Universität Wien


Wimmer: Vorlesung WS 2006/07
180386 Philosophie im 20. Jahrhundert

4. Vorlesung 31. Oktober 2006:
Überblick 2. Periode (bis ca 1929)
Phänomenologie, Marxismus, Pragmatismus

Nachtrag zur vorigen Vorlesung | Übersicht der Themen und Literatur | Beispiel: Phänomenologie | Punkte zur Diskussion

An diesem Termin wurden noch Punkte zur Diskussion (Wahrnehmung z.B. von "Kyoto-Schule") von der 3. Vorlesung nachgetragen.

Hinweis:
Beispiele für philosophische und philosophisch relevante Literatur zwischen 1915 und 1929: pdf-File

Die in dieser Liste beispielhaft ausgewählten Buchtitel zu philosophischen Fragen mit Erscheinungsjahr zwischen 1915 und 1929 zeigen das Vorherrschen bestimmter Problemstellungen, wobei insbesondere auffällt:

Als prägende Werke philosophischer Richtungen im Allgemeinen können in diesem Zeitraum angesehen werden z.B.:
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Zur "Phänomenologie"

Edmund HUSSERL 1859 Prossnitz in Mähren – 1938 Freiburg i.Br.
Studium der Mathematik und Philosophie in Leipzig, Berlin und Wien
Zu Lebensdaten, Literatur und Lehre vgl. Wikipedia


Husserl begründet die "Phänomenologie", eine der wichtigsten Richtungen der Philosophie im 20. Jahrhundert.
Lese-Empfehlung:
Vetter, Helmuth (Hg.): Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Hamburg: Meiner 2004, z.B. Artikel "Phänomenologie". S. 410ff
((Zuerst: Geschichte des Terminus: 18. Jh. als "Lehre vom Schein" (im Unterschied zur Lehre von der Wahrheit) – Oetinger, Lambert, Kant))
410: Als eigenständige philosophische Bewegung und vor allem als Methode
411: wird die Ph. Anfang des 20. Jahrhunderts durch Husserl begründet. Der gemeinsame Name besteht heute trotz teils weitreichender Differenzen, wobei zumindest zwei Problemansätze ... gemeinsam sind: die Korrelation von Zugangsart ("Logos") und Gegenständen ("Phänomenen") und die Welt als Boden dieser Korrelation. In der 4. Fassung seines Encyclopaedia-Britannica-Artikels über phänomenologische Psychologie schreibt Husserl 1927: "'Ph.' bezeichnet eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften zu ermöglichen." ...
Husserls Artikel nennt zugleich drei wesentliche Aufgaben der Ph.: 1. die Methode der Deskription, 2. die Apriorität dieser Wissenschaft und 3. ihre Bedeutung als Fundament der Einzelwissenschaften. Alle diese Momente erweisen sich für die nachfolgenden Phänomenologen als verbindlich, auch wo sie kritisch dazu Stellung nehmen.

Das Versprechen, das die Phänomenologie somit abgegeben hat, war groß und ist ein deutlicher Fall für den Entwurf einer "Letztbegründung" (vgl. dazu den Kommentar von Mathias Thaler zur 2. Vorlesung): eine vorurteilsfreie, nicht durch Meinungen, Traditionen, Wertungen oder sonstige subjektive und kollektive Annahmen verzerrte Beschreibung der Welt zu geben; eine apriorische Wissenschaft zu begründen und damit alle Wissenschaften (also Naturwissenschaften ebenso wie Sozial- und Geisteswissenschaften usw.) zu "reformieren", d.h. sie auf dieser apriorischen Basis zu begründen.
Dieses Programm ist von einer Reihe von bedeutenden Philosophen und Philosophinnen rasch aufgegriffen und verfolgt worden, aber man muss sich fragen, warum nicht alle davon zu überzeugen waren und sind.

Ich führe darum einige Einschätzungen der Phänomenologie durch Nicht-Phänomenologen an, die mehrere Punkte zeigen, die in Auseinandersetzungen zwischen philosophischen Richtungen im 20. Jahrhundert immer wieder zu beobachten sind:
-- es geht nicht nur um Fragen der Theorie und ihrer Begründung, sondern häufig offenkundig um weltanschauliche und politische Orientierungen;
-- jede Richtung entwickelt ihre eigene Begrifflichkeit, deren Anwendung auf die kritisierte andere Richtung diese als verfehltes Unternehmen erscheinen lässt;
-- was als Letztinstanz oder als entscheidende Autorität anzusehen ist, ist jeweils verschieden.
Heinrich Schmidt: Philosophisches Wörterbuch. 2. Auflage. Leipzig: Kröner 1916.
Der Artikel "Phänomenologie" ist hier noch sehr knapp, weshalb ich ihn zur Gänze zitiere:
185: Phänomenologie, Erscheinungslehre; "eine bis zu den letzten Elementen vordringende Analyse der Erscheinungen in sich selbst" (Stumpf); bei Hegel die Darstellung des Bewußtseins in seiner Fortbewegung von dem ersten unmittelbaren Gegensatz seiner und des Gegenstandes bis zum absoluten Wissen. Die phänomenologische Methode in der Logik geht auf eine Analyse der Bedeutung aus, d.h. dessen, was mit einem Begriff oder Urteil "gemeint" ist (Husserl, Logische Untersuchungen)."

