Universität Wien

Wimmer: Vorlesung SS 2006
180 144 Philosophie im 20. Jahrhundert

2. Vorlesung 14. März 2006: Einleitung in das Thema - zum Begriff von Philosophie und Philosophiehistorie

Vgl. auch die folgenden Themen aus der 2. VO im WS 05/06:


Zum Begriff der Philosophie

Der Text dieses Abschnitts wird in der Vorlesung paraphrasierend vorgetragen. Ich entnehme ihn meinem Buch:
Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie - Eine Einführung. Wien: WUV 2004, S. 26ff und 76f

"Das Projekt der Philosophie im allgemeinen wird hier verstanden als der Versuch, in grundlegenden Fragen zu Einsichten zu gelangen, diese angemessen auszudrücken und somit einer intersubjektiven Prüfung zugänglich zu machen.

Bezüglich des Inhalts kann Philosophie ausgehend von einem (okzidental) traditionellen Verständnis damit charakterisiert werden, dass es sich um die Behandlung von ontologischen oder erkenntnistheoretischen oder wert- und normentheoretischen Fragen handelt. Es geht somit entweder um die Frage, was wirklich ist; oder darum, was erkennbar ist; oder drittens um die Begründung von Normen und Werten. Werden Antworten auf solche Fragen mit Mitteln des Denkens gesucht, so können wir von Philosophie in einem aus der okzidentalen Geschichte vertrauten Sinn sprechen und zwar auch dann, wenn einzelne Mittel des Erkennens, des Ausdrückens und der Kommunikation entsprechender Ideen vollkommen anders als in dieser Tradition sein sollten.
Einzelne Traditionen oder Epochen legen mehr oder weniger Gewicht auf die eine oder die andere dieser Fragestellungen, aber wenn wir bereit sind, Bemühungen, auch nur eine davon zu klären, unserem Begriff von Philosophie zuzuordnen, so dürften damit zumindest sehr viele, wenn nicht alle Denktraditionen darunter fallen, die auch noch ein formales Kriterium erfüllen, das lautet: Philosophie sucht Antworten auf die genannten Grundfragen, indem sie Begriffe definiert, Argumente entwickelt, Methoden des Erkenntnisgewinns und der Irrtumsvermeidung reflektiert.
Eben so wenig wie bei den inhaltlichen Kennzeichnungen handelt es sich bei diesem formalen Kriterium um ein Merkmal, das etwa auf die okzidentale Denktradition beschränkt wäre. Vielmehr finden sich entsprechende Entwicklungen in Traditionen mehrerer Gesellschaften, die ihre bis heute weiter wirkenden weltbildlichen und moralischen Orientierungen vor langer Zeit herausgebildet haben, wenn man auch nicht annehmen muss, dass dies in jeder menschlichen Gesellschaft der Fall gewesen ist.
Wir werden also sagen, dass Philosophie weder die einmalige Leistung einer einzigen kulturell abgrenzbaren Tradition, noch dass sie in buchstäblich allen kulturellen Traditionen auffindbar ist. Zumindest in mehreren achsenzeitlichen Gesellschaften Eurasiens, aber auch in islamischen, afrikanischen und vermutlich in amerikanischen Gesellschaften der präkolumbianischen Zeit sind sehr allgemeine, bislang nicht immer ausreichend rekonstruierte Reflexionen vorgetragen worden, die als Philosophie im angegebenen Sinn aufzufassen sind." (Interkulturelle Philosophie 2004, S. 26-27)
Vgl. zu dieser Frage die Vorlesung "Interkulturelle Philosophie")
Im genannten Buch werden dann mehrere Herangehensweisen an Philosophie beschrieben und diese Disziplin von Wissenschaft, von Kunst und von Religion abgegrenzt.

