Vgl. auch die folgenden Themen aus der 2. VO im WS 05/06:
Eine Episode:
Thomas Mann
kennzeichnet 1945 seine Gegenwart als Beginn der "Welt-Zivilisation"
und benennt deren wesentliche Probleme und Fragestellungen.
Der Text dieses
Abschnitts wird in der Vorlesung paraphrasierend vorgetragen. Ich
entnehme ihn meinem Buch:
Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie - Eine
Einführung. Wien:
WUV 2004, S. 26ff und 76f
"Das Projekt der Philosophie im allgemeinen wird hier verstanden als
der
Versuch, in grundlegenden Fragen
zu Einsichten zu gelangen,
diese angemessen auszudrücken
und somit einer intersubjektiven
Prüfung zugänglich zu machen.
Bezüglich des Inhalts kann
Philosophie ausgehend von einem (okzidental) traditionellen
Verständnis damit charakterisiert werden, dass es sich um die
Behandlung von ontologischen
oder erkenntnistheoretischen
oder wert- und normentheoretischen
Fragen handelt. Es geht somit entweder um die Frage, was wirklich ist; oder darum, was erkennbar ist; oder drittens um
die Begründung von Normen und
Werten. Werden Antworten auf solche Fragen mit Mitteln des
Denkens gesucht, so können wir von Philosophie in einem aus der
okzidentalen Geschichte vertrauten Sinn sprechen und zwar auch dann,
wenn einzelne Mittel des Erkennens, des Ausdrückens und der
Kommunikation entsprechender Ideen vollkommen anders als in dieser
Tradition sein sollten.
Einzelne Traditionen oder Epochen legen mehr oder weniger Gewicht auf
die eine oder die andere dieser Fragestellungen, aber wenn wir bereit
sind, Bemühungen, auch nur eine davon zu klären, unserem
Begriff von Philosophie zuzuordnen, so dürften damit zumindest
sehr viele, wenn nicht alle Denktraditionen darunter fallen, die auch
noch ein formales Kriterium
erfüllen, das lautet: Philosophie sucht Antworten auf die
genannten Grundfragen, indem sie Begriffe
definiert, Argumente entwickelt, Methoden des Erkenntnisgewinns und der
Irrtumsvermeidung reflektiert.
Eben so wenig wie bei den inhaltlichen Kennzeichnungen handelt es sich
bei diesem formalen Kriterium um ein Merkmal, das etwa auf die
okzidentale Denktradition beschränkt wäre. Vielmehr finden
sich entsprechende Entwicklungen in Traditionen mehrerer
Gesellschaften, die ihre bis heute weiter wirkenden weltbildlichen und
moralischen Orientierungen vor langer Zeit herausgebildet haben, wenn
man auch nicht annehmen muss, dass dies in jeder menschlichen
Gesellschaft der Fall gewesen ist.
Wir werden also sagen, dass Philosophie weder die einmalige Leistung
einer einzigen kulturell abgrenzbaren Tradition, noch dass sie in
buchstäblich allen kulturellen Traditionen auffindbar ist.
Zumindest in mehreren achsenzeitlichen Gesellschaften Eurasiens, aber
auch in islamischen, afrikanischen und vermutlich in amerikanischen
Gesellschaften der präkolumbianischen Zeit sind sehr allgemeine,
bislang nicht immer ausreichend rekonstruierte Reflexionen vorgetragen
worden, die als Philosophie im angegebenen Sinn aufzufassen sind."
(Interkulturelle Philosophie 2004, S.
26-27)
Im
genannten Buch werden dann mehrere Herangehensweisen an Philosophie
beschrieben und diese Disziplin von Wissenschaft, von Kunst und von
Religion abgegrenzt.
Im
Zusammenhang mit der gegenwärtigen Vorlesung ist insbesondere
noch das Verhältnis von Philosophie zu deren Geschichte zu
klären. Ich entnehme wieder dem genannten Buch:
"Die Entwicklung einer separaten Geschichtsschreibung von Philosophie in
Europa war ein Phänomen der Neuzeit. Seit dem Ende
der
griechisch-römischen Antike bis in die Zeit des europäischen
Buchdrucks werden so gut wie keine historischen Darstellungen der
Philosophie in lateinischer oder arabischer Sprache verfasst. Was die
Vergangenheit der Philosophie anbelangt, so scheinen weder muslimische
noch christliche Offenbarungsgläubige daran interessiert gewesen
zu sein, sie als Entwicklung des menschlichen Geistes oder auch nur um
der Wissbegierde willen darzustellen, was im antiken Griechenland
durchaus Gegenstand von Darstellungen gewesen war. In der
europäischen Neuzeit entstehen jedoch Werke, in denen die
Vergangenheit der Philosophie als besonderer Gegenstand mit einer
eigenen Methode, mit spezifischen Begriffen und – zumindest in einem
Fall – sogar mit einer eigenen Zeitrechnung dargestellt wird.
In ganz anderer
Weise wurde die
Vergangenheit des Denkens in der chinesischen
Geschichtsschreibung
behandelt, wo sie stets in die allgemeine Geschichte eingebunden blieb.
