Wimmer: Vorlesung WS 2005/06 180210 Philosophie im 20. Jahrhundert
4. Vorlesung 25. Oktober 2005:
Überblick 1. Periode (bis 1914)
Brentano-Schule und Phänomenologie
Es ist notwendig, hier die
BRENTANO-SCHULE zu erwähnen.
Franz BRENTANO 1838-1917, seit 1864 Priester, seit 1872 Prof.
Würzburg, 1873 laisiert, 1874 Prof. Wien, 1879 Austritt Kirche,
1880 Ehe und damit Verlust der Professur, lehrt als Privatdozent bis
1895
Diese biographischen Daten wurden in
der Vorlesung angegeben, um an universitätsgeschichtliche
Bedingungen der Zeit zu erinnern.
Zur Diskussion darüber verweise
ich auf meine Arbeit "Philosophiegeschichte in Österreich nach
1750" (Downloadmöglichkeit),
in der zwar ein früherer Zeitraum untersucht wurde, der jedoch in
wichtigen Punkten weiter wirkte.
Werkauswahl und einige Daten zu Franz Brentano finden sich in der Wikipedia
Brentano hat mit seinem von Aristoteles ausgehenden Denken eine Reihe
von bedeutenden Philosophen angeregt, sodass tatsächlich nicht von
einer, sondern von mehreren "Schulen" zu sprechen ist, die von ihm
beeinflusst sind. Vgl. zu "Brentano-Schule" brauchbar, wenngleich eine
offensichtliche bloße und etwas holprige Übersetzung (aus
dem Englischen oder Italienischen?): Wikipedia
Deutlich wird die vielseitige Wirkung Brentanos auch in zwei Diagrammen
bei
Collins, Randall: The Sociology of Philosophies. Harvard:
University Press 1998 (paperback ed. 2000)
Collins S. 740 stellt das "Netzwerk von Phänomenologen und
Existentialisten 1865-1965" dar, stellt Brentano an die Spitze dieses
Netzwerks und lässt von ihm folgende Pfeile (Wirkungen,
Beeinflussung) ausgehen:
Brentano – Rudolf Steiner
Brentano – Martin Buber
Brentano – Christian von Ehrenfels – Franz Kafka
Brentano – Sigmund Freud
Brentano – Anton Marty – Franz Kafka
Brentano – Carl Stumpf – Robert Musil, Theodor Lipps, Edmund Husserl
Brentano – Alexius Meinong – Edmund Husserl
Brentano – Wilhelm Windelband
Collins S. 726 stellt innerhalb des Netzwerks "mathematische Logik und
Begründungstheorie" (ca 1870-1935) wieder Brentano an die Spitze
und zieht Linien u.a. zu Husserl, vor allem aber zu der im 20.
Jahrhundert höchst einflussreichen polnischen Schule der Logik
(Lemberg-Warschau):
Brentano – Kazimierz Twardowski – Tadeusz Kotarbinski, Jan Łukasiewicz
– Alfred Tarski
Edmund HUSSERL 1859 Prossnitz in
Mähren – 1938 Freiburg i.Br.
Studium der Mathematik und Philosophie in Leipzig, Berlin und Wien
Zu Lebensdaten, Literatur und Lehre vgl. Wikipedia
Husserl begründet die "Phänomenologie", eine der wichtigsten
Richtungen der Philosophie im 20. Jahrhundert. Lese-Empfehlung:
Vetter, Helmuth (Hg.): Wörterbuch
der phänomenologischen Begriffe. Hamburg: Meiner 2004, z.B.
Artikel "Phänomenologie". S. 410ff
((Zuerst: Geschichte des Terminus: 18.
Jh. als "Lehre vom Schein" (im
Unterschied zur Lehre von der Wahrheit) – Oetinger, Lambert, Kant))
410: Als eigenständige
philosophische Bewegung und vor allem als Methode
411: wird die Ph. Anfang des 20.
