Aus der in dieser Liste
beispielhaft ausgewählten Buchtitel zu philosophischen Fragen mit
Erscheinungsjahr zwischen 1930 und 1960 wurden in der Vorlesung
einige Richtungen und Fragestellungen vorgestellt:
Logik, Erkenntnis- und
Wissenschaftstheorie: im deutschen Sprachraum ist in dieser Zeit
die Übernahme (Übersetzungen v.a. aus dem
Englischen) und Weiterführung analytischer Philosophie von
Bedeutung, aber auch die Auseinandersetzung mit (neo-)marxistischer
Theorie, v.a. im sogenannten "Positivismusstreit"
(ab 1961). Kontrahenten sind hier z.B. Albert und Popper auf der einen,
Adorno und Habermas auf der anderen Seite.
Ab den 1970-er Jahren tritt der Konstruktivismus
stark in Erscheinung (Autoren z.B.: Watzlawick, Glasersfeld, von
Förster, Maturana/Varela, Kamlah/Lorenzen, Luhmann u.a.) und steht
in Auseinandersetzung nicht nur mit traditionellen Positionen, sondern
etwa auch mit der "evolutionären
Erkenntnistheorie" (Lorenz, Vollmer, Riedl u.a.).
Gegen Ende dieser Periode diversifizieren sich Diskurse über
Erkenntnis und Wissenschaft stark: agnostische Positionen (Feyerabend)
sind ebenso wie feministische Reflexionen (Kristeva, Irigaray, Cixous,
Harding, Heller) und poststrukturalistische Thesen (Glucksmann,
Lyotard, Deleuze, Barthes, Bourdieu, Rorty u.a.) einflussreich.
Ethik, Rechts- und
Gesellschaftstheorie: sind in ihren Fragestellungen stark von
der Auseinandersetzung zwischen (neo-)marxistischen (z.B. Frankfurter
Schule) und liberalen TheoretikerInnen (z.B. Rawls, Nozik)
geprägt. Es entstehen aber auch wichtige Werke, die nicht so
zuordenbar sind (z.B. Jonas 1979). Eine einflussreiche Richtung in der
Theorie der Normen, die "evolutionäre
Ethik" bezieht sich auf biologische Grundlagen des
Verhaltens (z.B. Eibl-Eibesfeldt, Lorenz), andere Untersuchungen
betreffen die psychologischen Stadien normativer Urteilsfähigkeit
(Piaget, Kohlberg)
oder auch deren möglichen Genderaspekt
(Gilligan).
Wenn ich die allgemeine Kennzeichnung für das Thema dieser
Vorlesung so getroffen habe, dass es sich bei der "Philosophie im 20.
Jahrhundert" um ein "Jahrhundert der Letztbegründungen" handelt
(vgl. VO
1 und VO
2), so sind damit andere Benennungen nicht ausgeschlossen. Mit
guten Gründen könnte es ebenso ein Jahrhundert der
"Ideologien" genannt werden.
Um die Diskussion über eine der einflussreichsten Ideologien des
Jahrhunderts, nämlich den Marxismus zu illustrieren, greife ich
hier einen kurzen Zeitraum heraus (1960-er Jahre). Es sind in diesem
Zusammenhang zwei Bemerkungen notwendig:
Aus der Theoriegeschichte der vorangehenden Zeit ist der Versuch
einer
allgemeinen Ideologiekritik bspw. durch den Soziologen
Theodor Geiger zu erinnern, der eine rein formal-strukturelle
Definition vorgeschlagen hatte: "Als
ideologisch sollen jene Aussagen bezeichnet werden, die ihrer
sprachlichen Form nach und dem in ihnen ausgedrückten Sinne nach
sich als theoretische Sachaussagen geben, die aber a-theoretische,
nicht der objektiven Erkenntniswirklichkeit zugehörende
Bestandteile enthalten." (Theodor Geiger: Ideologie und
Wahrheit. Neuwied: Luchterhand 1953, 2. Aufl. 1968)
Nach dem Selbstverständnis von Marxisten in dieser Zeit ist
der Marxismus eine "Ideologie", und zwar die "wissenschaftliche
Ideologie" (im Gegensatz zu anderen Ideologien wie etwa dem
Faschismus), was z.B. Adam Schaff formuliert, wenn er davon
"nichtwissenschaftliche Ideologien" unterscheidet und definiert: "Die Ideologie ist ein System von
Anschauungen, das auf Grund eines angenommenen Wertsystems menschliche
Einstellungen und Verhaltensweisen bedingt, die auf akzeptable Ziele
der Entwicklung der Gesellschaft oder einer gesellschaftlichen Gruppe
gerichtet sind." (Adam Schaff: Die funktionelle Definition der
Ideologie und das Problem "Ende des Zeitalters der Ideologien?" in:
Humanismus, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie des Marxismus. Wien:
Europaverlag 1975)
Zum Begriff der Ideologie und der Ideologiekritik vgl. das Skriptum zu
meiner gleichnamigen Vorlesung 1994 (erhältlich im NIG-Shop)
"Entfremdung" als umstrittener Zentralbegriff:
1932 waren die "Frühschriften" von Karl Marx (1818-83)
erstmals im Druck erschienen.
vgl.
Siegfried Landshut, Hg.: Karl Marx. Die Frühschriften. Stuttgart:
Kröner 2002 (7. Auflage)
Diese Texte aus den 1840-er Jahren wurden in der Zeit nach dem 2.
Weltkrieg in der Auseinandersetzung zwischen dem Marxismus-Leninismus
und anderen Denkrichtungen (v.a. mit der Existenzphilosophie, dem
Existentialismus und mit personalistisch-humanistischen Richtungen)
sehr wichtig. Die Berufung auf den frühen Marx und die
Entgegensetzung zu seinem späteren, auf die
(National-)Ökonomie konzentrierten Werk verstand sich als Kritik
am politisch etablierten Marxismus-Leninismus und wurde wiederum als
solche bekämpft.
In einigen dieser Texte reflektiert der Linkshegelianer Marx auf die im
Deutschen Idealismus entwickelte Problematik der "Entfremdung" des
Menschen und sieht sie in mehrfacher Weise als gegeben an:
als Entfremdung des Menschen von seiner Arbeit im kapitalisierten
Arbeitsprozess
als Entfremdung von seinen Produkten, die er nach fremdem Diktat
produziert
als Entfremdung von den Anderen, die ebenso nicht ihr Eigenes
verwirklichen.
