Universität Wien

Wimmer: Vorlesung WS 2006/07
180 386 Philosophie im 20. Jahrhundert

11. Vorlesung 9. Jänner 2007: Wiener Kreis und Popper

An diesem Termin wurde besprochen:
Zwei Episoden zu einem in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts oft besprochenen Thema, dem "Ende der Philosophie":
Brauchen Philosophen heute Platon noch? | Ist die Philosophie am Ende?
Ferner wurde besprochen:
Wiener Kreis | Karl R. Popper


Episode 1:
Rainer Luyken: "Abstieg vom Olymp", in: DIE ZEIT Nr. 11, 11. März 1994, Dossier, S. 17-19

Der Artikel hat die Frage zum Thema, wie weit und mit welchen Auswirkungen das Ende des humanistischen Gymnasiums in Deutschland, insbesondere der zurückgehende Unterricht im klassischen Griechisch sich auf (Geistes-)Wissenschaften und auf die akademische Philosophie auswirkt. Allgemein wird festgestellt.
Vierhundert Jahre hatte der, wie Meyer's Deutsches Konversationslexikon von 1904 es formulierte, "hohe Wert der klassisch-humanistischen Schulung für die Fähigkeit, klar und gründlich zu denken und das klar Gedachte in edler Form wiederzugeben, sowie namentlich für die Einsicht in den geschichtlichen Zusammenhang der Entwicklung des menschlichen Geistes" allen Anfeindungen standgehalten - den Anfeindungen des Pietismus im 17. Jahrhundert und der Offensive der "Ritterakademien" des 18. und der Realschulen des 19. Jahrhunderts, die um Adel und Bürgertum warben, deren "Lebensaufgabe mehr unmittelbar im Leben der Gegenwart liegt". Die "tiefverwurzelte Wertschätzung des gymnasialen Bildungsganges für die leitenden Berufsstände der Nation" überdauerte auch den Widerwillen des - selbst altsprachlich erzogenen - Philisterkaisers Wilhelm II. und die Aversion der Nazis. … Nach dem Krieg machte die amerikanische Militärregierung den übriggebliebenen Gymnasien [in Bayern, FW] beinahe vollends den Garaus. Doch der damalige [bayrische] Kultusminister Hundhammer weigerte sich schlicht, den Befehlen der Besatzungsmacht zur Einführung einer Gesamtschule angelsächsischen Zuschnitts zu folgen. …
Dann kam das Ende. … Rein humanistische Gymnasien … gibt es [1994] in Bayern gerade noch vier.

Nach Ausführungen über die Rolle des Griechischen in der Bildungstradition kommt Luyken auf ein Seminar in Regensburg zu sprechen, das von den dortigen Professoren Haitsch (Altphilologie) und Kutschera (Philosophie) gerade gemeinsam durchgeführt hatten, wobei Platon gelesen wurde. Haitsch
gilt als einer der führenden Graecisten Deutschlands, vor allem als Plato-Spezialist.
… "Wir Altphilologen fragen uns", erklärt er, "wie kommt Plato denn zu seinen verhältnismäßig unplausiblen Thesen? Wir bemühen uns, die Voraussetzungen zu verstehen, den den, um es überspitzt zu sagen, Unsinn plausibel machen. Die Philosophen fragen sich immer: Ist das denn so nun richtig?"

Kutschera ist Dozent in Regensburg und ein führender Vertreter der analytischen Philosophie. … Zwar ist auch Kutschera Humanist, Absolvent des Münchner Maxgymnasiums. Doch bei ihm können Studenten ihr Philosophiestudium abschließen, ohne je ein Wort Griechisch gehört zu haben. Er hält es für wichtiger, sich mit formaler Logik zu beschäftigen und fließend Englisch zu sprechen, denn "alles Wesentliche in unserem Fach kommt aus dem Englischen". Ernst Haitsch erinnert sich an seine Zeit in Göttingen, als "sich niemand in die Philosophie gewagt hätte, der kein Griechisch konnte".