Das erste jener Werke, die als "Standardgeschichte" rangieren, das
Geschichtswerk des Sima Qian aus der frühen Han-Zeit, gibt
dafür das Vorbild ab. Darin werden die Denkerschulen und
einzelne ihrer Vertreter dargestellt; es werden ihre Lehren und
Differenzen diskutiert, aber sie werden nicht aus dem Zusammenhang der
jeweiligen "Dynastie", die eine solche Standardgeschichte behandelt,
herausgenommen und gesondert behandelt.
Aus
der indischen Literatur sind
nur
sehr wenige Werke bekannt, die als philosophiehistorische Darstellungen
gelten können, und diese sind in hohem Grad problemgeschichtlich
bzw. systematisch durchgeführt. Darin finden sich also keine
chronologischen oder entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkte,
sondern die Abfolge der Darstellung geht nach logischen Gesichtspunkten
vor, indem zuerst diejenigen Schulen behandelt werden, die am weitesten
von der für richtig gehaltenen Auffassung entfernt sind. Nachdem
deren entscheidende Irrtümer widerlegt sind, werden schrittweise
alle bekannten anderen Schulen in der gleichen Weise dargestellt und
behandelt.
Eines der wesentlichen Merkmale dieser neuen Disziplin in Europa war
ihre Orientierung an der ersten methodisch entwickelten Wissenschaft
der Neuzeit – an der Philologie.
Diese konzentrierte sich auf eine
kritische Behandlung von schriftlich fixierten Texten, nicht von oralen
Traditionen. Somit wurde die Philosophiehistorie der europäischen
Neuzeit zu einer textkritischen, auf schriftlichen Dokumenten
beruhenden Geschichtsschreibung. Es dauerte vergleichsweise lange, bis
sie eine zunächst in Europa leitende Idee wie diejenige von einer
Urphilosophie (die dem Adam im Paradies oder zumindest der Zeit vor der
biblischen Sintflut zugeschrieben wurde) eben mit der Begründung
verwarf, dass dafür die ausreichenden schriftlichen Quellen
fehlten. Das geschah erst in der ersten Hälfte des 18.
Jahrhunderts. Zu Beginn der Neuzeit hatten Europäer noch ganz
selbstverständlich von einer Philosophie der Chaldäer, der
Ägypter, der Druiden usw. gesprochen. Später erst wurde der
Ausdruck "abendländische" oder "europäische Philosophie"
zunehmend gleichgesetzt mit "Philosophie" überhaupt und deren
"Ursprung" bei den ionischen Naturphilosophen bzw. den Pythagoreern
allgemeine Auffassung.
Vgl.
dazu wieder das Skriptum, zur 4.
Vorlesung über Geschichte
der Philosophiehistorie in der frühen Neuzeit
Die Beschreibung und Erklärung der Geschichte dieser
abendländischen Philosophie gewann in einzelnen Denkrichtungen der
Neuzeit eine derart überragende Bedeutung, dass manchmal sogar
ihre Gleichsetzung mit Philosophie selbst plausibel scheinen
konnte." (Interkulturelle Philosophie 2004, S. 76-77)
Eine
solche Gleichsetzung ist als problematisch anzusehen. Weder reduziert
sich Philosophie auf eine Auseinandersetzung mit früherem
philosophischen Denken, noch kann sie völlig unabhängig davon
betrieben werden.
Tatsächlich ist das Verhältnis von Philosophiehistorie (also
der Beschreibung der Geschichte des Philosophierens) zur Philosophie
selbst komplex:
-- Erstens handelt es sich
tatsächlich um Vergangenes, was den Gegenstand von
Philosophiehistorie ausmacht - um bestimmte Äußerungen, die
als "philosophisch" qualifiziert werden, und deren Gegebensein in
Quellen unterschiedlicher Art. Diese werden recherchiert, selektiert
und interpretiert wie andere historische Gegenstände in anderen
historischen Wissenschaften auch. Es gibt daher eine Reihe von
methodologischen Problemen und Annahmen, die Philosophiehistorie mit
anderen Disziplinen gemeinsam hat.
-- Zweitens hat aber
Philosophiehistorie nie nur die Funktion, eine Kenntnis von Vergangenem
zu fundieren oder zu verbreiten, sondern steht selbst in einem
systematischen Zusammenhang, will selbst etwas zu jeweils
gegenwärtigen Fragestellungen der Philosophie beitragen.
-- Beides gilt auch für
einen kursorischen Überblick, wie ihn diese Vorlesung darstellt.
Aufgrund ihrer thematischen
Beschränkung auf das 20. Jahrhundert ist sie am ehesten mit der
sogenannten "Zeitgeschichte" oder der (modernen) "Literaturgeschichte"
zu vergleichen. Wie bei diesen Disziplinen gilt auch hier, dass Fragen
der Selektion und Interpretation von Daten häufig nicht unter
Berufung
auf einen bereits außer Debatte stehenden Kanon entschieden
werden
können, dass entsprechende Festlegungen vielmehr
begründungsbedürftig sind. Wer und was "wichtig" war (und
warum), was jemand "eigentlich" gedacht oder gesagt hat, wird immer
wieder neu zu verhandeln sein. Das trifft zwar auf jede Epoche zu,
die (philosophie-)historisch untersucht wird, ist aber umso
auffälliger, je näher zur Gegenwart sie ist.