Die Frage ist, ob Marx hier vom "Menschsein" (als solchem, in
irgendeiner Epoche und Gesellschaft) spricht, oder vom "Menschsein im
Kapitalismus", oder mit anderen Worten, ob Entfremdung eine
anthropologische Konstante oder eine "historische" (und damit auch
überwindbare) Kategorie darstellt. An dieser Frage lässt sich
das Selbstverständnis wie auch die Kritik am Marxismus-Leninismus
der 1960-er Jahre verdeutlichen.
Einige kurze Zitate aus den marx'schen Frühschriften ("Pariser
Manuskripte" 1844)können einen
ersten Eindruck geben, worum es ging:
((Der Mensch ist in der kapitalistischen Gesellschaft zur Ware
geworden, die ihren bestimmten Marktwert hat, die man kaufen und
verkaufen kann:)) Es kommt daher zum
Resultat, daß der Mensch (der Arbeiter) nur mehr in seinen
tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen, höchstens noch
Wohnung, Schmuck etc. sich als freitätig fühlt und in seinen
menschlichen Funktionen nur mehr als Tier.
Was durch das Geld für mich ist, was ich zahlen, dh.
was das Geld kaufen kann, das bin ich,
der Besitzer des Geldes selbst. So groß die Kraft des Geldes, so
groß
ist meine Kraft. Die Eigenschaften des Geldes sind meine - seines
Besitzers - Eigenschaften und Wesenskräfte. Das, was ich bin und vermag, ist also keineswegs durch meine
Individualität bestimmt. Ich bin häßlich, aber ich kann mir die
schönste Frau kaufen. Also bin ich nicht häßlich, denn die Wirkung der Häßlichkeit, ihre abschreckende Kraft ist durch das
Geld vernichtet. Ich - meiner Individualität nach - bin lahm,
aber das Geld verschafft mir 24 Füße; ich bin also nicht
lahm; ich bin
ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das
Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer. Das Geld ist das höchste
Gut,
also ist sein Besitzer gut, das Geld überhebt mich überdem
der Mühe,
unehrlich zu sein; ich werde also als ehrlich präsumiert; ich bin geistlos, aber das Geld ist der wirkliche Geist
aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein? Zudem kann er sich
die geistreichen Leute kaufen, und wes die Macht über die
Geistreichen
ist, ist der nicht geistreicher als der Geistreiche? Ich, der durch das
Geld alles, wonach
ein menschliches Herz sich sehnt, vermag, besitze ich nicht alle
menschlichen Vermögen? Verwandelt also mein Geld nicht alle meine
Unvermögen in ihr Gegenteil?
An die Stelle aller physischen und
geistigen Sinne ist ... die einfache Entfremdung aller dieser Sinne, der
Sinn des Habens
getreten.
Denken wir bei solchen Passagen an überwindungsbedürftige und
auch überwindbare (also: "historische") Sachverhalte, so ist eben
die Frage, mit welchen Mitteln die Überwindung möglich ist;
ob sie in den sozialistischen Ländern (der Sowjetunion, der DDR)
auf Grund von deren Gesellschaftsordnung bereits geschieht oder
wesentlich angestoßen ist; oder ob sie im maoistischen China und
anderen Ländern besser verfolgt wird; usw.
Denken wir jedoch, Marx habe hier von der "condition humaine" (also
"nicht-historischer" Bedingungen des Menschseins) gesprochen, so werden
institutionelle, politische Mittel zur Herstellung der Gleichheit unter
Menschen nicht nur nicht ausreichen, sie werden sogar schaden, wenn es
um die Selbstverwirklichung des einzelnen Menschen geht.
Da beide Leseweisen gegeneinander standen, konnte mit Marx gegen den
Marxismus (bzw. gegen dessen realpolitische,
leninistisch-stalinistische oder trotzkistisch-maoistische Version)
argumentiert werden, was unter Berufung auf den "wahren" Marx und
Marxismus von mehreren Seiten auch geschah.
Dass es sich bei diesem heftig und auch unter Einsatz
politisch-administrativer Mittel ausgetragenen Streit nicht um
Nebensächlichkeiten handelte, versuche ich an einigen Episoden aus
den 1960er Jahren zu zeigen, in denen "Entfremdung" diskutiert wurde.
Dass der Streit bislang nicht zu einem Ende gekommen ist (worauf
vielleicht auch jüngere politische und ideologische Entwicklungen
in Lateinamerika verweisen), sei nur nebenbei gesagt.
Georg
Klaus und Manfred Buhr (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. Leipzig:
VEB Bibliographisches Institut (weitere Auflagen 1969, 1970 und
öfter)
Dieses Wörterbuch wird unter dem Titel "Marxistisch-Leninistisches
Wörterbuch der Philosophie" in der BRD 1972 im Rowohlt Taschenbuch
Verlag veröffentlicht, woraus ich zitiere:
Entfremdung - gesellschaftliches Verhältnis,
historisch-gesellschaftliche Gesamtsituation, in der die Beziehungen
zwischen Menschen als Verhältnisse zwischen Sachen, Dingen
erscheinen und in der die durch die materielle und geistige
Tätigkeit der Menschen hervorgebrachten Produkte,
gesellschaftlichen Verhältnisse, Institutionen und Ideologien den
Menschen als fremde, sie beherrschende Mächte
gegenübertreten. Dieser historisch-gesellschaftliche Tatbestand
tritt vor allem in Erscheinung als ökonomische
(Warenfetischismus), politische, ideologische und religiöse
Entfremdung. Allumfassenden Charakter nimmt diese Entfremdungssituation
im Kapitalismus an. (289)
Soweit die Definition im Wörterbuch. Es lohnt, sie Punkt für
Punkt zu überdenken - was ich aber Ihnen überlasse.
