Wimmer: Vorlesung WS 2006/07 180 386 Philosophie im 20. Jahrhundert
11. Vorlesung 9. Jänner 2007: Wiener Kreis und Popper
An diesem Termin wurde besprochen:
Zwei Episoden zu einem in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
oft besprochenen Thema, dem "Ende der Philosophie": Brauchen Philosophen heute Platon noch? | Ist die Philosophie am Ende?
Ferner wurde besprochen: Wiener Kreis | Karl R. Popper
Episode 1:
Rainer Luyken: "Abstieg vom Olymp", in: DIE ZEIT Nr. 11, 11. März
1994, Dossier, S. 17-19
Der Artikel hat die Frage zum Thema, wie weit und mit welchen
Auswirkungen das Ende des humanistischen Gymnasiums in Deutschland,
insbesondere der zurückgehende Unterricht im klassischen
Griechisch sich auf (Geistes-)Wissenschaften und auf die akademische
Philosophie auswirkt. Allgemein wird festgestellt.
Vierhundert
Jahre hatte der, wie Meyer's Deutsches Konversationslexikon von 1904 es
formulierte, "hohe Wert der klassisch-humanistischen Schulung für
die Fähigkeit, klar und gründlich zu denken und das klar
Gedachte in edler Form wiederzugeben, sowie namentlich für die
Einsicht in den geschichtlichen Zusammenhang der Entwicklung des
menschlichen Geistes" allen Anfeindungen standgehalten - den
Anfeindungen des Pietismus im 17. Jahrhundert und der Offensive der
"Ritterakademien" des 18. und der Realschulen des 19. Jahrhunderts, die
um Adel und Bürgertum warben, deren "Lebensaufgabe mehr
unmittelbar im Leben der Gegenwart liegt". Die "tiefverwurzelte
Wertschätzung des gymnasialen Bildungsganges für die
leitenden Berufsstände der Nation" überdauerte auch den
Widerwillen des - selbst altsprachlich erzogenen - Philisterkaisers
Wilhelm II. und die Aversion der Nazis. … Nach dem Krieg machte die
amerikanische Militärregierung den übriggebliebenen Gymnasien
[in Bayern, FW] beinahe vollends den Garaus. Doch der damalige
[bayrische] Kultusminister Hundhammer weigerte sich schlicht, den
Befehlen der Besatzungsmacht zur Einführung einer Gesamtschule
angelsächsischen Zuschnitts zu folgen. … Dann kam das Ende. … Rein
humanistische Gymnasien … gibt es [1994] in Bayern gerade noch vier.
Nach Ausführungen über die Rolle des Griechischen in der
Bildungstradition kommt Luyken auf ein Seminar in Regensburg zu
sprechen, das von den dortigen Professoren Haitsch (Altphilologie) und
Kutschera (Philosophie) gerade gemeinsam durchgeführt hatten,
wobei Platon gelesen wurde. Haitsch
gilt
als einer der führenden Graecisten Deutschlands, vor allem als
Plato-Spezialist. … "Wir Altphilologen fragen uns",
erklärt er, "wie kommt Plato denn zu seinen
verhältnismäßig unplausiblen Thesen? Wir bemühen
uns, die Voraussetzungen zu verstehen, den den, um es überspitzt
zu sagen, Unsinn plausibel machen. Die Philosophen fragen sich immer:
Ist das denn so nun richtig?" … Kutschera ist Dozent in Regensburg
und ein führender Vertreter der analytischen Philosophie. … Zwar
ist auch Kutschera Humanist, Absolvent des Münchner Maxgymnasiums.
Doch bei ihm können Studenten ihr Philosophiestudium
abschließen, ohne je ein Wort Griechisch gehört zu haben. Er
hält es für wichtiger, sich mit formaler Logik zu
beschäftigen und fließend Englisch zu sprechen, denn "alles
Wesentliche in unserem Fach kommt aus dem Englischen". Ernst Haitsch
erinnert sich an seine Zeit in Göttingen, als "sich niemand in die
Philosophie gewagt hätte, der kein Griechisch konnte". … Haben Plato, haben die alten Sprachen
hier überhaupt noch einen Platz? "Was wäre das für eine
Gesellschaft, in der sie keinen Platz haben?" kontert der analytische
Philosoph. "Aber braucht man denn Plato noch?" "Irgendwo ist es eben doch
interessant", sagt Kutschera. "Man entdeckt ja immer etwas Neues. Aber
brauchen? Eigentlich natürlich nicht."
