Universität Wien


Wimmer: Vorlesung WS 2006/07
180386 Philosophie im 20. Jahrhundert

6. Vorlesung 14. November 2006:
Überblick 4. Periode (bis ca 1989)
Marxismus und Neomarxismus

Am heutigen Termin wurde besprochen:
Literaturübersicht
Beispiel einer Debatte:
Entfremdungsthema in den 1960er Jahren: | "Entfremdung" im Philosophie-Wörterbuch | "Entfremdung als (nur) historische Kategorie" |
Die Marxismusdiskussion auf dem XIV. Internationalen Philosophiekongress 1968 | "Revisionismus" 1968 |
Richtungsstreit im Marxismus ca 1970


Beispiele für philosophische und philosophisch relevante Literatur zwischen 1960 und 1989: pdf-File

Aus der in dieser Liste beispielhaft ausgewählten Buchtitel zu philosophischen Fragen mit Erscheinungsjahr zwischen 1930 und 1960 wurden in der Vorlesung einige Richtungen und Fragestellungen vorgestellt:

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Vorbemerkung:
Wenn ich die allgemeine Kennzeichnung für das Thema dieser Vorlesung so getroffen habe, dass es sich bei der "Philosophie im 20. Jahrhundert" um ein "Jahrhundert der Letztbegründungen" handelt (vgl. VO 1 und VO 2), so sind damit andere Benennungen nicht ausgeschlossen. Mit guten Gründen könnte es ebenso ein Jahrhundert der "Ideologien" genannt werden.
Um die Diskussion über eine der einflussreichsten Ideologien des Jahrhunderts, nämlich den Marxismus zu illustrieren, greife ich hier einen kurzen Zeitraum heraus (1960-er Jahre). Es sind in diesem Zusammenhang zwei Bemerkungen notwendig:
Zum Begriff der Ideologie und der Ideologiekritik vgl. das Skriptum zu meiner gleichnamigen Vorlesung 1994 (erhältlich im NIG-Shop)

"Entfremdung" als umstrittener Zentralbegriff:
1932 waren die "Frühschriften" von Karl Marx (1818-83) erstmals im Druck erschienen.
vgl. Siegfried Landshut, Hg.: Karl Marx. Die Frühschriften. Stuttgart: Kröner 2002 (7. Auflage)
Diese Texte aus den 1840-er Jahren wurden in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg in der Auseinandersetzung zwischen dem Marxismus-Leninismus und anderen Denkrichtungen (v.a. mit der Existenzphilosophie, dem Existentialismus und mit personalistisch-humanistischen Richtungen) sehr wichtig. Die Berufung auf den frühen Marx und die Entgegensetzung zu seinem späteren, auf die (National-)Ökonomie konzentrierten Werk verstand sich als Kritik am politisch etablierten Marxismus-Leninismus und wurde wiederum als solche bekämpft.

In einigen dieser Texte reflektiert der Linkshegelianer Marx auf die im Deutschen Idealismus entwickelte Problematik der "Entfremdung" des Menschen und sieht sie in mehrfacher Weise als gegeben an:
Die Frage ist, ob Marx hier vom "Menschsein" (als solchem, in irgendeiner Epoche und Gesellschaft) spricht, oder vom "Menschsein im Kapitalismus", oder mit anderen Worten, ob Entfremdung eine anthropologische Konstante oder eine "historische" (und damit auch überwindbare) Kategorie darstellt. An dieser Frage lässt sich das Selbstverständnis wie auch die Kritik am Marxismus-Leninismus der 1960-er Jahre verdeutlichen.

Einige kurze Zitate aus den marx'schen Frühschriften ("Pariser Manuskripte" 1844)können einen ersten Eindruck geben, worum es ging:

Denken wir bei solchen Passagen an überwindungsbedürftige und auch überwindbare (also: "historische") Sachverhalte, so ist eben die Frage, mit welchen Mitteln die Überwindung möglich ist; ob sie in den sozialistischen Ländern (der Sowjetunion, der DDR) auf Grund von deren Gesellschaftsordnung bereits geschieht oder wesentlich angestoßen ist; oder ob sie im maoistischen China und anderen Ländern besser verfolgt wird; usw.
Denken wir jedoch, Marx habe hier von der "condition humaine" (also "nicht-historischer" Bedingungen des Menschseins) gesprochen, so werden institutionelle, politische Mittel zur Herstellung der Gleichheit unter Menschen nicht nur nicht ausreichen, sie werden sogar schaden, wenn es um die Selbstverwirklichung des einzelnen Menschen geht.
Da beide Leseweisen gegeneinander standen, konnte mit Marx gegen den Marxismus (bzw. gegen dessen realpolitische, leninistisch-stalinistische oder trotzkistisch-maoistische Version) argumentiert werden, was unter Berufung auf den "wahren" Marx und Marxismus von mehreren Seiten auch geschah.
Dass es sich bei diesem heftig und auch unter Einsatz politisch-administrativer Mittel ausgetragenen Streit nicht um Nebensächlichkeiten handelte, versuche ich an einigen Episoden aus den 1960er Jahren zu zeigen, in denen "Entfremdung" diskutiert wurde.
Dass der Streit bislang nicht zu einem Ende gekommen ist (worauf vielleicht auch jüngere politische und ideologische Entwicklungen in Lateinamerika verweisen), sei nur nebenbei gesagt.

