist anonym und implizit. Sie kann – und soll – mit Hilfe von
abendländischen Begriffen artikuliert werden.
5) Diese Philosophie haben nicht nur
die Baluba (deren Denken Tempels rekonstruieren will), sondern alle Bantu und alle "Naturvölker".
Die für unseren Zusammenhang wichtigste unter diesen Thesen ist
die vierte.
Sie besagt zumindest zweierlei: erstens, dass auch Philosophie
implizite Bestandteile haben kann; und zweitens, dass diese impliziten
Bestandteile einer Philosophie durch eine andere Philosophie
artikuliert, zur Sprache gebracht werden können – und zwar so,
dass die nunmehr explizierten, zuvor eigentlich sprachlosen,
Philosophen sich damit erst selbst verstehen. Darin artikuliert
sich noch sehr deutlich, was ich als "monopolistische Hermeneutik"
bezeichne und wogegen sich postkoloniale Diskurse vehement zur Wehr
setzen.
Einige Positionen aus diesem Diskurs will ich hier als Beispiele
anführen:
Historisch zuerst, noch vor Tempels' Buch, hat sich in den 1930-er
Jahren eine Richtung
entwickelt, die nach einem ihrer zentralen Begriffe (er stammt von dem
Dichter Aimé
Césaire) als "Négritude" bekannt
wurde. Sie ist insbesondere durch die Schriften und Reden des
langjährigen Präsidenten Senegals, Léopold
Sédar Senghor, in
weiten Kreisen bekanntgeworden.
Die zentrale Idee dieser Richtung hat
Senghor immer wieder so formuliert, dass er der "négritude"
eine andere Art von "Vernunft" zuschreibt als es etwa diejenige der
"francité" sei. Sieht er letztere im Denken von René
Descartes am deutlichsten repräsentiert, so sei ihr Kennzeichen in
einem distanzierten, objektivierenden Verhältnis des Subjekts zu
seinen Gegenständen zu sehen. Die cartesische "Augenvernunft"
trenne Subjekt und Objekt, sie analysiere nüchtern und
kalkulierend – und sie sei "dem Franzosen" oder "dem Europäer"
eigen. In vielen Bereichen menschlicher Tätigkeit sei die
Überlegenheit der "Augenvernunft" offenkundig, doch stelle sie
eine Verkürzung der menschlichen Existenz dar, wenn sie als
ausschließliche Form der Vernunft ausgebildet wird. Ihr
kontrastiert Senghor daher die "Umarmungsvernunft" des "Negers" und
erklärt sie für komplementär in Bezug auf die
"Augenvernunft" der "Europäer".
Bei aller dichterischen Emphase, die Senghor und andere Verfechter
einer "négritude" an den Tag gelegt haben, blieb doch immer der
entscheidende Einwand bestehen, den neben anderen Marcien Towa und
Paulin Hountondji formuliert haben: dass die ethnisch
begründete Zuschreibung einer bestimmten Vernunftform ein
illusorisches Bewußtsein von der eigenen, im Vergleich zu Europa
gänzlich andersartigen kulturellen Identität voraussetzt und
somit als Ideologie des Kolonialismus im Neokolonialismus weiterlebt.
So schreibt Towa 1988:
"Die
beherrschende Frage nach der Identität ist nur ein anderer Aspekt
der Befreiung, denn hier treffen wiederum die Thesen der einen, der
Senghorianer oder der Ethnophilosophen, die uns in unserer eigenen
Kultur einsperren wollen, nachdem sie zuerst ihre rassistischen
Vorurteile oder die Dogmen ihres mystischen Glaubens in die
Vergangenheit projiziert haben, und die Thesen der anderen scharf
aufeinander, die wie Fanon sehen, daß die nationale Kultur sich
erst behaupten kann, wenn sie sich im Feuer des Prozesses eines
revolutionären Kampfes reinigt." (Marcien Towa: Die
Aktualität der afrikanischen Philosophie. In: Wimmer, Franz M.
