Universität Wien

Wimmer: Vorlesung SS 2006
180 144 Philosophie im 20. Jahrhundert

3. Vorlesung 21. März 2006: Interkulturelle, postkoloniale, postmoderne Diskurse I


Eine Familie macht sich bemerkbar im Feld der Theorien in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie ist – zumindest von außen – an Ähnlichkeiten erkennbar, Familienähnlichkeiten, wie Wittgenstein solche benannt hat.
Das sind vor allem Folgende:
1. Die Mitglieder dieser Theoriefamilie sprechen jeweils ein besonderes Publikum an, das durch ein besonderes Interesse charakterisierbar ist – es will sich selbst verstehen und sich selbst beschreiben.
2. Sie sprechen weitgehend eine eigene Theoriesprache, wobei ihre Gemeinsamkeit darin liegt, dass sie von den traditionellen Begriffssprachen wenig Gebrauch machen und nicht scholastisch sein wollen.
3. Sie sprechen vorwiegend über Themen, die unter ihnen ähnlich sind und die sie für wichtig halten, aber das sind nicht die klassischen Themen der jeweiligen Theoriegemeinschaft, in der sie sich bewegen (als PhilosophInnen, SozialwissenschafterInnen, KulturtheoretikerInnen).
4. Sie wenden sich gegen frühere Theorien oder Auffassungen zu ihren Themen vor allem mit der Forderung nach Selbst- oder Eigenbeschreibung.
5. Sie lehnen ein Interpretationsmonopol ab, das sich auf den absoluten Superioritätsanspruch eines Teils der Menschheit bezieht.
6. Sie suchen individuelle oder kollektive Identitäten zu befördern oder zu begründen.

Zu dieser Theoriefamilie gehören einige, die in ihrem Namen ein "post" tragen: "Postkolonialismus", "Postmoderne". Andere Mitglieder derselben Familie haben sich entschieden, andere Namen zu tragen, sie nennen sich "Feministische (und nicht etwa "postmaskuline") Philosophie" oder "Interkulturelle (und nicht vielleicht "postokzidentale") Philosophie". Es gibt auch Theoriegruppen, die das "post-" im Namen tragen ("Poststrukturalismus", "postanalytische Philosophie"), gehören aber nach den genannten Merkmalen nicht zu dieser Gruppe.
Wie das auch sonst vorkommt, vertragen sich die Mitglieder dieser Theoriefamilie nicht unbedingt. Sie denken zuweilen, dass das, was ein anderes Mitglied anders macht, nicht viel wert oder eigentlich ein Irrweg ist. Auch haben sie jeweils unterschiedliche Partner aus anderen Theoriefamilien, mit denen sich die übrigen dann ebenso wenig verstehen, die sie zuweilen sogar für die Schwächen ihrer Familienmitglieder verantwortlich machen.
So hat etwa die interkulturelle Philosophie Nahverhältnisse zur Phänomenologie, zu komparativer Philosophie und zur Kulturgeschichte.
Das Nahverhältnis Postkolonialer Theorie zur Literatur, zu Sozialwissenschaften und politischen Theorien ist ebenso auffallend und macht es manchmal nicht leicht, zu sagen, was eigentlich ihr philosophischer Beitrag sein soll.
Dass die Postmoderne philosophisch bedeutsame Texte hervorgebracht hat, bestreitet (heute) wohl kaum jemand (mehr), aber ihre Auftritte im Bereich von Kunst, Literatur und Architektur sind zumindest nicht weniger spektakulär gewesen.

