Eine Familie macht sich bemerkbar
im Feld der Theorien in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
Sie ist – zumindest von außen – an Ähnlichkeiten erkennbar,
Familienähnlichkeiten, wie Wittgenstein solche benannt hat.
Das sind vor allem Folgende:
1. Die Mitglieder dieser Theoriefamilie
sprechen jeweils ein besonderes Publikum an, das durch ein besonderes
Interesse charakterisierbar ist – es will sich selbst verstehen und
sich selbst beschreiben.
2. Sie sprechen weitgehend eine eigene Theoriesprache, wobei ihre
Gemeinsamkeit darin liegt, dass sie von den traditionellen
Begriffssprachen wenig Gebrauch machen und nicht scholastisch sein
wollen.
3. Sie sprechen vorwiegend über Themen, die unter ihnen
ähnlich sind und die sie für wichtig halten, aber das sind
nicht die klassischen Themen der jeweiligen Theoriegemeinschaft, in der
sie sich bewegen (als PhilosophInnen, SozialwissenschafterInnen,
KulturtheoretikerInnen).
4. Sie wenden sich gegen frühere Theorien oder Auffassungen zu
ihren Themen vor allem mit der Forderung nach Selbst- oder
Eigenbeschreibung.
5. Sie lehnen ein
Interpretationsmonopol ab, das sich auf den absoluten
Superioritätsanspruch eines Teils der Menschheit bezieht.
6. Sie suchen individuelle oder kollektive Identitäten zu
befördern oder zu begründen.
Zu dieser Theoriefamilie gehören einige, die in ihrem Namen ein
"post" tragen: "Postkolonialismus", "Postmoderne". Andere Mitglieder
derselben Familie haben sich entschieden, andere Namen zu tragen, sie
nennen sich "Feministische (und nicht etwa "postmaskuline")
Philosophie" oder "Interkulturelle (und nicht vielleicht
"postokzidentale") Philosophie". Es gibt auch Theoriegruppen, die das
"post-" im Namen tragen ("Poststrukturalismus", "postanalytische
Philosophie"), gehören aber nach den genannten Merkmalen nicht zu
dieser Gruppe.
Wie das auch sonst vorkommt, vertragen sich die Mitglieder dieser
Theoriefamilie nicht unbedingt. Sie denken zuweilen, dass das, was ein
anderes Mitglied anders macht, nicht viel wert oder eigentlich ein
Irrweg ist. Auch haben sie jeweils unterschiedliche Partner aus anderen
Theoriefamilien, mit denen sich die übrigen dann ebenso wenig
verstehen, die sie zuweilen sogar für die Schwächen ihrer
Familienmitglieder verantwortlich machen.
So hat etwa die interkulturelle Philosophie Nahverhältnisse zur
Phänomenologie, zu komparativer Philosophie und zur
Kulturgeschichte.
Das Nahverhältnis Postkolonialer Theorie zur Literatur, zu
Sozialwissenschaften und politischen Theorien ist ebenso auffallend und
macht es manchmal nicht leicht, zu sagen, was eigentlich ihr
philosophischer Beitrag sein soll.
Dass die Postmoderne philosophisch bedeutsame Texte hervorgebracht hat,
bestreitet (heute) wohl kaum jemand (mehr), aber ihre Auftritte im
Bereich von Kunst, Literatur und Architektur sind zumindest nicht
weniger spektakulär gewesen.
Wie eng diese Richtungen untereinander und auch mit der an einem
anderen Termin hier vorzustellenden feministischen Philosophie auf
Grund gemeinsamer Fragestellungen verwandt sind, zeigt zum Beispiel:
"frau und kultur. kolonisierung von differenz" (= polylog.
Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Nr. 4, 1999)
Aus diesem Heft, dessen thematische Beiträge auch im
Internet-Forum "polylog" zugänglich sind, empfehle ich zur
Einstiegs-Lektüre:
Heidi Armbruster:
"Feministische Theorien und Ethnologie"
Es sind zwischen diesen Richtungen jedoch auch deutliche Differenzen und nicht eindeutige Beeinflussungen
festzustellen.