Werner Schingnitz und Joachim Schondorff (Hg.): Philosophisches Wörterbuch. 10. Auflage, völlig neu bearbeitet. Stuttgart: Kröner 1943, 439f., Artikel "Phänomenologie":
((Kant, Hegel, Brentano (soviel wie "deskriptive Psychologie"), Stumpf, N. Hartmann, dann:))
439: Größten Einfluß erlangte in Deutschland zw. 1918 und 1933 die P. genannte Theorie des jüdischen Denkers Husserl. Danach ist P. nicht Seinsforschung, sondern Bedeutungs- und Sinnforschung ... Genauer ist Husserls P. keine Lehre vom Wesen selbst (über das kaum etwas ausgesagt wird), sondern von der Wesensschau, vom wesensschauenden Bewußtsein; dessen wichtigste Beschaffenheit ist die Intentionalität. ...
440: Die Ph. Husserls gibt sich das Aussehen großer Gegenstandsgerichtetheit und Sachhaltigkeit, ohne allen Subjektivismus und Psychologismus, doch um den Preis bewußter Lebensentfremdung und Abstraktsetzung der geistigen Existenz des erkennenden Menschen. In diesem Sinne äußert der Biologe Max Hartmann ... über die Ph.: sie führt "zu einem leeren Generalisieren und Formalisieren ... Schelers [NB: Halbjude] 'Stellung des Menschen im Kosmos' und die 'Stufen des Organischen' von Hans Pleßner [NB: Jude] mit ihren an mittelalterliche Scholastik erinnernden Klassifikationen biologischer Sachverhalte scheinen mir drastische Beispiele dafür zu sein."
Zur Terminologie dieser Kennzeichnung (z.B. "jüdischer Denker", "leeres Generalisieren und Formalisieren" etc.) siehe meine Studie über "Rassismus und Kulturphilosophie" (Downloadmöglichkeit). Diese Terminologie steht im Kontext der sogenannten "Rassenlehre" wonach durch Zugehörigkeit zu einer "Rasse" eben auch das Denken grundlegend bedingt sei: "Was der Jude uns von der herrlichen schöpferischen Aufbauarbeit der idealistischen Systemdenker übriggelassen hat, ist ein Wust von sogenannten erkenntniskritischen Begriffsspaltereien, ein rein formalistischer Wissenschaftsbetrieb, der die Grundlagen unserer Weltanschauung entgöttert, entseelt und aus der philosophischen Debatte ausgeschieden hat." (Raymund Schmidt: Das Judentum in der deutschen Philosophie. In: Theodor Fritsch (Hg.): Handbuch zur Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes, Leipzig 1938, 42. Aufl. S. 395) Da Husserl als "Jude" galt (was nichts mit seiner Konfession zu tun hatte), konnte er gemäß dieser Ideologie gar nicht anders denken. Ähnliche Einschätzungen aufgrund derselben Zuordnung erfuhren, bei allen Unterschieden im Detail, etwa auch Bergson (Lebensphilosophie), Cohen (Neukantianismus) u.a.
Klaus, Georg und Manfred Buhr (Hg.): Marxistisch-Leninistisches Wörterbuch der Philosophie. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1964 (hier zititiert nach Lizenzausg.: Reinbek: Rowohlt 1972, Bd. 3, S 835ff, Artikel "Phänomenologie")
835: ((Wieder kurze Darstellung von Lambert, Kant, Brentano, Hegel, dann:))
"von Husserl begründete Strömung der spätbürgerlichen deutschen Philosophie.
Die Phänomenologie entwickelte sich um die Jahrhundertwende im Zusammenhang mit der beginnenden Abkehr der spätbürgerlichen deutschen Philosophie vom Neukantianismus. Hauptinhalt dieser Abkehr vom Neukantianismus war das Ersetzen seiner rationalistisch orientierten Erkenntnismethoden durch irrationalistische und die versuchte Eliminierung seines subjektiven Idealismus durch die Konstituierung einer Pseudoobjektivität als Voraussetzungen zum Aufbau einer, breite Kreise der Intelligenz ansprechenden, irrationalistischen Weltanschauung. ... ((ausführliche Zitate Husserl, Merleau-Ponty))
836: Husserls phänomenologische Methode ist ein ebenso großangelegter wie verfehlter Versuch, die Grundfrage der Philosophie zu umgehen und den philosophischen Materialismus, den der Neukantianismus noch direkt bekämpfte und als Gegner betrachtete, als vorwissenschaftliche Weltansicht