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1964 erscheint in erster Auflage
Georg Klaus und Manfred Buhr (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut (weitere Auflagen 1969, 1970 und öfter)
Dieses Wörterbuch wird unter dem Titel "Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie" in der BRD 1972 im Rowohlt Taschenbuch Verlag veröffentlicht, woraus ich zitiere:
Entfremdung - gesellschaftliches Verhältnis, historisch-gesellschaftliche Gesamtsituation, in der die Beziehungen zwischen Menschen als Verhältnisse zwischen Sachen, Dingen erscheinen und in der die durch die materielle und geistige Tätigkeit der Menschen hervorgebrachten Produkte, gesellschaftlichen Verhältnisse, Institutionen und Ideologien den Menschen als fremde, sie beherrschende Mächte gegenübertreten. Dieser historisch-gesellschaftliche Tatbestand tritt vor allem in Erscheinung als ökonomische (Warenfetischismus), politische, ideologische und religiöse Entfremdung. Allumfassenden Charakter nimmt diese Entfremdungssituation im Kapitalismus an. (289)
Soweit die Definition im Wörterbuch. Es lohnt, sie Punkt für Punkt zu überdenken - was ich aber Ihnen überlasse.
Nach einer begriffsgeschichtlichen Beschreibung und Interpretation von Marx stellt der Wörterbuchartikel fest:
Der Begriff der Entfremdung steht im Mittelpunkt der bürgerlichen Marx-Kritik der Gegenwart. Seit der Veröffentlichung der ökonomisch-philosophischen Manuskripe von Marx im Jahre 1932 gibt es keinen  Begriff aus der Geschichte der Herausbildung des Marxismus, der von den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern des Marxismus-Leninismus ausgiebiger strapaziert wird. (292)
Aus ihrer Lektüre der "Frühschriften" wird
von den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern des Marxismus-Leninismus der Schluss gezogen, daß eine Umwertung des Marxschen Schaffens notwendig sei. Die Interpretation des Marxismus dürfe nicht beim Manifest der Kommunistischen Partei und beim Kapital, sondern müsse bei den ökonomisch-philosophischen Manuskripten ansetzen. Von diesen her müsse der Marxismus interpretiert werden. Daß damit keine bloße Umwertung, sondern eine Abwertung der Lehre von Marx beabsichtigt ist und dabei auch herauskommt, versteht sich gleichsam von selbst. (293)
Zur Erinnerung:
-- das "Kommunistische Manifest" (1848 Marx und Engels)
-- das "Kapital" (Marx) erscheint in drei Bänden 1867, 1884 und 1894
-- die "ökonomisch-philosophischen Manuskripte" (1844) erscheinen erst 1932 (s.o.) und waren z.B. Lenin nicht bekannt.
Es "versteht sich gleichsam von selbst", dass, wenn die Hauptgedanken von Marx in Arbeiten vor 1848/49 enthalten sind und Lenin diese nicht kannte, der Leninismus mit seinen zentralen Theorien über die Revolution, über die Partei und deren Rolle in der Weltrevolution etc. sich nicht auf den wahren Marx berufen könne. Damit aber würde er auf einer missverstandenen, schwachen theoretischen Basis stehen, die nur zu weiteren Irrtümern disponiert. Marx' Nachfolger im Leninismus und Stalinismus hätten geglaubt, eine "materialistische Geschichteauffassung" (den "historischen Materialismus") und einen "wissenschaftlichen Sozialismus" (auf Basis des "dialektischen Materialismus") aufbauen zu können, während Marx selbst wohl nur "ein ethisches und religiöses Gedankensystem" entworfen habe, wie das Wörterbuch einen Autor zitiert.
Dies aber wäre nicht nur fatal, es sei ganz falsch:
Auf einen Nenner gebracht, laufen die Bemühungen der bürgerlichen Marx-Kritiker darauf hinaus, Marx gleichsam vom Parteigeist zu reinigen, ihn zu entpolitisieren, ihn aus der Dynamik des Klassenkampfes in die windstille Atmosphäre bürgerlicher philologischer Auslegungskunst zu versetzen, um ihn um so besser aus einem Theoretiker der Arbeiterklasse zu einem Gelehrten bürgerlicher Observanz des 19. Jahrhunderts machen zu können - oder ihn, wie es auch genannt worden ist, vor ihrem bürgerlichen Publikum "zu rehabilitieren". (293)
Der Artikel über "Entfremdung" schließt so:
Ihre (der "bürgerlichen und revisionistischen Marx-Kritiker") Absicht ist es, den Begriff der Entfremdung in den Rang einer unhistorischen, gleichsam ewigen, zumindest Kapitalismus und Sozialismus umfassenden Kategorie zu erheben, um so den grundlegenden Unterschied zwischen den beiden ökonomischen Gesellschaftsformationen zu verwischen und das revolutionäre Kernstück des Marxismus-Leninismus, die Lehre von der sozialistischen Revolution, als überflüssig abzutun. (296)
Wenn "Entfremdung" das eigentliche Problem ist und wenn eine "sozialistische Revolution" nichts zu deren Bewältigung beiträgt, sondern nur neue Formen von Entfremdung produziert - wozu soll sie gut sein?