Nach einer begriffsgeschichtlichen Beschreibung und Interpretation von
Marx stellt der Wörterbuchartikel fest:
Der
Begriff der Entfremdung steht im Mittelpunkt der bürgerlichen
Marx-Kritik der Gegenwart. Seit der Veröffentlichung der
ökonomisch-philosophischen Manuskripe von Marx im Jahre 1932 gibt
es keinen Begriff aus der Geschichte der Herausbildung des
Marxismus, der von den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern
des Marxismus-Leninismus ausgiebiger strapaziert wird. (292)
Aus ihrer Lektüre der "Frühschriften" wird
von
den bürgerlichen und revisionistischen Gegnern des
Marxismus-Leninismus der Schluss gezogen, daß eine Umwertung des
Marxschen Schaffens notwendig sei. Die Interpretation des Marxismus
dürfe nicht beim Manifest der Kommunistischen Partei und beim
Kapital, sondern müsse bei den ökonomisch-philosophischen
Manuskripten ansetzen. Von diesen her müsse der Marxismus
interpretiert werden. Daß damit keine bloße Umwertung,
sondern eine Abwertung der Lehre von Marx beabsichtigt ist und dabei
auch herauskommt, versteht sich gleichsam von selbst. (293)
Zur Erinnerung:
-- das "Kommunistische
Manifest" (1848 Marx und Engels)
-- das "Kapital" (Marx) erscheint in drei Bänden 1867, 1884 und 1894
-- die "ökonomisch-philosophischen
Manuskripte" (1844) erscheinen
erst 1932 (s.o.) und waren z.B. Lenin nicht bekannt.
Es "versteht sich gleichsam von selbst", dass, wenn die Hauptgedanken
von Marx in Arbeiten vor 1848/49 enthalten sind und Lenin diese nicht
kannte, der Leninismus mit seinen zentralen Theorien über die
Revolution, über die Partei und deren Rolle in der Weltrevolution
etc. sich nicht auf den wahren Marx berufen könne. Damit aber
würde er auf einer missverstandenen, schwachen theoretischen Basis
stehen, die nur zu weiteren Irrtümern disponiert. Marx' Nachfolger
im Leninismus und Stalinismus hätten geglaubt, eine
"materialistische Geschichteauffassung" (den "historischen
Materialismus") und einen "wissenschaftlichen Sozialismus" (auf Basis
des "dialektischen Materialismus") aufbauen zu können,
während Marx selbst wohl nur "ein ethisches und religiöses
Gedankensystem" entworfen habe, wie das Wörterbuch einen Autor
zitiert.
Dies aber wäre nicht nur fatal, es sei ganz falsch:
Auf
einen Nenner gebracht, laufen die Bemühungen der bürgerlichen
Marx-Kritiker darauf hinaus, Marx gleichsam vom Parteigeist zu
reinigen, ihn zu entpolitisieren, ihn aus der Dynamik des
Klassenkampfes in die windstille Atmosphäre bürgerlicher
philologischer Auslegungskunst zu versetzen, um ihn um so besser aus
einem Theoretiker der Arbeiterklasse zu einem Gelehrten
bürgerlicher Observanz des 19. Jahrhunderts machen zu können
- oder ihn, wie es auch genannt worden ist, vor ihrem bürgerlichen
Publikum "zu rehabilitieren". (293)
Der Artikel über "Entfremdung" schließt so:
Ihre
(der "bürgerlichen und revisionistischen Marx-Kritiker") Absicht
ist es, den Begriff der Entfremdung in den Rang einer unhistorischen,
gleichsam ewigen, zumindest Kapitalismus und Sozialismus umfassenden
Kategorie zu erheben, um so den grundlegenden Unterschied zwischen den
beiden ökonomischen Gesellschaftsformationen zu verwischen und das
revolutionäre Kernstück des Marxismus-Leninismus, die Lehre
von der sozialistischen Revolution, als überflüssig abzutun.
(296)
Wenn "Entfremdung" das eigentliche Problem ist und wenn eine
"sozialistische Revolution" nichts zu deren Bewältigung
beiträgt, sondern nur neue Formen von Entfremdung produziert -
wozu soll sie gut sein?
Zum Seitenanfang 1965
erscheinen in deutscher
Sprache mehrere Bücher marxistischer Autoren, die das Thema ins
Zentrum rücken.
Ich habe in der Vorlesung näher das Buch eines sowjetischen Autors
vorgestellt, der eben zeigen will, dass es sich bei "Entfremdung" um
eine "historische" und somit auch überwindbare Problematik handle:
Teodor Iljitsch Oiserman: Die Entfremdung
als historische Kategorie. Berlin: Dietz 1965
In diesem Buch geht Oiserman zuerst auf die Gründe ein, warum die
Entfremdungsthematik derzeit überhaupt so aktuell sei:
Über
das Entfremdungsproblem schreiben heute nicht nur Philosophen oder
Soziologen, sondern auch Schriftsteller, Künstler, Publizisten und
Journalisten. ... Einige bürgerliche Philosophen suchen den
Begriff der Entfremdung in das Deutungsprinzip alles Existierenden zu
verwandeln. ... ((zwei Hauptgründe dafür:)) Erstens die
allgemeine Krise des kapitalistischen Systems, zweitens die objektive
Logik des Kampfes der Bourgeoisie gegen den Marxismus-Leninismus. (S.7)
Aus dem Gegensatz "zwischen dem absterbenden Kapitalismus und der sich
stürmisch entwickelnden sozialistischen Gesellschaft" entstehen
bei den "bürgerlichen Ideologen"
Gedanken
des sozialen Pessimismus, Furcht vor der Zukunft, Unglaube an den
Fortschritt, an die Entwicklung von Wissenschaft und Technik. (S.11)
und sie verwandeln dann
die
konkrete, durch den Kapitalismus entstandene historische Situation in
eine allgemeinmenschliche und somit unabwendbare Situation. (S.14)
Oiserman sieht sich vor zwei Aufgaben:
...
erstens ... dem Nachweis, daß der Entfremdungsbegriff keineswegs
theoretischer Ausgangspunkt des wissenschaftlichen Kommunismus ist;
zweitens ist der qualitative Unterschied der marxistischen Auffassung
von der Entfremdung und der Entfremdungskonzeption Hegels und
Feuerbachs herauszuarbeiten. (S.17)
Im ersten Kapitel wird "der junge Marx, das Entfremdungsproblem und der
moderne Antimarxismus" behandelt und ähnlich wie im zitierten
"Wörterbuch" festgestellt, dass
die
modernen bürgerlichen Ideologen eine Ablehnung des Marxismus in
verhüllter Form, durch "Anerkennung" des jungen Marx
vornähmen. Sie betonen den hegelschen und feuerbachschen Einfluss
auf Marx' Frühschriften, die
sie
überschwenglich loben und natürlich maßlos verzerren.