So etwa wird zuweilen irrtümlich vermutet, interkulturelle
Philosophie sei wesentlich von postmodernen Positionen bestimmt. Dieser
Eindruck mag darauf zurückgehen, dass in beiden Richtungen eine
starke Kritik an eurozentrischen Traditionen dominant ist.
Schließt man daraus jedoch auf einen eindeutigen Einfluss, so
führt das deshalb in die Irre, weil die sachlich entscheidende
Frage nach der jeweiligen Alternative zum Eurozentrismus
übergangen wird. Die hier entscheidenden Unterschiede sind:
Postmoderne Theorie kritisiert zwar die "großen
Erzählungen" abendländischer Tradition, aber sie will sich
nicht auf eine Auseinandersetzung mit anderen Kulturtraditionen und
deren Philosophien einlassen. Wenngleich Kimmerle wohl Recht hat, dass
"ohne die Kritik der Postmoderne" am monokulturell-eurozentrischen
Universalismus die Wendung zur interkulturellen Philosophie wohl nicht
möglich gewesen wäre (Internet), so heißt das eben doch
nicht, dass in dieser postmodernen Kritik der entscheidende weitere
Schritt auch getan worden wäre.
xxx Relativismus
Interkulturelle Philosophie
Ich beginne die Schilderung dieser Theoriefamilie mit demjenigen
Mitglied, das mir am meisten vertraut ist und zu dem ich mich auch
selbst zähle.
Als "interkulturell" artikuliert sich eine Richtung innerhalb der
akademischen Philosophie verhältnismäßig spät,
nämlich etwa um 1990, nachdem bereits vorher dieses Adjektiv in
anderen Disziplinen Eingang gefunden hatte. Nachdem "interkulturelle
Philosophie" (wahrscheinlich in Wimmer
1990) zunächst in deutscher Sprache benannt und beschrieben
worden war, dauerte es einige Jahre, bis analoge Termini auch in
anderen Sprachen etabliert waren. Dann aber und seither wird diese
Bezeichnung immer öfter verwendet und tritt nicht selten einfach
an die Stelle von früheren ("vergleichende" oder "komparative"
Philosophie; "comparative" oder "cross cultural" philosophy u.ä.),
ohne dass bei dieser Übernahme des Terms notwendigerweise
Überlegungen bemerkbar sind, was eigentlich dieses "inter-" im
Unterschied zu dem "vergleichend" bedeuten könnte. Das "inter-"
scheint attraktiv zu klingen, die inflationäre (weil
unüberlegte) Verwendung ohne inhaltliche Reflexion ist lediglich
modisch und im Sinn eines sorgsamen Umgangs mit Termini bedauerlich.
Die Thematik der "Interkulturalität" in Absetzung von
"Multikulturalismus" ist also zunächst nicht in der
Philosophie,
sondern in anderen Disziplinen - der Kommunikationsforschung, der
Geographie, der Germanistik u. a. - reflektiert worden. Bis heute gibt
es Studiengänge etwa zu "interkultureller Kommunikation" o.
ä., die zwar interdisziplinär angelegt sind, wobei aber
Philosophie keine Rolle spielt. Wiederum ist es eher die Regel als die
Ausnahme, dass in Studienplänen des Faches Philosophie die
Perspektive der Interkulturalität gänzlich fehlt.