Haben Plato, haben die alten Sprachen hier überhaupt noch einen Platz?
"Was wäre das für eine Gesellschaft, in der sie keinen Platz haben?" kontert der analytische Philosoph. "Aber braucht man denn Plato noch?"
"Irgendwo ist es eben doch interessant", sagt Kutschera. "Man entdeckt ja immer etwas Neues. Aber brauchen? Eigentlich natürlich nicht."

Diese Episode beschreibt ein "Ende": das der Selbstverständlichkeit einer verbindlichen Tradition, eines verbindlichen Kanons von Texten. Sie beschreibt aber natürlich auch einen Anfang, jedenfalls implizit - wenn es nicht "Plato" (hier könnten auch andere Namen der Tradition stehen) ist, was Philosophen "brauchen", so wird es wohl etwas Anderes sein. Ein Hinweis steht im Text: die "formale Logik". Das ist nicht alles, aber es ist ein Teil des Programms der analytischen Philosophie, mit der wir uns heute am Beispiel des "Wiener Kreises" etwas befassen werden.


Episode 2:
Claus Grossner: Ende der Philosophie? In: DIE ZEIT. 22. Oktober 1971

Unter dem Titel "Ende der Philosophie?" bespricht Grossner drei Neuerscheinungen:
Jürgen Habermas und Niklas Luhmann: "Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?" Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971
"Hermeneutik und Ideologiekritik" Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971
Hans Lenk: "Philosophie im technologischen Zeitalter". Stuttgart: Kohlhammer 1971
Er fragt:
Wie lösen die verschiedenen theoretischen Schulen ihren gesamtgesellschaftlichen Anspruch ein? Können sie Karl Löwiths Diktum: "Die ganze Fakultät nennt sich zwar philosophisch, aber die Philosophie gibt es eigentlich nicht mehr" widerlegen?
Grossners Antwort ist negativ:
Die Fronten zwischen Neomarxisten und Neopositivisten bröckeln ab. Man beginnt sich zu verständigen. Innerhalb der hermeneutischen Diskussion brechen die Gegensätze gar nicht erst auf. Parallel dazu entsteht die Tendenz zu neuen Scholastiken - wie die Systemtheorie. Allen gemeinsam sind programmatische Forderungen, die sich in den meisten philosophischen Richtungen ähneln: Verbindung zur Wissenschaft, interdisziplinäre Forschung, Verbindung zum praktischen Leben.
Doch die Programme dringen schon beinahe nicht mehr heraus aus der Inzestgesellschaft der Philosophie an die Öffentlichkeit - geschweige denn, dass ihre Realisierung politisch begonnen würde. So werden die Verfalltendenzen zu Symptomen vom Ende der Philosophie, das anders ist, als Karl Marx gemeint hat.
Auch dies will ein Ende beschreiben, nämlich den Abschied von Fragen nach Wahrheit und Sinn, deren Ersetzung durch Fragen nach Funktionalität, nach Verstehen, die "Trennung von Tatsachen und Wertungen". Letzteres hat allerdings seinen direkten Bezug zum "Wiener Kreis", in dem ebenfalls von einem Ende der (metaphysischen) Philosophie gesprochen, ein solches befördert werden sollte, um aber einen neuen Anfang zu setzen, in einer "wissenschaftlichen Weltauffassung".


Da es mir aus Zeitnot nicht möglich war, die Vorlesungsunterlagen hier aufzubereiten, hat Dr. Rainer Schenk sie aus seiner Mitschrift im WS 0506 ausgearbeitet und die folgenden Texte erstellt, damit sie hier zur Verfügung stehen können. Ich danke ihm dafür sehr herzlich und füge seinen Text mir kleinen Ergänzungen meinerseits hier ein. fmw

Rainer Schenk:

Wiener Kreis

"Wiener Kreis” war ursprünglich eine lokale Definition, ist aber zu weltweiter Bedeutung gelangt. Das war vorher noch nie der Fall, dass von dem kleinen österreichischen Raum eine vergleichbare Wirkung ausgegangen wäre.