In mancher Hinsicht ist
philosophiehistorische Tätigkeit mit derjenigen eines
Totengräbers auf einem seit langem von einer überschaubaren
Gemeinschaft genutzten Friedhof vergleichbar, zu der er selbst
gehört. Dieser wird, wenn er für jemand das Grab aushebt,
dabei die Knochen von jemand anderem umbetten, den
er selbst noch gekannt hat; auch wird er die Überreste
früherer Bestattungen nicht belassen können, wie sie waren,
sondern sie in neuer "Anordnung" dem nächsten hinterlassen. Da
dies im
Gang der Generationen immer wieder geschieht, werden die einzelnen
Teile immer wieder anders zurückbleiben - sie "interferieren" neu.
Es ist nicht so, dass das Spätere nur das Frühere
"überlagert".
Das 20. Jahrhundert und viele
der PhilosophInnen, mit denen wir uns in dieser Vorlesung befassen,
sind "vergangen". Einigen davon sind schon früher Grabstellen oder
Denkmäler
errichtet worden (sie finden sich in Lexika, Sammelbänden etc.).
Bei Anderen ist das nicht so, oder die Denkmäler sind - nach
meiner Ansicht - unzulänglich. Sie können nach der selben
persönlichen Ansicht auch zu prächtig sein. Und gelegentlich
werden wir, wenn wir beispielsweise von "postkolonialen" Diskursen
zumindest teilweise geprägt sind (die erst spät im 20.
Jahrhundert stattfanden) und jemandem aus diesem Diskurs seine
Ruhestätte zuweisen, dabei auf Frühere stoßen, die uns
überhaupt erst auf diese Weise auffallen, von ihren Zeitgenossen
wenig wahrgenommen wurden.
-- Auch der zweite Punkt hat
bei einer "zeitgeschichtlichen" Philosophiehistorie seine
Besonderheiten.
Rekonstruktion und
Beschreibung von Vergangenem - Beschäftigung mit Geschichte -
geschieht ganz allgemein in einem jeweils gegenwärtigen Interesse.
Wenn es sich um vergangenes Philosophieren handelt, so kann dieses
Interesse in vierfacher Weise verstanden werden:
Heuristisches Interesse: Wir
können uns mit der Geschichte des Philosophierens befassen in der
doppelten heuristischen Zielsetzung,
-- frühere (Denk-)Fehler zu vermeiden - oder
-- auf früheren Denkleistungen aufzubauen.
Herrscht das heuristische Interesse vor, so wird man sich vor allem
problemgeschichtlich mit Philosophie der Vergangenheit befassen. Dies
ist im 20. Jahrhundert mehrfach in auffallender Weise festzustellen,
z.B. in der Analytischen Philosophie und in der Phänomenologie.
Interesse der Traditionskritik und
Traditionsbildung: Auch dies kann in einer kritisch-ablehnenden
oder einer affirmativen Richtung wirken mit dem Ziel,
-- gegen etablierte oder
allgemein akzeptierte Tradition(en) zu argumentieren, deren
Parteilichkeit und blinden Flecken aufzuzeigen und sie zu kritisieren -
oder -- etwas Neues oder Eigenes zu
setzen, das bislang ignoriert wurde, und somit alternative
Tradition(en) zu begründen oder zu verstärken.
Deutlich ist auch dieses Interesse in philosophiehistorischen
Bemühungen des 20. Jahrhunderts: beispielsweise in postkolonialer,
feministischer und interkultureller Philosophie ebenso wie in der
Kritik der Postmoderne an den "großen Erzählungen", aber
auch in der marxistischen Philosophiehistorie oder in der
Neuinterpretation griechisch-abendländischer Philosophie durch
Heidegger.
Im Interesse von Wissenschaftsplanung und
-politik in der Philosophie wird gleicherweise nicht selten mit
Verweisen auf frühere Entwicklungen und Traditionen argumentiert,
indem die Leistungen - oder auch die Fehlleistungen - von "Schulen"
oder "Richtungen" der Philosophie herausgestellt werden, um für
oder gegen Orientierungen von Forschung und Lehre zu argumentieren.
Das 20. Jahrhundert, gekennzeichnet auch durch starke ideologische
Auseinandersetzungen, bietet viele Beispiele von
wissenschaftspolitischen Entscheidungen, bei denen die jeweilige
Einschätzung der Geschichte des Denkens eine wichtige Rolle
gespielt hat. Dies belegen beispielsweise die Exilierung der
Analytischen Philosophie aus Deutschland und Österreich in den
1930-er Jahren; oder auch ideologische Säuberungen in
staatssozialistischen Ländern, besonders in der UdSSR und China.
Aber auch an Entwicklungen, die weniger spektakuläre
Großideologien als Hintergrund haben, lässt sich dieses
Interesse zeigen.
Das Interesse der Wertorientierung ist
überall dort merkbar, wo aus dem Bildungsgut philosophischer
Traditionen weltanschauliche oder moralische Orientierungen angesichts
lebenspraktischer Probleme gewonnen werden sollen. Es tritt in
unterschiedlichen Formen auf, die ich an drei Beispielen verdeutlichen
möchte:
-- Suche nach Überlappungen zwischen kulturell oder
weltanschaulich differenten Traditionen soll dazu führen, ein
allgemein menschheitliches Bewusstsein und
Verständigungsbereitschaft zu schaffen. (Beispiel:
Ost-West-Dialoge)
-- Suche nach gemeinsamen Wurzeln von später verfeindeten
Traditionen soll deren Dialogfähigkeit (wieder) herstellen.