Diese Episode beschreibt ein "Ende":
das der Selbstverständlichkeit einer verbindlichen Tradition,
eines verbindlichen Kanons von Texten. Sie beschreibt aber
natürlich auch einen Anfang, jedenfalls implizit - wenn es nicht
"Plato" (hier könnten auch andere Namen der Tradition stehen) ist,
was Philosophen "brauchen", so wird es wohl etwas Anderes sein. Ein
Hinweis steht im Text: die "formale Logik". Das ist nicht alles, aber
es ist ein Teil des Programms der analytischen Philosophie, mit der wir
uns heute am Beispiel des "Wiener Kreises" etwas befassen werden.
Episode 2:
Claus Grossner: Ende der Philosophie? In: DIE ZEIT. 22. Oktober 1971
Unter dem Titel "Ende der Philosophie?" bespricht Grossner drei
Neuerscheinungen:
Jürgen Habermas und Niklas
Luhmann: "Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet
die Systemforschung?" Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971
"Hermeneutik und Ideologiekritik" Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971
Hans Lenk: "Philosophie im
technologischen Zeitalter". Stuttgart: Kohlhammer 1971
Er fragt:
Wie
lösen die verschiedenen theoretischen Schulen ihren
gesamtgesellschaftlichen Anspruch ein? Können sie Karl
Löwiths Diktum: "Die ganze Fakultät nennt sich zwar
philosophisch, aber die Philosophie gibt es eigentlich nicht mehr"
widerlegen?
Grossners Antwort ist negativ:
Die
Fronten zwischen Neomarxisten und Neopositivisten bröckeln ab. Man
beginnt sich zu verständigen. Innerhalb der hermeneutischen
Diskussion brechen die Gegensätze gar nicht erst auf. Parallel
dazu entsteht die Tendenz zu neuen Scholastiken - wie die
Systemtheorie. Allen gemeinsam sind programmatische Forderungen, die
sich in den meisten philosophischen Richtungen ähneln: Verbindung
zur Wissenschaft, interdisziplinäre Forschung, Verbindung zum
praktischen Leben. Doch die Programme dringen schon
beinahe nicht mehr heraus aus der Inzestgesellschaft der Philosophie an
die Öffentlichkeit - geschweige denn, dass ihre Realisierung
politisch begonnen würde. So werden die Verfalltendenzen zu
Symptomen vom Ende der Philosophie, das anders ist, als Karl Marx
gemeint hat.
Auch dies will ein Ende
beschreiben, nämlich den Abschied von Fragen nach Wahrheit und
Sinn, deren Ersetzung durch Fragen nach Funktionalität, nach
Verstehen, die "Trennung von Tatsachen und Wertungen". Letzteres hat
allerdings seinen direkten Bezug zum "Wiener Kreis", in dem ebenfalls
von einem Ende der (metaphysischen) Philosophie gesprochen, ein solches
befördert werden sollte, um aber einen neuen Anfang zu setzen, in
einer "wissenschaftlichen Weltauffassung".
Da es mir aus Zeitnot nicht möglich war, die Vorlesungsunterlagen
hier aufzubereiten, hat Dr. Rainer Schenk sie aus seiner Mitschrift
im WS 0506 ausgearbeitet und die folgenden Texte erstellt, damit sie
hier zur
Verfügung stehen können. Ich danke ihm dafür sehr
herzlich und füge seinen Text mir kleinen Ergänzungen
meinerseits hier ein. fmw
Rainer Schenk:
Wiener Kreis
"Wiener Kreis” war ursprünglich eine lokale Definition, ist aber
zu weltweiter Bedeutung gelangt. Das war vorher noch nie der Fall, dass
von dem kleinen österreichischen Raum eine vergleichbare Wirkung
ausgegangen wäre.
Österreich hatte philosophiegeschichtlich eine doppelt periphere
Stellung:
1. Philosophie war in Österreich-Ungarn kaum rezipiert und wurde
auch nicht exportiert. Philosophie wurde eher abgewehrt. So gab es ein
Verbot, die Werke des deutschen Idealismus zu unterrichten.
