Wimmer: Vorlesung WS 2006-07
180386 Philosophie im
20.
Jahrhundert
1. Vorlesung 10. Oktober 2006: Einleitung in das Thema -
Abgrenzung
des Zeitraums und
Fragen der Auswahl und Interpretation
Überlegungen zu
Zeitraum und Gliederung
| Auswahlkriterien und Interpretationsfragen
| Wertung und Terminologie
Die erste Frage ist: Wann
fängt das 20. Jahrhundert an, wann hört es auf? Diese Frage
zu beantworten heißt, dass schon ein bestimmtes Verständnis
dieser Epoche gegeben ist.
Der Kalender allein gibt keine Antwort. Es wäre nichtssagend, die
Epoche einfach von 1900 bis 2000 zu datieren, es sei denn, diese
beiden
Daten würden den Zeitraum in sinnvoller Weise von demjenigen davor
und jenem danach abgrenzen, was aber nicht der Fall ist. Weder in
der
politischen Geschichte, noch in der Geschichte von Technik,
Wissenschaft oder auch der Philosophie stellt das Jahr 1900 irgendwo
in
der Welt einen Wendepunkt dar, dem ein ähnlicher Wendepunkt im
Jahr 2000 entsprechen würde. Zwar war das Bewusstsein um 1900
durchaus präsent, an einem "Jahrhundertende", in einem fin de siècle zu leben, aber
- dem entspricht kein vergleichbares Bewusstsein hundert Jahre
später, und
- es bezog sich vorwiegend auf Entwicklungen im Bereich der
Künste und der Literatur.
Wir müssen also eine sinnvollere Abgrenzung als die
kalendermäßige für dasjenige finden, was in unserem
Zusammenhang das "20. Jahrhundert" genannt werden soll. Und da es
sich
bei dieser Vorlesung um die "Philosophie" dieses "Jahrhunderts"
handeln
wird, sollte eben die Abgrenzung von anderen "Jahrhunderten" auch
mit
Bezug auf die Philosophie Sinn machen.
Überlegen wir zunächst einmal, mit welchen anderen
Lebensbereichen oder Ereignissen diese Epoche abgegrenzt werden
könnte. Wir könnten zuerst an einschneidende historische
Ereignisse denken und hätten dann - mit einigen Historikern dieser
Epoche -
1) Ein "kurzes 20. Jahrhundert"
- Von 1917 (Oktoberrevolution in Russland) bis 1989 (Fall der
Berliner Mauer): 72 Jahre
Konkurrenz der Nationen und Ideologien
Wenn wir an Ereignisse im internationalen politischen Bereich
denken,
die nachhaltig und unwiderruflich frühere Zustände beenden,
so zieht sich das 19. noch eineinhalb oder beinahe zwei Jahrzehnte
in
das 20. Jahrhundert. "Die Welt der Sicherheit" (Stefan Zweig: Die
Welt
von Gestern. Wien 1948, Kap. 1) geht mit dem (ersten) Weltkrieg zu
Ende. Diese "Sicherheit" sah Zweig im Glauben "an den
ununterbrochenen,
unaufhaltsamen 'Fortschritt'", der "für jenes Zeitalter wahrhaftig
die Kraft einer Religion" hatte (Zweig 1948, 19). Es gab natürlich
Zweifler, wie in jeder Religion, und so beschrieb der Anarchist
Georges
Sorel 1908 "Les illusions du progrès". Beides, der
Fortschrittsglaube und der Anarchismus dieses späten 19.
Jahrhunderts, sind uns nur mehr schwer nachvollziehbar.
