Aus der in dieser Liste
beispielhaft ausgewählten Buchtitel zu philosophischen Fragen mit
Erscheinungsjahr zwischen 1930 und 1960 wurden in der Vorlesung
lediglich einige der Neuerscheinungen des Jahres 1960 als
symptomatisch besprochen:
Jean-Paul Sartre: Critique de
la raison dialectique (dt. 1967: Kritik der dialektischen
Vernunft) - Sartre ist einer der bedeutendsten Autoren im
(französischen) Existentialismus, der wiederum mit der (deutschen)
Existenzphilosophie eng verbunden ist und eine wichtige Strömung
der Periode darstellt. Vgl. dazu die nach der Vorlesung im WS 0506
ausgearbeiteten Darstellungen von
Alexander
Schubach: Existenzphilosophie - Karl Jaspers, Martin Heidegger und
Jean-Paul Sartre
Leszek Kołakowski: Der Mensch
ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit
Marxist zu sein - repräsentiert eine marxistische Kritik am
Marxismus-Leninismus, die eng mit wissenssoziologischen,
ideologiekritischen und existenzialistischen Ansichten verknüpft
ist.
"Wir
haben ... keinen Grund anzunehmen, daß das Wesen des kollektiven
Bewußtseins organisierter Bewegungen eines Tages aufhört zu
existieren. Das in einer organisierten Form bestehende politische Leben
kann nicht auf den ideologischen Zement verzichten, dieser jedoch
verdankt seine Festigkeit unter anderem dem Umstand, daß er keine
rationale Kontrolle verträgt, die ein Element der Desintegration
hineintragen würde. ("Der Mensch ohne Alternative", München:
Piper 1960, S.29f)
Mit anderen Worten: Kołakowski hält die These für falsch, es
könne jemals so etwas wie eine ideologiefreie Gesellschaft geben.
Aber etwas anderes hält er für möglich - eine innere
Freiheit des Individuums als "Frucht des philosophischen Denkens":
Wir
treten für die Philosophie des Narren ein, also für die
Haltung der negativen Wachsamkeit gegenüber jedem Absoluten - und
dies nicht auf Grund eines Ergebnisses nach Prüfung der Argumente,
denn die wichtigsten Entscheidungen sind Wertung. Wir treten ein
für außerintellektuelle Werte ... Es geht uns um die Vision einer
Welt, in der die am schwersten zu vereinbarenden Elemente menschlichen
Handelns miteinander verbunden sind, kurz, es geht uns um Güte
ohne Nachsicht, Mut ohne Fanatismus, Intelligenz ohne Verzweiflung und
Hoffnung ohne Verblendung. Alle anderen Früchte des
philosophischen Denkens sind unwichtig. (op.cit. S.280)
Solche marxistische Kritik am Marxismus als einer
institutionalisierten, dogmatisch gewordenen Ideologie ("Eine Inspiration ist ... etwas anderes
als die Leitung durch eine politische Organisation", op.cit.
S.38) wurde in dieser Zeit als "Revisionismus" heftig diskutiert. Vgl.
dazu die 8.
Vorlesung im SoSe 06.
Cheikh Anta Diop: L'Afrique
noire précoloniale et l'unité culturelle de l'Afrique
noire
/und/
Nakamura Hajime: Ways of Thinking of Eastern Peoples (jap. 1960;
engl. zuerst 1964) - diese beiden (sonst recht ungleichen) Werke
können aus heutigem Rückblick zusammen genannt werden, sofern
sie jeweils eine neue, interkulturelle Perspektive in kritischer
Absetzung von eurozentrischer Tradition einbringen. Diopbeschreibt beispielsweise
die ägyptische als eine afrikanische
Kultur und wurde zu einem der Repräsentanten des Afrozentrismus. Nakamura wiederum schreibt
Geschichte der Philosophie von einem buddhistischen Gesichtspunkt aus,
was ebenfalls als neuer Ansatz in dieser Zeit zu sehen ist.
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit
und Methode - das Buch wird zu einem (im deutschen Sprachraum
wohl: dem) Bezugswerk
für oder wider Hermeneutik für Jahrzehnte (zB.
veröffentlichte die NZZ 1990 einen Beitrag von Rüdiger Bubner
mit dem Titel "Die Karriere der
Hermeneutik. Hans-Georg Gadamer zum neunzigsten Geburtstag").