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1965 erscheinen in deutscher Sprache mehrere Bücher marxistischer Autoren, die das Thema ins Zentrum rücken.
Ich habe in der Vorlesung näher das Buch eines sowjetischen Autors vorgestellt, der eben zeigen will, dass es sich bei "Entfremdung" um eine "historische" und somit auch überwindbare Problematik handle:

Teodor Iljitsch Oiserman: Die Entfremdung als historische Kategorie. Berlin: Dietz 1965

In diesem Buch geht Oiserman zuerst auf die Gründe ein, warum die Entfremdungsthematik derzeit überhaupt so aktuell sei:
Über das Entfremdungsproblem schreiben heute nicht nur Philosophen oder Soziologen, sondern auch Schriftsteller, Künstler, Publizisten und Journalisten. ... Einige bürgerliche Philosophen suchen den Begriff der Entfremdung in das Deutungsprinzip alles Existierenden zu verwandeln. ... ((zwei Hauptgründe dafür:)) Erstens die allgemeine Krise des kapitalistischen Systems, zweitens die objektive Logik des Kampfes der Bourgeoisie gegen den Marxismus-Leninismus. (S.7)
Aus dem Gegensatz "zwischen dem absterbenden Kapitalismus und der sich stürmisch entwickelnden sozialistischen Gesellschaft" entstehen bei den "bürgerlichen Ideologen"
Gedanken des sozialen Pessimismus, Furcht vor der Zukunft, Unglaube an den Fortschritt, an die Entwicklung von Wissenschaft und Technik. (S.11)
und sie verwandeln dann
die konkrete, durch den Kapitalismus entstandene historische Situation in eine allgemeinmenschliche und somit unabwendbare Situation. (S.14)
Oiserman sieht sich vor zwei Aufgaben:
... erstens ... dem Nachweis, daß der Entfremdungsbegriff keineswegs theoretischer Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Kommunismus ist; zweitens ist der qualitative Unterschied der marxistischen Auffassung von der Entfremdung und der Entfremdungskonzeption Hegels und Feuerbachs herauszuarbeiten. (S.17)
Im ersten Kapitel wird "der junge Marx, das Entfremdungsproblem und der moderne Antimarxismus" behandelt und ähnlich wie im zitierten "Wörterbuch" festgestellt, dass
die modernen bürgerlichen Ideologen eine Ablehnung des Marxismus in verhüllter Form, durch "Anerkennung" des jungen Marx
vornähmen. Sie betonen den hegelschen und feuerbachschen Einfluss auf Marx' Frühschriften, die
sie überschwenglich loben und natürlich maßlos verzerren. (S.21)
Es geht Marx auch schon in den "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" wie später sowieso eigentlich um ökonomische Fragen, was "der aufmerksame, unvoreingenommene Leser" (S.39) sofort bemerke. Es ging aber eben nicht nur um die richtige Auslegung. Bevor Oiserman seine Interpretation der Frühschriften im dritten Kapitel gibt, stellt er noch das Entfremdungsproblem in der klassischen deutschen Philosophie dar.
Das vierte Kapitel schließlich behandelt "Die Philosophie des Marxismus und die existentialistische Entfremdungslehre" und konstatiert:
Die objektive Bedingtheit, die objektive Gesetzmäßigkeit des gesellschaftlichen Lebens offenbart sich immer mehr mit der Entwicklung der Produktivkräfte. Aber unter kapitalistischen Bedingungen trägt diese objektive Gesetzmäßigkeit unausweichlich antagonistischen Charakter. (S.101)
und:
Der sichtbarste Ausdruck der Krise der kapitalistischen Gesellschaft ... ist der Existentialismus. (S.104f)
"Entfremdung" nehme im Existentialismus "zwei grundlegende Aspekte" an:
1. Die Existenz ist die namenlose Subjektivität, Einheit, Nichtwiederholbarkeit, der unendliche Wert meines Existierens. Die Existenz "transzendiert" jedoch ständig, geht von sich weg und stirbt. (S.117)
2. Ausgehend von Heideggers Lehre vom Man betrachtet der spanische Existentialist Ortega y Gasset das Verhältnis zwischen Persönlichkeit und Gesellschaft als Verhältnis zwischen Menschlichem und Unmenschlichem. (S.121)
Eine nähere Analyse zeigt, ... daß die existentialistische Furcht vor der "Massengesellschaft" im Grunde genommen nichts anderes darstellt als die bürgerliche Furcht vor der Befreiungsbewegung, vor der realen Macht der werktätigen Massen. (S.123)
Was aber, wenn einige, auch marxistische Autoren behaupten, es gebe sogar so etwas wie eine 'sozialistische' Entfremdung? Gegensätze zwischen 'Stadt' und 'Land' seien nicht überwunden, religiöses (also illusorisches, falsches) Bewusstsein bestehe weiter usf. Oiserman lässt Derartiges nicht gelten:
... im Sozialismus gibt es nicht das, was Marx das Wesen, den Inhalt der Entfremdung nannte, und es kann diesen eigentlichen Inhalt auch nicht geben: Herrschaft der Arbeitsprodukte über die Produzenten, Entfremdung der Produktionstätigkeit, entfremdete, gesellschaftliche Verhältnisse, Unterjochung der Persönlichkeit unter die spontanen Kräfte der gesellschaftlichen Entwicklung. (S.135)
Wie die nächste Episode zeigen kann, waren Marxisten in diesem Punkt eben nicht einig. Ich nenne einige (deutsche) Werktitel, in denen dieser Zweifel zum Ausdruck kam - wobei ich jetzt bewusst vermeide, "westliche" oder "existentialistische" Autoren anzuführen:

Leszek Kolakowski: Der Mensch ohne Alternative. München: Piper 1960
Robert Havemann: Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und Weltanschauung. Reinbek: Rowohlt 1964
Henri Lefebvre: Probleme des Marxismus heute. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1965
Adam Schaff: Marxismus und das menschliche Individuum. Wien: Europa Verlag 1965
Roger Garaudy: Marxismus im 20. Jahrhundert. Reinbek: Rowohlt 1969
Karel Kosik: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970

"Praxis" (Zeitschrift, Zagreb 1964-74)


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1968 war ein ereignisreiches Jahr, ich will daraus nur eine Episode zitieren, die einige Wochen nach dem Ende des "Prager Frühlings" (oder: des "Marxismus mit menschlichem Angesicht") stattfand, also nachdem Truppen der (übrigen) Staaten des Warschauer Pakts unter Führung der Sowjetunion in der CSSR einmarschiert und das dortige politisch-gesellschaftliche Projekt gewaltsam beendet hatten.
Als persönliche Erinnerung möchte ich hier einfügen, dass einige tschechische Theoretiker, in Deutsch zugänglich, damals sehr attraktiv für mich waren, beispielsweise V. Gardavsky ("Gott ist nicht ganz tot").
Sie verschwanden in den Jahren danach aus den Debatten, verloren ihre Lehrstellen und Publikationsmöglichkeiten usw. Heinrich Böll stellte  fest: "Zunächst haben auf beiden Seiten die Reaktionäre gesiegt."
Die Episode:
Vom 2.-9. September 1968 fand in Wien der XIV. Internationale Kongress für Philosophie statt.

Gerd Hergen Lübben berichtete darüber in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und Sie können seine Berichte im Internet nachlesen. Ich führe hier nur einige Abschnitte daraus an.

F.A.Z., 4. September 1968:
» Die Vernunft und die Wirklichkeit «
(...) Während sich die Unterkünfte in der Wiener Stadthalle und aut dem Gartenbaugelände im Donaupark mit Flüchtlingen aus der CSSR füllen und Dutzende von Tschechen und Slowaken auch am Sonntag vor der Schweizer Botschaft Schlange standen um ein Visum, versammelten sich in den Gebäuden der Universität mehr als 3000 Philosophen aus 65 Staaten zu ihrem Kongress: „Denker aller Länder — Gespräch und Begegnung“. Der am Montagvormittag mit einem feierlichen Festakt in der Wiener Staatsoper eröffnete 14. Internationale Kongress für Philosophie — nach dem Heidelberger Kongress vom 1. bis 5. September 1908 der zweite in einem deutschsprachigen Land — ist der größte aller bisherigen dieser Weltkongresse. (...)

Der erste dieser Weltkongresse fand übrigens 1900 in Paris statt, der bisher letzte (XXI.) in Istanbul 2003.
Den Festvortrag zur Eröffnung hielt 1968 H.-G. Gadamer (Heidelberg) zum Thema "Die Macht der Vernunft" und er war auch Teilnehmer an einem in unserem Zusammenhang interessanten Podiumsgespräch:
Schon am Vorabend des Kongressbeginns hat Gadamer in einer vom Kongresspräsidenten L. Gabriel geleiteten und vom Österreichischen Fernsehen ausgestrahlten Podiumsdiskussion — Thema: „Die Philosophie im Zeitalter der Wissenschaft“ — betont, dass die Vernunft wohl in der Hauptsache zu einem gut sei, nämlich dazu, die eigenen Irrtümer zu erkennen. Das alte „Erkenne dich selbst!“ Für die Denkarbeit sei das Vertrauen des Philosophen in sein Selbsterkennungsvermögen von fundamentaler Bedeutung. — Unmittelbar vor dem Zustandekommen des in vielen Wiener Cafés wissbegierig von Melange trinkenden Gästen und „einfachen Menschen“ verfolgten Schaugesprächs war es hinter den Kulissen zu einem Wortgefecht zwischen dem russischen Philosophen T. I. Oiserman und  seinem (gleichfalls zur Diskussion ein geladenen) tschechoslowakischen Kollegen gekommen, als dieser mit geballter Faust sagte, er könne nicht mit einem Sowjetmarxisten an einem Tisch sitzen, wenn zugleich sowjetische Okkupanten seine Landsleute entrechteten und entwürdigten. Oiserman darauf sophistisch: „Sie sagen, Sie wollen nicht mit mir sprechen, und dabei sprechen Sie soeben mit mir.“ — Desungeachtet fand das Podiumgespräch statt. Ohne den Tschechen. (...)
Für jüngere LeserInnen zur Erinnerung, falls Sie sich über die Cafés wundern: Fernsehen fand damals noch nicht häufig zuhause statt.
Zum Thema selbst wird Oiserman sich wohl nicht so zurückhaltend wie Gadamer geäußert haben: die "wissenschaftliche Ideologie" des Marxismus-Leninismus sollte ja eben eine Orientierung in allen, nicht nur in theoretischen Fragen liefern, gerade indem sie sich auf die (richtig verstandenen) Ergebnisse aller Wissenschaften stützen und diese entsprechend interpretieren könne.
Oiserman bezog dazu auf einem anderen Kolloquium des Kongresses deutlich Partei, wie die F.A.Z. weiter berichtet:
Die erste Sitzung des Marx-Gegenwart-Kolloquiums, in der Oiserman („Hegel, Marx und die Gegenwart“) das Hauptreferat hielt, fand unter dem Vorsitz von K. Löwith statt. Oiserman sprach die Überzeugung aus, dass die Philosophen, Soziologen und Politiker der Gegenwart genötigt seien, auf die von Marx und Lenin aufgeworfenen Fragen zu antworten. Diesen Fragen könne kein Mensch mehr entgehen: sie entstünden im Leben selbst, sie würden durch das Leben selbst aufgeworfen. Unter den anschließenden Wortmeldungen lösten die Bemerkungen eines Mannes aus Biafra, E. Ekesiobi, spontane Zustimmung aus. „Wir in Afrika“, sagte er, „sind immer wieder irritiert durch das chamäleontische Wesen des Marxismus. Gibt es nicht nur einen einzigen Marxismus? Welcher wäre das etwa? Derjenige Lenins, jener Maos? Oder der der Tschechen? Lasst uns die Dogmen vergessen, lasst uns analysieren!“
Auch hier ist - erfahrungsgemäß - ein historischer Hinweis nützlich: Biafra existierte als Staat im Ostteil Nigerias von 1967-70 und war in dieser Zeit Schauplatz eines sehr blutigen Krieges gegen Nigeria, wobei u.a. die Sowjetunion die Zentralregierung Nigerias unterstützte.

