Wimmer: Vorlesung WS 2005/06 180210 Philosophie im 20. Jahrhundert
9. Vorlesung 6. Dezember 2005:
Marxismus-Leninismus
Da es mir aus Zeitnot nicht möglich war, die Vorlesungsunterlagen
dieses Termins
hier aufzubereiten, hat Katharina Stockert sie aus ihrer Mitschrift
ausgearbeitet und die folgenden Texte erstellt, damit sie hier zur
Verfügung stehen können. Ich danke ihr dafür sehr
herzlich. fmw
Katharina Stockert:
Karl Marx (1818 – 1883), in Trier
geboren, stammte aus einer kleinbürgerlichen Familie, studierte
Jura und setzte sich mit der damals vorherrschenden Philosophie Hegels
auseinander.
Das ist wohl einer der wenigen Sätze, die man über Marx
schreiben kann ohne sofort auf Widerstand zu stoßen, denn bis
heute bieten seine Schriften Anlass zu äußerst heftigen und
kontroversiellen Diskussionen.
Dieser Beitrag umfasst drei Punkte, die zum besseren Verständnis
dieser überaus komplexen Problematik dienen sollen. Der erste
Punkt bietet einen Überblick über den gesellschaftlichen
Wandel im 19.Jhdt. der für Marx´ Analysen von besonderer
Wichtigkeit war.
Der zweite Punkt beschäftigt sich mit den wesentlichsten Merkmalen
der marxschen Analyse in Bezug auf die darauf folgende Entstehung der
marxistischen Gruppierungen.
Der dritte Punkt befasst sich mit den wichtigsten marxistischen
Strömungen.
1) Der gesellschaftliche Wandel im 19.Jhdt. – die Arbeiterbewegungen
entstehen:
England war schon am Anfang des 19.Jhdt. in der Blütezeit der
industriellen Revolution. Das "Empire" konnte vor allem seine
herausragende Wirtschaftsmacht, die sich durch die industrielle
Revolution ergab, für sich Nutzen und wurde somit zum Vorreiter
der kapitalistischen Entwicklung.
Neben den kaufmännischen Kapitalisten entstanden nun die
industriellen Kapitalisten, die für immer größere
Produktionsanlagen verantwortlich waren und dadurch immer mehr Arbeiter
für ihre Fabriken benötigten. Es kam zu einem enormen Zuwachs
der städtischen Bevölkerung (Urbanisierung) da durch die
Agrarreformen und die Aufteilung der Allmenden (die gemeinsame
Nutzfläche an Weide und Wald für alle Mitglieder eines
Dorfes) die Kleinbauern nicht mehr von ihrem Ertrag leben konnten und
somit in die Stadt abwanderten. Diese Bevölkerungsgruppe
ermöglichte überhaupt erst die Ausdehnung des
Industriekapitalismus, denn sie war frei vom feudalen
Abhängigkeitsverhältnis und konnte dadurch ihre Arbeitskraft
als Ware anbieten. Während dieser Zeit kam es auch zu einem
explosionsartigen Bevölkerungszuwachs (im 18.Jhdt. war die
Sterberate noch gleich der Geburtenrate), der durch die besseren
Hygienestandards und die bessere Nahrungsversorgung zu erklären
ist. Der Bevölkerungszuwachs sorgte aber auch für die
Entstehung der so genannten industriellen Reservearmee. Ohne Land waren
die Arbeiter vollkommen abhängig von den Industriekapitalisten und
der Arbeit in den Fabriken. Es kam zu einem Überangebot an
Arbeitskräften und einer damit einhergehenden Verelendung des
Proletariats.
Es gab keine Regelungen der Arbeitszeit, die Menschen arbeiteten bis zu
16 Stunden am Tag, keine Unfall- oder Krankenversicherungen obwohl oft
unter gesundheitsgefährlichen Bedingungen gearbeitet wurde und
Kinderarbeit stand an der Tagesordnung.
Das alles hatte zur Folge, dass die durchschnittliche
Arbeitsfähigkeit bei nur 15 Jahren lag.
Nach und nach entwickelte sich im 19.Jhdt. aber auch ein Widerstand
gegen diese unmenschlichen sozialen Verhältnisse und zwar sowohl
in der Arbeiterschaft, als auch in manchen Kreisen der Bourgeoisie.