(Hg.): Vier
Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien:
Passagen 1988, S. 65)
Sie können aber natürlich auch in den Wikipedia-Seiten
nachlesen (die sind gerade in diesen Fällen qualitativ sehr
unterschiedlich in den verschiedenen Sprachen)
Frantz
Fanon (1925-61)
- Befreiungskampf als Heilung vom "kolonisierten Bewusstsein"
Arzt und Psychoanalytiker, kämpfte für ein unabhängiges
Algerien
Edward
Said (1935-2003) - "Orientalismus" - der fremde Blick
Palästinensischer Wissenschafter und Politiker, analysierte Inhalt
und Funktion des Orient-Bildes
Meines Wissens ist Wiredu bislang noch nicht als "postkolonialer"
Philosoph dargestellt worden. Auf die Idee, sein Denken - oder doch
zumindest seinen Vorschlag einer "begrifflichen Entkolonisierung" in
diesem Zusammenhang zu sehen, wurde ich durch die Prüfungsarbeit
von Christine Rudolf, Studentin des Studiengangs "Internationale
Entwicklung" an der Universität Wien, gebracht. Der Hinweis
scheint mir überzeugend und gibt ein gutes Beispiel für das
Problem der Entkolonialisierung in einer genuin philosophischen Frage.
Wiredu spricht von der Notwendigkeit einer "begrifflichen
Entkolonisierung", die im Kontext von Philosophie in Afrika dadurch
gegeben sei, dass selbst so zentrale Begriffe wie "Truth, Knowledge,
Reality, Self, Person, Space, Time, Life, Matter, Subjectivity" und
zahlreiche andere für ihn, dessen Primärsprache das
westafrikanische Akan ist, oft und in systematisch wichtigen
Zusammenhängen Konnotationen haben, welche bestimmte Thesen der
europäischen philosophischen Tradition nicht formulierbar oder
zumindest höchst unplausibel erscheinen lassen. Sein Vorschlag
für die zentralen Termini der Philosophie lautet nun:
"Try
to think them through in your own African language and, on the basis of
the results, review the intelligibility of the associated problems or
the plausibility of the apparent solutions that have tempted you when
you have pondered them in some metropolitan language." (Wiredu
1997, S. 12)
Wiredus Vorschlag ist ernst zu nehmen, doch führt er weit.
Konsequenterweise dürfte das Verfahren nicht auf solche Sprachen
begrenzt werden, deren Sprecher einem Kolonisierungsprozess unterworfen
waren, sondern müsste bei jeder Sprache durchgeführt werden –
und bestünde dann wohl in einer "Enthistorisierung" der
philosophischen Terminologie. Zudem bliebe weiterhin das Problem, die
so gewonnenen Einsichten wieder zu übersetzen, es sei denn, man
zöge sich eben auf so etwas wie eine "ethnische" Philosophie
zurück und ließe die jeweils anderen außerhalb des
Diskurses. Sehen wir uns jedoch Wiredus Beispiel an, das seinen
Vorschlag deutlich macht.
Er beruft sich auf Studien, die gezeigt haben, dass in Bantu-Sprachen –
so auch in Akan – eine Formel wie diejenige Descartes‘ ("Ich denke,
also bin ich.") aus dem Grund nicht formulierbar ist, weil das Verb
"sein" stets von einem Attribut oder einer Ortsangabe gefolgt sei.
Würde jemand sagen "ich bin", so wäre unweigerlich eine Frage
die Folge wie "was bist du?"
oder "wo bist du?"
Wenn man nun damit die cartesische Formulierung vergleicht, so zeigt
sich schnell, dass das Akan eine wesentliche Intention dieser Formel
unerwartbar macht. Descartes meinte alles Bezweifelbare, auch
räumliche Existenzen bezweifeln, und dabei doch Gewissheit
hinsichtlich seiner eigenen Existenz haben zu können. Das Ich des
"cogito" existiert nach seiner Überzeugung jedenfalls, auch als
nichträumliche, immaterielle Entität, und seine Sprache
lässt dies auch ausdrücken.
In Akan oder einer anderen Bantusprache wäre dieses Argument
jedoch so nicht ausdrückbar.
Damit ist allerdings noch nichts weiter festgestellt als eine
Verschiedenheit des Akan zum Lateinischen oder auch zu anderen
Sprachen. Derartige Verschiedenheiten sind aber nicht
nebensächlich für die Möglichkeit des Philosophierens –
und wer daraus nicht den Schluss ziehen will, philosophisches Denken
sei nur in bestimmten oder sogar nur in einer Sprache möglich,
wird in der Differenz des Akan vom Lateinischen nicht von vornherein
eine Defizienz sehen dürfen.