Wie eng diese Richtungen untereinander und auch mit der an einem anderen Termin hier vorzustellenden feministischen Philosophie auf Grund gemeinsamer Fragestellungen verwandt sind, zeigt zum Beispiel:
"frau und kultur. kolonisierung von differenz" (= polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 4, 1999)
Aus diesem Heft, dessen thematische Beiträge auch im Internet-Forum "polylog" zugänglich sind, empfehle ich zur Einstiegs-Lektüre:
Heidi Armbruster: "Feministische Theorien und Ethnologie"


Es sind zwischen diesen Richtungen jedoch auch deutliche Differenzen und nicht eindeutige Beeinflussungen festzustellen.
So etwa wird zuweilen irrtümlich vermutet, interkulturelle Philosophie sei wesentlich von postmodernen Positionen bestimmt. Dieser Eindruck mag darauf zurückgehen, dass in beiden Richtungen eine starke Kritik an eurozentrischen Traditionen dominant ist. Schließt man daraus jedoch auf einen eindeutigen Einfluss, so führt das deshalb in die Irre, weil die sachlich entscheidende Frage nach der jeweiligen Alternative zum Eurozentrismus übergangen wird. Die hier entscheidenden Unterschiede sind:


Interkulturelle Philosophie
Ich beginne die Schilderung dieser Theoriefamilie mit demjenigen Mitglied, das mir am meisten vertraut ist und zu dem ich mich auch selbst zähle.
Als "interkulturell" artikuliert sich eine Richtung innerhalb der akademischen Philosophie verhältnismäßig spät, nämlich etwa um 1990, nachdem bereits vorher dieses Adjektiv in anderen Disziplinen Eingang gefunden hatte. Nachdem "interkulturelle Philosophie" (wahrscheinlich in Wimmer 1990) zunächst in deutscher Sprache benannt und beschrieben worden war, dauerte es einige Jahre, bis analoge Termini auch in anderen Sprachen etabliert waren. Dann aber und seither wird diese Bezeichnung immer öfter verwendet und tritt nicht selten einfach an die Stelle von früheren ("vergleichende" oder "komparative" Philosophie; "comparative" oder "cross cultural" philosophy u.ä.), ohne dass bei dieser Übernahme des Terms notwendigerweise Überlegungen bemerkbar sind, was eigentlich dieses "inter-" im Unterschied zu dem "vergleichend" bedeuten könnte. Das "inter-" scheint attraktiv zu klingen, die inflationäre (weil unüberlegte) Verwendung ohne inhaltliche Reflexion ist lediglich modisch und im Sinn eines sorgsamen Umgangs mit Termini bedauerlich.

Die Thematik der "Interkulturalität" in Absetzung von "Multikulturalismus" ist also zunächst  nicht in der Philosophie, sondern in anderen Disziplinen - der Kommunikationsforschung, der Geographie, der Germanistik u. a. - reflektiert worden. Bis heute gibt es Studiengänge etwa zu "interkultureller Kommunikation" o. ä., die zwar interdisziplinär angelegt sind, wobei aber Philosophie keine Rolle spielt. Wiederum ist es eher die Regel als die Ausnahme, dass in Studienplänen des Faches Philosophie die Perspektive der Interkulturalität gänzlich fehlt.

Wie in den anderen Diskursen dieser Theoriefamilie ist auch in interkultureller Philosophie die Kritik an einem hermeneutischen Monopol des Okzidents nicht zu übersehen. Von einer Mehrzahl von Traditionen der Philosophie ist die Rede, aus deren jeweiligen Gesichtspunkten die Bedeutung und der Sinn anderer Traditionen erfasst werden. Dazu ein Zitat:
Eines der Motive hinter der "kulturalistischen Wende" in der Philosophie überhaupt und hinter den Bemühungen um eine Philosophie "in interkultureller Orientierung" liegt darin, dass Wertkonflikte in modernen Gesellschaften auftreten, die zumindest teilweise aus unterschiedlichen philosophischen Traditionen begründet werden. Auffallende Beispiele - aber keineswegs die einzigen - finden sich in den Diskursen über Menschenrechte.