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Zum Begriff der Philosophiehistorie

Im Zusammenhang mit der gegenwärtigen Vorlesung ist insbesondere noch das Verhältnis von Philosophie zu deren Geschichte zu klären. Ich entnehme wieder dem genannten Buch:
"Die Entwicklung einer separaten Geschichtsschreibung von Philosophie in Europa war ein Phänomen der Neuzeit.  Seit dem Ende der griechisch-römischen Antike bis in die Zeit des europäischen Buchdrucks werden so gut wie keine historischen Darstellungen der Philosophie in lateinischer oder arabischer Sprache verfasst. Was die Vergangenheit der Philosophie anbelangt, so scheinen weder muslimische noch christliche Offenbarungsgläubige daran interessiert gewesen zu sein, sie als Entwicklung des menschlichen Geistes oder auch nur um der Wissbegierde willen darzustellen, was im antiken Griechenland durchaus Gegenstand von Darstellungen gewesen war. In der europäischen Neuzeit entstehen jedoch Werke, in denen die Vergangenheit der Philosophie als besonderer Gegenstand mit einer eigenen Methode, mit spezifischen Begriffen und – zumindest in einem Fall – sogar mit einer eigenen Zeitrechnung dargestellt wird.
(Vgl. zur Geschichte der Philosophiegeschichtsschreibung das Skriptum zu diesem Thema.)
In ganz anderer Weise wurde die Vergangenheit des Denkens in der chinesischen Geschichtsschreibung behandelt, wo sie stets in die allgemeine Geschichte eingebunden blieb. Das erste jener Werke, die als "Standardgeschichte" rangieren, das Geschichtswerk des Sima Qian aus der frühen Han-Zeit, gibt dafür das Vorbild ab. Darin werden  die Denkerschulen und einzelne ihrer Vertreter dargestellt; es werden ihre Lehren und Differenzen diskutiert, aber sie werden nicht aus dem Zusammenhang der jeweiligen "Dynastie", die eine solche Standardgeschichte behandelt, herausgenommen und gesondert behandelt.
Aus der indischen Literatur sind nur sehr wenige Werke bekannt, die als philosophiehistorische Darstellungen gelten können, und diese sind in hohem Grad problemgeschichtlich bzw. systematisch durchgeführt.  Darin finden sich also keine chronologischen oder entwicklungsgeschichtlichen Gesichtspunkte, sondern die Abfolge der Darstellung geht nach logischen Gesichtspunkten vor, indem zuerst diejenigen Schulen behandelt werden, die am weitesten von der für richtig gehaltenen Auffassung entfernt sind. Nachdem deren entscheidende Irrtümer widerlegt sind, werden schrittweise alle bekannten anderen Schulen in der gleichen Weise dargestellt und behandelt.
Eines der wesentlichen Merkmale dieser neuen Disziplin in Europa war ihre Orientierung an der ersten methodisch entwickelten Wissenschaft der Neuzeit – an der Philologie. Diese konzentrierte sich auf eine kritische Behandlung von schriftlich fixierten Texten, nicht von oralen Traditionen. Somit wurde die Philosophiehistorie der europäischen Neuzeit zu einer textkritischen, auf schriftlichen Dokumenten beruhenden Geschichtsschreibung. Es dauerte vergleichsweise lange, bis sie eine zunächst in Europa leitende Idee wie diejenige von einer Urphilosophie (die dem Adam im Paradies oder zumindest der Zeit vor der biblischen Sintflut zugeschrieben wurde) eben mit der Begründung verwarf, dass dafür die ausreichenden schriftlichen Quellen fehlten. Das geschah erst in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Zu Beginn der Neuzeit hatten Europäer noch ganz selbstverständlich von einer Philosophie der Chaldäer, der Ägypter, der Druiden usw. gesprochen. Später erst wurde der Ausdruck "abendländische" oder "europäische Philosophie" zunehmend gleichgesetzt mit "Philosophie" überhaupt und deren "Ursprung" bei den ionischen Naturphilosophen bzw. den Pythagoreern allgemeine Auffassung.
Vgl. dazu wieder das Skriptum, zur 4. Vorlesung über Geschichte der Philosophiehistorie in der frühen Neuzeit
Die Beschreibung und Erklärung der Geschichte dieser abendländischen Philosophie gewann in einzelnen Denkrichtungen der Neuzeit eine derart überragende Bedeutung, dass manchmal sogar ihre Gleichsetzung mit Philosophie selbst  plausibel scheinen konnte." (Interkulturelle Philosophie 2004, S. 76-77)
Eine solche Gleichsetzung ist als problematisch anzusehen. Weder reduziert sich Philosophie auf eine Auseinandersetzung mit früherem philosophischen Denken, noch kann sie völlig unabhängig davon betrieben werden.
Tatsächlich ist das Verhältnis von Philosophiehistorie (also der Beschreibung der Geschichte des Philosophierens) zur Philosophie selbst komplex:
Vgl. zum Begriff von Philosophiehistorie ausführlicher Kapitel 3 in "Interkulturelle Philosophie" 2004

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Literaturhinweise zur Theorie und Geschichte der Philosophiehistorie


Braun, Lucien: Geschichte der Philosophiegeschichte. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990 (EA frz. 1973).