(Beispiele: Frankfurter Schule vs Wiener Kreis; arabische und
jüdische Philosophie des Mittelalters [Plott explizit])
-- Suche nach Vorbildern in der Geschichte des Denkens soll zu einer
Orientierung im Leben führen. (Beispiele: Jaspers:
"maßgebende Menschen"; marxistische Philosophiehistorie: "Kampf
gegen Reaktion")
Aufschlussreich für das
jeweilige Verständnis dessen, was zu einer Zeit als kanonisches
Wissen um die Philosophie der Vergangenheit gilt, sind Leselisten, wenn
solche für ein Studium oder den Unterricht in Philosophie
vorgeschrieben werden. Ein Beispiel stellen für unser Thema die
Leselisten dar, die im Philosophieunterricht an französischen
Schulen im 20. Jahrhundert galten. Vier davon (Leselisten
1902, 1925, 1942, 1960) können hier zum Vergleich herangezogen
werden.
Zum Seitenanfang Literaturhinweise
zur Theorie
und Geschichte der Philosophiehistorie
Braun, Lucien: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990 (EA frz. 1973).
Brentano, Franz Clemens: Die vier Phasen der Philosophie. Leipzig:
Meiner. 1926 (EA 1895).
Collins, Randall: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of
Intellectual Change. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ.
Pr. 2000.
Dilthey, Wilhelm: Die Versuche, die Gliederung der Geschichte der
Philosophie aufzufinden. In: Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften.
Berlin: Teubner, Bd. VIII, 1931. S. 121-139.
Flasch, Kurt: Theorie der Philosophiehistorie (= Bd. 2 von "Philosophie
hat Geschichte"). Frankfurt/M.: Klostermann. 2005.
Oiserman, T. I.: Probleme der Philosophie und der
Philosophiegeschichte. Berlin: Dietz. 1972.
Santinello, Giovanni; Gregorio Piaia: (Hg.) Storia delle Storie
Generali della Filosofia. 1979 ff
Schneider, Ulrich Johannes: Die Vergangenheit des Geistes. Eine
Archäologie der Philosophiegeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
1990.
Wimmer, Franz Martin: Geschichte der Philosophiehistorie. Wien:
ÖH, 1994. (Als Skriptum vergriffen, im
Internet abrufbar)
Eine ausführlichere
Liste mit Arbeiten zu diesem Thema, die nach 1900 erschienen sind,
finden Sie hier
Zum Seitenanfang "Welt-Zivilisation":
Überlegungen von Thomas Mann um die Mitte des 20. Jahrhunderts
Alle Zitate in diesem Abschnitt nach:
Thomas Mann: Welt-Zivilisation. In: Kantorowicz, Alfred (Hg.): Ost und
West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit.
1947.
Jg. 1, Nr. 2, S. 3-6. Vollständiger Nachdruck:
Königstein/Ts.: Athenäum
1979, Bd.1.
Die Dezemberausgabe der Zeitung im Lager für deutsche
Kriegsgefangene in Papago Park, Arizona, erschien 1945 mit einem
Vorwort von Thomas Mann, das er mit "Freude" geschrieben und mit
"Welt-Zivilisation" betitelt hat. Er legt darin "ein paar
Gedanken zu dem wohl brennendsten Problem unserer Tage, dem
Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft" vor.
Zuerst vergleicht Mann Roosevelt mit Cäsar, denn beide hätten
raumschaffend weit gedacht zu ihrer Zeit, und erinnert an
ein Wort, das Roosevelt während des Krieges sprach, und das ich
auch in meinen Radiosendungen nach Deutschland einmal zitiert habe:
"Der alte Ausdruck 'westliche Zivilisation'," sagte er, "paßt
nicht mehr. Die Weltereignisse und die gemeinsamen Notwendigkeiten der
Menschheit sind im Begriff die Kulturen Asiens, Europas und der beiden
Amerika zu vereinigen und, zum erstenmal, eine Welt-Zivilisation zu
formen."
Kein "Kampf der Kulturen" also, sondern ihre "Vereinigung", aber wie
bei Huntington wird auch von Roosevelt Afrika nicht erwähnt und
man kann sich fragen, was "die Kulturen Asiens" umgreifen. Aber, sagt
Mann: "Welt-Zivilisation. Ein cäsarisches Wort. Und ein Wort
groß gedachter Demokratie ..." Woran denkt er? Welche Demokratie?
Er denkt an eine Notwendigkeit:
"Ohne das Chaos herbeizurufen kann die
Menschheit nicht länger die wechselseitige Abhängigkeit ihrer
Gruppen voneinander verleugnen, diesen sogar schon ökonomischen
Tatbestand ..."
Nun aber erhebt sich gegen diese Vereinigung aus wechselseitiger
Abhängigkeit ein Einwand: das Besondere wird nivelliert,
uniformiert:
"es wäre ja kein Wunder, wenn das
Individuum, die Nation, das Persönliche, kurz: das Verschiedene
ihre Wünsche, ja ihren Protest anmeldeten gegen die völlige
Einebnung der Welt durch die Diktatur eines uniformen
Vernunft-Moralismus."