Der Erste
Weltkrieg,
die Auseinandersetzung zwischen den konkurrierenden Imperien der
industrialisierten Welt, beginnt erst 1914, er beendet die zuvor
liegende Periode allerdings nachhaltig. Im dritten Kriegsjahr
macht in
einem der beteiligten dynastischen Imperien, in Russland
(Zarendynastie
der Romanov), ein Aufstand der Arbeiter dem feudalen System ein
Ende,
indem auch noch dessen konstitutionelle Variante, die seit einem
halben
Jahr konzediert war, die Regierung Kerenskijs, im Oktober einer
Räterepublik unter Führung von Lenin weichen musste. Im
Spätherbst 1918 waren die dynastischen Imperien des Deutschen
Reiches (Kaisertum der Hohenzollern seit dem Deutsch-Französischen
Krieg, also seit ca. 50 Jahren) wie auch Österreich-Ungarns
(Kaisertum der Habsburger seit 1804, in der bestehenden Form als
k.u.k.
Monarchie, seit dem "Ausgleich" mit Ungarn, also seit ca 55
Jahren)
Vergangenheit. Die vierte dynastische Großmacht, das Osmanische
Reich (begründet fast zeitgleich mit dem ersten habsburgischen
deutschen Kaiser im 13. Jahrhundert) bestand formell noch einige
weitere Jahre, war im Unterschied zu den anderen seit langem
territorial reduziert und nun gegenüber einer Aufteilung durch die
Siegermächte (Italien, Frankreich, England, Griechenland) hilflos.
Das ist europäische Geschichte, aber es ist nicht nur
europäische Geschichte.
Mit dem Ende des deutschen und des
osmanischen Reichs werden die Grenzen der Kolonialreiche und
der sogenannten Einflusssphären verschoben, in Asien wie in
Afrika, in
Lateinamerika wie im pazifischen Raum. England und Frankreich
dominieren stärker als zuvor in der gesamten Alten Welt, Japan als
eine der Siegermächte des Krieges dehnt seine Territorien in
dessen Folge aus, die neue Sowjetunion hat Gebietsverluste
hinzunehmen,
aber sie realisiert eine ganz neue Auffassung von Gesellschaft und
Staat. So ist staatspolitisch das "19. Jahrhundert" spät zu Ende
gegangen.
Aber was hat da mit dem Ersten Weltkrieg und dessen Ende begonnen?
In weiteren Regionen der Welt als bisher setzt sich die Ideologie
des
Nationalstaats durch – in den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns
ebenso wie in der neuen türkischen Republik, die einen weltweit
damals stark beachteten und auch erfolgreichen Kampf um
Selbstbestimmung und
Modernisierung führt. Im britischen Indien war 1914 der
"Nationalkongress" gegründet worden, in dem sehr unterschiedliche
Strömungen vertreten waren – von Theosophen und Hindu-Reformern
bis zu Marxisten – die jedoch alle auf eine Unabhängigkeit Indiens
abzielten. Japan hatte sich nach den Reformjahrzehnten der
Meiji-Zeit,
nach siegreichen Kriegen gegen China (1895), Russland (1905) und als
Mitglied der Entente im Ersten Weltkrieg als militärische
Großmacht in Ostasien etabliert und entwickelte expansionistische
Ideen. Im islamischen Raum entstanden eine Reihe neuer Staaten (wie
z.B. der
Irak, Syrien oder Saudi-Arabien), andere Länder führten
weitreichende Reformen durch (der Iran unter dem neuen Schah, aber
auch
Afghanistan), die auf eine wirtschaftliche und außenpolitische
Selbständigkeit abzielten. Vergleichbare Prozesse sind auch in
anderen Regionen (etwa in Lateinamerika) zu beobachten.
In der Folge sind es ideologische Auseinandersetzungen zwischen
faschistischen, liberalen und sozialistisch-marxistischen Welt- und
Gesellschaftsauffassungen, die diese Epoche kennzeichnen. Nach
militärischen und politischen Niederlagen faschistischer Regime
beherrschte für lange Zeit die Konfrontation zwischen "West" und
"Ost" viele Lebensbereiche und fand ihren Ausdruck auch in
philosophischen Debatten. Diese Phase ging in den Industriestaaten
mit
der Auflösung der Sowjetunion zu Ende, wofür der Fall der
Berliner Mauer (1961-89) ein markantes Datum liefert.