Jahrhunderts durch Husserl
begründet. Der gemeinsame Name besteht heute trotz teils
weitreichender Differenzen, wobei zumindest zwei Problemansätze
... gemeinsam sind: die Korrelation von Zugangsart ("Logos") und
Gegenständen ("Phänomenen") und die Welt als Boden dieser
Korrelation. In der 4. Fassung seines Encyclopaedia-Britannica-Artikels
über phänomenologische Psychologie schreibt Husserl 1927:
"'Ph.' bezeichnet eine an der Jahrhundertwende in der Philosophie zum
Durchbruch gekommene neuartige deskriptive Methode und eine aus ihr
hervorgegangene apriorische Wissenschaft, welche dazu bestimmt ist, das
prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie
zu liefern und in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller
Wissenschaften zu ermöglichen." ...
Husserls Artikel nennt zugleich drei wesentliche Aufgaben der Ph.: 1.
die Methode der Deskription, 2. die Apriorität dieser Wissenschaft
und 3. ihre Bedeutung als Fundament der Einzelwissenschaften. Alle
diese Momente erweisen sich für die nachfolgenden
Phänomenologen als verbindlich, auch wo sie kritisch dazu Stellung
nehmen.
Das Versprechen, das die Phänomenologie somit abgegeben hat, war
groß und ist ein deutlicher Fall für den Entwurf einer
"Letztbegründung" (vgl. dazu den Kommentar
von Mathias Thaler zur 2. Vorlesung): eine vorurteilsfreie, nicht
durch Meinungen, Traditionen, Wertungen oder sonstige subjektive und
kollektive Annahmen verzerrte Beschreibung
der Welt zu geben; eine apriorische
Wissenschaft zu begründen und damit alle Wissenschaften (also
Naturwissenschaften ebenso wie Sozial- und Geisteswissenschaften usw.)
zu "reformieren", d.h. sie auf dieser apriorischen Basis zu
begründen.
Dieses Programm ist von einer Reihe von bedeutenden Philosophen und
Philosophinnen rasch aufgegriffen und verfolgt worden, aber man muss
sich fragen, warum nicht alle
davon zu überzeugen waren und sind.
Ich führe darum einige Einschätzungen der Phänomenologie
durch
Nicht-Phänomenologen an, die mehrere Punkte zeigen, die in
Auseinandersetzungen zwischen philosophischen Richtungen im 20.
Jahrhundert immer wieder zu beobachten sind:
-- es geht nicht nur um Fragen der Theorie und ihrer Begründung,
sondern häufig offenkundig um weltanschauliche und politische
Orientierungen;
-- jede Richtung entwickelt ihre eigene Begrifflichkeit, deren
Anwendung auf die kritisierte andere Richtung diese als verfehltes
Unternehmen erscheinen lässt;
-- was als Letztinstanz oder als entscheidende Autorität anzusehen
ist, ist jeweils
verschieden.
Zeitgenössische lexikalische Darstellung:
Heinrich Schmidt: Philosophisches Wörterbuch. 2. Auflage. Leipzig:
Kröner 1916.
Der Artikel "Phänomenologie" ist hier noch sehr knapp, weshalb ich
ihn zur Gänze zitiere:
185: Phänomenologie,
Erscheinungslehre; "eine bis zu den letzten Elementen vordringende
Analyse der Erscheinungen in sich selbst" (Stumpf); bei Hegel die
Darstellung des Bewußtseins in seiner Fortbewegung von dem ersten
unmittelbaren Gegensatz seiner und des Gegenstandes bis zum absoluten
Wissen. Die phänomenologische Methode in der Logik geht auf eine
Analyse der Bedeutung aus, d.h. dessen, was mit einem Begriff oder
Urteil "gemeint" ist (Husserl, Logische Untersuchungen).
Einschätzung im Nationalsozialismus:
Werner Schingnitz und Joachim Schondorff (Hg.): Philosophisches
Wörterbuch. 10. Auflage, völlig neu bearbeitet. Stuttgart:
Kröner 1943, 439f., Artikel "Phänomenologie":
((Kant, Hegel, Brentano (soviel wie
"deskriptive Psychologie"), Stumpf, N. Hartmann, dann:))
439: Größten Einfluß erlangte in Deutschland zw. 1918
und 1933 die P. genannte Theorie des jüdischen Denkers Husserl.
Danach ist P. nicht Seinsforschung, sondern Bedeutungs- und
Sinnforschung ... Genauer ist Husserls P. keine Lehre vom Wesen selbst
(über das kaum etwas ausgesagt wird), sondern von der Wesensschau,
vom wesensschauenden Bewußtsein; dessen wichtigste Beschaffenheit
ist die Intentionalität. ...