Und vielleicht sollte auch gesagt werden: Der "Mann aus Biafra" mag noch an andere "Marxismen" oder "Sozialismen" gedacht oder diese sogar erwähnt haben.
Julius Nyerere, der erste Präsident des unabhängigen Tansania, hatte gerade kürzlich (1967) die Prinzipien eines "afrikanischen Sozialismus" deklariert und Kwame Nkrumah, der damalige Präsident Ghanas, stand zwar dieser Idee kritisch gegenüber, wollte aber seinerseits durchaus marxistische Theorie für den Prozess der Modernisierung seines Landes und Afrikas überhaupt adaptieren.

Zwei Tage nach dem Kongress berichtet die F.A.Z. ein zweites Mal, und auch diesmal spielt unser Thema keine geringe Rolle:
Mehrere öffentliche Appelle zum Schutz der Freiheit des Denkens mit deutlicher Richtung gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten wurden veröffentlicht und eine Debatte über die Berechtigung politischer Parteinahme in philosophischen Fragen verhärtete die Fronten.
F.A.Z., 11. September 1968: » Konstantinow polemisiert «
(...) richtete eine Gruppe von Philosophen — darunter Y. Bar-Hillel, E. Bloch. H. G. Gadamer, J. Hyppolite, K. Löwith, K. Popper, G. H. v. Wright — folgenden Appell an die Öffentlichkeit: „Teilnehmer aus zahlreichen Ländern am 14. Internationalen Kongress für Philosophie verfolgen mit sorgenvoller Anteilnahme die Anstrengungen ihrer Kollegen aus der CSSR, um in ihrem Lande die Bedingungen der freien Forschung und der freien Meinungsäußerung zu sichern, ohne die es keine Philosophie gibt. Die Sache der Intellektuellen in der Tschechoslowakei ist die Sache aller, die in der ganzen Welt die Wahrheit suchen. Die Unterzeichneten hoffen, dass die Zeiten vergangen sind, in denen der Dienst an der Wahrheit Gefängnis, Deportation oder Exil zur Folge hatte.“
Die "Politisierung" war unverkennbar und wurde auch thematisiert:
Auf einer Pressekonferenz der Kongressleitung kam die Politisierung einiger Kongressveranstaltungen zur Sprache. Dabei warnte der sowjetische Ideologe F. W. Konstantinow, der Leiter des Autorenkollektivs des im Ostblock obligaten Lehrbuchs „Grundlagen des Marxismus“, die Teilnehmer des Kongresses davor, zu versuchen, Richter des Marxismus und des Internationalismus zu sein (...). Er verband diese Äußerung mit einer heftigen Kritik an der österreichischen Presse. die nicht  genügend objektiv über den Kongress berichtet habe. (...)
Der "sowjetische Ideologe" (das ist natürlich keine neutrale Bezeichnung) kann sich natürlich nicht überhaupt dagegen ausgesprochen haben, dass politische Parteinahme (auch) in philosophischen Argumentationen geschieht. Das wäre diametral zur lenin'schen Auffassung gestanden, dass Wissenschaft und Philosophie immer "parteilich" sind. (Vgl. zum "Prinzip der Parteilichkeit" meine VO zur marxistisch-leninistischen Philosophiehistorie)

Auf die Einwendung westlicher Philosophen, dass zur Diskussion der marxistischen Theorie (die im übrigen erstmals auf einem Internationalen Kongress für Philosophie stattgefunden habe) notwendig die Erörterung der politischen Praxis gehöre und dass sich gezeigt habe, wie uneinheitlich das marxistische System sei (ganz im Widerspruch zur sowjetischen Darstellung), und auf die Frage, wie die Sowjetphilosophie die Anwendung von Gewalt rechtfertigen könne, behauptete Konstantinow, der Marxismus sei durchaus nicht uneinheitlich. Bei so vielen Ländern, die unter dieser Ideologic zusammengeschossen seien, müsse mit Unterschieden gerechnet werden. Dann sagte der Sowjetideologe, in der CSSR gehe es keinesfalls um den Marxismus. Zwischen dem Prager und dem Moskauer Kommunismus gebe es keine Streitpunkte. Die Intervention der Sowjetunion in der Tschechoslowakei diene vielmehr allein dem Frieden in Europa: „Wenn Ihnen das heute nicht klar ist, dann werden Sie es morgen merken.“
 