(S.21)
Es geht Marx auch schon in den "Ökonomisch-philosophischen
Manuskripten" wie später sowieso eigentlich um ökonomische
Fragen, was "der aufmerksame, unvoreingenommene Leser" (S.39) sofort
bemerke. Es ging aber eben nicht nur um die richtige Auslegung. Bevor
Oiserman seine Interpretation der Frühschriften im dritten Kapitel
gibt, stellt er noch das Entfremdungsproblem in der klassischen
deutschen Philosophie dar.
Das vierte Kapitel schließlich behandelt "Die Philosophie des
Marxismus und die existentialistische Entfremdungslehre" und
konstatiert:
Die
objektive Bedingtheit, die objektive Gesetzmäßigkeit des
gesellschaftlichen Lebens offenbart sich immer mehr mit der Entwicklung
der Produktivkräfte. Aber unter kapitalistischen Bedingungen
trägt diese objektive Gesetzmäßigkeit unausweichlich
antagonistischen Charakter. (S.101)
und:
Der
sichtbarste Ausdruck der Krise der kapitalistischen Gesellschaft ...
ist der Existentialismus.
(S.104f)
"Entfremdung" nehme im Existentialismus "zwei grundlegende Aspekte" an:
1.
Die Existenz ist die namenlose Subjektivität, Einheit,
Nichtwiederholbarkeit, der unendliche Wert meines Existierens. Die
Existenz "transzendiert" jedoch ständig, geht von sich weg und
stirbt. (S.117)
2. Ausgehend von Heideggers Lehre vom Man betrachtet der
spanische Existentialist Ortega y Gasset das Verhältnis zwischen
Persönlichkeit und Gesellschaft als Verhältnis zwischen
Menschlichem und Unmenschlichem. (S.121)
Eine nähere Analyse zeigt, ... daß die existentialistische
Furcht vor der "Massengesellschaft" im Grunde genommen nichts anderes
darstellt als die bürgerliche Furcht vor der Befreiungsbewegung,
vor der realen Macht der werktätigen Massen. (S.123)
Was aber, wenn einige, auch marxistische Autoren behaupten, es gebe
sogar so etwas wie eine 'sozialistische' Entfremdung? Gegensätze
zwischen 'Stadt' und 'Land' seien nicht überwunden,
religiöses (also illusorisches, falsches) Bewusstsein bestehe
weiter usf. Oiserman lässt Derartiges nicht gelten:
...
im Sozialismus gibt es nicht das, was Marx das Wesen, den Inhalt der
Entfremdung nannte, und es kann diesen eigentlichen Inhalt auch nicht
geben: Herrschaft der Arbeitsprodukte über die Produzenten,
Entfremdung der Produktionstätigkeit, entfremdete,
gesellschaftliche Verhältnisse, Unterjochung der
Persönlichkeit unter die spontanen Kräfte der
gesellschaftlichen Entwicklung. (S.135)
Wie die nächste Episode zeigen kann, waren Marxisten in diesem
Punkt eben nicht einig. Ich nenne einige (deutsche) Werktitel, in denen
dieser Zweifel zum Ausdruck kam - wobei ich jetzt bewusst vermeide,
"westliche" oder "existentialistische" Autoren anzuführen:
Leszek Kolakowski: Der Mensch
ohne Alternative. München: Piper 1960
Robert Havemann: Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und
Weltanschauung. Reinbek: Rowohlt 1964
Henri Lefebvre: Probleme des Marxismus heute. Frankfurt/M.: Suhrkamp
1965
Adam Schaff: Marxismus und das menschliche Individuum. Wien: Europa
Verlag 1965
Roger Garaudy: Marxismus im 20. Jahrhundert. Reinbek: Rowohlt 1969
Karel Kosik: Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik
des Menschen und der Welt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970
Zum Seitenanfang 1968
war ein ereignisreiches Jahr, ich will daraus nur eine Episode
zitieren, die einige Wochen nach dem Ende des "Prager Frühlings"
(oder: des "Marxismus mit menschlichem Angesicht") stattfand, also
nachdem Truppen der (übrigen) Staaten des Warschauer Pakts unter
Führung der Sowjetunion in der CSSR einmarschiert und das dortige
politisch-gesellschaftliche Projekt gewaltsam beendet hatten.
Als
persönliche Erinnerung möchte ich hier einfügen, dass
einige tschechische Theoretiker, in Deutsch zugänglich, damals
sehr attraktiv für mich waren, beispielsweise V. Gardavsky ("Gott
ist nicht ganz tot"). Sie verschwanden in den Jahren danach
aus den Debatten, verloren ihre Lehrstellen und
Publikationsmöglichkeiten usw. Heinrich Böll stellte
fest: "Zunächst haben auf beiden Seiten die Reaktionäre
gesiegt."
Die Episode:
Vom 2.-9. September 1968 fand in Wien der XIV. Internationale Kongress für
Philosophie statt.
Gerd
Hergen Lübben berichtete darüber in der "Frankfurter
Allgemeinen Zeitung" und Sie können seine Berichte im
Internet nachlesen. Ich führe hier nur einige Abschnitte
daraus an.
F.A.Z., 4.
September 1968: » Die Vernunft und die
Wirklichkeit « (...) Während sich die
Unterkünfte in der Wiener Stadthalle
und aut dem Gartenbaugelände im Donaupark mit Flüchtlingen
aus der CSSR füllen und Dutzende von Tschechen und Slowaken auch
am Sonntag vor der Schweizer Botschaft Schlange standen um ein Visum,
versammelten sich in den Gebäuden der Universität mehr als
3000 Philosophen aus 65 Staaten zu ihrem Kongress: „Denker aller
Länder — Gespräch und Begegnung“. Der am Montagvormittag mit
einem feierlichen Festakt in der Wiener Staatsoper eröffnete 14.