Brentano, Franz Clemens: Die vier Phasen der Philosophie. Leipzig: Meiner. 1926 (EA 1895).

Collins, Randall: The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change. Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ. Pr. 2000.

Dilthey, Wilhelm: Die Versuche, die Gliederung der Geschichte der Philosophie aufzufinden. In: Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften. Berlin: Teubner, Bd. VIII, 1931. S. 121-139.

Flasch, Kurt: Theorie der Philosophiehistorie (= Bd. 2 von "Philosophie hat Geschichte"). Frankfurt/M.: Klostermann. 2005.

Oiserman, T. I.: Probleme der Philosophie und der Philosophiegeschichte. Berlin: Dietz. 1972.

Santinello, Giovanni; Gregorio Piaia: (Hg.) Storia delle Storie Generali della Filosofia. 1979 ff

Schneider, Ulrich Johannes: Die Vergangenheit des Geistes. Eine Archäologie der Philosophiegeschichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp. 1990.

Wimmer, Franz Martin: Geschichte der Philosophiehistorie. Wien: ÖH, 1994. (Als Skriptum vergriffen, im Internet abrufbar)

Eine ausführlichere Liste mit Arbeiten zu diesem Thema, die nach 1900 erschienen sind, finden Sie hier

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"Welt-Zivilisation": Überlegungen von Thomas Mann um die Mitte des 20. Jahrhunderts

Alle Zitate in diesem Abschnitt nach:
Thomas Mann: Welt-Zivilisation. In: Kantorowicz, Alfred (Hg.): Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit. 1947. Jg. 1, Nr. 2, S. 3-6. Vollständiger Nachdruck: Königstein/Ts.: Athenäum 1979, Bd.1.