Den dritten Bericht vom 17. September 1968 bringt die F.A.Z. explizit unter dem Titel » Marx und seine Marxisten «
Die Stimmung wurde offenbar immer hektischer, zum Schluss hin "tumultuarisch":
Schon vor Beginn des Kongresses hatte die philosophische Fakultät der Prager Universität an den österreichischen Kongresspräsidenten L. Gabriel ein die Okkupation der CSSR durch fünf Warschauer-Pakt-Staaten verurteilendes Protestschreiben gerichtet, das dieser aber nicht veröffentlichte. (Ungezählte eingegangene Resolutionen wanderten in den Papierkorb. Gabriel: „Resolutionen sind keine Diskussion.“) Einerseits sollte von vornherein eine Politisierung des „rein wissenschaftlich“ gedachten Veranstaltungsablaufs unterbunden werden. Andererseits lag die Nichtveröffentlichung in diesem Falle gerade auch in Interesse der tschechoslowakischen Teilnehmer, die wohl sämtlich von der Sorge um ihr Ergehen nach der Heimreise erfüllt sind.
-- "Kanzler Klaus sprach anlässlich der Eröffnung von der „geistesgeschichtlichen  Relevanz“ der tschechoslowakischen Tragödie." (und der österreichische Botschafter in Prag, Rudolf Kirchschläger, setzt sich über Weisungen des Außenministers Kurt Waldheim hinweg und gibt Visa an alle Ausreisewilligen aus, FW)
-- das offizielle Kommuniqué fordert Denkfreiheit ein, nennt aber die CSSR nicht, weil das ja auch "jene in Griechenland" (das von einer Junta regiert wird) betrifft;
-- "Flugblattappelle verteilten die „Studentengruppe Wien des Österreichischen Akademikerbundes“ und der „Verband Sozialistischer Studenten“ an die versammelten Denker."

Und schließlich, wieder zu unserem Thema:
Im Marx-Gegenwart-Kolloquium lenkte der Sowjetmarxist T. I. Oiserman die Geister auf das den zeitgenössischen Marxismus wie kein anderes faszinierende Thema „Marxismus und Humanismus“. Die gleichsam neu entdeckte Personalität des menschlichen Individuums paralysiert den dogmatischen Marxismus in dem Maße, wie er einer Analyse der Bedeutung, die dem Einzelmenschen in bezug auf Gesellschaft und Masse zukommt, vernachlässigt. Dabei ist es höchst interessant, den Ausbildungsprozess der Marxschen Lehre weniger durch das hegel-feuerbachsche Systembewusstsein vorbereitet zu sehen, als im Marxismus vielmehr die Nachwirkung der fichteschen Idve vom „Willen in Aktion“, ja mittelbar auch des kantischen Gedankenmassivs zu beobachten (Kamenka, Cornu).
Der Widerspruch des humanistischen Anspruchs und der deterministischen Grundtendenz des Marxismus, auf den G. Calogero (Italien) hinwies, musste die Frage provozieren. wie denn der Determinismus der marxistischen Lehre mit der These, der Mensch selbst mache die Geschichte, in Einklang zu bringen sei. Während Oiserman diese Frage aus der Dialektik des Marxschen Denkens zu beantworten versuchte, machte die in der Bundesrepublik lebende Exilrussin V. Piroschkow diesbezüglich kritische Bemerkungcn zum Marxismus. Ist der Endpunkt der historischen Entwicklung, das Lichtreich des „Kommunismus“, determiniert und der Weg dorthin indeterminiert — so fragte sie —, oder ist in dieser extremen Teleologie ein Faktor zu sehen, der das Element der persönlichen Freiheit aus dem Prozess der Historie notwendig ausschaltet? — Nach der Ansicht von S. Stojanovic (Belgrad) haben die Marxisten, seit sie zur Macht gelangt und etabliert seien, die mannigfachen Verzerrungen der marxschen Gedanken selbst verschuldet. Der Jugoslawe bezweifelte rundweg, dass der Komunismus der Endpunkt der menschlichen Entwicklung sein könne.
Einen wichtigen Beitrag zum marxismusimmanenten Determinismusproblem hätte man sich von dem im Kongressteilnehmerverzeichnis noch genanntem Polen L. Kolakowski erwartet. Er hat in der marxistischen Literatur über den historischen Determinismus Tendenzen aufgedeckt, die den Lösungsversuchen des Trientiner Konzils ähneln; er bezeichnete den unheilbaren Antagonismus zwischen der Philosophie, die das Absolute verewigt, und jener, die die anerkannten Absoluta in Frage stellt, als einen „Antagonismus der Priester und Narren“, wobei die „Philosophie des Narren“ durch eine negative Wachsamkeit gegenüber dem Absoluten gekennzeichnet ist, durch Intelligenz ohne Verzweiflung und durch Hoffnung ohne Verblendung. Kolakowski, unlängst aus der Staatspartei ausgeschlossen, wurde die Ausreise Wiener Kongress verweigert (nach Kanada freilich wird er dürfen, wie zu vernehmen ist). — Der Warschauer Philosoph A. Schaff, der noch  im Frühjahr einen ideologischen Zweifrontenkrieg mit der Parteiorthodoxie und dem Revisionismus auszutragen  hatte (selbst Polen wunderten sich, dass ihm die Ausreise gestattet wurde), wusste bei der Fortführung dcs Marx-Gegenwart-Kolloquiums, dessen Vorsitz er nach K. Löwith übernommen hatte, wegen des Einmarsches in die CSSR protestierende Studenten dadurch zu beschwichtigen, dass er auf die Problematik der Einheit von Theorie und Praxis verwies. Die Protestaktion entspreche in dem Maße nicht der Marxschen Auffassung von Praxis, wie sie praktisch wirkungslos bleiben werde. Wenn „sozialistische“ Studenten eine Diskussion über Marx störten, komme das einer „internationalen Blamage“ gleich. (...)