Für jemanden, dessen Muttersprache Akan ist, wäre es
natürlich möglich, von der Gültigkeit des cartesischen
Arguments überzeugt zu werden – und dies, meint Wiredu, wäre
keineswegs ein Aufgeben des Programms einer "conceptual
decolonization", das ja nicht darauf abzielt, fremdes Gedankengut als
solches abzuweisen. Allerdings gesteht er, dass Descartes' Argument ihn
selbst nicht überzeugt. Das Entscheidende hier ist, dass eine
sprachlich bedingte starke Unplausibilität bewusst wird, für
oder gegen die dann argumentiert werden muss. Wie auch immer das
Ergebnis einer solchen Argumentation aussieht, eines will Wiredu
festhalten: die Implikationen des Seinsbegriffs in Akan zwingen jemand,
der in dieser Sprache denkt, eine Reihe von zentralen Lehren der
okzidentalen Metaphysik und Theologie einer strengen Prüfung zu
unterziehen. Wenn durch die Aktivierung der unterschiedlichen
Sprachen ein Fehlschluss bewusst wird, der auf Grund einer bestimmten
sprachlichen Disposition naheliegt, so kann dies nur ein Gewinn
für die Philosophie sein.
Ich sehe nur eine Möglichkeit,
Wiredu in diesem Punkt zu
widersprechen – eine allerdings höchst zweifelhafte
Möglichkeit: indem man nämlich behaupten würde, das Akan
(und möglicher Weise auch andere Sprachen) sei eben strukturell
ungeeignet für philosophisches Denken. Die These wäre dann
etwa: es gibt einige Sprachen (vielleicht auch nur eine einzige), die
geeignet sind, philosophische Begriffe und Thesen angemessen
auszudrücken. Andere Sprachen seien dies nicht oder doch so lange
nicht, bis sie entsprechend angepasst wären. Diese These setzt
jedoch schlicht zuviel voraus: Sie könnte nur begründet
werden von jemand, der/die selbst in allen Sprachen gleicherweise
kompetent und philosophierend erfahren wäre (was natürlich
eine unsinnige Vorstellung ist) oder wenn zumindest gewährleistet
wäre, dass eine durchgehende und stets gegenseitige Kritik aller
(und nicht nur einiger europäischer) Sprachen in Bezug auf die
darin naheliegenden philosophisch einschlägigen
Plausibilitäten bereits geleistet ist. Dann allerdings wäre
Wiredus Programm der "conceptual decolonization" bereits
durchgeführt.
Was können PhilosophInnen von einer Entkolonialisierung
philosophischer Begriffe erwarten, wie sie Wiredu vorschlägt? Er
selbst erhofft sich, dass damit schlicht diese oder jene Begriffe in
den Blick kommen (und nicht mehr entsprechende "Yoruba-" oder "Luo-"
etc. Begriffe). Und weiter, dass daraus ein Gewinn für das
menschliche Denken überall auf der Welt entsteht.
Es ist die Hoffnung eines Universalisten in der Philosophie, die hier
zum Ausdruck kommt, nicht eines Ethnophilosophen. Aber es ist zugleich
eine Kritik am voreiligen Universalismus. Entscheidend für die
Debatte innerhalb der akademischen Philosophie dürfte auf Dauer
aber doch die Frage sein, ob in interkulturell orientierten Diskursen,
wie Wiredus Programm einen entwirft, ein "enlargement of conceptual
options" oder nicht doch nur eine exotistische Abschweifung geschieht.
Mit anderen Worten gefragt: Haben wir diese Argumente gegen Descartes,
gegen die Sinnhaftigkeit metaphysischer Aussagen über die Existenz
des Universums etc. nicht schon in Europa selbst gehört und
gelesen? Brauchen wir tatsächlich die Kritik, die der Akan-Denker
aus seinem sprachlich-kulturellen Hintergrund schöpft?
Brauchen okzidentale PhilosophInnen, etwa wenn sie sich Gedanken
über ein globales Ethos oder über die Begründbarkeit von
Menschenrechten machen, von der Sache her eine gegenseitig kritische
Auseinandersetzung mit afrikanischem, chinesischem, indischem,
lateinamerikanischem Denken wirklich? Es ist nicht undenkbar, dass alle
Einwände und Überlegungen, die da kommen mögen, in der
eigenen Tradition schon einmal gemacht, alle Differenzierungen schon
einmal vorgeschlagen worden sind.