Die Dezemberausgabe der Zeitung im Lager für deutsche Kriegsgefangene in Papago Park, Arizona, erschien 1945 mit einem Vorwort von Thomas Mann, das er mit "Freude" geschrieben und mit "Welt-Zivilisation"  betitelt hat. Er legt darin "ein paar Gedanken zu dem wohl brennendsten Problem unserer Tage, dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft" vor.
Zuerst vergleicht Mann Roosevelt mit Cäsar, denn beide hätten raumschaffend weit gedacht zu ihrer Zeit, und erinnert an
ein Wort, das Roosevelt während des Krieges sprach, und das ich auch in meinen Radiosendungen nach Deutschland einmal zitiert habe: "Der alte Ausdruck 'westliche Zivilisation'," sagte er, "paßt nicht mehr. Die Weltereignisse und die gemeinsamen Notwendigkeiten der Menschheit sind im Begriff die Kulturen Asiens, Europas und der beiden Amerika zu vereinigen und, zum erstenmal, eine Welt-Zivilisation zu formen."
Kein "Kampf der Kulturen" also, sondern ihre "Vereinigung", aber wie bei Huntington wird auch von Roosevelt Afrika nicht erwähnt und man kann sich fragen, was "die Kulturen Asiens" umgreifen. Aber, sagt Mann: "Welt-Zivilisation. Ein cäsarisches Wort. Und ein Wort groß gedachter Demokratie ..." Woran denkt er? Welche Demokratie? Er denkt an eine Notwendigkeit:
"Ohne das Chaos herbeizurufen kann die Menschheit nicht länger die wechselseitige Abhängigkeit ihrer Gruppen voneinander verleugnen, diesen sogar schon ökonomischen Tatbestand ..."
Nun aber erhebt sich gegen diese Vereinigung aus wechselseitiger Abhängigkeit ein Einwand: das Besondere wird nivelliert, uniformiert:
"es wäre ja kein Wunder, wenn das Individuum, die Nation, das Persönliche, kurz: das Verschiedene ihre Wünsche, ja ihren Protest anmeldeten gegen die völlige Einebnung der Welt durch die Diktatur eines uniformen Vernunft-Moralismus."
Mann stellt sich einen Disput zwischen einem Multikulturalisten (A) und einem Universalisten (B) vor. Der Multikulturalist (Mann benennt die beiden nicht) verteidigt die Vielfalt:
A.: "Unterschiede der Rasse, der Farbe, der Klasse, der Tradition und des Bekenntnisses sind unvermeidlich durch die Natur der Dinge, und der Wettstreit verschiedenartiger Gruppen, Einrichtungen und Ideen ist lebenswichtig für die menschliche Entwicklung. Wenn wir nur Frieden halten, nur Duldsamkeit üben, nur nicht glauben, daß einem allein die Wahrheit gehört, so ist Verschiedenheit viel besser und förderlicher als die Unterwerfung aller unter eine Idee, denn das heißt Reglementierung und Tyrannei."
"Ich glaube, du übertreibst die Bedeutung der Ungleichheit und des Wettkampfes für den menschlichen Fortschritt," sagt der Universalist, denn beiden geht es um dasselbe: um den "Fortschritt", zu dem wir heute "nachhaltige Entwicklung" sagen würden. Nur daran wollen sie messen, was Vielfalt oder Einheitlichkeit wert sind.
B.: "Der Kampf als Mittel der Auslese und Höherbildung ist ein darwinistisches Vorurteil, dessen Wert für das Leben nicht einmal in rein biologischer Sphäre unbezweifelt ist. Im Menschlichen hat es erst recht keine Geltung. Es genügt vollkommen, die Gegensätze und den Wettstreit als Tasachen [sic!] anzuerkennen, ohne sie moralisch zu bejahen und ihnen ewige Unvermeidlichkeit zuzusprechen. Die Verschiedenheit der sozialen Klassen zum Beispiel ist keineswegs eine natürliche Gegebenheit, eine klassenlose Gesellschaft vielmehr durchaus denkbar. Gewiß, die Toleranz verlangt, daß man Glaubensunterschiede respektiert. Aber schon Leonardo da Vinci hat vorausgesagt, daß in dem Maß, wie die Wahrheit besser bekannt werde, allgemeine Übereinstimmung an die Stelle der partikulären Meinungen treten werde. Einem jeden seine eigene Wahrheit anheimgeben, auch in moralischen und religiösen Dingen, das heißt soviel wie die Wahrheit selbst leugnen."