440: Die Ph. Husserls gibt sich das Aussehen großer
Gegenstandsgerichtetheit und Sachhaltigkeit, ohne allen Subjektivismus
und Psychologismus, doch um den Preis bewußter Lebensentfremdung
und Abstraktsetzung der geistigen Existenz des erkennenden Menschen. In
diesem Sinne äußert der Biologe Max Hartmann ... über
die Ph.: sie führt "zu einem leeren Generalisieren und
Formalisieren ... Schelers [NB: Halbjude] 'Stellung des Menschen im
Kosmos' und die 'Stufen des Organischen' von Hans Pleßner [NB:
Jude] mit ihren an mittelalterliche Scholastik erinnernden
Klassifikationen biologischer Sachverhalte scheinen mir drastische
Beispiele dafür zu sein."
Zur Terminologie dieser Kennzeichnung (z.B. "jüdischer Denker",
"leeres Generalisieren und Formalisieren" etc.) siehe meine Studie
über "Rassismus und Kulturphilosophie" (Downloadmöglichkeit).
Diese Terminologie steht im Kontext der sogenannten "Rassenlehre"
wonach durch Zugehörigkeit zu einer "Rasse" eben auch das Denken
grundlegend bedingt sei: "Was der Jude uns von der herrlichen
schöpferischen Aufbauarbeit der idealistischen Systemdenker
übriggelassen hat, ist ein Wust von sogenannten
erkenntniskritischen Begriffsspaltereien, ein rein formalistischer
Wissenschaftsbetrieb, der die Grundlagen unserer Weltanschauung
entgöttert, entseelt und aus der philosophischen Debatte
ausgeschieden hat." (Raymund Schmidt: Das
Judentum in der deutschen Philosophie. In: Theodor Fritsch
(Hg.): Handbuch zur Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur
Beurteilung des jüdischen Volkes, Leipzig 1938, 42. Aufl. S. 395)
Da Husserl als "Jude" galt (was nichts mit seiner Konfession zu tun
hatte), konnte er gemäß dieser Ideologie gar nicht anders
denken. Ähnliche Einschätzungen aufgrund derselben Zuordnung
erfuhren, bei allen Unterschieden im Detail, etwa auch Bergson (Lebensphilosophie),
Cohen (Neukantianismus) u.a.
Marxistisch-leninistische Einschätzung:
Klaus, Georg und Manfred Buhr (Hg.): Marxistisch-Leninistisches
Wörterbuch der Philosophie. Leipzig: VEB Bibliographisches
Institut 1964 (hier zititiert nach Lizenzausg.: Reinbek: Rowohlt 1972,
Bd. 3, S 835ff, Artikel "Phänomenologie")
835: ((Wieder kurze Darstellung von
Lambert, Kant, Brentano, Hegel, dann:))
von Husserl begründete Strömung der
spätbürgerlichen deutschen Philosophie.
Die Phänomenologie entwickelte sich um die Jahrhundertwende im
Zusammenhang bit der beginnenden Abkehr der spätbürgerlichen
deutschen Philosophie vom Neukantianismus. Hauptinhalt dieser Abkehr
vom Neukantianismus war das Ersetzen seiner rationalistisch
orientierten Erkenntnismethoden durch irrationalistische und die
versuchte Eliminierung seines subjektiven Idealismus durch die
Konstituierung einer Pseudoobjektivität als Voraussetzungen zum
Aufbau einer, breite Kreise der Intelligenz ansprechenden,
irrationalistischen Weltanschauung. ... ((ausführliche Zitate
Husserl, Merleau-Ponty))
836: Husserls phänomenologische Methode ist ein ebenso
großangelegter wie verfehlter Versuch, die Grundfrage der
Philosophie zu umgehen und den philosophischen Materialismus, den der
Neukantianismus noch direkt bekämpfte und als Gegner betrachtete,
als vorwissenschaftliche Weltansicht
837: einfach abzutun. In mehr oder minder starker Nachfolge Husserls
nimmt eine solche Haltung die gesamte imperialistische deutsche
Philosophie, mit Ausnahme des Neuthomismus, der Grundfrage der
Philosophie und dem philosophischen Materialismus gegenüber ein.