Wäre es plausibel, dieses "kurze Jahrhundert" auch in der
Philosophiegeschichte als "20. Jahrhundert" zu sehen?
2) Ein noch kürzeres Jahrhundert?
- Von 1905 (Sieg Japans über Russland) bis 1960 (das
"afrikanische Jahr"): 55
Jahre
Entkolonialisierung
In einem zweijährigen Krieg, der um Gebiete und Einflüsse in
Ostasien geführt wird, besiegt Japan eine europäische
Großmacht, wobei insbesondere der Sieg über die russische
Flotte (Seeschlacht bei Tsushima) sehr großen Eindruck in Asien
macht, nachdem etwa fünf Jahrhunderte lang die europäische
Vorherrschaft in Asien auf maritime Ressourcen gegründet gewesen
war. Spätestens nach diesem Krieg ist Japan das erste
nichteuropäische Kolonialreich der Neuzeit:
Korea wird für 50 Jahre japanische Kolonie, nachdem Taiwan schon
zehn Jahre früher von China an Japan abgetreten worden war; in
weiteren Kriegen dehnt Japan seine Territorialmacht vorübergehend
großräumig aus, wird auf Grund seiner militärischen
Niederlage (1945) wieder reduziert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zerfallen nach und nach die alten
politischen Kolonialreiche endgültig (1948 entstehen Indien und
Pakistan, um 1960 entstehen neue Staaten in Afrika usw.). An ihre
Stelle treten
Nationalstaaten, teilweise auch überstaatliche Gebilde (OAU,
arabische Liga etc.) und die UNO, die in ihrer Zusammensetzung
zumindest theoretisch eine weltweite Organisation souveräner
Staaten darstellt.
Taugt diese Abgrenzung für unser Thema?
Die letzte Phase des politischen Kolonialismus ist sicher wichtig
für die Entstehung der heutigen Welt, aber der damit angesprochene
Zeitraum ist zu kurz und die geistigen Auseinandersetzungen damit
sind
nicht zentral in der Philosophie oder erlangen darin erst später
Bedeutung.
Dennoch hätte die Philosophie insgesamt gute Gründe, den
Aspekt der Entkolonisierung ernsthaft zu reflektieren, denn er
hängt mit ihrem historischen Selbstverständnis zusammen:
Über lange Zeit wurde die Geschichte des menschlichen Denkens so
dargestellt, als hätte die Vernunft eine Hautfarbe (weiß),
ein Geschlecht (männlich) und eine gleichsam natürliche
Religion (christlich) - und das damit zusammenhängende
Superioritäts- oder Exklusivitätsbewusstsein der okzidentalen
Welt konnte unter anderem auch den politischen Kolonialismus
begründen.
3) Ein langes Jahrhundert?
- Von 1883 (Ausbruch des Krakatau, vgl. Wikipedia)
bis 1990
(Entstehung des Internet, vgl. GITNet): 107 Jahre analoge globale
Kommunikation
Nehmen wir Kommunikationstechniken
der Menschheit als Kriterium
für die Abgrenzung des 20. Jahrhunderts, so scheint es am
plausibelsten, dessen Beginn bereits 1883 anzusetzen mit dem ersten
Ereignis, das innerhalb kürzester Zeit rund um den Globus –
natürlich nur in den damals hochtechnisierten Zentren – bekannt
wurde.
Dies ist der Ausbruch des Vulkans Krakatau in der Sundastraße
zwischen Sumatra und Java. Das Ereignis war binnen Stunden in New
York
bekannt, denn es gab damals seit kurzem funktionierende Verbindungen
über Seekabel. Was der holländische Beamte in Java
telegrafierte, wusste man sehr schnell in den Zentren der
nördlichen Hemisphäre – es war der Beginn dessen, was viel
später das "globale Dorf" genannt wurde.