Die beiden sind heute immer noch am Disputieren. Ihre regionale Herkunft verschiebt sich gelegentlich. Mann würde "zunächst der Vermutung Ausdruck geben, daß A. ein Amerikaner, B. aber ein Europäer, wahrscheinlich ein Franzose ist." Heute könnte jemand sogar die umgekehrte Vermutung haben.
Und dann würde Mann als Schiedsrichter "etwa Folgendes sagen":
Solche Auseinandersetzungen gründen in der logischen Widersprüchlichkeit, die zwischen den Hauptelementen der Demokratie, Freiheit und Gleichheit, dem liberalen Prinzip also und dem sozialistischen besteht. Was wir Demokratie nennen, ist eben der menschliche Ausgleich zwischen diesen beiden widersprechenden Forderungen: Freiheit und Gleichheit; zwischen den anarchischen Tendenzen, die der Idee der Freiheit, und den Gefahren des Despotismus, die der Idee der Gleichheit eingeboren sind. An dem Glauben an eine absolute, für alle gültige Wahrheit müssen wir freilich festhalten. Aber die Wahrheit ist nicht immer dieselbe oder sieht nicht immer gleich aus. Es gehen in ihrem Bilde Veränderungen vor, die aufmerksam zu beachten und denen Rechnung zu tragen die Sache menschlicher Klugheit ist. Die Wahrheit ist lebendig, i.e. dem Wechsel unterworfen, und das ist auch die Demokratie.
Wenn man nun aber nicht beides zugleich haben kann, sind dann die "anarchischen Tendenzen" oder der "Despotismus" die größere Gefahr? Wer von beiden hat Recht? 1945 war für Thomas Mann die Sache klar:
B., der Europäer, sozialistisch, wie heute alle Europäer, hat recht: Die Gleichheit ist heute der Demokratie ein wichtigeres Anliegen, als die Verschiedenheit. Ihr Wille geht nicht sowohl auf die Verherrlichung des Individuellen, Persönlichen, Eigentümlichen, Nationalen und seiner Souveränität, als auf Einordnung; und Einordnung heißt Reglementierung, soziale Reglementierung der Freiheit. Besonders noch hat er recht mit seiner Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft, denn die ist nicht nur eine theoretische Möglichkeit, sondern sie ist in allem Praktischen auf dem besten Wege, sich zu verwirklichen.
Das klingt nun merkwürdig entlegen. Konnte Mann sich denn nicht vorstellen, dass eine globalisierte Marktwirtschaft ganz ohne "Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft" auch zu "Einordnung" und "Reglementierung" führen kann, allerdings unter anderen Herrschaften als nur den klassisch Regierenden? Nein, konnte er wohl nicht. Seine Instanz der Reglementierung ist der klassische Staat. Und darum sagt er noch zu B., dem "Europäer, sozialistisch, wie heute alle Europäer":
Und er hat nicht recht, nicht durchaus, nicht endgültig. Er zeigt sich allzu hingerissen von der Mutationskrise, die das Antlitz der Demokratie ins Sozialistische verändern will. ... die Freiheit kann und soll niemals in Gleichheit untergehen, und wir wollen den Wettstreit des Ungleichen als Faktor des menschlichen Fortschritts nicht unterschätzen."
Aber es gibt das ohnehin nicht in Manns Wirklichkeit, dieses eindeutige Monopol der Gleichheit vor der individuellen Freiheit. Die Sowjetunion, programmatisch der Gleichheit verpflichtet, zeigt ihm das:
Das sozialistische Rußland ist weit entfernt, die Menschen als gleich zu erachten und dem einen an Ehre und Einkommen nicht mehr zu gewähren, als dem anderen. Es kennt keine Rangordnung der Rassen und Klassen, der Hautfarbe und des Glaubens, es kennt nur den Sowjetbürger und gewährt jedem den gleichen Start. Aber die menschliche Ungleichheit, die Rangordnung der Individuen zu leugnen, kommt auch dem Bolschewismus nicht in den Sinn, und auch ihm heißt Gerechtigkeit, selbst im Wirtschaftlichen, nicht "Allen das Gleiche", sondern "Jedem das Seine".
An die Stelle der Sowjetunion, für die dies offenbar auch weitgehend nur Theorie war, ist nun inzwischen nicht ein Weltstaat getreten, der "jedem den gleichen Start" gewähren würde, sondern ein System globaler Märkte, in dem mehr als die Hälfte der hundert weltweit größten und einflussreichsten Einheiten ("economies") schon seit Jahren nicht "Staaten" sind, deren Regierende zumindest theoretisch das allgemeine Wohl verfolgen müssten und in deren Verfassungen Menschenrechte verankert sind.
Alle Probleme um die heute die Menschheit sich müht, die politischen, ökonomischen und kulturellen, lassen sich zurückführen auf das eine: ein neues, der Weltstunde angemessenes Gleichgewicht von Freiheit und Gleichheit zu finden; das Völker- und Staatenleben in einen Sozialismus überzuführen, der die Rechte des Individuums, den Wert des Ungleichen zu ehren weiß. Die Nationalkulturen, in denen das Menschliche sich farbig bricht, und denen der liberale Humanismus so viel Liebe zuwandte, brauchen nicht zu verblassen und zu sterben in der Weltzivilisation der Zukunft. "One World", das muß nicht Langeweile heißen und "Friede" nicht Bewegungslosigkeit und die Zufriedenheit der wiederkäuenden Kuh. Die Einheit sei vielfach und charaktervoll in ihrem Streben, der Friede ein schöpferischer Wetteifer um das Gute.
Damit endet der Text. Die Leser der Lagerzeitung werden bald nach Deutschland oder Österreich zurück gehen, in die US-amerikanische, die französische, englische oder sowjetische Zone. Vier Jahre später wird es zwei deutsche Staaten geben und die Zeitschrift, in der dieser Text nochmals abgedruckt wurde, wird dann wegen zu hoher Kosten und einem durch die politische Entwicklung stark eingeschränkten Markt eingestellt. Die "Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft" wird zu einem regionalen Phänomen, wo sich eine "neue Klasse" entwickeln wird, die schließlich auch kapituliert. Dann wird der freie, aber nicht gleiche Fluss von Kapital und Information überallhin auf dem Globus schneller und wahrscheinlich nachhaltiger Besonderes zum Verschwinden bringen, als dies Eroberer früher konnten, auch ohne die Sorge, dass "Jedem das Seine" zusteht.
Ungefähr da befinden wir uns und wir können unter den Utopien des vorigen Jahrhunderts verzeichnen, dass da einmal jemand davon geträumt hat, "das Völker- und Staatenleben in einen Sozialismus überzuführen, der die Rechte des Individuums, den Wert des Ungleichen zu ehren weiß". Oder ist das ganz aktuell und müsste nur verfolgt werden? Hat nicht der britische Premier, als er im September 2001 Großbritanniens Engagement in einem "Krieg gegen den Terrorismus" verkündete, auch ein Kriegsziel genannt: eine Welt, in der alle Menschen die wirtschaftliche und soziale Freiheit haben werden, ihre Anlagen voll zu entwickeln "von den Wüsten Nordafrikas zu den Slums von Gaza und den Bergen Afghanistans", eine gerechte Welt für alle? Nach den ersten Jahren dieses Kriegs, der damals auf zehn Jahre veranschlagt wurde, ist nicht viel davon zu bemerken.