Österreich hatte philosophiegeschichtlich eine doppelt periphere Stellung:
1. Philosophie war in Österreich-Ungarn kaum rezipiert und wurde auch nicht exportiert. Philosophie wurde eher abgewehrt. So gab es ein Verbot, die Werke des deutschen Idealismus zu unterrichten.
2. Innerhalb der österreichischen Wissensorganisation hatte die Philosophie eine dienende, untergeordnete Rolle als Magd (ancilla) der drei anderen Fakultäten.  So sah etwa der Dekan Mezburg in einer Rede zur Universtitätsreform in Wien 1781 die Rolle der Medizin als Dienst für das leibliche Wohl, die der Rechtswissenschaften als Dienst am gesellschaftlichen Ganzen, die der Theologie als Dienst an der Seele und am Leben nach dem Tod und die der Philosophie als propädeutisch (vorbereitend) ohne geistig leitende Funktion. (Nähere Details im Skriptum "Geschichte der Philosophiehistorie")

Gibt es daher eine Tradition in der österreichischen Philosophiegeschichte, in der der Wiener Kreis verortet werden könnte? Durch die Peripheriestellung war das philosophische Denken in Österreich ein nichtspekulatives und eher empiristisch orientiert. Namen, die dafür stehen, sind Bernhard Bolzano, Franz Brentano, Ludwig Boltzmann und Ernst Mach. Allen diesen Denkern war die Ansicht gemeinsam, dass die Philosophie von Spekulationen frei sein und sich auf die Empirie stützen sollte.

Der Wiener Kreis kann als aktualisierte Form des Positivismus gesehen werden. Der Positivismus ist eine philosophische Theorie, die keine Aussagen für zuverlässig hält, sofern sie nicht aus positivem Wissen, Erfahrung oder Wahrnehmung fassbar sind. Der ursprüngliche Positivismus ist eng mit dem Namen von Auguste Comte (Philosoph in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, prägte den Begriff Soziologie und stellte sie als erster systematisch dar) verbunden. Der Positivismus generalisiert die Sinneswahrnehmungen und kommt durch Schlüsse daraus zu allgemeinen Sätzen, die auf positives Wissen, eben auf Sinneswahrnehmungen, zurückgeführt werden können.

Die Philosophie des Wiener Kreises wird als logischer Positivismus, als Neopositivismus oder auch als logischer Empirismus bezeichnet. Ihr Beginn kann mit dem Jahr 1922 angesetzt werden, als Moritz Schlick als Nachfolger von Ernst Mach auf den Wiener Lehrstuhl für Naturphilosophie berufen wurde. Moritz Schlick kam aus Norddeutschland, hatte Physik und Mathematik studiert und sich mit seiner Arbeit Wesen und Wahrheit nach der modernen Logik 1910 habilitiert.

In seinem Aufsatz "Die Wende der Philosophie”, der in der ersten Nummer der Zeitschrift Erkenntnis 1930 erschien formulierte er die Ansicht, das eine Wende der Philosophie notwendig und möglich sei. Die moderne Logik soll das Fundament der neuen Philosophie sein (stützt sich dabei auf Russell und Moore - Begründer der analytischen Philosophie in England). Mit Hilfe der logischen Analyse sollen die Sätze der Wissenschaft analysiert werden, sodass unsinnige Sätze ausgeschieden werden können (das Sinnkriterium als Unterscheidungsmerkmal, ob ein Satz sinnvoll oder sinnlos ist) .

Der Wiener Kreis war eine Gruppe von Naturwissenschaftlern (wenige reine Philosophen), die ab 1924 (bis 1936) regelmäßige Diskussionsabende mit Kollegen und Studenten veranstaltete. Fragen: Was sind die Annahmen in den verschiedenen Wissenschaften, die nicht auf positives Wissen zurückgehen? Was rechtfertigt Theorien aus dem Erfahrungswissen? Wie gehen wir mit Sinneswahrnehmungen um (oder sollen damit umgehen)? Die Idee dazu war: wir brauchen Protokollsätze, das sind Sätze, die keine theoretischen Annahmen enthalten, sondern nur wiedergeben, was gesehen oder gehört wird. Tatsachenbeschreibungen, wie von Messinstrumenten ablesbar, keine Gemütsbewegungen, das Subjekt ist auf ein wahrnehmendes reduziert.