Taugt diese Abgrenzung für das Thema? Inhaltlich-philosophisch?
Kommunikationsmedien sind für die Entwicklung jeder Wissenschaft
und auch der Philosophie sehr wichtig. Aber die Medien der
Philosophie
waren bis zum Internet doch ausschließlich Bücher,
Zeitschriften und Kongresse. Globale Kommunikation in diesem Bereich
hat nicht mit der Telegrafie und auch nicht mit anderen Techniken
dieser Zeit (Telefon etc.) eingesetzt.
Fragen wir nach einer inhaltlich-philosophischen Abgrenzung der
Periode, so liegt nahe,
4) Ein noch längeres, vorgezogenes Jahrhundert
anzusetzen:
- Von ca 1870 bis 1989: Jahrhundert
von
Letztbegründungen
In den 1870er bis 1890er Jahren sind philosophische Werke
erschienen,
die auf das 20. Jahrhundert wesentlich gewirkt haben:
Franz Brentano veröffentlicht 1874
die "Psychologie vom empirischen Standpunkte" (und 1889 "Vom
Ursprung
sittlicher Erkenntnis"),
Gottlob Freges "Begriffsschrift, eine der arithmetischen
nachgebildete
Formelsprache des reinen Denkens" erscheint 1879 (und 1892 "Über
Sinn und Bedeutung"),
1882 erscheint von Friedrich Nietzsche sowohl "Menschliches,
Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister", als auch der
"Zarathustra";
Wilhelm Dilthey veröffentlicht 1883 seine "Einleitung in die
Geisteswissenschaften";
von Karl Marx erscheint 1885 (postum, von Engels herausgegeben)
der
zweite und 1894 der dritte Band des "Kapital".
Im Jahr 1900 erscheinen unter anderem:
Sigmund Freud: Die Traumdeutung
Pjotr Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs (russ. 1899)
Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des
Physischen zum Psychischen (2. Auflage, EA 1886)
Georg Simmel: Philosophie des Geldes und
Wilhelm Wundts erster Band von: Völkerpsychologie. Eine
Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte
Mit diesen Titeln sind schon gewisse Themen angesprochen, die das
philosophische Denken der Zeit bis in den Ersten Weltkrieg bestimmen
werden: Die Psyche wird auf neue Weise und intensiv erforscht wie
auch
die Möglichkeiten und Grenzen des Erkennens. Wirtschaft und
Gesellschaft werfen Fragen auf und die Besonderheiten menschlicher
Existenz in den unterschiedlichen Kulturen werden verstärkt als
Problem wahrgenommen. Diese Themen verstärken sich in der Folge.
Um einen Überblick zu gewinnen, ist es sinnvoll oder sogar
notwendig, eine gewisse Gliederung vorzunehmen.
Mein Vorschlag zur Gliederung dieses Jahrhunderts richtet
sich nach jeweils vorherrschenden neuen Fragestellungen, Themen oder
Methoden
und sieht so aus:
1) Bis 1914: Idealismus, Lebensphilosophie, Psychologismus,
Wissenschaftstheorie
2) Ab 1914: Phänomenologie, Marxismus, Pragmatismus
3) Ab 1929: Analytische Philosophie, Ideologie und
Ideologiekritik, Existenzphilosophie, Historismus
4) Ab 1960: Strukturalismus, Feminismus, Hermeneutik,
Neomarxismus, Postmoderne, Postkolonialismus,
Interkulturelle Philosophie
Die genannten Jahreszahlen haben eine gewisse Willkür, aber auch
Plausibilität. 1914 bezeichnet ein politisches Datum, nämlich
den Beginn des Krieges, mit dem die bürgerliche Weltordnung des
19. Jahrhunderts zu Ende gehen wird, was auch in den philosophischen
Diskursen eine Rolle spielt.
