Universität Wien


Wimmer: Vorlesung WS 2006/07
180386 Philosophie im 20. Jahrhundert

5. Vorlesung 7. November 2006:
Überblick 3. Periode (bis ca 1960)
Analytische Philosophie, Ideologie und Ideologiekritik, Existenzphilosophie

Themen am Beispiel 1960 | Drei Episoden: E. Husserl 1936 (Krisis) | Th. Mann 1945 (Welt-Zivilisation) | Adorno&Horkheimer 1947 (Dialektik d.A.)

Hinweis:
Beispiele für philosophische und philosophisch relevante Literatur zwischen 1930 und 1960: pdf-File

Aus der in dieser Liste beispielhaft ausgewählten Buchtitel zu philosophischen Fragen mit Erscheinungsjahr zwischen 1930 und 1960 wurden in der Vorlesung lediglich einige der Neuerscheinungen des Jahres 1960 als symptomatisch besprochen:
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1. Episode - Edmund Husserl 1936 über die Krise des europäischen Menschentums

Beschreibung wird nachgereicht


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2. Episode - Thomas Mann 1945 über die zentralen Fragen der Zeit:

Die Dezemberausgabe der Zeitung im Lager für deutsche Kriegsgefangene in Papago Park, Arizona, erschien 1945 mit einem Vorwort von Thomas Mann, das er mit "Freude" geschrieben und mit "Welt-Zivilisation"  betitelt hat. Er legt darin "ein paar Gedanken zu dem wohl brennendsten Problem unserer Tage, dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft" vor.
(Ich zitiere diesen Text hier nach folgender Quelle:
Thomas Mann: Welt-Zivilisation. In: Kantorowicz, Alfred (Hg.): Ost und West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit. 1947. Jg. 1, Nr. 2, S. 3-6. Vollständiger Nachdruck: Königstein/Ts.: Athenäum 1979, Bd.1.)

Zuerst vergleicht Mann Roosevelt mit Cäsar, denn beide hätten raumschaffend weit gedacht zu ihrer Zeit, und erinnert an
ein Wort, das Roosevelt während des Krieges sprach, und das ich auch in meinen Radiosendungen nach Deutschland einmal zitiert habe: "Der alte Ausdruck 'westliche Zivilisation'," sagte er, "paßt nicht mehr. Die Weltereignisse und die gemeinsamen Notwendigkeiten der Menschheit sind im Begriff die Kulturen Asiens, Europas und der beiden Amerika zu vereinigen und, zum erstenmal, eine Welt-Zivilisation zu formen."

Kein "Kampf der Kulturen" also, sondern ihre "Vereinigung", aber wie bei Huntington wird auch von Roosevelt Afrika nicht erwähnt und man kann sich fragen, was "die Kulturen Asiens" umgreifen. Aber, sagt Mann: "Welt-Zivilisation. Ein cäsarisches Wort. Und ein Wort groß gedachter Demokratie ..." Woran denkt er? Welche Demokratie? Er denkt an eine Notwendigkeit:
"Ohne das Chaos herbeizurufen kann die Menschheit nicht länger die wechselseitige Abhängigkeit ihrer Gruppen voneinander verleugnen, diesen sogar schon ökonomischen Tatbestand ..."

Nun aber erhebt sich gegen diese Vereinigung aus wechselseitiger Abhängigkeit ein Einwand: das Besondere wird nivelliert, uniformiert:
"es wäre ja kein Wunder, wenn das Individuum, die Nation, das Persönliche, kurz: das Verschiedene ihre Wünsche, ja ihren Protest anmeldeten gegen die völlige Einebnung der Welt durch die Diktatur eines uniformen Vernunft-Moralismus."

Mann stellt sich einen Disput zwischen einem Multikulturalisten (A) und einem Universalisten (B) vor. Der Multikulturalist (Mann benennt die beiden nicht) verteidigt die Vielfalt:
A.: "Unterschiede der Rasse, der Farbe, der Klasse, der Tradition und des Bekenntnisses sind unvermeidlich durch die Natur der Dinge, und der Wettstreit verschiedenartiger Gruppen, Einrichtungen und Ideen ist lebenswichtig für die menschliche Entwicklung. Wenn wir nur Frieden halten, nur Duldsamkeit üben, nur nicht glauben, daß einem allein die Wahrheit gehört, so ist Verschiedenheit viel besser und förderlicher als die Unterwerfung aller unter eine Idee, denn das heißt Reglementierung und Tyrannei."