Ob Philosophie in einer aktiven und gegenseitig fruchtbaren Begegnung der Kulturen etwas beizutragen habe, ist die eine Grundfrage der interkulturellen Philosophie. Die andere Grundfrage ist, ob Philosophie überhaupt möglich ist, wenn sie die Tatsache ignoriert, dass jedes Denken und jeder Ausdruck des Denkens nur mit den Mitteln eines kulturell in bestimmter Weise geprägten Systems stattfinden kann. Es ist eine für jede Argumentation ärgerliche Tatsache, dass es nicht eine und nicht eine endgültig angemessene Sprache, Kulturtradition und Denkform des Philosophierens gibt, sondern viele, und dass jede davon kultürlich ist, keine darunter natürlich. Interkulturell orientiertes Philosophieren will diesen Sachverhalt bewusst machen, um daraus für beides Gewinn zu ziehen: für die Philosophie, indem zentristische Vorurteile kritisiert und neue Gesichtspunkte eingebracht werden; für den Umgang mit kulturellen Differenzen, indem gegenseitige Verständigung auf grundlegender Ebene angestrebt wird.
Die bisher vorliegenden interkulturellen Konzepte in der Philosophie grenzen sich von anderen Ansätzen ab,  weisen aber auch unter einander deutliche Unterschiede auf.
Ich nenne diese strittigen Punkte, weil sie einerseits unübersehbar sind und andererseits deutlich machen, dass das Anliegen einer interkulturell orientierten Philosophie mit den Lebensbedingungen der heutigen Menschheit gegeben ist. Es spricht keineswegs gegen dieses Unternehmen, dass die darin leitenden Vorstellungen und Begriffe nicht von Anfang an klar und konsensuell sind.
Es verhält sich ein wenig so wie mit Gärtnern, die eine neue Art von Garten anlegen wollen und zunächst einmal behaupten, sie gingen davon aus,
Sobald es in einem solchen Garten dann zu wachsen beginnt, wird sich herausstellen, dass die Unterscheidung zwischen Kraut und Unkraut sehr wohl wieder getroffen und streng angewandt wird. Es ist - vielleicht - eine etwas andere Grenze festgelegt worden, aber Grenzenlosigkeit wird es höchstens als rhetorische Übertreibung geben. Darum ist es sinnvoll, zuzusehen, was diese Gärtner tun. Es reicht nicht aus, zu hören, was sie sagen.

Was also tun "interkulturelle Philosophen" oder wollen es zumindest tun?