Es ist nicht unmöglich. Aber der Blick in die eigene
Denkgeschichte wird uns nicht lehren, ob es wirklich so ist. Wenn es
nicht so ist, so entgeht uns als Philosophierenden etwas – der Sache
nach. Wenn uns jedoch nichts inhaltlich wirklich Anderes begegnet, so
hätte durch ernsthafte Auseinandersetzung unsere Tradition einen
wichtigen Test bestanden. In jedem der beiden Fälle ist ein
Gewinn, kein Verlust durch eine wirkliche Auseinandersetzung mit
fremdkulturellen Denktraditionen zu erwarten.
In
äußerster Vereinfachung kann man sagen: 'Postmoderne' bedeutet, dass man den
Meta-Erzählungen keinen Glauben mehr schenkt. Francois Lyotard
Was bedeutet das "post-" in der "Postmoderne" - und was heißt
"Moderne" hier?
Beide Wörter kommen aus dem Lateinischen - "post" entspricht dem
Deutschen "nach", und zwar hier wie dort sowohl in zeitlichem wie auch
in räumlichem Sinn, aber auch in der Bedeutung, dass das
Spätere irgendwie auf das Frühere bezogen ist, auf ihm
aufbaut. Das "post" in der "Postmoderne" behält diese Nuancen bei
mit Ausnahme des Räumlichen. Es bezeichnet eine Folgeperiode oder
Folgedenkweise, die wesentlich von ihrem Bezug zur "Moderne" bestimmt
ist. Es ist nicht ganz leicht zu sagen, was damit bezeichnet wurde und
wird.
Das Adjektiv "modernus" - im Gegensatz zu "antiquus" - bezeichnet schon
im europäischen Hochmittelalter Denkrichtungen, die in der einen
oder anderen Hinsicht als "neu" gelten und der Streit zwischen diesen
beiden Parteien zieht sich über Jahrhunderte, wird
schließlich auch nicht mehr auf Lateinisch geführt, sondern
z.B. als die "querelle des anciens et des modernes" benannt. Ich will
einen "modernus" der frühen Neuzeit als Beispielsfall heranziehen,
der mir einige Ähnlichkeit mit den Themen der Postmoderne im
späten 20. Jahrhundert zu haben scheint.
Jean Bodin (Johannes Bodinus, 1529-96)
ist zu seiner Zeit ein bekannter Jurist, Geschichtstheoretiker und
Verfechter des Hexenglaubens gewesen. Ich beziehe mich hier auf ein
einziges Thema, das er in seinem wissenschaftstheoretischen und
geschichtsphilosophischen "Methodus ad facilem historiarum cognitionem"
(1566) behandelt, nämlich auf die Frage, ob es (wie die "antiqui"
seiner Zeit meinen) so etwas wie einen Höhepunkt menschlicher
Seinsweise schon einmal gegeben habe - in der griechischen und
römischen Antike oder in einem "goldenen Zeitalter" der
Frühzeit - oder ob die Menschheit seither und überhaupt echte
Fortschritte mache, die Gegenwart jeder Vergangenheit überlegen
sei..
Bodin ist ein "modernus" in dieser Frage. Nicht nur in den allgemeinen
Sitten, vor allem in den Techniken und Wissenschaften sieht er sein
Jahrhundert allen früheren als überlegen an. Es gibt einen
weltweiten Verkehr, dem gegenüber die römische
Sommerschifffahrt auf dem Mittelmeer ebenso als Kinderspiel erscheint
wie dies beim Vergleich der antiken Belagerungskatapulte mit den
riesigen Kanonen der Fall ist, die schon vor (damals) mehr als 100
Jahren vor Konstantinopel eingesetzt wurden. Es gibt statt blutiger
Gladiatorienkämpfe eine weit gehobenere Form der Unterhaltung in
den öffentlichen Disputationen, wie sie beispielsweise in Paris
stattfinden. Der kleinen Welt des Mittelmeerraums steht die
Weltrepublik gegenüber, die sich auf wundersame Weise
herausbildet: "omnes homines secum ipsi, et cum Republica mundana,
velut in una eademque civitate mirabiliter conspirant." Und selbst wer
all dies und die vielen Fortschritte auf so vielen Gebieten für
unerheblich hielte, müsste doch zugeben: "Die Kunst der
Buchdruckerei allein könnte mit Leichtigkeit alle Erfindungen der
Alten aufwiegen."