"Ich glaube, du übertreibst die Bedeutung der Ungleichheit und des Wettkampfes für den menschlichen Fortschritt," sagt der Universalist, denn beiden geht es um dasselbe: um den "Fortschritt", zu dem wir heute "nachhaltige Entwicklung" sagen würden. Nur daran wollen sie messen, was Vielfalt oder Einheitlichkeit wert sind.
B.: "Der Kampf als Mittel der Auslese und Höherbildung ist ein darwinistisches Vorurteil, dessen Wert für das Leben nicht einmal in rein biologischer Sphäre unbezweifelt ist. Im Menschlichen hat es erst recht keine Geltung. Es genügt vollkommen, die Gegensätze und den Wettstreit als Tasachen [sic!] anzuerkennen, ohne sie moralisch zu bejahen und ihnen ewige Unvermeidlichkeit zuzusprechen. Die Verschiedenheit der sozialen Klassen zum Beispiel ist keineswegs eine natürliche Gegebenheit, eine klassenlose Gesellschaft vielmehr durchaus denkbar. Gewiß, die Toleranz verlangt, daß man Glaubensunterschiede respektiert. Aber schon Leonardo da Vinci hat vorausgesagt, daß in dem Maß, wie die Wahrheit besser bekannt werde, allgemeine Übereinstimmung an die Stelle der partikulären Meinungen treten werde. Einem jeden seine eigene Wahrheit anheimgeben, auch in moralischen und religiösen Dingen, das heißt soviel wie die Wahrheit selbst leugnen."

Die beiden sind heute immer noch am Disputieren. Ihre regionale Herkunft verschiebt sich gelegentlich. Mann würde "zunächst der Vermutung Ausdruck geben, daß A. ein Amerikaner, B. aber ein Europäer, wahrscheinlich ein Franzose ist." Heute könnte jemand sogar die umgekehrte Vermutung haben.
Und dann würde Mann als Schiedsrichter "etwa Folgendes sagen":
Solche Auseinandersetzungen gründen in der logischen Widersprüchlichkeit, die zwischen den Hauptelementen der Demokratie, Freiheit und Gleichheit, dem liberalen Prinzip also und dem sozialistischen besteht. Was wir Demokratie nennen, ist eben der menschliche Ausgleich zwischen diesen beiden widersprechenden Forderungen: Freiheit und Gleichheit; zwischen den anarchischen Tendenzen, die der Idee der Freiheit, und den Gefahren des Despotismus, die der Idee der Gleichheit eingeboren sind. An dem Glauben an eine absolute, für alle gültige Wahrheit müssen wir freilich festhalten. Aber die Wahrheit ist nicht immer dieselbe oder sieht nicht immer gleich aus. Es gehen in ihrem Bilde Veränderungen vor, die aufmerksam zu beachten und denen Rechnung zu tragen die Sache menschlicher Klugheit ist. Die Wahrheit ist lebendig, i.e. dem Wechsel unterworfen, und das ist auch die Demokratie.

