Wimmer: Vorlesung WS 2005/06 180210 Philosophie im 20. Jahrhundert
3. Vorlesung 18. Oktober 2005:
Überblick 1. Periode (bis 1914)
Idealismus und Lebensphilosophie
Beispiele für philosophische und philosophisch relevante Literatur
zwischen 1900 und 1914: pdf-File (24 KB)
Die in dieser Liste beispielhaft
ausgewählten Buchtitel zu philosophischen Fragen mit
Erscheinungsjahr zwischen 1900 und 1914 zeigen das Vorherrschen
bestimmter Problemstellungen, wobei insbesondere auffällt:
Es gibt eine starke Diskussion, wie schon im späten 19.
Jahrhundert, um die Stellung und den Begriff
der Logik (vgl. Frege 1879 und
1892, Husserl 1901, Marty
1908, Natorp 1910, Russell-Whitehead 1910, Lask 1911, Scheler 1913)
Ebenso ist die Theorie der
Wissenschaften und der Erkenntnis
ein wichtiges Thema, wobei die Unterscheidung und Rangordnung von
Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften eine große Rolle
spielt (vgl. Husserl 1901, Poincaré 1903, Mach 1905, Duhem 1906,
Cassirer 1906, Stumpf 1907, Lenin 1909, Dilthey 1910, Natorp 1910,
Russell-Whitehead 1910, Lask 1911)
Ein drittes Thema stellt die Erforschung der Psyche und von Lebensformen dar (vgl. Freud 1900,
James 1902, Santayana 1905, Weininger 1903, Lipps 1903, Bergson 1907,
Driesch 1909, Uexküll 1909, Gertrud Simmel 1910, Durkheim 1912,
Unamuno 1913, Spranger 1914)
Zur Ethik, Sozial- und
Gesellschaftstheorie erscheinen ebenfalls einflussreiche
Arbeiten (vgl. Sombart 1901, Moore 1903, Cohen 1904, Chamberlain 1905,
Max Weber 1905, Eucken 1907, Georg Simmel 1908, Croce 1909, Nishida
1911, Luxemburg 1913, Reinach 1913, Scheler 1913, Radbruch 1914)
Deutlich sind auch sprachphilosophische
und kulturtheoretische Themen (vgl. Wundt 1900ff, Mauthner 1901
und 1911, Marty 1908)
Als prägende Werke philosophischer Richtungen im Allgemeinen
können in diesem Zeitraum angesehen werden z.B.: Husserl 1901 (Phänomenologie), Bergson 1907
und Dilthey 1910 (Lebensphilosophie),
James 1908 (Pragmatismus),
Lenin 1909 (Dialektischer Materialismus),
Nishida 1911 (Kyoto-Schule),
Steiner 1914 (Anthroposophie)
1900 findet in Paris der erste Weltkongress der Philosophie statt.
Zur
"Lebensphilosophie"
In der Vorlesung wurde zunächst der informative Artikel
Lebensphilosophie in Wikipedia (deutsch) kommentiert.
Zwei Autoren wurden dann näher vorgestellt: Henri Bergson und
Wilhelm Dilthey.
Die entsprechenden Wikipedia-Einträge zu Bergson bzw. Dilthey sind
derzeit noch nicht sehr informativ, sofern sie wenig über deren
Theorien aussagen.
Hingegen sind die entsprechenden Darstellungen in
zu empfehlen und wurden in der Vorlesung
diskutiert. Zu diesem sehr nützlichen (und
derzeit sehr preiswerten) Buch
gibt es Rezensionen im Internet wie z.B.:
Funktion und Wirkung lebensphilosophischer Ideen zu Anfang des
20. Jahrhunderts und in weiterer Folge, insbesondere in den
Existenzphilosophie wie in Literatur- und Kulturwissenschaften
Bergsons Zentralbegriff des "élan vital" und dessen
möglicher Einfluss in der Debatte um Eigenart und Status der
"afrikanischen Philosophie". Vgl. dazu Kai Kresse: Zur
afrikanischen Philosophiedebatte (2000), ad Ethnophilosophie.
Nachtrag zur Diskussion von
Mathias Thaler:
Bergsons Erbe und die "Sokal-Affäre"
Nicht nur zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der Romantik, und am
Anfang des 20. Jahrhunderts, in der Lebensphilosophie, kommt es zu
Konflikten zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften. Am Ende
des 20. Jahrhunderts erlaubt sich noch einmal ein Naturwissenschaftler
einen Scherz, um aller Welt vor Augen zu führen, zu welch
grandiosem Humbug sich die Geisteswissenschaften, vor allem die
Philosophie französischer Provenienz, haben hinreissen lassen. In
einem Text, den er selbst später als puren Unsinn enttarnte,
versuchte der New Yorker Physiker Alan Sokal den gängigen Jargon
der Postmoderne zu imitieren, dessen herausstechendes Merkmal seines
Erachtens darin besteht, dass naturwissenschaftliches Halbwissen in
metaphorischer Weise verbrämt wird, ganz einfach um rhetorischen
Eindruck zu schinden.
Dieser Text mit dem an sich schon Verdacht erregenden, wenngleich
"authentisch" großtönenden Titel "Transgressing the
Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity"
wurde 1996 tatsächlich von dem amerikanischen Fachjournal "Social
Text" publiziert. Die Selbstentlarvung Sokals als Aufschneider
entfachte eine wilde Polemik um das Verhältnis zwischen moderner
Naturwissenschaft und zunehmend isoliert auftretenden
Geisteswissenschaften.
Sokal wurde vielfach vorgeworfen, die spezifischen Konzepte der
postmodernen Philosophie aus dem Kontext zu reißen und damit
demselben Fehler aufzusitzen, den er wiederum eben jenen
Theorieströmungen zum Vorwurf machte. Ein Jahr später
erfolgte unter der Mitautorschaft von Jean Bricmont die
Veröffentlichung des als Fortsetzung und Ergänzung
konzipierten Buches "Impostures Intellectuelles", in dem eine
systematische Auseinandersetzung mit Sokals liebsten Feinden wie
Deleuze, Guattari, Lacan und besonders auch Bergson vollzogen wurde.
Die Differenzen zwischen Einstein und Bergson hinsichtlich des
Zeitbegriffs werden darin als eindeutige Missverständnisse seitens
Bergsons gedeutet.
Insgesamt beweist die inzwischen so genannte "Sokal-Affäre", dass
dem Verhältnis zwischen Natur- und Geistesweissenschaften auch
mehr als hundert Jahre nach Diltheys Plädoyer für die Kraft
des Verstehens keineswegs der Konfliktstoff ausgegangen ist. Das teils
sanguinische Temperament aller an der Affäre Beteiligten scheint
eher zu belegen, dass die angebrochenen "Culture Wars" besonders lange
dauern werden. Es gibt auch Anzeichen dafür, dass sich die Polemik
auf immer mehr Themengebiete wie z. B. die Frage nach der
Willensfreiheit oder der Euthanasie auszubreiten beginnt. Oft wird
dabei nicht bedacht, dass aus solchen Konflikten auch für die
Geisteswissenschaften, sofern sie sich nicht hinter einer esoterischen
Fachterminologie verbarrikadieren, viel zu lernen ist.