Mann stellt sich einen Disput zwischen einem Multikulturalisten (A) und
einem Universalisten (B) vor. Der Multikulturalist (Mann benennt die
beiden nicht) verteidigt die Vielfalt:
A.: "Unterschiede der Rasse, der Farbe,
der Klasse, der Tradition und des Bekenntnisses sind unvermeidlich
durch die Natur der Dinge, und der Wettstreit verschiedenartiger
Gruppen, Einrichtungen und Ideen ist lebenswichtig für die
menschliche Entwicklung. Wenn wir nur Frieden halten, nur Duldsamkeit
üben, nur nicht glauben, daß einem allein die Wahrheit
gehört, so ist Verschiedenheit viel besser und förderlicher
als die Unterwerfung aller unter eine Idee, denn das heißt
Reglementierung und Tyrannei."
"Ich glaube, du übertreibst die Bedeutung der Ungleichheit und des
Wettkampfes für den menschlichen Fortschritt," sagt der
Universalist, denn beiden geht es um dasselbe: um den "Fortschritt", zu
dem wir heute "nachhaltige Entwicklung" sagen würden. Nur daran
wollen sie messen, was Vielfalt oder Einheitlichkeit wert sind.
B.: "Der Kampf als Mittel der Auslese
und Höherbildung ist ein darwinistisches Vorurteil, dessen Wert
für das Leben nicht einmal in rein biologischer Sphäre
unbezweifelt ist. Im Menschlichen hat es erst recht keine Geltung. Es
genügt vollkommen, die Gegensätze und den Wettstreit als
Tasachen [sic!] anzuerkennen, ohne sie moralisch zu bejahen und ihnen
ewige Unvermeidlichkeit zuzusprechen. Die Verschiedenheit der sozialen
Klassen zum Beispiel ist keineswegs eine natürliche Gegebenheit,
eine klassenlose Gesellschaft vielmehr durchaus denkbar. Gewiß,
die Toleranz verlangt, daß man Glaubensunterschiede respektiert.
Aber schon Leonardo da Vinci hat vorausgesagt, daß in dem
Maß, wie die Wahrheit besser bekannt werde, allgemeine
Übereinstimmung an die Stelle der partikulären Meinungen
treten werde. Einem jeden seine eigene Wahrheit anheimgeben, auch in
moralischen und religiösen Dingen, das heißt soviel wie die
Wahrheit selbst leugnen."
Die beiden sind heute immer noch am Disputieren. Ihre regionale
Herkunft verschiebt sich gelegentlich. Mann würde "zunächst
der Vermutung Ausdruck geben, daß A. ein Amerikaner, B. aber ein
Europäer, wahrscheinlich ein Franzose ist." Heute könnte
jemand sogar die umgekehrte Vermutung haben.
Und dann würde Mann als Schiedsrichter "etwa Folgendes sagen":
Solche Auseinandersetzungen
gründen in der logischen Widersprüchlichkeit, die zwischen
den Hauptelementen der Demokratie, Freiheit und Gleichheit, dem
liberalen Prinzip also und dem sozialistischen besteht. Was wir
Demokratie nennen, ist eben der menschliche Ausgleich zwischen diesen
beiden widersprechenden Forderungen: Freiheit und Gleichheit; zwischen
den anarchischen Tendenzen, die der Idee der Freiheit, und den Gefahren
des Despotismus, die der Idee der Gleichheit eingeboren sind. An dem
Glauben an eine absolute, für alle gültige Wahrheit
müssen wir freilich festhalten. Aber die Wahrheit ist nicht immer
dieselbe oder sieht nicht immer gleich aus. Es gehen in ihrem Bilde
Veränderungen vor, die aufmerksam zu beachten und denen Rechnung
zu tragen die Sache menschlicher Klugheit ist. Die Wahrheit ist
lebendig, i.e. dem Wechsel unterworfen, und das ist auch die Demokratie.
Wenn man nun aber nicht beides zugleich haben kann, sind dann die
"anarchischen Tendenzen" oder der "Despotismus" die größere
Gefahr? Wer von beiden hat Recht? 1945 war für Thomas Mann die
Sache klar:
B., der Europäer, sozialistisch,
wie heute alle Europäer, hat recht: Die Gleichheit ist heute der
Demokratie ein wichtigeres Anliegen, als die Verschiedenheit. Ihr Wille
geht nicht sowohl auf die Verherrlichung des Individuellen,
Persönlichen, Eigentümlichen, Nationalen und seiner
Souveränität, als auf Einordnung; und Einordnung heißt
Reglementierung, soziale Reglementierung der Freiheit. Besonders noch
hat er recht mit seiner Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft, denn
die ist nicht nur eine theoretische Möglichkeit, sondern sie ist
in allem Praktischen auf dem besten Wege, sich zu verwirklichen.
Das klingt nun merkwürdig entlegen. Konnte Mann sich denn nicht
vorstellen, dass eine globalisierte Marktwirtschaft ganz ohne
"Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft" auch zu "Einordnung" und
"Reglementierung" führen kann, allerdings unter anderen
Herrschaften als nur den klassisch Regierenden? Nein, konnte er wohl
nicht. Seine Instanz der Reglementierung ist der klassische Staat. Und
darum sagt er noch zu B., dem "Europäer, sozialistisch, wie heute
alle Europäer":
Und er hat nicht recht, nicht durchaus,
nicht endgültig. Er zeigt sich allzu hingerissen von der
Mutationskrise, die das Antlitz der Demokratie ins Sozialistische
verändern will. ... die Freiheit kann und soll niemals in
Gleichheit untergehen, und wir wollen den Wettstreit des Ungleichen als
Faktor des menschlichen Fortschritts nicht unterschätzen."