837: einfach abzutun. In mehr oder minder starker Nachfolge Husserls nimmt eine solche Haltung die gesamte imperialistische deutsche Philosophie, mit Ausnahme des Neuthomismus, der Grundfrage der Philosophie und dem philosophischen Materialismus gegenüber ein. Mit der Phänomenologie beginnt die indirekte, verlogene Bekämpfung des Materialismus durch die spätbürgerliche deutsche Philosophie.
Husserl gab vor, mit der phänomenologischen Methode jenseits von Idealismus und Materialismus zu stehen. In Wirklichkeit ist seine Lehre eine moderne Neuauflage des Platonismus, der in ihr subjektiv-idealistisch umgebogen ist. In ihren Konsequenzen ist die Phänomenologie subjektiver Idealismus, die dem Subjektivismus des etwa in der gleichen Zeit entstehenden Empiriokritizismus in nichts nachsteht, ihn durch ihre methodische Willkür sogar übertrifft."
Auch hier ist die Terminologie von großer Bedeutung: Begriffe wie "Idealismus", "subjektiver Idealismus", "philosophischer Materialismus" oder "Grundfrage der Philosophie" hängen direkt mit dem "dialektischen Materialismus" (vgl. dazu den Wikipedia-Artikel, oder auch den Artikel der Stamokap) zusammen. Vgl. zu einigen dieser Themen auch meine Vorlesung "Marxistisch-leninistische Philosophiehistorie" (Download)
Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, 6. Aufl. S. 81ff, Stuttgart: Kröner 1978
82: "Husserls Argumente gegen den Psychologismus in der Logik sind durchschlagend und überzeugend; ebenso sein Nachweis, daß dieser Psychologismus in letzter Konsequenz in Relativismus und Skepsis einmündet. ...
Während die Leistungen Husserls in der Abwehr fehlerhafter Tendenzen in der Logik unbestreitbar sind, so verhält es sich doch ganz anders, wenn man die Frage stellt, welchen Beitrag Husserls Untersuchungen zum positiven Aufbau und zur Ausgestaltung der Logik gebildet haben. Hierzu muß man leider feststellen, daß diese Beitrag ein außerordentlich geringer war. ... bis zum heutigen Tage existiert kein mit den Standardwerken der modernen Logik konkurrenzfähiges Werk über Logik auf husserlscher Basis. Seine Über-
83: legungen erschöpften sich darin, Prolegomena für eine aufzubauende Logik zu liefern, Projekte für ein mögliches – aber nie verwirklichtes – System der Logik zu sein. ...((hingegen hat Frege das geschafft; das betrifft dann auch die "Wesensschau", die))
88: Argumente zur Sicherung idealer Wesenheiten ((sind)) unhaltbar. ...
89: In der modernen Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie ist außerhalb des ziemlich engen Kreises von Phänomenologen keine Rede mehr von der Epoché Husserls. Dies dürfte seinen Grund darin haben, daß Husserls phänomenologische Methode von den krititsch eingestellten Erkenntnistheoretikern als ein zweifacher Weg in die Mystik oder zumindest in eine neue Art von spekulativer Metaphysik angesehen wird, die mit der Forderung nach Wissenschaftlichkeit ... nicht im Einklang steht. Der eine dieser beiden Wege führt über die eidetische Reduktion. ... Was ... ist unter Berufung auf diese husserlsche Methode nicht alles für Wesenserkenntnis ausgegeben worden! ... daß dieser Methode gerade dasjenige fehlt, was sie erst zu einer wissenschaftlichen machen würde: die intersubjektive Nachprüfbarkeit ...
90: Der zweite Weg in die Mystik führt über die transzendentale Reduktion ...

Wie in den beiden anderen Fällen wäre auch hier nach Inhalt und Funktion der Termini (insbesondere "kritisch", "wissenschaftliche Methode", "Mystik" und "(spekulative) Metaphysik") zu fragen. Es ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass Stegmüller seine Entscheidung, den modernen Marxismus überhaupt nicht darzustellen, damit begründet, dass es sich hierbei um "ein merkwürdiges Stück Gegenwartstheologie" handle (Hauptströmungen, Bd. 2, 1975, S. IXf.). Im Vergleich dazu nimmt Stegmüller die Phänomenologie - und Husserl - durchaus ernst.Zum Seitenanfang


Zur Diskussion:
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Erstellt: Wintersemester 2006