Wogegen richtete sich das? Es richtete sich gegen das, was vom Wiener Kreis als Metaphysik bezeichnet wurde, gegen Aussagen, in denen Ausdrücke oder Begriffe vorkommen, die nicht auf unmittelbare Wahrnehmungen zurückführbar sind. Denn es muss eine klare Grenze zwischen Sinneseindrücken und Gefühlen gezogen werden.

So schrieb Otto Neurath im Aufsatz "Wissenschaftliche Weltanschauung - der Wiener Kreis” 1929:  "Von der wissenschaftlichen Weltanschauung wird die metaphysische Philosophie abgelehnt.” Als Gründe dafür gibt er an: sie kommt nicht ohne sinnlose Sätze aus, ja sie besteht geradezu in der Produktion von sinnlosen Sätzen. Warum wird aber dann Metaphysik von hervorragenden Philosophen betrieben, wie sind die Irrwege der Metaphysik zu erklären?

Nach Neurath sind die Irrtümer der Metaphysik aus drei Sichten erklärbar: einer psychologischen, einer soziologischen und einer logischen Sicht.   Die psychologischen Grunduntersuchungen seien erst im Anfangsstadium, Ansätze zu einer Erklärung liegen in den Untersuchungen der Freudschen Psychoanalyse vor. Bezüglich der soziologischen Ursachen erwähnt er nur die marx'sche Theorie vom ideologischen Überbau und meint, hier gäbe es noch ein weites Feld für zukünftige Forschungen.

Am  weitesten gediehen seien die Untersuchungen der logischen Ursachen. Der logische Ursprung der Irrwege der Metaphysik sei weitgehend durch die Arbeiten von Russell und Wittgenstein klargelegt (Neurath meint hier die Arbeiten von Russell/Whitehead und die Schriften des frühen Wittgenstein). Einer der logischen Fehler sei die sogenannte Hypostasierung (Verdinglichung) von Eigenschaften. Die Hypostasierung läuft in drei Stufen ab, zuerst wird eine Eigenschaft substantiviert (nichts wird zum Nichts), dann wird sie substantialisiert (das Nichts wird zu etwas Gegenständlichem) und zuletzt wird damit ein Wesen (eine Wesenheit) angenommen. Ein weiterer logischer Fehler sei, dass sich die metaphysischen Philosophen von den Mehrdeutigkeiten und Unklarheiten der traditionellen Sprache täuschen ließen, weil sie noch nicht über die Instrumente der Sprachanalyse und der modernen Logik zur Klärung von Aussagen verfügten.

Der Wiener Kreis hat sich durch mehrere Ereignisse aufgelöst, ein sehr wesentliches war die Ermordung von Moritz Schlick 1936 durch einen ehemaligen (geistig verwirrten) Studenten, wodurch die regelmäßigen Diskussionsrunden endeten. Die meisten Mitglieder des Wiener Kreises mussten nach dem Anschluss Österreichs 1938 das Land verlassen, sie emigrieren vor allem in die USA. Das begründete ihren starken Einfluss auf die angelsächsische Philosophie und machte den Wiener Kreis zu einer international bedeutenden Richtung.

Seit 1991 gibt es in Wien wieder ein Institut Wiener Kreis unter der Leitung von Prof. Friedrich Stadler.

Neben anderen versuchte Carl Gustav Hempel, Philosoph und Wissenschaftstheoretiker, das ursprüngliche Programm umzusetzen und eine wissenschaftliche Grundlage für alle Wissenschaften im Sinne einer vom Wiener Kreis angestrebten Einheitswissenschaft zu legen mit einer Theorie der wissenschaftlichen Erklärung (Aspects of Scientific Explanation, 1965; dt. Aspekte wissenschaftlicher Erklärung, 1977). Es gibt dazu eine Uneinigkeit mit Karl Popper, wer von ihnen die Theorie der wissenschaftlichen Erklärung als erster formuliert hat.

Ausarbeitung: Rainer Schenk

Karl Raimund POPPER (1902-1994)


Einflussreichster Wissenschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts: 1934 Logik der Forschung.