Durch diesen wachsenden Druck kam es dann letztendlich zur
Fabrikgesetzgebung, die minimale soziale Verbesserungen zusicherte und
das Kinderarbeitsalter anhob. Ein erster Erfolg war auf Seiten der
Arbeiter zu verzeichnen und währen des gesamten 19.Jahrhunderts
wurde die Arbeiterbewegung immer stärker bis sich auch
Gewerkschaften und Vereine bildeten. Eine Vielzahl von Konzepten wurden
entwickelt, wie soziale Verbesserungen am besten zu erreichen seien und
es kam auch die Frage auf, ob der Kapitalismus nicht gänzlich
abzuschaffen sei.
Während dieser Zeit entwickelten auch Marx und Engels ihre
Theorien und obwohl sie keinen großen Einfluss zu ihren Lebzeiten
hatten, waren ihre Ideen nach ihrem Tod gegen Ende des 19.Jahrhunderts
maßgebend in den Arbeiterbewegungen.
Der Marxismus entstand.
2) Karl Marx und Friedrich Engels:
Die Biographien von Marx und Engels sind in der Wikipedia zu finden, in
diesem Text sollen nur die wesentlichsten Punkte besprochen werden.
Da Marx ins Exil nach England gehen musste, wurde er dort direkt mit
den eben besprochenen Entwicklungen der dortigen Gesellschaft
konfrontiert. In seinen Schriften bediente sich Marx deshalb
zahlreicher Beispiele, die fast ausschließlich der damaligen
gesellschaftlichen Situation in England entnommen sind.
Diese Beispiele wurden später zum Hauptargument mancher Kritiker,
die Marx Konzeptionen als veraltet darstellten, als sich die Situation
der Arbeiter in England besserte und die marxistische Revolution
ausblieb.
Zu den bedeutendsten Schriften von Marx gehören "Das Kapital. Die
Kritik der politischen Ökonomie" dessen zweiter und dritter Band
Engels nach seinem Tod veröffentlichte und "Das kommunistische
Manifest" das sie gemeinsam verfassten.
Die Grundlage ihres Denkens bildete der "Dialektische Materialismus"
bei dem Hegels Dialektik "vom Kopf auf die Füße" gestellt
wird. Marx geht im Gegensatz zu Hegel davon aus, dass es eine real
existierende Welt außerhalb der menschlichen Wahrnehmung gibt.
Nicht wir schaffen uns die Welt, sondern die Welt schafft uns – wir
sind in unserem Denken immer schon von unserer Umwelt, der Gesellschaft
in der wir Leben, bestimmt.
Marx und Engels sahen im historischen Prozess eine Vorantreibung des
Widerspruches zwischen den Produktivkräften und den
Produktionsverhältnissen. Dieser Widerspruch entsteht in der
ständigen Weiterentwicklung der Produktivkräfte um die
steigenden Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Die Steigerung
der Produktivkraft führt jedoch unweigerlich zur Arbeitsteilung
und somit zu unterschiedlichen Eigentumsverhältnissen. Der
gesellschaftliche Reichtum wird ungleich verteilt und es entstehen
soziale Klassen. Deshalb bezeichnen Marx und Engels "die Geschichte
aller bisherigen Gesellschaft als die Geschichte von
Klassenkämpfen" (MEW 4, S.426). Als Beispiel soll hier nur die
Ablösung des Feudalsystems durch die kapitalistische Gesellschaft
genannt werden. Feudalherren, Bürger und Leibeigene wurden durch
Klassenkämpfe in Proletariat und Bourgeoisie umgewandelt. Solche
Änderungen der Produktionsverhältnisse erfolgen immer durch
revolutionäre Umwälzungen gesellschaftlicher Strukturen.
Sowohl Marx als auch Engels hüteten sich vor utopischen
Zukunftsprognosen künftiger Gesellschaftsordnungen. Die oft
zitierte klassenlose Gesellschaft sahen sie als eine Möglichkeit,
nie als zwingende Entwicklung der Gesellschaft. Sie entsteht durch den
Kampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie in dem der
Mittelstand aufgelöst wird und die Proletarier sich zu einer
politischen Partei organisieren und die Produktionsmittel zunächst
in Staatseigentum übergehen. Damit kommt es aber zur
Auflösung der Klassenunterschiede und letztendlich zur
Auflösung des Staates.
"Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die
Spur gekommen ist – und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das
ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu
enthüllen - , kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen
weder überspringen noch wegdekretieren. Aber sie kann die
Geburtswehen abkürzen und mildern." (MEW 23, S.16)
3) Der Marxismus:
Austromarxismus:
Österreich
Wichtigste Vertreter: M. Adler, O. Bauer, K. Renner und R.