Wie in den anderen Diskursen dieser Theoriefamilie ist auch in
interkultureller
Philosophie die Kritik an einem hermeneutischen Monopol des Okzidents
nicht zu übersehen. Von einer Mehrzahl von Traditionen der Philosophie ist die Rede,
aus deren jeweiligen Gesichtspunkten
die Bedeutung und der Sinn anderer Traditionen erfasst werden. Dazu
ein Zitat:
Mall spricht von: einer vierdimensionalen
hermeneutischen Dialektik. Erstens geht es um ein
Selbstverständnis Europas durch Europa. Trotz aller inneren
Unstimmigkeiten hat sich Europa, zum größten Teil unter dem
Einfluß außerphilosophischer Faktoren, den
Nichteuropäern als etwas Einheitliches präsentiert. Zweitens
gibt es das europäische Verstehen der nicht-europäischen
Kulturen, Religionen und Philosophien. Die institutionalisierten
Fächer der Orientalistik und Ethnologie belegen dies. Hegel
(1770-1831) und einige andere gehen von der festen Überzeugung
aus, daß Asien sich selbst nicht ganz richtig versteht, und
Asienverstehen Asienüberwinden bedeutet. Fast eine Art
theoretischer Gewalt ist am Werke, wenn man meint, daß man die
anderen besser versteht als sie sich selbst verstehen. Freilich setzen
wir hier voraus, daß es um gleichberechtigte Diskurspartner geht.
[…] wurde lange die Ansicht vertreten: Immer wo es eine Geschichte
gibt, gibt es Philosophie. Die Orientalen besitzen eigentlich keine
Geschichte. Folglich gibt es bei ihnen keine Philosophie. Drittens sind da die
nicht-europäischen Kulturkreise, die ihr Selbstverständnis
heute auch selbst vortragen und dies nicht den anderen überlassen.
Viertens ist da das Verstehen Europas durch die
außereuropäischen Kulturen. In dieser Situation stellt sich
die Frage: Wer versteht wen, wie und warum am besten? Es mag Europa
überraschen, daß Europa heute interpretierbar geworden ist. So verlangt die de facto
existierende hermeneutische Situation nach einer Philosophie der
Hermeneutik, die offen genug ist, um die Traditionsgebundenheit
einzusehen, auch die des eigenen Standpunkts. Eine interkulturell
orientierte hermeneutische Philosophie muß die Forderung nach
einer Theorie erfüllen, nach der weder die Welt, mit der wir uns
auseinandersetzen, noch die Begriffe, Methoden, Auffassungen und
Systeme, die wir dabei entwickeln, historisch untervänderliche,
apriorische Größen darstellen. (R.A. Mall:
Interkulturelle Philosophie und die Idee der
Toleranz. In: Yousefi
(Hg.): Die Idee der Toleranz in der interkulturellen Philosophie 2003,
S. 86f)
Eines der Motive hinter der "kulturalistischen Wende" in der
Philosophie überhaupt und hinter den Bemühungen um eine
Philosophie "in interkultureller Orientierung" liegt darin, dass
Wertkonflikte in modernen Gesellschaften auftreten, die zumindest
teilweise aus unterschiedlichen philosophischen Traditionen
begründet werden. Auffallende Beispiele - aber keineswegs die
einzigen - finden sich in den Diskursen über Menschenrechte.
Ob Philosophie in einer aktiven und gegenseitig fruchtbaren Begegnung
der Kulturen etwas beizutragen habe, ist die eine Grundfrage der
interkulturellen Philosophie. Die andere Grundfrage ist, ob Philosophie
überhaupt möglich ist, wenn sie die Tatsache ignoriert, dass
jedes Denken und jeder Ausdruck des Denkens nur mit den Mitteln eines
kulturell in bestimmter Weise geprägten Systems stattfinden kann.
Es ist eine für jede Argumentation ärgerliche Tatsache, dass
es nicht eine und nicht eine endgültig angemessene Sprache,
Kulturtradition und Denkform des Philosophierens gibt, sondern viele,
und dass jede davon kultürlich ist, keine darunter natürlich.
Interkulturell orientiertes Philosophieren will diesen Sachverhalt
bewusst machen, um daraus für beides Gewinn zu ziehen: für
die Philosophie, indem zentristische Vorurteile kritisiert und neue
Gesichtspunkte eingebracht werden; für den Umgang mit kulturellen
Differenzen, indem gegenseitige Verständigung auf grundlegender
Ebene angestrebt wird.
Die bisher vorliegenden interkulturellen Konzepte in der Philosophie
grenzen sich von anderen Ansätzen ab, weisen aber auch unter
einander deutliche Unterschiede auf.