Popper hat als Schüler das Gymnasium abgebrochen, begann eine Tischlerlehre, machte nachträglich die Matura als Externer, und arbeitete nach seinem Studium als Hauptschullehrer für Mathematik und Physik. Kontakte zu Mitgliedern des Wiener Kreises (Popper nahm nie an den Diskussionsrunden teil), es entstanden die wissenschaftstheoretischen Werke Die beiden Grundlagen der Erkenntnistheorie und die Logik der Forschung .  Er engagierte sich politisch in sozialistischen Gruppen und emigrierte 1937 nach Neuseeland, wo er seine sozialphilosophischen Werke schrieb, The Poverty of Historicism , 1944/45 (dt."Das Elend des Historizismus, 1965) und The Open Society and Its Enemies , 1945 (dt."Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1958). Seit 1946 in London an der School of Economics. 1963 erschien "Conjectures and Refutations” (dt. Vermutungen und Widerlegungen, Band 1 1994, Band 2 1997),  und 1972 Objective Knowledge (dt. "Objektive Erkenntnis”, 1973), wo er die Grundideen aus der Logik der Forschung weiterführt.

In seiner Wissenschaftstheorie kritisiert er zwei Aspekte der bisherigen/bestehenden wissenschaftlichen Philosophie:

1. Weg der Induktion: aus Erfahrungssätzen (Protokollsätzen)  werden Theorien abgeleitet (trifft besonders den Wiener Kreis und den Neopositivismus). Dieser Weg ist aus Poppers Sicht ein Irrweg, denn die allgemeingültigen Aussagen, die die Wissenschaft anstrebt, können nie durch Induktionen erreicht werden. Wenn man aus der Beobachtung von weißen Schwänen schließt, dass alle Schwäne weiß sind, geht man über die Wahrnehmung hinaus, denn die Induktion kann nicht zu Allsätzen führen. Der Fehler des Neopositivismus liegt darin, dass er überzeugt davon war, dass Sätze verifiziert werden müssen. Das Verifizieren von allgemeinen  Sätzen durch Beobachtung ist jedoch für Popper unzuverlässig. Sehr wohl kann ich aber zuverlässig falsifizieren: wenn ich einen schwarzen Schwan beobachte, dann ist die Aussage "alle Schwäne sind weiß” falsifiziert. Das ist das, was nach Popper in der Wissenschaft geschieht: die Aussiebung von Sätzen durch die Falsifizierung von Annahmen. Jeder Satz ist zuerst hypothetisch anzunehmen (wir werfen die Hypothesen wie Netze aus) und dann kritisch (durch Falsifikation) zu prüfen. Hypothesen sind die Voraussetzung dafür, dass wir Wahrnehmungen machen, den Protokollsatz, der nichts theoretisches enthält, den gibt es nicht. Die Ethik der Forschung besteht darin, dass Wissenschaftler versuchen, ihre eigenen Theorien mit Experimenten (möglichst durch ein "experimentum crucis”) zu widerlegen. Der Fortschritt der Wissenschaft besteht im Ausscheiden von falsifizierten Sätzen.

2. Die Wissenschaftler sollen nicht wahre, sondern falsifizierbare Aussagen formulieren. Der Satz "Morgen wird es regnen oder nicht regnen” ist sicher ein wahrer Satz, aber nicht falsifizierbar, daher enthält er keine brauchbare Theorie. Wenn man nicht sagen kann, welche Bedingungen eine Aussage falsifizieren, hat sie keinen Wert. (Popper war sein Leben lang besessen von der Falsifikation, er verlangte für jede Theorie die Bedingungen ihrer eigenen Falsifikation).      