2. Innerhalb der österreichischen Wissensorganisation hatte die
Philosophie eine dienende, untergeordnete Rolle als Magd (ancilla) der
drei anderen Fakultäten. So sah etwa der Dekan Mezburg in
einer Rede zur Universtitätsreform in Wien 1781 die Rolle der
Medizin als Dienst für das leibliche Wohl, die der
Rechtswissenschaften als Dienst am gesellschaftlichen Ganzen, die der
Theologie als Dienst an der Seele und am Leben nach dem Tod und die der
Philosophie als propädeutisch (vorbereitend) ohne geistig leitende
Funktion. (Nähere Details im Skriptum
"Geschichte der Philosophiehistorie")
Gibt es daher eine Tradition in der österreichischen
Philosophiegeschichte, in der der Wiener Kreis verortet werden
könnte? Durch die Peripheriestellung war das philosophische Denken
in Österreich ein nichtspekulatives und eher empiristisch
orientiert. Namen, die dafür stehen, sind Bernhard Bolzano, Franz
Brentano, Ludwig Boltzmann und Ernst Mach. Allen diesen Denkern war die
Ansicht gemeinsam, dass die Philosophie von Spekulationen frei sein und
sich auf die Empirie stützen sollte.
Der Wiener Kreis kann als aktualisierte Form des Positivismus gesehen
werden. Der Positivismus ist eine philosophische Theorie, die keine
Aussagen für zuverlässig hält, sofern sie nicht aus
positivem Wissen, Erfahrung oder Wahrnehmung fassbar sind. Der
ursprüngliche Positivismus ist eng mit dem Namen von Auguste Comte
(Philosoph in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, prägte
den Begriff Soziologie und stellte sie als erster systematisch dar)
verbunden. Der Positivismus generalisiert die Sinneswahrnehmungen und
kommt durch Schlüsse daraus zu allgemeinen Sätzen, die auf
positives Wissen, eben auf Sinneswahrnehmungen, zurückgeführt
werden können.
Die Philosophie des Wiener Kreises wird als logischer Positivismus, als
Neopositivismus oder auch als logischer Empirismus bezeichnet. Ihr
Beginn kann mit dem Jahr 1922 angesetzt werden, als Moritz Schlick als
Nachfolger von Ernst Mach auf den Wiener Lehrstuhl für
Naturphilosophie berufen wurde. Moritz Schlick kam aus Norddeutschland,
hatte Physik und Mathematik studiert und sich mit seiner Arbeit Wesen
und Wahrheit nach der modernen Logik 1910 habilitiert.
In seinem Aufsatz "Die Wende der Philosophie”, der in der ersten Nummer
der Zeitschrift Erkenntnis 1930 erschien formulierte er die Ansicht,
das eine Wende der Philosophie notwendig und möglich sei. Die
moderne Logik soll das Fundament der neuen Philosophie sein
(stützt sich dabei auf Russell und Moore - Begründer der
analytischen Philosophie in England). Mit Hilfe der logischen Analyse
sollen die Sätze der Wissenschaft analysiert werden, sodass
unsinnige Sätze ausgeschieden werden können (das
Sinnkriterium als Unterscheidungsmerkmal, ob ein Satz sinnvoll oder
sinnlos ist) .
Der Wiener Kreis war eine Gruppe von Naturwissenschaftlern (wenige
reine Philosophen), die ab 1924 (bis 1936) regelmäßige
Diskussionsabende mit Kollegen und Studenten veranstaltete. Fragen: Was
sind die Annahmen in den verschiedenen Wissenschaften, die nicht auf
positives Wissen zurückgehen? Was rechtfertigt Theorien aus dem
Erfahrungswissen? Wie gehen wir mit Sinneswahrnehmungen um (oder sollen
damit umgehen)? Die Idee dazu war: wir brauchen Protokollsätze,
das sind Sätze, die keine theoretischen Annahmen enthalten,
sondern nur wiedergeben, was gesehen oder gehört wird.
Tatsachenbeschreibungen, wie von Messinstrumenten ablesbar, keine
Gemütsbewegungen, das Subjekt ist auf ein wahrnehmendes reduziert.