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Mathias Thaler:
Der Rahmen der Vorlesung ist von Franz Wimmer als "Zeitalter der Letztbegründungen" benannt worden (vgl. 1. VO). Was können wir darunter verstehen?

Ich werde ein wenig sagen zur Frage, was eine Letztbegründung ist und was Letztbegründung im speziellen für die Philosophie bedeuten kann. Das wird aber eine sehr allgemeine Einleitung zu unserem Thema sein.
Probieren wir es mit einer ersten Definition:
"Eine Letztbegründung ist ein Sprechakt, durch den ein Wert oder eine Institution so legitimiert werden, dass keine weitere Infragestellung mehr möglich ist."
Ich werde diese Definition jetzt nicht so zerlegen, dass alle Teile gleich verständlich werden, sondern zwei Beispiele für Letztbegründungen geben. Wichtig an der Definition ist aber jedenfalls der Ausdruck "Sprechakt". Damit ist gemeint, dass wir sprachlich etwas tun, wenn wir Begründungen anstellen. Wir stellen nicht bloß fest, dass dieser oder jener Sachverhalt zutrifft, sondern wir vollziehen eine sprachliche Handlung.
1. Beispiel: "Weil ich es sage!"
"Weil ich es sage!" kann eine Letztbegründung sein für ein kleines Kind. Seine Mutter sagt ihm das auf die Frage, warum es nicht mehr Schokolade essen darf vor dem Abendessen. Damit ist die Diskussion auch schon beendet, wenn das kleine Kind dann noch nachfragt: "Aber warum sagst Du das?", dann ist es ganz einfach renitent und muss wohl eine Bestrafung erwarten.
2. Beispiel: "Weil es in dem Buch steht!"
"Weil es in dem Buch steht!" ist eine Letztbegründung, die etwa sehr häufig in den drei abrahamitischen monotheistischen Religionen vorkommt. Die Legitimation eines Werts oder einer Institution wird aus einer Quelle abgeleitet. Diese Quelle in Frage zu stellen, ist keine sinnvolle Operation innerhalb dieser Religionen. Das kann man nur von außerhalb probieren.
Wie wir an beiden Beispielen sehen könne, geht es bei Letztbegründung um Autorität. Einmal ist es die Autorität der Sprecherin, das andere Mal die Autorität des Buches, die einen Wert oder eine Institution legitimiert. Natürlich kann man diese Beispiele weiter befragen, z. B. dahingehend, wer der Adressat der Letztbegründung ist: Im ersten Fall, in der Erziehungssituation, ist es ein bestimmtes Kind, das mit der Autorität seiner Mutter konfrontiert ist. Diese Autorität wird wohl schwinden, oder sich jedenfalls verändern, wenn sich die Situation für die Sprecherin ändert, z. B. im Büro oder auf der Straße. Im Umgang mit anderen Menschen wird die Sprecherin nicht dieselbe Autorität beanspruchen können wie im Umgang mit ihrem Kind. Der sprachliche Kontext ist also ganz entscheidend dafür, welche Ansprüche wem gegenüber überhaupt platziert werden können.
Das andere Mal ist es die Gemeinschaft der Gläubigen, die es mit der Autorität des Buches zu tun bekommt. Das Buch hat nämlich noch eine andere Funktion als diejenige der Letztbegründung, und das ist die Funktion der Identitätsbildung. Die Gruppe der Gläubigen lässt sich also auch beschreiben, indem man sagt: Das sind diejenigen, die an die Letztbegründungsautorität des Buches glauben. Diese Gruppe kann universell sein, sich über den ganzen Globus erstrecken, aber sie muss es nicht. Es ist immer möglich, dass jemand sagt: Nein, ich akzeptiere die Autorität des Buches nicht, und darum werde ich auch nicht die Letztbegründung dieses Wertes oder jener Institution akzeptieren. Identitätsbildung und Letztbegründung bewegen sich also wie ein Zirkel.
Jetzt sollten wir uns fragen, ob das Modelle für Letztbegründungen in der Philosophie sind oder sein dürfen. Operiert die Philosophie mit dieser Form von Autorität, wenn sie Letztbegründungen anstrebt? Unser erster Impuls ist offenbar, zu sagen: gewiss nicht. Die Philosophie verlässt sich weder auf die Autorität der Sprecherin, noch auf die Autorität eines oder mehrerer Bücher, wenn sie etwas zu begründen sucht. Die Philosophie operiert anders, wenn sie denn Philosophie sein will.
Wir können das auch umkehren und behaupten: Sofern jemand meint, die Autorität der Philosophie liege lediglich im Sprechenden oder in einem oder mehreren Texten, dann ist das wohl eine Aussage, die in irgendeiner Weise gegen die Philosophie gerichtet ist. Dann will diese Person sagen, dass der Anspruch der Philosophie, eine andere Autorität als diejenige des Sprechenden oder des Textes alleine zu etablieren, gescheitert ist. Aber dieser Kritiker würde doch eingestehen, dass die Philosophie irgendwann einmal diesen autonomen Anspruch erhoben hat, daran aber kläglich zugrunde gegangen ist.