Aber es gibt das ohnehin nicht in Manns Wirklichkeit, dieses eindeutige
Monopol der Gleichheit vor der individuellen Freiheit. Die Sowjetunion,
programmatisch der Gleichheit verpflichtet, zeigt ihm das:
Das sozialistische Rußland ist
weit entfernt, die Menschen als gleich zu erachten und dem einen an
Ehre und Einkommen nicht mehr zu gewähren, als dem anderen. Es
kennt keine Rangordnung der Rassen und Klassen, der Hautfarbe und des
Glaubens, es kennt nur den Sowjetbürger und gewährt jedem den
gleichen Start. Aber die menschliche Ungleichheit, die Rangordnung der
Individuen zu leugnen, kommt auch dem Bolschewismus nicht in den Sinn,
und auch ihm heißt Gerechtigkeit, selbst im Wirtschaftlichen,
nicht "Allen das Gleiche", sondern "Jedem das Seine".
An die Stelle der Sowjetunion, für die dies offenbar auch
weitgehend nur Theorie war, ist nun inzwischen nicht ein Weltstaat
getreten, der "jedem den gleichen Start" gewähren würde,
sondern ein System globaler Märkte, in dem mehr als die
Hälfte der hundert weltweit größten und
einflussreichsten Einheiten ("economies") schon seit Jahren nicht
"Staaten" sind, deren Regierende zumindest theoretisch das allgemeine
Wohl verfolgen müssten und in deren Verfassungen Menschenrechte
verankert sind.
Alle Probleme um die heute die
Menschheit sich müht, die politischen, ökonomischen und
kulturellen, lassen sich zurückführen auf das eine: ein
neues, der Weltstunde angemessenes Gleichgewicht von Freiheit und
Gleichheit zu finden; das Völker- und Staatenleben in einen
Sozialismus überzuführen, der die Rechte des Individuums, den
Wert des Ungleichen zu ehren weiß. Die Nationalkulturen, in denen
das Menschliche sich farbig bricht, und denen der liberale Humanismus
so viel Liebe zuwandte, brauchen nicht zu verblassen und zu sterben in
der Weltzivilisation der Zukunft. "One World", das muß nicht
Langeweile heißen und "Friede" nicht Bewegungslosigkeit und die
Zufriedenheit der wiederkäuenden Kuh. Die Einheit sei vielfach und
charaktervoll in ihrem Streben, der Friede ein schöpferischer
Wetteifer um das Gute.
Damit endet der Text. Die Leser der Lagerzeitung werden bald nach
Deutschland oder Österreich zurück gehen, in die
US-amerikanische, die französische, englische oder sowjetische
Zone. Vier Jahre später wird es zwei deutsche Staaten geben und
die Zeitschrift, in der dieser Text nochmals abgedruckt wurde, wird
dann wegen zu hoher Kosten und einem durch die politische Entwicklung
stark eingeschränkten Markt eingestellt. Die "Anmeldung der
klassenlosen Gesellschaft" wird zu einem regionalen Phänomen, wo
sich eine "neue Klasse" entwickeln wird, die schließlich auch
kapituliert. Dann wird der freie, aber nicht gleiche Fluss von Kapital
und Information überallhin auf dem Globus schneller und
wahrscheinlich nachhaltiger Besonderes zum Verschwinden bringen, als
dies Eroberer früher konnten, auch ohne die Sorge, dass "Jedem das
Seine" zusteht.
Ungefähr da befinden wir uns und wir können unter den Utopien
des vorigen Jahrhunderts verzeichnen, dass da einmal jemand davon
geträumt hat, "das Völker- und Staatenleben in einen
Sozialismus überzuführen, der die Rechte des Individuums, den
Wert des Ungleichen zu ehren weiß". Oder ist das ganz aktuell und
müsste nur verfolgt werden? Hat nicht der britische Premier, als
er im September 2001 Großbritanniens Engagement in einem "Krieg
gegen den Terrorismus" verkündete, auch ein Kriegsziel genannt:
eine Welt, in der alle Menschen die wirtschaftliche und soziale
Freiheit haben werden, ihre Anlagen voll zu entwickeln "von den
Wüsten Nordafrikas zu den Slums von Gaza und den Bergen
Afghanistans", eine gerechte Welt für alle? Nach den ersten Jahren
dieses Kriegs, der damals auf zehn Jahre veranschlagt wurde, ist nicht
viel davon zu bemerken.
Zum Seitenanfang Mathias
Thaler:
Der Rahmen der Vorlesung ist von Franz Wimmer als "Zeitalter der
Letztbegründungen" benannt
worden (vgl. 1.
VO). Was können wir darunter
verstehen?
Ich werde ein wenig sagen zur Frage, was eine Letztbegründung ist
und was Letztbegründung im speziellen für die Philosophie
bedeuten kann. Das wird aber eine sehr allgemeine Einleitung zu unserem
Thema sein.
Probieren wir es mit einer ersten Definition:
"Eine Letztbegründung ist ein
Sprechakt, durch den ein Wert oder eine Institution so legitimiert
werden, dass keine weitere Infragestellung mehr möglich ist."