1929 und 1960 wähle ich aus anderen Gründen - in diesen
Jahren erscheinen Werke, die das Einsetzen oder die Vertiefung neuer
Diskurse deutlich markieren:
1929 z.B.:
Karl Mannheim: Ideologie und
Utopie
(Wissenssoziologie, Ideologiekritik)
Otto Neurath mit Hahn und Carnap: Wissenschaftliche
Weltauffassung (Wiener Kreis, Analytische Philosophie)
1960 z.B.:
Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und
Methode (Hermeneutik)
Leszek Kolakowski: Der Mensch
ohne
Alternative (Neomarxismus)
Nakamura Hajime: Ways of Thinking
of
Eastern Peoples (Nichteuropäische Philosophie)
Probleme der Auswahl und Orientierung
- Die Quellen sind unübersichtlich, was sich durch das
Internet noch verstärkt hat.
- Man begegnet sehr unterschiedlichen Listen von Werken und
AutorInnen, deren jeweilige
Orientierungen immer noch mit drei Merkmalen charakterisiert
werden
können: chauvinistisch, sexistisch, kulturalistisch.
Auch meine Auswahl wird individuell-subjektiv sein.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand:
- Jede Darstellung eines derartigen Gegenstands ist durch
individuelle Ausbildung und Interesse und deren Einseitigkeiten
bedingt.
- Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts sind
politisch-sozial-kulturell zu nahe, als dass irgend jemand von
eigenen
Wertungen, Stellungnahmen bereits abstrahieren könnte.
- Und außerdem ist in diesem Jahrhundert die philosophische
Literatur explodiert, wie z.B. Randall Collins betont. (Zu
Collins Buch
vgl. die Seminararbeiten
von Ruth
Bauer und Barbara Wandl sowie von Ines
Simon.)
Also:
Jede/r ist für ihre/seine Liste verantwortlich, es gibt keine
allgemeine Sicherheit, das gilt auch für meinen Bericht hier. Aber
ich halte es für sinnvoll und schlage Ihnen vor, an einer solchen
Liste zu arbeiten und sich dabei jedenfalls immer zu fragen:
- Was hat NN zur Philosophie beigetragen?
- In welchem Feld der Philosophie hat NN etwas geleistet und
was?
- Welche Thesen/Begriffe von NN halte ich für wesentlich?
Man kann auch, muss sich aber nicht unbedingt fragen:
- Wer hat NN beeinflusst?
- Welcher Richtung oder Schule gehört NN an?
Probleme der Interpretation
Eine erste Schwierigkeit, wohl deutlicher als in früheren Epochen
der Philosophie, stellen die Fachsprachen und -terminologien dar.
- Die "Schulen" trennen sich und entwickeln Fachsprachen, die
schwer
in
einander zu übersetzen sind. Bemühungen (der
Phänomenologie, der Analytischen Philosophie,
des Marxismus) eine verbindliche Terminologie übergreifend zu
finden, sind nicht allgemein überzeugend geworden.
Das vergangene ist auch ein Jahrhundert
neuer
Sprachen in der Philosophie.
- Zu den im 19. Jahrhundert vorherrschenden wenigen
europäischen Sprachen kommen in der philosophischen Literatur
einige dazu, wie etwa das Spanische.
Die von Höllhuber zitierte Aussage eines Philosophieprofessors
der
Sorbonne: "Pour connaître la totalité de la philosophie,
il est nécessaire de posséder toutes les langues, sauf
toutefois l'espagnol" bezieht sich nicht nur auf eine
angenommene
Randstellung der spanischen Philosophie und Wissenschaft,
sondern auch
auf Annahmen über Besonderheiten des Spanischen, die sie
angeblich
für systematische Philosophie ungeeignet machten. Dass
übrigens mit "toutes les langues" in diesem Zitat
selbstverständlich nur wenige europäische gemeint worden sein
werden, versteht sich von selbst. (Höllhuber Geschichte der
Philosophie im spanischen Kulturbereich (1967), S. 9)
- Das Englische setzt sich als neue lingua franca der Philosophie in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr durch. Seit
der
Ablösung des Lateinischen durch europäische Volkssprachen
(18. Jahrhundert) hatte die Philosophie keine lingua franca.