Ein erster auffallender Punkt ist die Abgrenzung von
"komparatistischen" Ansätzen. Auffallend, weil nicht ohne weiteres
erwartbar. "Mehr als bloße Komparatistik" sei gefordert, wie es
immer wieder heißt. Unter einer "bloßen Komparatistik" wird
dabei etwas sehr Traditionelles verstanden, das die Wissenschaften von
"fremden Kulturen" zu hoher Perfektion entwickelt haben: vergleichende
Interpretation. Was dieses "Mehr" beinhalten soll, wird jedoch
unterschiedlich gesehen: eine "offene Hermeneutik" (Mall) wird
verlangt; ein emanzipatorisches Denken (Fornet-Betancourt), das die
eigenständigen Beiträge der verschiedenen Regionen neu
bewertet; neue Perspektiven in der allgemeinen Geschichtsschreibung der
Philosophie (Holenstein, Paul); und schließlich neue Verfahren
der philosophischen Theoriebildung und Argumentation (Paul) mit dem
Ziel einer "gegenseitigen Aufklärung", die unter dem Namen von
"Polylogen"
(Wimmer) angeführt werden.
Zweitens fällt die sehr unterschiedliche Einschätzung
der Rolle des religiösen und theologischen Denkens sofort auf.
Spricht Panikkar davon, "die Philosophie" sei nichts weiter als eine
"Begleiterin auf dem Weg" und dieser "Weg ist das, was in vielen
Kulturen Religion genannt wird", so läßt dies an die alte
Metapher von der "ancilla theologiae" denken. Tatsächlich kommt
vielen, wenn von "Interkulturalität" die Rede ist, zu allererst so
etwas wie "Religion" in den Sinn. Dies ist nicht wirklich
verwunderlich, aber höchst irreführend. Wenig verwunderlich
ist dies, wenn man sieht, wie selbstverständlich etwa von einem
Dialog "mit anderen Kulturen" gesprochen wird (beispielsweise im
"Katechismus der katholischen Kirche"), wenn in Wirklichkeit doch
nichts anderes als ein Dialog mit anderen Religionen gemeint ist.
Irreführend ist eine solche Überbetonung des Religiösen
als Unterscheidungsmerkmal von "Kulturen" - und dementsprechend als
vorrangiger Gegenstand interkultureller Reflexion - allemal, denn sie
verstellt den Blick auf die vielfältigen anderen Bereiche des
Lebens, die in der Entwicklung philosophischer Reflexion bedeutsam
sind: der Techniken und Wissenschaften, der sozialen
Organisationsformen und der Künste.
Ein dritter wichtiger Punkt, worin sich Unterschiede zeigen,
liegt im Umfang und Inhalt des Philosophiebegriffs. Zuweilen wird
dieser Ausdruck so weit verwendet, daß sich schwer vorstellen
läßt, welche Formen des Denkens nicht damit bezeichnet
werden könnten. Das betrifft natürlich auch andere
Ausdrücke. Es ist beispielsweise davon die Rede, daß es
"keine menschliche Kultur ... ohne die reflexive Praxis der Vernunft"
gebe. Das kann und wird mit Fug bezweifelt werden. Es macht allerdings
das gemeinsame Anliegen der Vertreter einer interkulturellen
Orientierung in der Philosophie aus, daß sie gegen einen allzu
engen, insbesondere einen europazentrischen Philosophiebegriff angehen.
Wenn sie dann aber bestimmen sollen, was denn noch und was nicht mehr
zur Philosophie zu rechnen sei, sind sie uneins.
Ich nenne diese strittigen Punkte, weil sie einerseits
unübersehbar sind und andererseits deutlich machen, dass das
Anliegen einer interkulturell orientierten Philosophie mit den
Lebensbedingungen der heutigen Menschheit gegeben ist. Es spricht
keineswegs gegen dieses Unternehmen, dass die darin leitenden
Vorstellungen und Begriffe nicht von Anfang an klar und konsensuell
sind.