Zum Seitenanfang 1. Episode - Edmund Husserl 1936
über die Krise des europäischen Menschentums
Beschreibung wird nachgereicht
Zum Seitenanfang 2. Episode - Thomas Mann 1945
über die zentralen Fragen der Zeit:
Die Dezemberausgabe der Zeitung im Lager für deutsche
Kriegsgefangene in Papago Park, Arizona, erschien 1945 mit einem
Vorwort von Thomas Mann, das er mit "Freude" geschrieben und mit
"Welt-Zivilisation" betitelt hat. Er legt darin "ein paar
Gedanken zu dem wohl brennendsten Problem unserer Tage, dem
Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft" vor.
(Ich
zitiere diesen Text hier nach folgender Quelle: Thomas Mann: Welt-Zivilisation. In:
Kantorowicz, Alfred (Hg.): Ost und
West. Beiträge zu kulturellen und politischen Fragen der Zeit.
1947.
Jg. 1, Nr. 2, S. 3-6. Vollständiger Nachdruck:
Königstein/Ts.: Athenäum
1979, Bd.1.)
Zuerst vergleicht Mann Roosevelt mit Cäsar, denn beide hätten
raumschaffend weit gedacht zu ihrer Zeit, und erinnert an
ein
Wort, das Roosevelt während des Krieges sprach, und das ich auch
in meinen Radiosendungen nach Deutschland einmal zitiert habe: "Der
alte Ausdruck 'westliche Zivilisation'," sagte er, "paßt nicht
mehr. Die Weltereignisse und die gemeinsamen Notwendigkeiten der
Menschheit sind im Begriff die Kulturen Asiens, Europas und der beiden
Amerika zu vereinigen und, zum erstenmal, eine Welt-Zivilisation zu
formen."
Kein "Kampf der Kulturen" also, sondern ihre "Vereinigung", aber wie
bei Huntington wird auch von Roosevelt Afrika nicht erwähnt und
man kann sich fragen, was "die Kulturen Asiens" umgreifen. Aber, sagt
Mann: "Welt-Zivilisation. Ein cäsarisches Wort. Und ein Wort
groß gedachter Demokratie ..." Woran denkt er? Welche Demokratie?
Er denkt an eine Notwendigkeit:
"Ohne
das Chaos herbeizurufen kann die Menschheit nicht länger die
wechselseitige Abhängigkeit ihrer Gruppen voneinander verleugnen,
diesen sogar schon ökonomischen Tatbestand ..."
Nun aber erhebt sich gegen diese Vereinigung aus wechselseitiger
Abhängigkeit ein Einwand: das Besondere wird nivelliert,
uniformiert:
"es wäre ja kein Wunder, wenn das Individuum, die Nation, das
Persönliche, kurz: das Verschiedene ihre Wünsche, ja ihren
Protest anmeldeten gegen die völlige Einebnung der Welt durch die
Diktatur eines uniformen Vernunft-Moralismus."
Mann stellt sich einen Disput zwischen einem Multikulturalisten (A) und
einem Universalisten (B) vor. Der Multikulturalist (Mann benennt die
beiden nicht) verteidigt die Vielfalt:
A.:
"Unterschiede der Rasse, der Farbe, der Klasse, der Tradition und des
Bekenntnisses sind unvermeidlich durch die Natur der Dinge, und der
Wettstreit verschiedenartiger Gruppen, Einrichtungen und Ideen ist
lebenswichtig für die menschliche Entwicklung. Wenn wir nur
Frieden halten, nur Duldsamkeit üben, nur nicht glauben, daß
einem allein die Wahrheit gehört, so ist Verschiedenheit viel
besser und förderlicher als die Unterwerfung aller unter eine
Idee, denn das heißt Reglementierung und Tyrannei."
"Ich glaube, du übertreibst die Bedeutung der Ungleichheit und des
Wettkampfes für den menschlichen Fortschritt," sagt der
Universalist, denn beiden geht es um dasselbe: um den "Fortschritt", zu
dem wir heute "nachhaltige Entwicklung" sagen würden. Nur daran
wollen sie messen, was Vielfalt oder Einheitlichkeit wert sind.