Was könnte dieser Anspruch der Philosophie sein?
Ein ganz nahe liegender Zugang zu dieser Frage wäre, dass wir uns einen historischen Kontext anschauen, in dem die Philosophie mit besonderer Konsequenz ihre Autorität behaupten wollte: das ist natürlich die Epoche der Aufklärung. Ich will hier nicht ins Detail gehen, das wäre absurd, aber eine Weise, den Anspruch der Philosophie auf Letztbegründung zu behaupten, bestand in der Aufklärung darin, eine bestimmte menschliche Qualität zum höchsten Maßstab des Urteilens zu erheben. Diese Qualität war in der Aufklärung und ist bis heute vielmals: die Vernunft
Ich möchte ein berühmtes Zitat bringen, das Sie vielleicht schon einmal gehört haben:
"Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik. Religion durch ihre Heiligkeit und Gesetzgebung durch ihre Majestät wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können."
Ich habe hier nicht die Zeit, diesen sehr komplexen Satz ein wenig zu analysieren, aber schon beim ersten Mal lesen, wird einem doch klar, dass es in dieser Passage auch um Autorität geht. Da kämpfen verschiedene Mächte um die Vorrangstellung, es geht um Bewilligung und Prüfung, wie in einem Gerichtshof: Wer darf reden, wer darf was aussprechen, wer hat das Recht zu urteilen?  Die Kirche sowie der Fürst haben ihre Autorität traditionell entweder mit dem Buch oder mit der Person begründet. Doch Kant sagt an dieser Stelle: Diese Zeit ist vorbei, weil beide Mächte verblassen angesichts einer neuen Macht, die gerade erst im Entstehen ist und alle anderen schon jetzt überragt: der Vernunft.
Nun ist es bestimmt nicht abwegig, zu sagen, dass wir es hier mit einer Letztbegründung zu tun haben, die ein besonderes Kennzeichen der Philosophie ist. Bei Kant ist die Vernunft etwa insofern die Instanz der Letztbegründung, als die gesamte Moralphilosophie auf der Fähigkeit rationalen Handelns und Anerkennens beruht. Wir müssen aber nicht in diese Richtung weitergehen, um den Punkt zu verstehen, um den es hier geht:
Der Anspruch der Philosophie auf Letztbegründung besteht weder in der außergewöhnlichen Stellung der Sprecherin oder des Autors oder der Exzellenz eines Textes, sondern in der Aufdeckung eines wesentlichen Merkmals menschlicher Existenz, das dann sozusagen von selbst die Letztbegründung vornimmt. Bei der Vernunft ist das ganz einsichtig, weil es nämlich keine äußerlichen Autoritäten wie eben die Kirche oder den Fürsten mehr braucht, um diesen Wert oder jene Institution abzusichern.
Deshalb können wir als einen dritten Fall von Letztbegründung nennen:
3. Beispiel: "Weil es Deine Vernunft gebietet!"
"Weil es Deine Vernunft gebietet!" ist eine Letztbegründung, die ihre Quelle gleichsam im Inneren des Menschen, man kann auch sagen: in seiner Natur hat. Und auch der Kreis der Adressaten sieht anders aus als bei den Beispielen, die ich zuvor gegeben habe. Um den Imperativ, die Macht dieses Sprechakts zu verstehen und umzusetzen, muss man der Idee nach weder die Autorität des Sprechenden noch diejenige des Textes akzeptieren. Der Name "Kant" soll theoretisch nichts dazu beitragen, dass wir diese Letztbegründung als gültig übernehmen. Die Rede von der Natur hat nämlich eine automatische Tendenz, allumfassend zu sein. Alle Menschen sind angesprochen, wenn an die Vernunft appelliert wird, sofern der Mensch zuvor als ein primär vernunftbegabtes Wesen definiert wurde. In der fachlichen Terminologie der Philosophie sagen wir, dass eine solche Art von Letztbegründung universalistisch ist.
Ich will jetzt wieder zu der eigentlichen Epoche dieser Vorlesung zurückkehren, dem 20. Jahrhundert, dem Zeitalter der "Letztbegründungen". Wir haben jetzt hoffentlich eine Vorstellung davon, was Letztbegründungen sein können und werden in den folgenden Vorlesungen Fälle besprechen, die für das letzte Jahrhundert charakteristisch waren. Ich will hier keinem Themenkomplex vorgreifen, aber nur so viel sagen, dass man natürlich von einer Dialektik, von widersprüchlichen Bewegungen ausgehen muss. Wie wir sehen werden, war das Jahrhundert der Letztbegründungen auch ein Jahrhundert der Krisen, in dem verschiedene Letztbegründungen mit einander kollidiert sind. Aber nicht nur das, sondern es war auch ein Jahrhundert, in dem die Vorstellung, es könne überhaupt so etwas wie eine Letztbegründung geben, verdächtig geworden ist. Dieser Aspekt wird uns wohl am Ende des Semesters am meisten interessieren, aber er scheint mir doch schon zu Beginn, mit Nietzsche, ganz zentral zu sein.
Im 20. Jahrhundert gibt es viele Leute, die sagen: Alle historischen Letztbegründungen sind auf die eine oder andere Weise gescheitert. Das hat natürlich mit den realen Ereignissen zu tun, den beiden Weltkriegen vor allem. Manche haben von dieser Diagnose ausgehend in eine positive Richtung weitergedacht und versucht, eine neue Form von Letztbegründung zu schaffen, die auf die Katastrophen den 20. Jahrhunderts abgestimmt ist.
Andere waren pessimistisch eingestellt und meinten, dass mit dem Ende der Letztbegründung auch das Ende aller Moral und irgendwie auch das Ende aller Philosophie verbunden sei. Wieder andere schöpften gerade aus der Tatsache, dass sämtliche Letztbegründungen gescheitert sind, Hoffnung für das Projekt der Philosophie. Ihrer Ansicht nach ist genau jetzt der Zeitpunkt gekommen, die Philosophie aus dem Bann der Letztbegründungsansprüche zu befreien und mit anderen Aufgaben zu betrauen.
Wir sehen also, es gibt hier viel Platz für Unterschiede, und um diese Unterschiede wird es in den folgenden Vorlesungen auch gehen.

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