Internationale Kongress für Philosophie — nach dem Heidelberger
Kongress vom 1. bis 5. September 1908 der zweite in einem
deutschsprachigen Land — ist der größte aller bisherigen
dieser Weltkongresse. (...)
Der erste dieser Weltkongresse fand übrigens 1900 in Paris statt,
der bisher letzte (XXI.) in Istanbul 2003.
Den Festvortrag zur Eröffnung hielt 1968 H.-G. Gadamer
(Heidelberg) zum Thema "Die Macht der Vernunft" und er war auch
Teilnehmer an einem in unserem Zusammenhang interessanten
Podiumsgespräch:
Schon
am Vorabend des Kongressbeginns hat Gadamer in einer vom
Kongresspräsidenten L. Gabriel geleiteten und vom
Österreichischen
Fernsehen ausgestrahlten Podiumsdiskussion — Thema: „Die Philosophie im
Zeitalter der Wissenschaft“ — betont, dass die Vernunft wohl in der
Hauptsache zu einem gut sei, nämlich dazu, die eigenen
Irrtümer zu erkennen. Das alte „Erkenne dich selbst!“ Für die
Denkarbeit sei das Vertrauen des Philosophen in sein
Selbsterkennungsvermögen von fundamentaler Bedeutung. —
Unmittelbar vor dem Zustandekommen des in vielen Wiener Cafés
wissbegierig von Melange trinkenden Gästen und „einfachen
Menschen“ verfolgten Schaugesprächs war es hinter den Kulissen zu
einem Wortgefecht zwischen dem russischen Philosophen T. I. Oiserman
und seinem (gleichfalls zur Diskussion ein geladenen)
tschechoslowakischen Kollegen gekommen, als dieser mit geballter Faust
sagte, er könne nicht mit einem Sowjetmarxisten an einem Tisch
sitzen, wenn zugleich sowjetische Okkupanten seine Landsleute
entrechteten und entwürdigten. Oiserman darauf sophistisch: „Sie
sagen, Sie wollen nicht mit mir sprechen, und dabei sprechen Sie soeben
mit mir.“ — Desungeachtet fand das Podiumgespräch statt. Ohne den
Tschechen. (...)
Für jüngere LeserInnen zur Erinnerung, falls Sie sich
über die Cafés wundern: Fernsehen fand damals noch nicht
häufig zuhause statt.
Zum Thema selbst wird Oiserman sich wohl nicht so zurückhaltend
wie Gadamer geäußert haben: die "wissenschaftliche
Ideologie" des Marxismus-Leninismus sollte ja eben eine Orientierung in
allen, nicht nur in theoretischen Fragen liefern, gerade indem sie sich
auf die (richtig verstandenen) Ergebnisse aller Wissenschaften
stützen und diese entsprechend interpretieren könne.
Oiserman bezog dazu auf einem anderen Kolloquium des Kongresses
deutlich Partei, wie die F.A.Z. weiter berichtet:
Die
erste Sitzung des Marx-Gegenwart-Kolloquiums, in der Oiserman
(„Hegel, Marx und die Gegenwart“) das Hauptreferat hielt, fand unter
dem Vorsitz von K. Löwith statt. Oiserman sprach die
Überzeugung aus, dass die Philosophen, Soziologen und Politiker
der Gegenwart genötigt seien, auf die von Marx und Lenin
aufgeworfenen Fragen zu antworten. Diesen Fragen könne kein Mensch
mehr entgehen: sie entstünden im Leben selbst, sie würden
durch das Leben selbst aufgeworfen. Unter den anschließenden
Wortmeldungen lösten die Bemerkungen eines Mannes aus Biafra, E.
Ekesiobi, spontane Zustimmung aus. „Wir in Afrika“, sagte er, „sind
immer wieder irritiert durch das chamäleontische Wesen des
Marxismus. Gibt es nicht nur einen einzigen Marxismus? Welcher
wäre das etwa? Derjenige Lenins, jener Maos? Oder der der
Tschechen? Lasst uns die Dogmen vergessen, lasst uns analysieren!“
Auch hier ist - erfahrungsgemäß - ein historischer Hinweis
nützlich: Biafra
existierte als Staat im Ostteil Nigerias von 1967-70 und war in dieser
Zeit Schauplatz eines sehr blutigen Krieges gegen Nigeria, wobei u.a.
die Sowjetunion die Zentralregierung Nigerias unterstützte.
Und vielleicht sollte auch gesagt werden: Der "Mann aus Biafra" mag
noch an andere "Marxismen" oder "Sozialismen" gedacht oder diese sogar
erwähnt haben. Julius Nyerere,
der erste Präsident des unabhängigen Tansania, hatte gerade
kürzlich (1967) die Prinzipien eines "afrikanischen Sozialismus"
deklariert und Kwame
Nkrumah, der damalige Präsident Ghanas, stand zwar dieser Idee
kritisch gegenüber, wollte aber seinerseits durchaus marxistische
Theorie für den Prozess der Modernisierung seines Landes und
Afrikas überhaupt adaptieren.
Zwei Tage nach dem Kongress berichtet die F.A.Z. ein zweites Mal, und
auch diesmal spielt unser Thema keine geringe Rolle:
Mehrere öffentliche Appelle zum Schutz der Freiheit des Denkens
mit deutlicher Richtung gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten
wurden veröffentlicht und eine Debatte über die Berechtigung
politischer Parteinahme in philosophischen Fragen verhärtete die
Fronten.
F.A.Z., 11.
September 1968: » Konstantinow polemisiert «
(...) richtete eine Gruppe von
Philosophen — darunter Y. Bar-Hillel, E. Bloch. H. G. Gadamer, J.