Für Popper ist die Wissenschaftsgeschichte eine fortschreitende Annäherung an die Wahrheit, wobei die Wahrheit (für ihn) niemals absolut gewiss ist (er bleibt etwas unkonkret über seinen Wahrheitsbegriff). Er spricht vielmehr von Wahrheitsnähe. Daran wurde kritisiert, dass, wenn man nie bei der Wahrheit war, man auch nicht sagen kann, was nahe der Wahrheit ist. Popper versuchte daher, sechs Kriterien für eine Wahrheitsnähe aufzustellen, indem er fragte:
"Gibt es so etwas wie Grade der Wahrheit? Ist es nicht gefährlich und irreführend, wenn wir so tun, als ob die Wahrheit nach Tarski sich irgendwo in einer Art metrischem oder zumindest topologischem Raum befindet, wenn wir [...] von zwei Theorien behaupten [...] daß t2 die frühere t1 ersetzt hat oder über t1 hinausgegangen ist, indem sie der Wahrheit näher gekommen ist
als t1?
[...]
Ich gebe hier eine etwas unsystematische Liste von sechs typischen Fällen, in denen eine Theorie t1 von t2 überholt wurde; in dem Sinn, daß t2 - so weit wir wissen - auf die eine oder andere Art besser mit den Tatsachen übereinstimmt als t1.
(1) t2 stellt präzisere Behauptungen auf als t1, und diese präziseren Behauptungen überstehen präzisere Prüfungen.
(2) t2 berücksichtigt und erklärt mehr Tatsachen als t1 [...].
(3) t2 beschreibt oder erklärt die Tatsachen detaillierter als t1.
(4) t2 hat Prüfungen überstanden, die t1 nicht bestanden hat.
(5) t2 hat neue experimentelle Überprüfungen vorgeschlagen, die niemand erwogen hat, bevor t2 entworfen wurde [...]; und t2 hat diese Prüfungen bestanden.
(6) t2 hat verschiedene bis dahin unzusammenhängende Probleme vereint oder verbunden." Quelle: Popper, Karl (2000): Vermutungen und Widerlegungen. Das Wachstum der wissenschaftlichen Erkenntnis. Tübingen, Mohr, Seite 338-339

Thomas Kuhn und Paul Feyerabend haben gegen die Wissenschaftstheorie von Karl Popper Stellung bezogen. Thomas Kuhn widerspricht 1962 in The Structure of Scientific Revolution (dt. 1973 Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen) der Auffassung Poppers, dass die Wissenschaftsgeschichte evolutionär fortschreitet (zunehmend bessere Annäherung an die Wahrheit) und stellt als Ergebnis seiner wissenschaftsgeschichtlichen Studien fest, dass die Wissenschaftsgeschichte in Umstürzen und Brüchen verläuft. Während einer normalen Phase bildet sich ein Paradigma (Komplex von Annahmen und Gesetzen, Methoden und Werten), das in einer wissenschaftlichen Krise in Frage gestellt wird. Die Krise führt zur Ausbildung von völlig neuartigen Fragestellungen und Grundbegriffen. Das daraus entstehende neue Paradigma ist mit dem Vorgänger nicht vergleichbar, weil es völlig neuartige Auffassungen enthält.

Paul Feyerabend, der in seinem Hauptwerk Against Method , 1970 (dt. Wider den Methodenzwang, 1976), einen methodischen Relativismus vertritt (Seine Formel "anything goes” wurde zu einem Schlagwort für absolute Beliebigkeit), bemerkt zum Begriff der Wahrheitsnähe, dass, wenn man nicht weiß, was die Wahrheit ist, es keinen Sinn hat von Wahrheitsnähe zu sprechen.

Die Gesellschaftstheorie Karl Poppers:

Im Zentrum von Poppers Gesellschaftstheorie steht die "offene Gesellschaft”, die auf dem Prinzip der Demokratie (insbesondere dem Prinzip der Abwählbarkeit von Politikern) gegründet ist, ein Prinzip, das er für gleich bedeutend hält wie das Prinzip der Falsifizierbarkeit in der Wissenschaftstheorie. Das Gegenteil der offenen Gesellschaft, die geschlossene Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Ideologen. Hauptgegner sind für Popper Plato, Hegel und Marx (Marx weniger als Hegel), alles Theoretiker von idealen Gesellschaftsformen, die für Popper geschlossene sind. Geschlossene Gesellschaften führen seiner Meinung nach zu einem elitären Totalitarismus, so der Philosophenstaat bei Plato, das absolute Staatsgebilde bei Hegel und die Diktatur des Proletariats (respektive der Partei) im Marxismus/Leninismus. Die offene Gesellschaft lebt dagegen mit vorläufig im Konsens erreichten Werten. Warum das besser ist, kann und will er nicht beweisen, es ist eine Sache der Wahl.

Ausarbeitung: Rainer Schenk

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Erstellt: Wintersemester 2006