Wenn man nun aber nicht beides zugleich haben kann, sind dann die "anarchischen Tendenzen" oder der "Despotismus" die größere Gefahr? Wer von beiden hat Recht? 1945 war für Thomas Mann die Sache klar:
B., der Europäer, sozialistisch, wie heute alle Europäer, hat recht: Die Gleichheit ist heute der Demokratie ein wichtigeres Anliegen, als die Verschiedenheit. Ihr Wille geht nicht sowohl auf die Verherrlichung des Individuellen, Persönlichen, Eigentümlichen, Nationalen und seiner Souveränität, als auf Einordnung; und Einordnung heißt Reglementierung, soziale Reglementierung der Freiheit. Besonders noch hat er recht mit seiner Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft, denn die ist nicht nur eine theoretische Möglichkeit, sondern sie ist in allem Praktischen auf dem besten Wege, sich zu verwirklichen.
Das klingt nun merkwürdig entlegen. Konnte Mann sich denn nicht vorstellen, dass eine globalisierte Marktwirtschaft ganz ohne "Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft" auch zu "Einordnung" und "Reglementierung" führen kann, allerdings unter anderen Herrschaften als nur den klassisch Regierenden? Nein, konnte er wohl nicht. Seine Instanz der Reglementierung ist der klassische Staat. Und darum sagt er noch zu B., dem "Europäer, sozialistisch, wie heute alle Europäer":
Und er hat nicht recht, nicht durchaus, nicht endgültig. Er zeigt sich allzu hingerissen von der Mutationskrise, die das Antlitz der Demokratie ins Sozialistische verändern will. ... die Freiheit kann und soll niemals in Gleichheit untergehen, und wir wollen den Wettstreit des Ungleichen als Faktor des menschlichen Fortschritts nicht unterschätzen."
Aber es gibt das ohnehin nicht in Manns Wirklichkeit, dieses eindeutige Monopol der Gleichheit vor der individuellen Freiheit. Die Sowjetunion, programmatisch der Gleichheit verpflichtet, zeigt ihm das:
Das sozialistische Rußland ist weit entfernt, die Menschen als gleich zu erachten und dem einen an Ehre und Einkommen nicht mehr zu gewähren, als dem anderen. Es kennt keine Rangordnung der Rassen und Klassen, der Hautfarbe und des Glaubens, es kennt nur den Sowjetbürger und gewährt jedem den gleichen Start. Aber die menschliche Ungleichheit, die Rangordnung der Individuen zu leugnen, kommt auch dem Bolschewismus nicht in den Sinn, und auch ihm heißt Gerechtigkeit, selbst im Wirtschaftlichen, nicht "Allen das Gleiche", sondern "Jedem das Seine".
An die Stelle der Sowjetunion, für die dies offenbar auch weitgehend nur Theorie war, ist nun inzwischen nicht ein Weltstaat getreten, der "jedem den gleichen Start" gewähren würde, sondern ein System globaler Märkte, in dem mehr als die Hälfte der hundert weltweit größten und einflussreichsten Einheiten ("economies") schon seit Jahren nicht "Staaten" sind, deren Regierende zumindest theoretisch das allgemeine Wohl verfolgen müssten und in deren Verfassungen Menschenrechte verankert sind.
Alle Probleme um die heute die Menschheit sich müht, die politischen, ökonomischen und kulturellen, lassen sich zurückführen auf das eine: ein neues, der Weltstunde angemessenes Gleichgewicht von Freiheit und Gleichheit zu finden; das Völker- und Staatenleben in einen Sozialismus überzuführen, der die Rechte des Individuums, den Wert des Ungleichen zu ehren weiß. Die Nationalkulturen, in denen das Menschliche sich farbig bricht, und denen der liberale Humanismus so viel Liebe zuwandte, brauchen nicht zu verblassen und zu sterben in der Weltzivilisation der Zukunft. "One World", das muß nicht Langeweile heißen und "Friede" nicht Bewegungslosigkeit und die Zufriedenheit der wiederkäuenden Kuh. Die Einheit sei vielfach und charaktervoll in ihrem Streben, der Friede ein schöpferischer Wetteifer um das Gute.
Damit endet der Text. Die Leser der Lagerzeitung werden bald nach Deutschland oder Österreich zurück gehen, in die US-amerikanische, die französische, englische oder sowjetische Zone. Vier Jahre später wird es zwei deutsche Staaten geben und die Zeitschrift, in der dieser Text nochmals abgedruckt wurde ("Ost und West", s.o.), wird dann wegen zu hoher Kosten und einem durch die politische Entwicklung (v.a. der Entstehung der BRD und der DDR) stark eingeschränkten Markt eingestellt. Die "Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft" wird zu einem regionalen Phänomen, wo sich eine "neue Klasse" entwickeln wird, die schließlich auch kapituliert. Dann wird der freie, aber nicht gleiche Fluss von Kapital und Information überallhin auf dem Globus schneller und wahrscheinlich nachhaltiger Besonderes zum Verschwinden bringen, als dies Eroberer in früheren Zeiten gekonnt hätten, auch ohne die Sorge, dass "Jedem das Seine" zusteht.

Ungefähr da befinden wir uns und wir können unter den Utopien des vorigen Jahrhunderts verzeichnen, dass da einmal jemand davon geträumt hat, "das Völker- und Staatenleben in einen Sozialismus überzuführen, der die Rechte des Individuums, den Wert des Ungleichen zu ehren weiß". Oder ist das ganz aktuell und müsste nur verfolgt werden? Hat nicht der britische Premier, als er im September 2001 Großbritanniens Engagement in einem "Krieg gegen den Terrorismus" verkündete, auch ein Kriegsziel genannt: eine Welt, in der alle Menschen die wirtschaftliche und soziale Freiheit haben werden, ihre Anlagen voll zu entwickeln "von den Wüsten Nordafrikas zu den Slums von Gaza und den Bergen Afghanistans", eine gerechte Welt für alle? Nach den ersten Jahren dieses Kriegs, der damals auf zehn Jahre veranschlagt wurde, ist nicht viel davon zu bemerken.

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3. Episode: Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1947 über den Selbstwiderspruch der Vernunft

Beschreibung wird nachgereicht


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Erstellt: Wintersemester 2006