Es verhält sich ein wenig so wie mit Gärtnern, die eine neue
Art von Garten anlegen wollen und zunächst einmal behaupten, sie
gingen davon aus,
dass es in Wirklichkeit kein Unkraut gebe (also: dass jede
kulturell-philosophische Tradition gleich gültig sei) und
dass gewöhnlich viel zu viel gejätet und vorneweg
geordnet würde, ohne den Pflanzen ihren natürlichen Weg zu
lassen (dass also jede Tradition nach ihrer eigenen Weise belassen
werden soll).
Sobald es in einem solchen Garten dann zu wachsen beginnt, wird sich
herausstellen, dass die Unterscheidung zwischen Kraut und Unkraut sehr
wohl wieder getroffen und streng angewandt wird. Es ist - vielleicht -
eine etwas andere Grenze festgelegt worden, aber Grenzenlosigkeit wird
es höchstens als rhetorische Übertreibung geben. Darum ist es
sinnvoll, zuzusehen, was diese Gärtner tun. Es reicht nicht aus,
zu hören, was sie sagen.
Was also tun "interkulturelle Philosophen" oder wollen es zumindest tun?
Eine der zutreffendsten Formulierungen für das Programm eines
interkulturell orientierten Philosophierens ist wohl die, dass es
darauf ankomme, die "Stimmen der
anderen" zu Gehör zu bringen. Dies drückt sich darin
aus, daß in Konferenzen, Publikationen, Studiengängen
bewusst versucht wird, dem gewöhnlichen Übergewicht der
akademisch-ökonomischen Zentren gegenzusteuern. Vielfalt der
Sichtweisen, auch Vielfältigkeit der Ausdrucksformen werden
angestrebt.
Doch ist es selbstverständlich, dass auch damit keine grenzenlose
Offenheit gegeben ist. Die allermeisten Diskussionen finden nach wie
vor im akademischen Rahmen und gemäß den in diesem Raum
geltenden Verhaltensregeln statt. Auch werden sie in den
hauptsächlichen europäischen Wissenschaftssprachen
geführt. Sie schließen damit schon rein von der Organisation
der Diskussion her eine große Klasse von möglicherweise
kompetenten DenkerInnen der nicht-okzidentalen Traditionen aus.
Die angestrebte Öffnung der Diskussion in Richtung auf eine
Gleichrangigkeit von mehreren oder vielen kulturell geprägten
Philosophietraditionen ergibt an sich weder thematische Schwerpunkte
noch eine bestimmte Art methodischen Vorgehens. Doch können wir
kurz einige Fragen stellen: Worüber reflektieren die
"interkulturellen Philosophen" gewöhnlich? Beziehen sie neue
Quellen in ihre Diskurse ein? Gibt es neue Themen, die hier auftauchen?
Und: Gibt es neue Methoden (z. B. der Argumentation), die unter ihnen
als angemessener gelten als diejenigen der kritisierten eurozentrischen
Tradition?
Ich kann diese Fragen hier nur kursorisch und unsystematisch
beantworten.
Zur ersten Frage ist zu betonen, dass es selbstverständlich neue Quellen gibt, die hier
einbezogen werden. Es ist bereits eine Veränderung der
akademischen Praxis, wenn Logik-Texte japanischer Buddhisten (wie bei
Paul) oder Rechtsvorstellungen in einer Bantu-Tradition überhaupt
(vgl. Wiredu oder auch Kimmerle) in systematischen Zusammenhängen
von Philosophen interpretiert werden. Es war allzulange
selbstverständliche Voraussetzung, dass das eine seinen Ort in der
Kulturgeschichte Japans, das andere in derjenigen Afrikas habe, dass
die einschlägigen Disziplinen daher die Japanologie und die
Afrikanistik, nicht aber die Philosophie seien. Es ist insgesamt immer
noch so, mit wenigen Ausnahmen: Wer Philosophie studiert oder lehrt,
kann dies in der Regel tun, ohne sich jemals mit der Frage konfrontiert
zu sehen, was denn chinesische, indische, afrikanische oder
lateinamerikanische Philosophen zu einer bestimmten Sachfrage
beizutragen hätten. Dass neue Quellen als ernstzunehmend
vorgestellt und bearbeitet werden, ist dem gegenüber bereits ein
wichtiger Schritt.