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1968

Die "neuen Marxisten" als "Revisionisten"

In der offiziösen Philosophiezeitschrift der Sowjetunion, den Voprossy filosofii, die seit 1947 monatlich erschien, wird die Dezemberausgabe 1968 mit einem Beitrag von D. I. Tschesnokow eröffnet, der titelt: "Die Verschärfung des ideologisch-politischen Kampfes und der zeitgenössische philosophische Revisionismus".  Der Artikel bringt zum schon Ausgeführten nicht wirklich Neues oder Überraschendes. Ich zitiere daraus wegen eines bemerkenswerten Zitats des Autors selbst. Er beruft sich nämlich auf einen anderen Autor, der
... korrekt das Wesen, die untergeordnete Rolle und die Entwicklungslinie des modernen philosophischen Revisionismus dar[stellt], seine Feindschaft gegenüber dem Marxismus-Leninismus. (dt. Übersetzung dieses und der folgenden Zitate von mir, FMW)
Die zitierte korrekte Darstellung stammt von Joseph M. Bocheński, einem katholischen, damals in der Schweiz lebenden vehementen Kritiker des Marxismus, der 1966 so formuliert hatte:
Die neue marxistische Philosophie gewinnt derzeit an Popularität in osteuropäischen Ländern, nachdem sie nach 1956 von Polen ausgegangen ist. Ihre Schöpfer waren Ch. Elstein und S. Kochanski, später L. Kolakowski und A. Schaff. Unter ihren Anhängern in Ungarn ist der bekannte Erwin Laszlo, in der Tschechoslowakei Karel Kosik. In Kroation erschien 1965 die theoretische Zeitschrift "Praxis", das leitende Organ der neuen Bewegung. ... Bei der bestehenden politischen Lage, in der die Macht in den Händen der herrschenden Partei liegt, nehmen die Anhänger der neuen Philosophie ihre Zuflucht zu zwei eigentümlichen Methoden. Einerseits behaupten sie, den "wahren Marxismus" wiederherzustellen, indem sie ihn dem "entstellten und pervertierten" Marxismus gegenüberstellen, andererseits erklären sie alles für "Stalinismus", was ihrer Version nicht entspricht ...
In solcher Form ist das wirklich eine Gegenreformation von außergewöhnlichem Ernst. Es ist schon keine Frage mehr nach viel oder wenig Freiheit, das ist kein Problem der Interpretation des jungen Marx und noch weniger eine Negation des "Stalinismus", was immer das hieß; das ist ein gänzliches Verlassen der Prinzipien des Marxismus-Leninismus."
Der Marxist-Leninist Tschesnokow stimmt der Einschätzung des thomistischen Marxismus-Kritikers Bocheński vollinhaltlich zu, die Orthodoxen beider Lager erkennen einander und sie nehmen einander ernst. Die Anderen stören, in beiden Fällen. Ich habe Heinrich Böll zum Einmarsch in Prag oben schon zitiert: "Zunächst haben auf beiden Seiten die Reaktionäre gesiegt."

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Richtungsstreit im Marxismus um 1970 - ein persönlicher Eindruck