Wogegen richtete sich das? Es richtete sich gegen das, was vom Wiener
Kreis als Metaphysik bezeichnet wurde, gegen Aussagen, in denen
Ausdrücke oder Begriffe vorkommen, die nicht auf unmittelbare
Wahrnehmungen zurückführbar sind. Denn es muss eine klare
Grenze zwischen Sinneseindrücken und Gefühlen gezogen werden.
So schrieb Otto Neurath im Aufsatz "Wissenschaftliche Weltanschauung -
der Wiener Kreis” 1929: "Von der wissenschaftlichen
Weltanschauung wird die metaphysische Philosophie abgelehnt.” Als
Gründe dafür gibt er an: sie kommt nicht ohne sinnlose
Sätze aus, ja sie besteht geradezu in der Produktion von sinnlosen
Sätzen. Warum wird aber dann Metaphysik von hervorragenden
Philosophen betrieben, wie sind die Irrwege der Metaphysik zu
erklären?
Nach Neurath sind die Irrtümer der Metaphysik aus drei Sichten
erklärbar: einer psychologischen, einer soziologischen und einer
logischen Sicht. Die psychologischen Grunduntersuchungen
seien erst im Anfangsstadium, Ansätze zu einer Erklärung
liegen in den Untersuchungen der Freudschen Psychoanalyse
vor.
Bezüglich der soziologischen Ursachen erwähnt er nur die
marx'sche Theorie vom ideologischen
Überbau und meint, hier gäbe es noch
ein weites Feld für zukünftige Forschungen.
Am weitesten gediehen seien die Untersuchungen der logischen
Ursachen. Der logische Ursprung der Irrwege der Metaphysik sei
weitgehend durch die Arbeiten von Russell und Wittgenstein
klargelegt
(Neurath meint hier die Arbeiten von Russell/Whitehead und die
Schriften
des frühen Wittgenstein). Einer der logischen Fehler sei die
sogenannte Hypostasierung (Verdinglichung) von Eigenschaften. Die
Hypostasierung läuft in drei Stufen ab, zuerst wird eine
Eigenschaft substantiviert (nichts wird zum Nichts), dann wird sie
substantialisiert (das Nichts wird zu etwas Gegenständlichem) und
zuletzt wird damit ein Wesen (eine Wesenheit) angenommen. Ein weiterer
logischer Fehler sei, dass sich die metaphysischen Philosophen von den
Mehrdeutigkeiten und Unklarheiten der traditionellen Sprache
täuschen ließen, weil sie noch nicht über die
Instrumente der Sprachanalyse und der modernen Logik zur Klärung
von Aussagen verfügten.
Der Wiener Kreis hat sich durch mehrere Ereignisse aufgelöst, ein
sehr wesentliches war die Ermordung von
Moritz Schlick 1936 durch einen ehemaligen (geistig verwirrten)
Studenten, wodurch die regelmäßigen Diskussionsrunden
endeten. Die meisten Mitglieder des Wiener Kreises mussten nach dem
Anschluss Österreichs 1938 das Land verlassen, sie emigrieren vor
allem in die USA. Das begründete ihren starken Einfluss auf die
angelsächsische Philosophie und machte den Wiener Kreis zu einer
international bedeutenden Richtung.
Seit 1991 gibt es in Wien wieder ein Institut Wiener Kreis unter
der Leitung von Prof. Friedrich Stadler.
Neben anderen versuchte Carl Gustav Hempel, Philosoph und
Wissenschaftstheoretiker, das ursprüngliche Programm umzusetzen
und eine wissenschaftliche Grundlage für alle Wissenschaften im
Sinne einer vom Wiener Kreis angestrebten Einheitswissenschaft zu legen
mit einer Theorie der wissenschaftlichen Erklärung (Aspects of
Scientific Explanation, 1965; dt. Aspekte wissenschaftlicher
Erklärung, 1977). Es gibt dazu eine Uneinigkeit mit Karl Popper,
wer von ihnen die Theorie der wissenschaftlichen Erklärung als
erster formuliert hat.
Ausarbeitung: Rainer Schenk
Karl Raimund POPPER (1902-1994)
Einflussreichster Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts: 1934 Logik der Forschung.