Ich werde diese Definition jetzt nicht so zerlegen, dass alle Teile
gleich verständlich werden, sondern zwei Beispiele für
Letztbegründungen geben. Wichtig an der Definition ist aber
jedenfalls der Ausdruck "Sprechakt". Damit ist gemeint, dass wir
sprachlich etwas tun, wenn wir Begründungen anstellen. Wir stellen
nicht bloß fest, dass dieser oder jener Sachverhalt zutrifft,
sondern wir vollziehen eine sprachliche Handlung.
1. Beispiel: "Weil ich es sage!"
"Weil ich es sage!" kann eine
Letztbegründung sein für ein kleines Kind. Seine Mutter sagt
ihm das auf die Frage, warum es nicht mehr Schokolade essen darf vor
dem Abendessen. Damit ist die Diskussion auch schon beendet, wenn das
kleine Kind dann noch nachfragt: "Aber warum sagst Du das?", dann ist
es ganz einfach renitent und muss wohl eine Bestrafung erwarten.
2. Beispiel: "Weil es in dem Buch steht!"
"Weil es in dem Buch steht!" ist eine
Letztbegründung, die etwa sehr häufig in den drei
abrahamitischen monotheistischen Religionen vorkommt. Die Legitimation
eines Werts oder einer Institution wird aus einer Quelle abgeleitet.
Diese Quelle in Frage zu stellen, ist keine sinnvolle Operation
innerhalb dieser Religionen. Das kann man nur von außerhalb
probieren.
Wie wir an beiden Beispielen sehen könne, geht es bei
Letztbegründung um Autorität. Einmal ist es die
Autorität der Sprecherin, das andere Mal die Autorität des
Buches, die einen Wert oder eine Institution legitimiert.
Natürlich kann man diese Beispiele weiter befragen, z. B.
dahingehend, wer der Adressat der Letztbegründung ist: Im ersten
Fall, in der Erziehungssituation, ist es ein bestimmtes Kind, das mit
der Autorität seiner Mutter konfrontiert ist. Diese Autorität
wird wohl schwinden, oder sich jedenfalls verändern, wenn sich die
Situation für die Sprecherin ändert, z. B. im Büro oder
auf der Straße. Im Umgang mit anderen Menschen wird die
Sprecherin nicht dieselbe Autorität beanspruchen können wie
im Umgang mit ihrem Kind. Der sprachliche Kontext ist also ganz
entscheidend dafür, welche Ansprüche wem gegenüber
überhaupt platziert werden können.
Das andere Mal ist es die Gemeinschaft der Gläubigen, die es mit
der Autorität des Buches zu tun bekommt. Das Buch hat nämlich
noch eine andere Funktion als diejenige der Letztbegründung, und
das ist die Funktion der Identitätsbildung. Die Gruppe der
Gläubigen lässt sich also auch beschreiben, indem man sagt:
Das sind diejenigen, die an die Letztbegründungsautorität des
Buches glauben. Diese Gruppe kann universell sein, sich über den
ganzen Globus erstrecken, aber sie muss es nicht. Es ist immer
möglich, dass jemand sagt: Nein, ich akzeptiere die Autorität
des Buches nicht, und darum werde ich auch nicht die
Letztbegründung dieses Wertes oder jener Institution akzeptieren.
Identitätsbildung und Letztbegründung bewegen sich also wie
ein Zirkel.
Jetzt sollten wir uns fragen, ob das Modelle für
Letztbegründungen in der Philosophie sind oder sein dürfen.
Operiert die Philosophie mit dieser Form von Autorität, wenn sie
Letztbegründungen anstrebt? Unser erster Impuls ist offenbar, zu
sagen: gewiss nicht. Die Philosophie verlässt sich weder auf die
Autorität der Sprecherin, noch auf die Autorität eines oder
mehrerer Bücher, wenn sie etwas zu begründen sucht. Die
Philosophie operiert anders, wenn sie denn Philosophie sein will.
Wir können das auch umkehren und behaupten: Sofern jemand meint,
die Autorität der Philosophie liege lediglich im Sprechenden oder
in einem oder mehreren Texten, dann ist das wohl eine Aussage, die in
irgendeiner Weise gegen die Philosophie gerichtet ist. Dann will diese
Person sagen, dass der Anspruch der Philosophie, eine andere
Autorität als diejenige des Sprechenden oder des Textes alleine zu
etablieren, gescheitert ist. Aber dieser Kritiker würde doch
eingestehen, dass die Philosophie irgendwann einmal diesen autonomen
Anspruch erhoben hat, daran aber kläglich zugrunde gegangen ist.
Was könnte dieser Anspruch der Philosophie sein?
Ein ganz nahe liegender Zugang zu dieser Frage wäre, dass wir uns
einen historischen Kontext anschauen, in dem die Philosophie mit
besonderer Konsequenz ihre Autorität behaupten wollte: das ist
natürlich die Epoche der Aufklärung. Ich will hier nicht ins
Detail gehen, das wäre absurd, aber eine Weise, den Anspruch der
Philosophie auf Letztbegründung zu behaupten, bestand in der
Aufklärung darin, eine bestimmte menschliche Qualität zum
höchsten Maßstab des Urteilens zu erheben. Diese
Qualität war in der Aufklärung und ist bis heute vielmals:
die Vernunft
Ich möchte ein berühmtes Zitat bringen, das Sie vielleicht
schon einmal gehört haben:
"Unser Zeitalter ist das eigentliche
Zeitalter der Kritik. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung
durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen.
Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können
auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur
demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung
hat aushalten können."