Hyppolite, K. Löwith, K. Popper, G. H. v. Wright — folgenden
Appell an die Öffentlichkeit: „Teilnehmer aus zahlreichen
Ländern am 14. Internationalen Kongress für Philosophie
verfolgen mit sorgenvoller Anteilnahme die Anstrengungen ihrer Kollegen
aus der CSSR, um in ihrem Lande die Bedingungen der freien Forschung
und der freien Meinungsäußerung zu sichern, ohne die es
keine Philosophie gibt. Die Sache der Intellektuellen in der
Tschechoslowakei ist die Sache aller, die in der ganzen Welt die
Wahrheit suchen. Die Unterzeichneten hoffen, dass die Zeiten vergangen
sind, in denen der Dienst an der Wahrheit Gefängnis, Deportation
oder Exil zur Folge hatte.“
Die "Politisierung" war unverkennbar und wurde auch thematisiert:
Auf einer
Pressekonferenz der Kongressleitung kam die Politisierung
einiger Kongressveranstaltungen zur Sprache. Dabei warnte der
sowjetische Ideologe F. W. Konstantinow, der Leiter des
Autorenkollektivs des im Ostblock obligaten Lehrbuchs „Grundlagen des
Marxismus“, die Teilnehmer des Kongresses davor, zu versuchen, Richter
des Marxismus und des Internationalismus zu sein (...). Er verband
diese Äußerung
mit einer heftigen Kritik an der österreichischen Presse. die
nicht genügend objektiv über den Kongress berichtet
habe. (...)
Der "sowjetische Ideologe" (das ist natürlich keine neutrale
Bezeichnung) kann sich natürlich nicht überhaupt dagegen
ausgesprochen haben, dass politische Parteinahme (auch) in
philosophischen Argumentationen geschieht. Das wäre diametral zur
lenin'schen Auffassung gestanden, dass Wissenschaft und Philosophie
immer "parteilich" sind. (Vgl. zum "Prinzip der Parteilichkeit" meine VO
zur marxistisch-leninistischen Philosophiehistorie)
Auf
die Einwendung
westlicher Philosophen, dass zur Diskussion der marxistischen Theorie
(die im übrigen erstmals auf einem Internationalen Kongress
für Philosophie stattgefunden habe) notwendig die Erörterung
der politischen Praxis gehöre und dass sich gezeigt habe, wie
uneinheitlich das marxistische System sei (ganz im Widerspruch zur
sowjetischen Darstellung), und auf die Frage, wie die Sowjetphilosophie
die Anwendung von Gewalt rechtfertigen könne, behauptete
Konstantinow, der Marxismus sei durchaus nicht uneinheitlich. Bei so
vielen Ländern, die unter dieser Ideologic zusammengeschossen
seien, müsse mit Unterschieden gerechnet werden. Dann sagte der
Sowjetideologe, in der CSSR gehe es keinesfalls um den Marxismus.
Zwischen dem Prager und dem Moskauer Kommunismus gebe es keine
Streitpunkte. Die Intervention der Sowjetunion in der Tschechoslowakei
diene vielmehr allein dem Frieden in Europa: „Wenn Ihnen das heute
nicht klar ist, dann werden Sie es morgen merken.“
Den dritten Bericht vom 17. September 1968 bringt die F.A.Z. explizit
unter dem Titel » Marx und seine Marxisten «
Die Stimmung wurde offenbar immer hektischer, zum Schluss hin
"tumultuarisch":
Schon
vor Beginn des Kongresses hatte die philosophische Fakultät
der Prager Universität an den österreichischen
Kongresspräsidenten L. Gabriel ein die Okkupation der CSSR durch
fünf Warschauer-Pakt-Staaten verurteilendes Protestschreiben
gerichtet, das dieser aber nicht veröffentlichte. (Ungezählte
eingegangene Resolutionen wanderten in den Papierkorb. Gabriel:
„Resolutionen sind keine Diskussion.“) Einerseits sollte von vornherein
eine Politisierung des „rein wissenschaftlich“ gedachten
Veranstaltungsablaufs unterbunden werden. Andererseits lag die
Nichtveröffentlichung in diesem Falle gerade auch in Interesse der
tschechoslowakischen Teilnehmer, die wohl sämtlich von der Sorge
um ihr Ergehen nach der Heimreise erfüllt sind.
-- "Kanzler Klaus sprach anlässlich der
Eröffnung von der „geistesgeschichtlichen Relevanz“ der
tschechoslowakischen Tragödie." (und der österreichische
Botschafter in Prag, Rudolf Kirchschläger, setzt sich über
Weisungen des Außenministers Kurt Waldheim hinweg und gibt Visa
an
alle Ausreisewilligen aus, FW)
-- das offizielle Kommuniqué fordert Denkfreiheit ein, nennt
aber die CSSR nicht, weil das ja auch "jene in Griechenland" (das von
einer Junta regiert wird) betrifft;
-- "Flugblattappelle verteilten die
„Studentengruppe Wien des Österreichischen Akademikerbundes“ und
der „Verband Sozialistischer Studenten“ an die versammelten Denker."
Und schließlich, wieder zu unserem Thema:
Im
Marx-Gegenwart-Kolloquium lenkte der
Sowjetmarxist T. I. Oiserman die Geister auf das den
zeitgenössischen Marxismus wie kein anderes faszinierende Thema
„Marxismus und Humanismus“. Die gleichsam neu entdeckte
Personalität des menschlichen Individuums paralysiert den
dogmatischen Marxismus in dem Maße, wie er einer Analyse der
Bedeutung, die dem Einzelmenschen in bezug auf Gesellschaft und Masse
zukommt, vernachlässigt. Dabei ist es höchst interessant, den
Ausbildungsprozess der Marxschen Lehre weniger durch das
hegel-feuerbachsche Systembewusstsein vorbereitet zu sehen, als im
Marxismus vielmehr die Nachwirkung der fichteschen Idve vom „Willen in
Aktion“, ja mittelbar auch des kantischen Gedankenmassivs zu beobachten
(Kamenka, Cornu).
Der Widerspruch des humanistischen Anspruchs und der deterministischen
Grundtendenz des Marxismus, auf den G. Calogero (Italien) hinwies,
musste die Frage provozieren. wie denn der Determinismus der
marxistischen Lehre mit der These, der Mensch selbst mache die
Geschichte, in Einklang zu bringen sei. Während Oiserman diese
Frage aus der Dialektik des Marxschen Denkens zu beantworten versuchte,
machte die in der Bundesrepublik lebende Exilrussin V. Piroschkow
diesbezüglich kritische Bemerkungcn zum Marxismus. Ist der
Endpunkt der historischen Entwicklung, das Lichtreich des
„Kommunismus“, determiniert und der Weg dorthin indeterminiert — so
fragte sie —, oder ist in dieser extremen Teleologie ein Faktor zu
sehen, der das Element der persönlichen Freiheit aus dem Prozess
der Historie notwendig ausschaltet? — Nach der Ansicht von S.