Hilferding
Der Austromarxismus war keine homogene marxistische Strömung
sondern eher ein Sammelbegriff für marxistische Theorien in
Österreich. Genaueren Einblick in die unterschiedlichen
Konzeptionen sind in der Wikipedia zu finden.
Marxismus-Leninismus:
Russland
Lenin sah im Sozialismus die erste Entwicklungsstufe die aus dem
Kapitalismus hin zum Kommunismus führen sollte. Seine
Parteitheorie entwickelte sich auf der Grundlage des noch
feudalistischen Russlands. Demnach muss das sozialistische Bewusstsein
von Intellektuellen in der Arbeiterklasse verbreitet werden. Die Partei
soll zu diesem Zeck von Berufsrevolutionären geführt werden
und eben diese Aufgabe erfüllen.
Auch Lenins Imperialismustheorie findet heute noch Anerkennung. Sie
definiert die Entwicklung des Kapitalismus durch die Entstehung von
Monopolen, Großbanken und internationalen Kartellen sowie durch
koloniale Ausbeutung. Eine wichtige Unterscheidung zu Marx war der
Glaube Lenins, an eine baldige sozialistische Revolution in Russland.
Während Marx diese Revolution erst in einem hoch
industrialisierten, kapitalistischen Land als möglich ansah, war
für Lenin das noch feudalistisch geprägte Russland der ideale
Startpunkt. Mit dem Ende der russischen Revolution 1918 entstanden
überall in Europa marxistische Parteien - die Strömung
wurde zu einem ernstzunehmenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
Alternativkonzept. Lenin leitete die kommunistische Partei Russlands
bis zu seinem Tod und noch heute wird das bolschewikische Modell der
Partei diskutiert.
Stalinismus:
Russland
Nach dem Tod Lenins übernahm Josef W. Stalin (1879 – 1953) die
Führung der kommunistischen Partei. Da die Weltrevolution bis zu
diesem Zeitpunkt ausgeblieben war entwickelte Stalin die Idee des
sozialistischen Staates der nur durch die höchste Steigerung
staatlicher Macht auch wieder aufgelöst werden kann. Seinen
größten politischen Gegner, Leo Trotzki, lies er im
mexikanischen Asyl ermorden und auch in Russland kam es zu politischen,
gesellschaftlichen und militärischen "Säuberungen". Durch den
Stalinismus, der vielen Menschen das Leben kostete, kam der Marxismus
in Verruf und die kommunistischen Parteien Europas zersplitterten. Er
bildet somit einen wesentlichen Wendepunkt in der Entwicklung der
marxistischen Strömungen.
Maoismus:
China
Mao Tse-Tung (1893-1976) war ebenfalls ein Vertreter der
marxistisch-leninistischen Theorien, allerdings konzentrierte er diese
vorrangig auf die Position der "dritten Welt". Er sah die Revolution
nicht wie Lenin durch das städtische Proletariat ausgelöst,
sondern durch die Landbevölkerung, insbesondere durch die Bauern.
Die Revolution sollte durch einen Guerillakrieg ausgelöst werden,
unter der Führung der kommunistischen Partei und sich von den
Entwicklungsländern letztendlich auf die Industrieländer
ausbreiten. Zusätzlich sollte das Land danach in einer
ständigen inneren Revolution verbleiben, d.h. die
gesellschaftlichen Werte und Konzepte sollten immer aufs Neue
hinterfragt werden. Leider war das reine Theorie und als 1966 dieses
Konzept in der Kulturrevolution seine Vollendung finden sollte,
führte diese stattdessen zu politischen Verfolgungen,
Misshandlungen und blutigen Auseinandersetzungen.
Es gibt noch eine Reihe anderer wichtiger marxistischer
Strömungen, die man ebenfalls in der Wikipedia nachlesen kann. Zu
beachten ist dabei jedoch, dass fast alle antikapitalistischen und
sozialistischen Konzepte heute als kommunistisch bezeichnet werden,
auch wenn sie vollkommen unabhängig von den Lehren Marx entstanden
sind.
Generell ist vielleicht noch zu sagen, dass der Marxismus heute wieder
auf größeres Interesse stößt, denn obwohl die
Geschehen in Russland und China die gesamte marxistische Theorie in
Verruf brachten, ist sie dennoch von großer Aktualität und
Wichtigkeit – heute vielleicht noch mehr als damals.