Mehrere
Projekte, eine solche zu schaffen (wie: Interlingua oder die
Sprache
der formalen Logik) sind für diese Funktion gescheitert.
- In nichteuropäischen Traditionen und (teilweise) Sprachen
wird moderne philosophische Literatur geschaffen. Das betrifft
vor
allem ostasiatische Sprachen (Chinesisch, Koreanisch,
Japanisch), aber
auch das Arabische, Persische, Türkische und in Einzelfällen
auch (afrikanische) Sprachen, die dazu erstmals eine
Terminologie
entwickeln. Vgl. dazu etwa den Vortrag von Heinz Kimmerle in der
"audiothek" über Afrikanische
Philosophie
in westlichen Sprachen.
- Philosophische Literatur aus nichteuropäischen Sprachen wird
im Zusammenhang der sog. "komparativen Philosophie" in großem
Maßstab übersetzt und kommentiert. Ein Beispiel dafür
sind die ab 1879 von Max Müller herausgegebenen "Sacred
Books
of the East". Dabei sind die auftretenden hermeneutischen
Fragen von besonderer Bedeutung. Vielleicht gibt Raimon Panikkar
mit
seinem Konzept der "homöomorphen Äquivalente" hier einen
wichtigen Anstoß (vgl. dazu die Seminararbeiten
von Hsue-i
Chen und von Ursula
Taborsky).
Wertung
Notwendigerweise muss die Darstellung des philosophischen Denkens
einer
Periode unter all dem, was an Quellen vorliegt, auswählen.
Sinnvollerweise wird das nach Maßstäben geschehen, deren
Anwendbarkeit und deren Begründbarkeit argumentiert werden kann.
Darin liegt bereits eine Wertung, denn es wird damit stillschweigend
–
oder auch explizit – erklärt, was wert ist, erinnert zu werden und
was einen solchen Wert nicht hat.
Einige Male haben sich in der philosophischen Szene im vergangenen
Jahrhunderte Debatten darüber ereignet, ob bestimmte DenkerInnen
oder gar Richtungen überhaupt philosophischen Rang beanspruchen
können. Ein gutes Beispiel dafür liefert die
Auseinandersetzung um das Ehrendoktorat der Universität Cambridge
für Jacques Derrida im Jahr 1992.
Derrida, dessen Stil bereits 1983 von Michel Foucault als
"obscurantisme terroriste" (Dietzsch 115) bezeichnet worden war,
hatte
ein großes Publikum, aber nicht eigentlich in der Fachphilosophie
außerhalb Frankreichs, sondern eher in
literaturwissenschaftlichen und filmtheoretischen Kreisen. So
jedenfalls sah es eine Gruppe von Philosophen um den Herausgeber der
renommierten Zeitschrift "Monist",
der in der Londoner Times (9.Mai
1992) eine Warnung gegen die geplante Ehrung in Cambridge
veröffentlichte. Die Argumente blieben erfolglos, Derrida erhielt
dann doch die Ehrenwürde nach einer Abstimmung mit der Mehrheit
von 336 zu 204 Stimmen.
Dieses Abstimmungsergebnis sagt leider nichts über das Gewicht der
Argumente und Gegenargumente. Was also waren die Bedenken?
- Der erste Punkt wurde schon genannt: Derrida habe mit seinen
Schriften zwar großen Einfluss gewonnen, aber nicht in der
Fachphilosophie. Dafür fehlten seinen Arbeiten die allgemein
anerkannten Maßstäbe an "Klarheit und Strenge", obwohl seine
Schriften gewisse verwandte Züge mit dem Schreiben in dieser
Disziplin
aufwiesen.