Stojanovic (Belgrad) haben die Marxisten, seit sie zur Macht gelangt
und etabliert seien, die mannigfachen Verzerrungen der marxschen
Gedanken selbst verschuldet. Der Jugoslawe bezweifelte rundweg, dass
der Komunismus der Endpunkt der menschlichen Entwicklung sein
könne.
Einen wichtigen Beitrag zum marxismusimmanenten Determinismusproblem
hätte man sich von dem im Kongressteilnehmerverzeichnis noch
genanntem Polen L. Kolakowski erwartet. Er hat in der marxistischen
Literatur über den historischen Determinismus Tendenzen
aufgedeckt, die den Lösungsversuchen des Trientiner Konzils
ähneln; er bezeichnete den unheilbaren Antagonismus zwischen der
Philosophie, die das Absolute verewigt, und jener, die die anerkannten
Absoluta in Frage stellt, als einen „Antagonismus der Priester und
Narren“, wobei die „Philosophie des Narren“ durch eine negative
Wachsamkeit gegenüber dem Absoluten gekennzeichnet ist, durch
Intelligenz ohne Verzweiflung und durch Hoffnung ohne Verblendung.
Kolakowski, unlängst aus der Staatspartei ausgeschlossen, wurde
die Ausreise Wiener Kongress verweigert (nach Kanada freilich wird er
dürfen, wie zu vernehmen ist). — Der Warschauer Philosoph A.
Schaff, der noch im Frühjahr einen ideologischen
Zweifrontenkrieg mit der Parteiorthodoxie und dem Revisionismus
auszutragen hatte (selbst Polen wunderten sich, dass ihm die
Ausreise gestattet wurde), wusste bei der Fortführung dcs
Marx-Gegenwart-Kolloquiums, dessen Vorsitz er nach K. Löwith
übernommen hatte, wegen des Einmarsches in die CSSR protestierende
Studenten dadurch zu beschwichtigen, dass er auf die Problematik der
Einheit von Theorie und Praxis verwies. Die Protestaktion entspreche in
dem Maße nicht der Marxschen Auffassung von Praxis, wie sie
praktisch wirkungslos bleiben werde. Wenn „sozialistische“ Studenten
eine Diskussion über Marx störten, komme das einer
„internationalen Blamage“ gleich. (...)
In der offiziösen Philosophiezeitschrift der Sowjetunion, den Voprossy filosofii, die seit 1947
monatlich erschien, wird die Dezemberausgabe 1968 mit einem Beitrag von
D. I. Tschesnokow eröffnet, der titelt: "Die Verschärfung des
ideologisch-politischen Kampfes und der zeitgenössische
philosophische Revisionismus". Der Artikel bringt zum schon
Ausgeführten nicht wirklich Neues oder Überraschendes. Ich
zitiere daraus wegen eines bemerkenswerten Zitats des Autors selbst. Er
beruft sich nämlich auf einen anderen Autor, der
...
korrekt das Wesen, die untergeordnete Rolle und die Entwicklungslinie
des modernen philosophischen Revisionismus dar[stellt], seine
Feindschaft gegenüber dem Marxismus-Leninismus. (dt.
Übersetzung dieses und der folgenden Zitate von mir, FMW)
Die zitierte korrekte
Darstellung stammt von Joseph M. Bocheński, einem katholischen, damals
in der Schweiz lebenden vehementen Kritiker des Marxismus, der 1966 so
formuliert hatte:
Die
neue marxistische Philosophie gewinnt derzeit an Popularität in
osteuropäischen Ländern, nachdem sie nach 1956 von Polen
ausgegangen ist. Ihre Schöpfer waren Ch. Elstein und S. Kochanski,
später L. Kolakowski und A. Schaff. Unter ihren Anhängern in
Ungarn ist der bekannte Erwin Laszlo, in der Tschechoslowakei Karel
Kosik. In Kroation erschien 1965 die theoretische Zeitschrift "Praxis",
das leitende Organ der neuen Bewegung. ... Bei der bestehenden
politischen Lage, in der die Macht in den Händen der herrschenden
Partei liegt, nehmen die Anhänger der neuen Philosophie ihre
Zuflucht zu zwei eigentümlichen Methoden. Einerseits behaupten
sie, den "wahren Marxismus" wiederherzustellen, indem sie ihn dem
"entstellten und pervertierten" Marxismus gegenüberstellen,
andererseits erklären sie alles für "Stalinismus", was ihrer
Version nicht entspricht ...
In solcher Form ist das wirklich eine Gegenreformation von
außergewöhnlichem Ernst. Es ist schon keine Frage mehr nach
viel oder wenig Freiheit, das ist kein Problem der Interpretation des
jungen Marx und noch weniger eine Negation des "Stalinismus", was immer
das hieß; das ist ein gänzliches Verlassen der Prinzipien
des Marxismus-Leninismus."
Der Marxist-Leninist Tschesnokow stimmt der Einschätzung des
thomistischen Marxismus-Kritikers Bocheński vollinhaltlich zu, die
Orthodoxen beider Lager erkennen einander und sie nehmen einander
ernst. Die Anderen stören, in beiden Fällen. Ich habe
Heinrich Böll zum Einmarsch in Prag oben schon zitiert: "Zunächst haben auf beiden Seiten die
Reaktionäre
gesiegt."
Richtungsstreit im Marxismus um 1970 - ein persönlicher
Eindruck
Da ich 1970 Kursunterlagen zum Thema "Marxismus" für die
"Katholische Sozialakademie Österreichs" erstellt habe, kann ich
mich ebenso gut auf diese stützen wie auf andere Quellen der Zeit.
Es mag sich dabei um keinen großartigen Text handeln, aber der
Autor (Philosophiestudent mit katholischem Hintergrund, von dem er sich
gerade trennt, wobei der Marxismus eine Rolle spielt) ist mir zumindest
insofern bekannt, als ich mit ihm personalidentisch bin.