Popper hat als Schüler das Gymnasium abgebrochen, begann eine
Tischlerlehre, machte nachträglich die Matura als Externer, und
arbeitete nach seinem Studium als Hauptschullehrer für Mathematik
und
Physik. Kontakte zu Mitgliedern des Wiener Kreises (Popper nahm nie an
den Diskussionsrunden teil), es entstanden die
wissenschaftstheoretischen Werke Die beiden Grundlagen der
Erkenntnistheorie und die Logik der Forschung . Er engagierte
sich
politisch in sozialistischen Gruppen und emigrierte 1937 nach
Neuseeland, wo er seine sozialphilosophischen Werke schrieb, The
Poverty of Historicism , 1944/45 (dt."Das Elend des Historizismus,
1965) und The Open Society and Its Enemies , 1945 (dt."Die offene
Gesellschaft und ihre Feinde, 1958). Seit 1946 in London an der School
of Economics. 1963 erschien "Conjectures and Refutations” (dt.
Vermutungen und Widerlegungen, Band 1 1994, Band 2 1997), und
1972
Objective Knowledge (dt. "Objektive Erkenntnis”, 1973), wo er die
Grundideen aus der Logik der Forschung weiterführt.
In seiner Wissenschaftstheorie kritisiert er zwei Aspekte der
bisherigen/bestehenden wissenschaftlichen Philosophie:
1. Weg der Induktion: aus Erfahrungssätzen
(Protokollsätzen) werden
Theorien abgeleitet (trifft besonders den Wiener Kreis und den
Neopositivismus). Dieser Weg ist aus Poppers Sicht ein Irrweg, denn die
allgemeingültigen Aussagen, die die Wissenschaft anstrebt,
können nie
durch Induktionen erreicht werden. Wenn man aus der Beobachtung von
weißen Schwänen schließt, dass alle Schwäne
weiß sind, geht man über
die Wahrnehmung hinaus, denn die Induktion kann nicht zu Allsätzen
führen. Der Fehler des Neopositivismus liegt darin, dass er
überzeugt
davon war, dass Sätze verifiziert werden müssen. Das
Verifizieren von
allgemeinen Sätzen durch Beobachtung ist jedoch für
Popper
unzuverlässig. Sehr wohl kann ich aber zuverlässig
falsifizieren: wenn
ich einen schwarzen Schwan beobachte, dann ist die Aussage "alle
Schwäne sind weiß” falsifiziert. Das ist das, was nach
Popper in der
Wissenschaft geschieht: die Aussiebung von Sätzen durch die
Falsifizierung von Annahmen. Jeder Satz ist zuerst hypothetisch
anzunehmen (wir werfen die Hypothesen wie Netze aus) und dann kritisch
(durch Falsifikation) zu prüfen. Hypothesen sind die Voraussetzung
dafür, dass wir Wahrnehmungen machen, den Protokollsatz, der
nichts
theoretisches enthält, den gibt es nicht. Die Ethik der Forschung
besteht darin, dass Wissenschaftler versuchen, ihre eigenen Theorien
mit Experimenten (möglichst durch ein "experimentum crucis”) zu
widerlegen. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht im Ausscheiden von
falsifizierten Sätzen.
2. Die Wissenschaftler sollen nicht wahre, sondern falsifizierbare
Aussagen formulieren. Der Satz "Morgen wird es regnen oder nicht
regnen” ist sicher ein wahrer Satz, aber nicht falsifizierbar, daher
enthält er keine brauchbare Theorie. Wenn man nicht sagen kann,
welche
Bedingungen eine Aussage falsifizieren, hat sie keinen Wert. (Popper
war sein Leben lang besessen von der Falsifikation, er verlangte
für
jede Theorie die Bedingungen ihrer eigenen
Falsifikation).
Für Popper ist die Wissenschaftsgeschichte eine fortschreitende
Annäherung an die Wahrheit, wobei die Wahrheit (für ihn)
niemals
absolut gewiss ist (er bleibt etwas unkonkret über seinen
Wahrheitsbegriff). Er spricht vielmehr von Wahrheitsnähe. Daran
wurde
kritisiert, dass, wenn man nie bei der Wahrheit war, man auch nicht
sagen kann, was nahe der Wahrheit ist. Popper versuchte daher, sechs
Kriterien für eine Wahrheitsnähe aufzustellen, indem er
fragte:
"Gibt es so etwas wie Grade der Wahrheit? Ist es nicht gefährlich
und irreführend, wenn wir so tun, als ob die Wahrheit nach Tarski
sich irgendwo in einer Art metrischem oder zumindest topologischem Raum
befindet, wenn wir [...] von zwei Theorien behaupten [...] daß t2
die frühere t1 ersetzt hat oder über t1 hinausgegangen ist,
indem sie der Wahrheit näher gekommen ist
als t1?