- Derridas Leistung liege eher darin, dadaistische "Tricks und
Mätzchen" in die Akademie einzuführen. Damit habe er zu dem
verbreiteten Eindruck beigetragen, dass die französische
Gegenwartsphilosophie nicht viel mehr als eine lächerliche Sache
sei.
- Man brauche nur eine Seite bei Derrida aufzuschlagen um zu
sehen,
dass darin nichts Verständliches vorkommt. Viele haben dahinter
tiefe Gedanken vermutet, aber es werde bei näherem Zusehen klar,
dass Derridas Aussagen, wo sie überhaupt kohärent sind,
entweder falsch oder trivial sind.
- Somit handelt es sich um halb-verständliche Angriffe auf die
Werte von Vernunft, Wahrheit und Gelehrsamkeit, was keine
ausreichende
Grundlage für eine Ehrung durch eine angesehene Universität
sei.
Der von Barry Smith, dem Herausgeber von "Monist", verfasste Brief
ist
unter anderen von Hans Albert (Mannheim), Rudolf Haller (Graz),
Wolfgang Röd (Innsbruck), Peter Simons (Salzburg) und Willard van
Orman Quine (Harvard) unterzeichnet. Vgl. das Interview
mit Barry Smith in Sophia,
Bd. 138, Nr. 2, 1999.
Hingegen lesen wir auf der Homepage des
International
Center
for Writing and Translation, UC-Irvine, wo Derrida lehrte,
2006:
Professor
Derrida
is Professor of Philosophy and Directeur d’Etudes at the Ecole
des Hautes Etudes en Science Sociales in Paris. Since 1986 he
also has
been a UCI Distinguished Professor of Philosophy, French, and
Comparative Literature. He is one of the most prominent
philosophers of
the 20th century and has influenced debates in philosophy around
the
world. Deconstruction has to a large extent facilitated the
emergence
of the linguistic and rhetorical turn in critical theory.
Derrida is
the author of over 50 books on philosophy, literature, the arts,
ethnology, Marxism, psychoanalysis, and critical legal studies.
Das Beispiel zeigt deutlich, wie schwierig eine wertende Aussage in
der
Zeitgeschichte (Derrida starb 2004) der Philosophie ist, denn
- einerseits sind die Argumente des zitierten Briefes durchaus
nachvollziehbar aus dem Selbstverständnis und der
Theoriegeschichte der Analytischen Philosophie.
- Andererseits steht außer Frage, dass die Postmoderne und
der postkoloniale Diskurs, zu dem Derrida wesentlich beigetragen
hat,
doch nicht eine bloße vorübergehende Modeerscheinung war.
Terminologie der Darstellung
Wie jede andere historische Disziplin kann auch die
Philosophiehistorie
ihre Beschreibungsbegriffe nicht einfach den Quellen entnehmen und
sie
wird auch nicht Selbstbenennungen oder Klassifizierungen, die zu
früheren Zeiten verwendet worden sind, einfach übernehmen
können.
Der Grund dafür ist einfach: im Rückblick erscheinen oft
andere Termini angemessen als diejenigen, welche die Zeitgenossen
verwendeten. So etwa kann sinnvoll gesagt werden, dass der
schwedische
König Gustav Adolf während des 30-jährigen Krieges
gestorben ist. Er selbst oder seine Zeitgenossen damals konnten das
unmöglich sagen, denn er starb 1632 in der Schlacht bei
Lützen und die Feldzüge, die später als
"30-jähriger Krieg" zusammenfassend benannt wurden, endeten erst
16 Jahre später.
Es ist in der Geschichte der Philosophie nicht anders, was sich aber
nicht nur auf solche chronologische Interferenzen bezieht: Die
Philosophiehistorie kann ihre Begriffe und Zuordnungen nicht
schlechthin
den Quellen entnehmen.
Zur Einstiegsseite der Vorlesung.
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Wimmer
Erstellt: Wintersemester 2006