Eine der zutreffendsten Formulierungen für das Programm eines interkulturell orientierten Philosophierens ist wohl die, dass es darauf ankomme, die "Stimmen der anderen" zu Gehör zu bringen. Dies drückt sich darin aus, daß in Konferenzen, Publikationen, Studiengängen bewusst versucht wird, dem gewöhnlichen Übergewicht der akademisch-ökonomischen Zentren gegenzusteuern. Vielfalt der Sichtweisen, auch Vielfältigkeit der Ausdrucksformen werden angestrebt.
Doch ist es selbstverständlich, dass auch damit keine grenzenlose Offenheit gegeben ist. Die allermeisten Diskussionen finden nach wie vor im akademischen Rahmen und gemäß den in diesem Raum geltenden Verhaltensregeln statt. Auch werden sie in den hauptsächlichen europäischen Wissenschaftssprachen geführt. Sie schließen damit schon rein von der Organisation der Diskussion her eine große Klasse von möglicherweise kompetenten DenkerInnen der nicht-okzidentalen Traditionen aus.
Die angestrebte Öffnung der Diskussion in Richtung auf eine Gleichrangigkeit von mehreren oder vielen kulturell geprägten Philosophietraditionen ergibt an sich weder thematische Schwerpunkte noch eine bestimmte Art methodischen Vorgehens. Doch können wir kurz einige Fragen stellen: Worüber reflektieren die "interkulturellen Philosophen" gewöhnlich? Beziehen sie neue Quellen in ihre Diskurse ein? Gibt es neue Themen, die hier auftauchen? Und: Gibt es neue Methoden (z. B. der Argumentation), die unter ihnen als angemessener gelten als diejenigen der kritisierten eurozentrischen Tradition?
Ich kann diese Fragen hier nur kursorisch und unsystematisch beantworten.
Vier problematische Thesen lassen sich aus den Diskussionen um "Interkulturelle Philosophie" extrahieren, die zu begründen oder zu widerlegen sind:
  1. Kultur- und Philosophiegeschichte seien im allgemeinen eurozentrisch. Damit sei eine Begrenzung oder Beschränkung gegeben. Denn okzidentale Philosophie sei (auch) eine Regionalphilosophie - eine Tradition unter mehreren.
  2. Jede als universell geltend intendierte These der Philosophie ist möglicherweise kulturell geprägt; kulturell-partikuläre Thesen sind jedoch in der Philosophie nach deren eigenem Anspruch nicht ausreichend.
  3. Eine Ausweitung des kulturellen Horizonts der Philosophiegeschichte ist möglich und nötig: Neue Quellen sind zu erschließen, neue Traditionen zu interpretieren, neue Textsorten einzubeziehen.
  4. Das Bewusstsein von der Überlegenheit europäischer philosophischer Tradition ist kritisierbar und zu kritisieren.
Jede dieser Thesen, die in der Literatur zur interkulturellen Philosophie mehr oder weniger explizit formuliert werden, hat weitreichende Konsequenzen für Forschung und Lehre der Philosophie im allgemeinen. Es reicht als Hinweis aus, dies für die erste der genannten Thesen anzusprechen.
Wenn es sich bei der okzidentalen Philosophie tatsächlich nur um eine regionale, wenngleich um eine hochdifferenzierte Spielform von Philosophie überhaupt handelt, so wäre jedes Argument, das sich ausschließlich auf Autoritäten dieser Tradition beruft, selbst "ethnophilosophisch" und könnte insofern keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit oder Intelligibilität erheben. In jeder Sachfrage der Philosophie sind unter dieser Annahme möglichst differente philosophische Denkformen und Begriffsfelder aufzusuchen und aneinander zu messen. Es ist daher zu Recht von einem "Antizentrismus der Interkulturellen Philosophie" gesprochen worden, wobei aber nicht zu vergessen ist, dass jeder interkulturelle Dialog notwendig vom Eigenen ausgehen muss. Dies betrifft natürlich schon den Begriff des Philosophischen selbst. Jeder Zugang zu philosophischen Fragen, welcher Orientierung auch immer, muss seinen Gegenstand definieren, muss mithin von nicht-philosophischen Gegenständen abgrenzen. Es liegt auf der Hand, dass das bloße Faktum der Namensverwendung "Philosophie" dafür nicht ausreicht. Weder ist es so, dass im akademischen Diskurs bereits alles unter diesem Namen subsumiert ist, was rechtens dazugehört – dies hat die Diskussion um "afrikanische Philosophie" deutlich gemacht. Noch aber kann ein inflationärer Gebrauch des Namens, wie ihn der Büchermarkt spiegelt, ohne Orientierungsverlust übernommen werden. Vielmehr wird interkulturell orientiertes Philosophieren einen Philosophiebegriff zu entwickeln haben, der sowohl inhaltliche als auch formale Bestimmungen enthält. Beim gegenwärtigen Stand der Diskussion ist dies ein, allerdings dringliches, Desiderat.

Darstellungen und Quellen:

o Wimmer: Interkulturelle Philosophie - ein Bericht (Information Philosophie 2000, Nr. 1, S.32-39)
o Tina Claudia Chini: Interkulturelle Philosophie. Disziplin, Orientierung, Praxis? Ein Literaturbericht. In: polylog Nr. 12, 2004. S. 120-131
o Literaturübersicht in der "Philosophischen Bücherei"
o Übersicht von Neuerscheinungen in Wimmers Homepage

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Erstellt: Sommersemester 2006