Es ist eklatant, dass interkulturelle Philosophie zunächst
von philosophiehistorischen Projekten und Thesen ausgegangen ist.
Aufbauend auf der seit fast einem Jahrhundert betriebenen "komparativen
Philosophie" wird gefragt, in welchen kulturellen Regionen und auf
welche unterschiedliche Weisen Philosophie in der
Menschheitsgeschichte entwickelt worden ist. Dabei wird
charakteristischerweise die traditionelle Dichotomie zwischen Westen
(Europa und okzidentalisierte Welt) und Osten (Ost- und Südasien)
als unzureichend und auch unzutreffend nicht weiter aufrecht erhalten,
sondern verlangt, eine allseitigere Geschichte des philosophischen
Denkens der Menschheit zu erarbeiten.
Gibt es auch neue Themen?
Schaut man darauf, was für Fragestellungen hier vorherrschen, so
ist die Innovation anscheinend bislang nicht besonders groß. Mir
zumindest ist in der einschlägigen Literatur und bei den
einschlägigen Konferenzen noch kein Thema begegnet, das nicht auch
in der okzidentalen Tradition des Philosophierens irgendwann
präsent gewesen wäre. Das stimmt natürlich nicht
für die Details. Es macht sehr wohl einen Unterschied, es
führt auch zu neuen Thesen und vielleicht zu neuen Einsichten,
wenn die Gesichtspunkte, die Begriffe und Thesen sehr unterschiedlicher
Traditionen miteinander ins Gespräch gebracht werden. Aber das
ändert nichts daran, dass die Themen dieselben sind, wie sie eben
auch sonst unter Philosophen verhandelt werden: Fragen nach
Wahrheitskriterien, nach Voraussetzungen von Logik, nach
ethisch-moralischen Normen, nach einer Theorie der Ästhetik usw.
Ob es neue Methoden gibt
oder doch geben sollte, ist die nächste Frage. Methoden bestimmen
sich nach einem Ziel und den erkennbaren Wegen zu ihm. Zu den Methoden
des Philosophierens, wie immer diese sonst bestimmt werden, gehört
jedenfalls die Klärung von Begriffen, die Entwicklung einer
angemessenen Terminologie und die Untersuchung von stillschweigenden
oder auch expliziten Voraussetzungen von Urteilen. In dieser Hinsicht
bringt interkulturell orientiertes Philosophieren insofern eine
deutliche Erweiterung des Reflexionshorizonts, als Begrifflichkeiten
aus anderen als den europäischen Traditionen in die Debatte
eingebracht werden. Es ist auch deutlich, daß die
Auseinandersetzung mit außereuropäischen Denktraditionen
unvermerkte Vorannahmen okzidentaler Philosophie bemerkbar machen kann.
Die Frage nach der Methode geht jedoch noch einen Schritt weiter.
Fraglich ist ja, mit welchen Verfahren
der Argumentation dann philosophiert werden kann, wenn nicht von
vornherein feststeht, welche Ausdrucksmittel überhaupt als
angemessen zu betrachten sind. Dies ist zwar kein neuartiger
Sachverhalt - es gibt in der Philosophie so gut wie in anderen
Disziplinen unterschiedliche Stile, die ein gegenseitiges Verstehen
oder auch nur Ernstnehmen erschweren können, aber unvermeidbar
sind -, jedoch verschärft sich die Sache, wenn Angehörige
mehrerer Kulturen miteinander zu argumentieren beginnen. Dies ist nicht
auf die Frage der gemeinsamen Sprache bezogen: eine solche ist
unabdingbar und es ist nicht unbedingt ein Nachteil für die
Klarheit des Ausdrucks, wenn sie nicht die Muttersprache ist. Soll aber
beispielsweise die Rezitation eines Liedes aus Afrika ebenso als
Bestandteil einer philosophischen Argumentation gelten wie die
Interpretation der These eines Klassikers der okzidentalen Tradition?