Das genannte Typoskript geht im letzten Teil (S. 56-71) auf den
"Marxismus heute" ein, ich zitiere auszugsweise.
Es
gibt heute nicht ein
marxistisches Lager, sondern viele Richtungen und politische
Kräfte, die sich alle auf Marx berufen, sich im übrigen aber
heftig bekämpfen.
Ausführlich wird "die Sowjetunion nach Stalin" behandelt,
zunächst der "XX. Parteitag der KPdSU" (Februar 1956) mit der
Entstalinisierungs-Rede Chruschtschows besprochen und festgehalten:
Chruschtschow
sagte ... nichts über Stalins Terror Nichtkommunisten und
Nationalisten gegenüber. Die Ursache für den Stalinismus sei
allein in "Stalins Charakter" zu suchen, hieß es in der Rede. Das
System blieb also unangetastet. Erst der Führer der italienischen
KP, Togliatti, stellte am 17.6.1956 fest, daß "persönliche
Fehler Stalins nicht für alle Mißstände verantwortlich
gemacht werden könnten".
Doch habe der Parteitag auch eine ideologische Korrektur gebracht,
indem
er drei Thesen annahm, die eine starke Nachwirkung haben sollten, wenn
auch nicht immer so, wie die KPdSU es wünschte.
Die erste These war die, daß es verschiedene Wege zum Sozialismus
gäbe. ...
Die zweite These besagte, daß Kriege vermeidbar seien und
daß die Forderung der Stunde die friedliche Koexistenz sei. ...
Drittens wurde festgestellt, daß in einer Reihe von Ländern
die Möglichkeit bestehe, zum
Sozialismus auf friedlichem Weg zu gelangen. Die prinzipielle
Forderung nach gewaltsamem Umsturz wurde damit aufgegeben.
Der nächste Abschnitt bespricht "Das neue Programm der KPdSU", das
1961 "für die Zeit des Übergangs vom Sozialismus zum
Kommunismus, die nun angebrochen sei" beschlossen wurde. Meine
Zusammenfassung des Programms damals:
Im
Programm der KPdSU von 1961 wird der Weg der Partei festgelegt, auf dem
der Kommunismus verwirklicht werden soll. Das gegenwärtige Stadium
des Sozialismus ist allen bisherigen Gesellschaftsordnungen
überlegen. Es führt zum Kommunismus, der höchsten Form
menschlichen Zusammenlebens.
Dieses Stadium wird in der Sowjetunion in naher Zukunft - noch in
dieser Generation - erreicht werden.
Die kommunistische Gesellschaft ist auf dem Grundsatz aufgebaut "Jeder
nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen", sie
lebt nach den Grundsätzen der kommunistischen Moral.
Allerdings hatte ich auch angemerkt:
Bisher
konnte die Partei nicht alle Forderungen und Ziele des Programms
termingerecht einhalten. Dennoch wird erst die weitere Entwicklung
zeigen, ob man darin nur Terminschwierigkeiten sehen soll oder ob es
Ziele des Programms gibt, die bei der Struktur der sowjetischen
Gesellschaft gar nicht erreicht werden können.
Im zweiten Abschnitt des Texts wird "Mao-tse-tung und der chinesische
Kommunismus" besprochen; diesen Teil habe ich in der Vorlesung
überschlagen und tue das auch jetzt, indem ich zum letzten
Abschnitt "Marxismus ohne Dogma" übergehe. Er beginnt:
Es gibt neben den
'offiziellen' Marxisten heute viele Bewegungen, die sich an Marx
orientieren, die aber nicht die sowjetische oder chinesische Spielform
des Marxismus übernehmen wollen, sondern nach Möglichkeiten
suchen, eine menschlichere Gesellschaft zu gestalten.
Die Theoretiker dieser 'undogmatischen' Marxisten sind zum großen
Teil ehemalige Mitglieder einer kommunistischen Partei, die auf Grund
ihres "Revisionismus" aus ihrer Partei ausgeschlossen wurden ...; eine
andere Richtung stellt die sogenannte "Neue Linke" dar, die praktisch
nur in 'kapitalistischen' Ländern existiert; eine dritte Richtung
schließlich kann man in den verschiedenen sozialistischen Staaten
sehen, die je für sich ihre eigenen Vorstellungen von Sozialismus
entwickeln und verwirklichen (Jugoslawien, Kuba, Chile, Ägypten
usw.)
Behandelt werden weiter im Text nur die beiden ersten, "weil die
letztgenannte für den österreichischen Raum nicht so
wesentlich ist, wenn man von Spezialfragen (wie dem jugoslawischen
Modell der Mitbestimmung) absieht." Die zentrale Idee der
"Revisionisten" wird in der "Kritik" des "Dogmatismus" gesehen:
Die
'Revisionisten' werfen den 'orthodoxen' Marxisten vor allem Dogmatismus
vor. Sie verlangen dagegen freie Meinungsäußerung,
Diskussion. Ihr Ziel ist eine Gesellschaftsform, in der der
Einzelmensch nicht im Kollektiv untergeht, aber auch nicht - wie im
Kapitalismus - zum Konsumidioten degeneriert.
Es fiel mir als Autor offensichtlich schwer, was die Neue Linke will,
...
auf einen Nenner zu bringen, weil einerseits die Äußerungen
sehr oft unartikuliert sind (z.B. in Sprechchören, Transparenten
u.dgl.), anderseits viele einander heftig bekämpfende Gruppen zu
beobachten sind. Als gemeinsame Forderungen kann man vielleicht
folgende ansehen: die Infragestellung der traditionellen
Autoritäten mit allen Mitteln (Provokation usw.); die Forderung,
gesellschaftliche und ökonomische Entscheidungsprozesse
durchsichtiger - "transparenter" - zu machen; die Betonung der
Subjektivität in einer immer mehr versachlichten Umwelt (Bildung
vieler kleiner Gruppen und Lebensgemeinschaften).
So enden diese Kursunterlagen mit einem unklaren Bild. Auch das kann
einen Eindruck von der Situation der 1960-er Jahre vermitteln, in der
wohl die bisher letzte intensive und allgemeine Auseinandersetzung
über den Marxismus als Ordnungssystem und Weltanschauung
stattgefunden hat.