B.:
"Der Kampf als Mittel der Auslese und Höherbildung ist ein
darwinistisches Vorurteil, dessen Wert für das Leben nicht einmal
in rein biologischer Sphäre unbezweifelt ist. Im Menschlichen hat
es erst recht keine Geltung. Es genügt vollkommen, die
Gegensätze und den Wettstreit als Tasachen [sic!] anzuerkennen,
ohne sie moralisch zu bejahen und ihnen ewige Unvermeidlichkeit
zuzusprechen. Die Verschiedenheit der sozialen Klassen zum Beispiel ist
keineswegs eine natürliche Gegebenheit, eine klassenlose
Gesellschaft vielmehr durchaus denkbar. Gewiß, die Toleranz
verlangt, daß man Glaubensunterschiede respektiert. Aber schon
Leonardo da Vinci hat vorausgesagt, daß in dem Maß, wie die
Wahrheit besser bekannt werde, allgemeine Übereinstimmung an die
Stelle der partikulären Meinungen treten werde. Einem jeden seine
eigene Wahrheit anheimgeben, auch in moralischen und religiösen
Dingen, das heißt soviel wie die Wahrheit selbst leugnen."
Die beiden sind heute immer noch am Disputieren. Ihre regionale
Herkunft verschiebt sich gelegentlich. Mann würde "zunächst
der Vermutung Ausdruck geben, daß A. ein Amerikaner, B. aber ein
Europäer, wahrscheinlich ein Franzose ist." Heute könnte
jemand sogar die umgekehrte Vermutung haben.
Und dann würde Mann als Schiedsrichter "etwa Folgendes sagen":
Solche
Auseinandersetzungen gründen in der logischen
Widersprüchlichkeit, die zwischen den Hauptelementen der
Demokratie, Freiheit und Gleichheit, dem liberalen Prinzip also und dem
sozialistischen besteht. Was wir Demokratie nennen, ist eben der
menschliche Ausgleich zwischen diesen beiden widersprechenden
Forderungen: Freiheit und Gleichheit; zwischen den anarchischen
Tendenzen, die der Idee der Freiheit, und den Gefahren des Despotismus,
die der Idee der Gleichheit eingeboren sind. An dem Glauben an eine
absolute, für alle gültige Wahrheit müssen wir freilich
festhalten. Aber die Wahrheit ist nicht immer dieselbe oder sieht nicht
immer gleich aus. Es gehen in ihrem Bilde Veränderungen vor, die
aufmerksam zu beachten und denen Rechnung zu tragen die Sache
menschlicher Klugheit ist. Die Wahrheit ist lebendig, i.e. dem Wechsel
unterworfen, und das ist auch die Demokratie.
Wenn man nun aber nicht beides zugleich haben kann, sind dann die
"anarchischen Tendenzen" oder der "Despotismus" die größere
Gefahr? Wer von beiden hat Recht? 1945 war für Thomas Mann die
Sache klar:
B.,
der Europäer, sozialistisch, wie heute alle Europäer, hat
recht: Die Gleichheit ist heute der Demokratie ein wichtigeres
Anliegen, als die Verschiedenheit. Ihr Wille geht nicht sowohl auf die
Verherrlichung des Individuellen, Persönlichen,
Eigentümlichen, Nationalen und seiner Souveränität, als
auf Einordnung; und Einordnung heißt Reglementierung, soziale
Reglementierung der Freiheit. Besonders noch hat er recht mit seiner
Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft, denn die ist nicht nur eine
theoretische Möglichkeit, sondern sie ist in allem Praktischen auf
dem besten Wege, sich zu verwirklichen.
Das klingt nun merkwürdig entlegen. Konnte Mann sich denn nicht
vorstellen, dass eine globalisierte Marktwirtschaft ganz ohne
"Anmeldung der klassenlosen Gesellschaft" auch zu "Einordnung" und
"Reglementierung" führen kann, allerdings unter anderen
Herrschaften als nur den klassisch Regierenden? Nein, konnte er wohl
nicht. Seine Instanz der Reglementierung ist der klassische Staat. Und
darum sagt er noch zu B., dem "Europäer, sozialistisch, wie heute
alle Europäer":
Und
er hat nicht recht, nicht durchaus, nicht endgültig. Er zeigt sich
allzu hingerissen von der Mutationskrise, die das Antlitz der
Demokratie ins Sozialistische verändern will. ... die Freiheit
kann und soll niemals in Gleichheit untergehen, und wir wollen den
Wettstreit des Ungleichen als Faktor des menschlichen Fortschritts
nicht unterschätzen."