Mit der Phänomenologie beginnt die indirekte, verlogene
Bekämpfung des Materialismus durch die spätbürgerliche
deutsche Philosophie.
Husserl gab vor, mit der phänomenologischen Methode jenseits von
Idealismus und Materialismus zu stehen. In Wirklichkeit ist seine Lehre
eine moderne Neuauflage des Platonismus, der in ihr
subjektiv-idealistisch umgebogen ist. In ihren Konsequenzen ist die
Phänomenologie subjektiver Idealismus, die dem Subjektivismus des
etwa in der gleichen Zeit entstehenden Empiriokritizismus in nichts
nachsteht, ihn durch ihre methodische Willkür sogar
übertrifft.
Auch hier ist die Terminologie von großer Bedeutung: Begriffe wie
"Idealismus", "subjektiver Idealismus", "philosophischer Materialismus"
oder "Grundfrage der Philosophie" hängen direkt mit dem
"dialektischen Materialismus" zusammen, den wir gesondert zu besprechen
haben werden. Vgl. zu einigen dieser Themen die Vorlesung
"Marxistisch-leninistische Philosophiehistorie" (Download)
Einschätzung von Seiten eines analytischen
Wissenschaftstheoretikers
Stegmüller, Wolfgang: Hauptströmungen der
Gegenwartsphilosophie, Bd. 1, 6. Aufl. S. 81ff, Stuttgart: Kröner
1978
82: Husserls Argumente gegen den
Psychologismus in der Logik sind durchschlagend und überzeugend;
ebenso sein Nachweis, daß dieser Psychologismus in letzter
Konsequenz in Relativismus und Skepsis einmündet. ...
Während die Leistungen Husserls in
der Abwehr fehlerhafter Tendenzen in der Logik unbestreitbar sind, so
verhält es sich doch ganz anders, wenn man die Frage stellt,
welchen Beitrag Husserls Untersuchungen zum positiven Aufbau und zur
Ausgestaltung der Logik gebildet haben. Hierzu muß man leider
feststellen, daß diese Beitrag ein außerordentlich geringer
war. ... bis zum heutigen Tage existiert kein mit den Standardwerken
der modernen Logik konkurrenzfähiges Werk über Logik auf
husserlscher Basis. Seine Über-
83: legungen erschöpften sich
darin, Prolegomena für eine aufzubauende Logik zu liefern,
Projekte für ein mögliches – aber nie verwirklichtes – System
der Logik zu sein. ...((hingegen hat Frege das geschafft; das betrifft
dann auch die "Wesensschau", die))
88: Argumente zur Sicherung idealer
Wesenheiten ((sind)) unhaltbar. ...
89: In der modernen Erkenntnistheorie
und Wissenschaftstheorie ist außerhalb des ziemlich engen Kreises
von Phänomenologen keine Rede mehr von der Epoché Husserls.
Dies dürfte seinen Grund darin haben, daß Husserls
phänomenologische Methode von den krititsch eingestellten
Erkenntnistheoretikern als ein zweifacher Weg in die Mystik oder
zumindest in eine neue Art von spekulativer Metaphysik angesehen wird,
die mit der Forderung nach Wissenschaftlichkeit ... nicht im Einklang
steht. Der eine dieser beiden Wege führt über die eidetische
Reduktion. ... Was ... ist unter Berufung auf diese husserlsche Methode
nicht alles für Wesenserkenntnis ausgegeben worden! ... daß
dieser Methode gerade dasjenige fehlt, was sie erst zu einer
wissenschaftlichen machen würde: die intersubjektive
Nachprüfbarkeit ...
90: Der zweite Weg in die Mystik
führt über die transzendentale Reduktion ...
Wie in den beiden anderen Fällen wäre auch hier nach Inhalt
und Funktion der Termini (insbesondere "kritisch", "wissenschaftliche
Methode", "Mystik" und "(spekulative) Metaphysik") zu fragen. Es ist
jedenfalls darauf hinzuweisen, dass Stegmüller seine Entscheidung,
den modernen Marxismus überhaupt nicht darzustellen, damit
begründet, dass es sich hierbei um "ein merkwürdiges
Stück Gegenwartstheologie" handle (Hauptströmungen, Bd. 2,
1975, S. IXf.).