Ich habe hier nicht die Zeit, diesen sehr komplexen Satz ein wenig zu
analysieren, aber schon beim ersten Mal lesen, wird einem doch klar,
dass es in dieser Passage auch um Autorität geht. Da kämpfen
verschiedene Mächte um die Vorrangstellung, es geht um Bewilligung
und Prüfung, wie in einem Gerichtshof: Wer darf reden, wer darf
was aussprechen, wer hat das Recht zu urteilen? Die Kirche sowie
der Fürst haben ihre Autorität traditionell entweder mit dem
Buch oder mit der Person begründet. Doch Kant sagt an dieser
Stelle: Diese Zeit ist vorbei, weil beide Mächte verblassen
angesichts einer neuen Macht, die gerade erst im Entstehen ist und alle
anderen schon jetzt überragt: der Vernunft.
Nun ist es bestimmt nicht abwegig, zu sagen, dass wir es hier mit einer
Letztbegründung zu tun haben, die ein besonderes Kennzeichen der
Philosophie ist. Bei Kant ist die Vernunft etwa insofern die Instanz
der Letztbegründung, als die gesamte Moralphilosophie auf der
Fähigkeit rationalen Handelns und Anerkennens beruht. Wir
müssen aber nicht in diese Richtung weitergehen, um den Punkt zu
verstehen, um den es hier geht:
Der Anspruch der Philosophie auf Letztbegründung besteht weder in
der außergewöhnlichen Stellung der Sprecherin oder des
Autors oder der Exzellenz eines Textes, sondern in der Aufdeckung eines
wesentlichen Merkmals menschlicher Existenz, das dann sozusagen von
selbst die Letztbegründung vornimmt. Bei der Vernunft ist das ganz
einsichtig, weil es nämlich keine äußerlichen
Autoritäten wie eben die Kirche oder den Fürsten mehr
braucht, um diesen Wert oder jene Institution abzusichern.
Deshalb können wir als einen dritten Fall von Letztbegründung
nennen:
3. Beispiel: "Weil es Deine Vernunft gebietet!"
"Weil es Deine Vernunft gebietet!" ist
eine Letztbegründung, die ihre Quelle gleichsam im Inneren des
Menschen, man kann auch sagen: in seiner Natur hat. Und auch der Kreis
der Adressaten sieht anders aus als bei den Beispielen, die ich zuvor
gegeben habe. Um den Imperativ, die Macht dieses Sprechakts zu
verstehen und umzusetzen, muss man der Idee nach weder die
Autorität des Sprechenden noch diejenige des Textes akzeptieren.
Der Name "Kant" soll theoretisch nichts dazu beitragen, dass wir diese
Letztbegründung als gültig übernehmen. Die Rede von der
Natur hat nämlich eine automatische Tendenz, allumfassend zu sein.
Alle Menschen sind angesprochen, wenn an die Vernunft appelliert wird,
sofern der Mensch zuvor als ein primär vernunftbegabtes Wesen
definiert wurde. In der fachlichen Terminologie der Philosophie sagen
wir, dass eine solche Art von Letztbegründung universalistisch ist.
Ich will jetzt wieder zu der eigentlichen Epoche dieser Vorlesung
zurückkehren, dem 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der
"Letztbegründungen". Wir haben jetzt hoffentlich eine Vorstellung
davon, was Letztbegründungen sein können und werden in den
folgenden Vorlesungen Fälle besprechen, die für das letzte
Jahrhundert charakteristisch waren. Ich will hier keinem Themenkomplex
vorgreifen, aber nur so viel sagen, dass man natürlich von einer
Dialektik, von widersprüchlichen Bewegungen ausgehen muss. Wie wir
sehen werden, war das Jahrhundert der Letztbegründungen auch ein
Jahrhundert der Krisen, in dem verschiedene Letztbegründungen mit
einander kollidiert sind. Aber nicht nur das, sondern es war auch ein
Jahrhundert, in dem die Vorstellung, es könne überhaupt so
etwas wie eine Letztbegründung geben, verdächtig geworden
ist. Dieser Aspekt wird uns wohl am Ende des Semesters am meisten
interessieren, aber er scheint mir doch schon zu Beginn, mit Nietzsche,
ganz zentral zu sein.
Im 20. Jahrhundert gibt es viele Leute, die sagen: Alle historischen
Letztbegründungen sind auf die eine oder andere Weise gescheitert.
Das hat natürlich mit den realen Ereignissen zu tun, den beiden
Weltkriegen vor allem. Manche haben von dieser Diagnose ausgehend in
eine positive Richtung weitergedacht und versucht, eine neue Form von
Letztbegründung zu schaffen, die auf die Katastrophen den 20.
Jahrhunderts abgestimmt ist.
Andere waren pessimistisch eingestellt und meinten, dass mit dem Ende
der Letztbegründung auch das Ende aller Moral und irgendwie auch
das Ende aller Philosophie verbunden sei. Wieder andere schöpften
gerade aus der Tatsache, dass sämtliche Letztbegründungen
gescheitert sind, Hoffnung für das Projekt der Philosophie. Ihrer
Ansicht nach ist genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Philosophie
aus dem Bann der Letztbegründungsansprüche zu befreien und
mit anderen Aufgaben zu betrauen.
Wir sehen also, es gibt hier viel Platz für Unterschiede, und um
diese Unterschiede wird es in den folgenden Vorlesungen auch gehen.