Da ich 1970 Kursunterlagen zum Thema "Marxismus" für die "Katholische Sozialakademie Österreichs" erstellt habe, kann ich mich ebenso gut auf diese stützen wie auf andere Quellen der Zeit. Es mag sich dabei um keinen großartigen Text handeln, aber der Autor (Philosophiestudent mit katholischem Hintergrund, von dem er sich gerade trennt, wobei der Marxismus eine Rolle spielt) ist mir zumindest insofern bekannt, als ich mit ihm personalidentisch bin.
Das genannte Typoskript geht im letzten Teil (S. 56-71) auf den "Marxismus heute" ein, ich zitiere auszugsweise.
Es gibt heute nicht ein marxistisches Lager, sondern viele Richtungen und politische Kräfte, die sich alle auf Marx berufen, sich im übrigen aber heftig bekämpfen.
Ausführlich wird "die Sowjetunion nach Stalin" behandelt, zunächst der "XX. Parteitag der KPdSU" (Februar 1956) mit der Entstalinisierungs-Rede Chruschtschows besprochen und festgehalten:
Chruschtschow sagte ... nichts über Stalins Terror Nichtkommunisten und Nationalisten gegenüber. Die Ursache für den Stalinismus sei allein in "Stalins Charakter" zu suchen, hieß es in der Rede. Das System blieb also unangetastet. Erst der Führer der italienischen KP, Togliatti, stellte am 17.6.1956 fest, daß "persönliche Fehler Stalins nicht für alle Mißstände verantwortlich gemacht werden könnten".
Doch habe der Parteitag auch eine ideologische Korrektur gebracht,
indem er drei Thesen annahm, die eine starke Nachwirkung haben sollten, wenn auch nicht immer so, wie die KPdSU es wünschte.
Die erste These war die, daß es verschiedene Wege zum Sozialismus gäbe. ...
Die zweite These besagte, daß Kriege vermeidbar seien und daß die Forderung der Stunde die friedliche Koexistenz sei. ...
Drittens wurde festgestellt, daß in einer Reihe von Ländern die Möglichkeit bestehe, zum Sozialismus auf friedlichem Weg zu gelangen. Die prinzipielle Forderung nach gewaltsamem Umsturz wurde damit aufgegeben.
Der nächste Abschnitt bespricht "Das neue Programm der KPdSU", das 1961 "für die Zeit des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus, die nun angebrochen sei" beschlossen wurde. Meine Zusammenfassung des Programms damals:
Im Programm der KPdSU von 1961 wird der Weg der Partei festgelegt, auf dem der Kommunismus verwirklicht werden soll. Das gegenwärtige Stadium des Sozialismus ist allen bisherigen Gesellschaftsordnungen überlegen. Es führt zum Kommunismus, der höchsten Form menschlichen Zusammenlebens.
Dieses Stadium wird in der Sowjetunion in naher Zukunft - noch in dieser Generation - erreicht werden.
Die kommunistische Gesellschaft ist auf dem Grundsatz aufgebaut "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen", sie lebt nach den Grundsätzen der kommunistischen Moral.
Allerdings hatte ich auch angemerkt:
Bisher konnte die Partei nicht alle Forderungen und Ziele des Programms termingerecht einhalten. Dennoch wird erst die weitere Entwicklung zeigen, ob man darin nur Terminschwierigkeiten sehen soll oder ob es Ziele des Programms gibt, die bei der Struktur der sowjetischen Gesellschaft gar nicht erreicht werden können.
Im zweiten Abschnitt des Texts wird "Mao-tse-tung und der chinesische Kommunismus" besprochen; diesen Teil habe ich in der Vorlesung überschlagen und tue das auch jetzt, indem ich zum letzten Abschnitt "Marxismus ohne Dogma" übergehe. Er beginnt:
Es gibt neben den 'offiziellen' Marxisten heute viele Bewegungen, die sich an Marx orientieren, die aber nicht die sowjetische oder chinesische Spielform des Marxismus übernehmen wollen, sondern nach Möglichkeiten suchen, eine menschlichere Gesellschaft zu gestalten.
Die Theoretiker dieser 'undogmatischen' Marxisten sind zum großen Teil ehemalige Mitglieder einer kommunistischen Partei, die auf Grund ihres "Revisionismus" aus ihrer Partei ausgeschlossen wurden ...; eine andere Richtung stellt die sogenannte "Neue Linke" dar, die praktisch nur in 'kapitalistischen' Ländern existiert; eine dritte Richtung schließlich kann man in den verschiedenen sozialistischen Staaten sehen, die je für sich ihre eigenen Vorstellungen von Sozialismus entwickeln und verwirklichen (Jugoslawien, Kuba, Chile, Ägypten usw.)
Behandelt werden weiter im Text nur die beiden ersten, "weil die letztgenannte für den österreichischen Raum nicht so wesentlich ist, wenn man von Spezialfragen (wie dem jugoslawischen Modell der Mitbestimmung) absieht." Die zentrale Idee der "Revisionisten" wird in der "Kritik" des "Dogmatismus" gesehen:
Die 'Revisionisten' werfen den 'orthodoxen' Marxisten vor allem Dogmatismus vor. Sie verlangen dagegen freie Meinungsäußerung, Diskussion. Ihr Ziel ist eine Gesellschaftsform, in der der Einzelmensch nicht im Kollektiv untergeht, aber auch nicht - wie im Kapitalismus - zum Konsumidioten degeneriert.
Es fiel mir als Autor offensichtlich schwer, was die Neue Linke will,
... auf einen Nenner zu bringen, weil einerseits die Äußerungen sehr oft unartikuliert sind (z.B. in Sprechchören, Transparenten u.dgl.), anderseits viele einander heftig bekämpfende Gruppen zu beobachten sind. Als gemeinsame Forderungen kann man vielleicht folgende ansehen: die Infragestellung der traditionellen Autoritäten mit allen Mitteln (Provokation usw.); die Forderung, gesellschaftliche und ökonomische Entscheidungsprozesse durchsichtiger - "transparenter" - zu machen; die Betonung der Subjektivität in einer immer mehr versachlichten Umwelt (Bildung vieler kleiner Gruppen und Lebensgemeinschaften).
So enden diese Kursunterlagen mit einem unklaren Bild. Auch das kann einen Eindruck von der Situation der 1960-er Jahre vermitteln, in der wohl die bisher letzte intensive und allgemeine Auseinandersetzung über den Marxismus als Ordnungssystem und Weltanschauung stattgefunden hat.

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Erstellt: Wintersemester 2006