Aber es gibt das ohnehin nicht in Manns Wirklichkeit, dieses eindeutige
Monopol der Gleichheit vor der individuellen Freiheit. Die Sowjetunion,
programmatisch der Gleichheit verpflichtet, zeigt ihm das:
Das
sozialistische Rußland ist weit entfernt, die Menschen als gleich
zu erachten und dem einen an Ehre und Einkommen nicht mehr zu
gewähren, als dem anderen. Es kennt keine Rangordnung der Rassen
und Klassen, der Hautfarbe und des Glaubens, es kennt nur den
Sowjetbürger und gewährt jedem den gleichen Start. Aber die
menschliche Ungleichheit, die Rangordnung der Individuen zu leugnen,
kommt auch dem Bolschewismus nicht in den Sinn, und auch ihm
heißt Gerechtigkeit, selbst im Wirtschaftlichen, nicht "Allen das
Gleiche", sondern "Jedem das Seine".
An die Stelle der Sowjetunion, für die dies offenbar auch
weitgehend nur Theorie war, ist nun inzwischen nicht ein Weltstaat
getreten, der "jedem den gleichen Start" gewähren würde,
sondern ein System globaler Märkte, in dem mehr als die
Hälfte der hundert weltweit größten und
einflussreichsten Einheiten ("economies") schon seit Jahren nicht
"Staaten" sind, deren Regierende zumindest theoretisch das allgemeine
Wohl verfolgen müssten und in deren Verfassungen Menschenrechte
verankert sind.
Alle
Probleme um die heute die Menschheit sich müht, die politischen,
ökonomischen und kulturellen, lassen sich zurückführen
auf das eine: ein neues, der Weltstunde angemessenes Gleichgewicht von
Freiheit und Gleichheit zu finden; das Völker- und Staatenleben in
einen Sozialismus überzuführen, der die Rechte des
Individuums, den Wert des Ungleichen zu ehren weiß. Die
Nationalkulturen, in denen das Menschliche sich farbig bricht, und
denen der liberale Humanismus so viel Liebe zuwandte, brauchen nicht zu
verblassen und zu sterben in der Weltzivilisation der Zukunft. "One
World", das muß nicht Langeweile heißen und "Friede" nicht
Bewegungslosigkeit und die Zufriedenheit der wiederkäuenden Kuh.
Die Einheit sei vielfach und charaktervoll in ihrem Streben, der Friede
ein schöpferischer Wetteifer um das Gute.
Damit endet der Text. Die Leser der Lagerzeitung werden bald nach
Deutschland oder Österreich zurück gehen, in die
US-amerikanische, die französische, englische oder sowjetische
Zone. Vier Jahre später wird es zwei deutsche Staaten geben und
die Zeitschrift, in der dieser Text nochmals abgedruckt wurde ("Ost und
West", s.o.), wird dann wegen zu hoher Kosten und einem durch die
politische Entwicklung (v.a. der Entstehung der BRD und der DDR) stark
eingeschränkten Markt eingestellt. Die "Anmeldung der klassenlosen
Gesellschaft" wird zu einem regionalen Phänomen, wo sich eine
"neue Klasse" entwickeln wird, die schließlich auch kapituliert.
Dann wird der freie, aber nicht gleiche Fluss von Kapital und
Information überallhin auf dem Globus schneller und wahrscheinlich
nachhaltiger Besonderes zum Verschwinden bringen, als dies Eroberer in
früheren Zeiten gekonnt hätten, auch ohne die Sorge, dass
"Jedem das Seine" zusteht.
Ungefähr da befinden wir uns und wir können unter den Utopien
des vorigen Jahrhunderts verzeichnen, dass da einmal jemand davon
geträumt hat, "das Völker- und Staatenleben in einen
Sozialismus überzuführen, der die Rechte des Individuums, den
Wert des Ungleichen zu ehren weiß". Oder ist das ganz aktuell und
müsste nur verfolgt werden? Hat nicht der britische Premier, als
er im September 2001 Großbritanniens Engagement in einem "Krieg
gegen den Terrorismus" verkündete, auch ein Kriegsziel genannt:
eine Welt, in der alle Menschen die wirtschaftliche und soziale
Freiheit haben werden, ihre Anlagen voll zu entwickeln "von den
Wüsten Nordafrikas zu den Slums von Gaza und den Bergen
Afghanistans", eine gerechte Welt für alle? Nach den ersten Jahren
dieses Kriegs, der damals auf zehn Jahre veranschlagt wurde, ist nicht
viel davon zu bemerken.
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3. Episode: Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1947 über den
Selbstwiderspruch der Vernunft