Selbst wenn innerhalb der Gegenwartsphilosophie - etwa im Bereich der
Beispiele, die von Philosophen der Analytischen Philosophie gerne
angeführt werden - die Grenze der als zulässig erachteten
Quellen manchmal ziemlich weit gezogen wird, dürfte es doch
Widerstände hervorrufen, wenn jemand ein afrikanisches Lied im
Rahmen seines Arguments singt und vielleicht auch noch darauf besteht,
es müsse, um den Sinn zu erfassen, dazu getanzt werden.
Vier problematische Thesen lassen sich aus den Diskussionen um
"Interkulturelle Philosophie" extrahieren, die zu begründen oder
zu widerlegen sind:
Kultur- und Philosophiegeschichte
seien im allgemeinen eurozentrisch.
Damit sei eine Begrenzung oder Beschränkung gegeben. Denn
okzidentale Philosophie sei (auch) eine Regionalphilosophie - eine
Tradition unter mehreren.
Jede als universell geltend
intendierte These der Philosophie ist möglicherweise kulturell geprägt;
kulturell-partikuläre Thesen sind jedoch in der Philosophie nach
deren eigenem Anspruch nicht ausreichend.
Eine Ausweitung des kulturellen
Horizonts der Philosophiegeschichte ist möglich und
nötig: Neue Quellen sind zu erschließen, neue Traditionen zu
interpretieren, neue Textsorten einzubeziehen.
Das Bewusstsein von der
Überlegenheit europäischer philosophischer Tradition
ist kritisierbar und zu
kritisieren.
Jede dieser Thesen, die in der Literatur zur interkulturellen
Philosophie mehr oder weniger explizit formuliert werden, hat
weitreichende Konsequenzen für Forschung und Lehre der Philosophie
im allgemeinen. Es reicht als Hinweis aus, dies für die erste der
genannten Thesen anzusprechen.
Wenn es sich bei der okzidentalen Philosophie tatsächlich nur um
eine regionale, wenngleich um eine hochdifferenzierte Spielform von
Philosophie überhaupt handelt, so wäre jedes Argument, das
sich ausschließlich auf Autoritäten dieser Tradition beruft,
selbst "ethnophilosophisch" und könnte insofern keinen Anspruch
auf Allgemeingültigkeit oder Intelligibilität erheben. In
jeder Sachfrage der Philosophie sind unter dieser Annahme
möglichst differente philosophische Denkformen und Begriffsfelder
aufzusuchen und aneinander zu messen. Es ist daher zu Recht von einem
"Antizentrismus der Interkulturellen Philosophie" gesprochen worden,
wobei aber nicht zu vergessen ist, dass jeder interkulturelle Dialog
notwendig vom Eigenen ausgehen muss. Dies betrifft natürlich schon
den Begriff des Philosophischen selbst. Jeder Zugang zu philosophischen
Fragen, welcher Orientierung auch immer, muss seinen Gegenstand
definieren, muss mithin von nicht-philosophischen Gegenständen
abgrenzen. Es liegt auf der Hand, dass das bloße Faktum der
Namensverwendung "Philosophie" dafür nicht ausreicht. Weder ist es
so, dass im akademischen Diskurs bereits alles unter diesem Namen
subsumiert ist, was rechtens dazugehört – dies hat die Diskussion
um "afrikanische Philosophie" deutlich gemacht. Noch aber kann ein
inflationärer Gebrauch des Namens, wie ihn der Büchermarkt
spiegelt, ohne Orientierungsverlust übernommen werden. Vielmehr
wird interkulturell orientiertes Philosophieren einen
Philosophiebegriff zu entwickeln haben, der sowohl inhaltliche als auch
formale Bestimmungen enthält. Beim gegenwärtigen Stand der
Diskussion ist dies ein, allerdings dringliches, Desiderat.