[...]
Ich gebe hier eine etwas unsystematische Liste von sechs typischen
Fällen, in denen eine Theorie t1 von t2 überholt wurde; in
dem Sinn, daß t2 - so weit wir wissen - auf die eine oder andere
Art besser mit den Tatsachen übereinstimmt als t1.
(1) t2 stellt präzisere
Behauptungen auf als t1, und diese präziseren Behauptungen
überstehen präzisere Prüfungen.
(2) t2 berücksichtigt und
erklärt mehr Tatsachen als t1 [...].
(3) t2 beschreibt oder erklärt die
Tatsachen detaillierter als t1.
(4) t2 hat Prüfungen überstanden, die t1 nicht bestanden hat.
(5) t2 hat neue experimentelle Überprüfungen vorgeschlagen,
die niemand erwogen hat, bevor t2 entworfen wurde [...]; und t2 hat
diese Prüfungen bestanden.
(6) t2 hat verschiedene bis dahin unzusammenhängende Probleme
vereint oder verbunden." Quelle: Popper, Karl (2000): Vermutungen und Widerlegungen. Das
Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Tübingen, Mohr,
Seite 338-339
Thomas Kuhn und Paul Feyerabend haben gegen die Wissenschaftstheorie
von Karl Popper Stellung bezogen. Thomas Kuhn widerspricht 1962 in The
Structure of Scientific Revolution (dt. 1973 Die Struktur
wissenschaftlicher Revolutionen) der Auffassung Poppers, dass die
Wissenschaftsgeschichte evolutionär fortschreitet (zunehmend
bessere
Annäherung an die Wahrheit) und stellt als Ergebnis seiner
wissenschaftsgeschichtlichen Studien fest, dass die
Wissenschaftsgeschichte in Umstürzen und Brüchen
verläuft. Während
einer normalen Phase bildet sich ein Paradigma (Komplex von Annahmen
und Gesetzen, Methoden und Werten), das in einer wissenschaftlichen
Krise in Frage gestellt wird. Die Krise führt zur Ausbildung von
völlig
neuartigen Fragestellungen und Grundbegriffen. Das daraus entstehende
neue Paradigma ist mit dem Vorgänger nicht vergleichbar, weil es
völlig
neuartige Auffassungen enthält.
Paul Feyerabend, der in seinem Hauptwerk Against Method , 1970 (dt.
Wider den Methodenzwang, 1976), einen methodischen Relativismus
vertritt (Seine Formel "anything goes” wurde zu einem Schlagwort
für
absolute Beliebigkeit), bemerkt zum Begriff der Wahrheitsnähe,
dass,
wenn man nicht weiß, was die Wahrheit ist, es keinen Sinn hat von
Wahrheitsnähe zu sprechen.
Die Gesellschaftstheorie Karl Poppers:
Im Zentrum von Poppers Gesellschaftstheorie steht die "offene
Gesellschaft”, die auf dem Prinzip der Demokratie (insbesondere dem
Prinzip der Abwählbarkeit von Politikern) gegründet ist, ein
Prinzip,
das er für gleich bedeutend hält wie das Prinzip der
Falsifizierbarkeit
in der Wissenschaftstheorie. Das Gegenteil der offenen Gesellschaft,
die geschlossene Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Ideologen.
Hauptgegner sind für Popper Plato, Hegel und Marx (Marx weniger
als
Hegel), alles Theoretiker von idealen Gesellschaftsformen, die für
Popper geschlossene sind. Geschlossene Gesellschaften führen
seiner
Meinung nach zu einem elitären Totalitarismus, so der
Philosophenstaat
bei Plato, das absolute Staatsgebilde bei Hegel und die Diktatur des
Proletariats (respektive der Partei) im Marxismus/Leninismus. Die
offene Gesellschaft lebt dagegen mit vorläufig im Konsens
erreichten
Werten. Warum das besser ist, kann und will er nicht beweisen, es ist
eine Sache der Wahl.