Universität Wien

Wimmer: Vorlesung WS 2005/06
180210 Philosophie im 20. Jahrhundert

11. Vorlesung 10. Jänner 2006:
Überblick 4. Periode (1961-89)
Strukturalismus, Neomarxismus, Postmoderne, Feminismus, postkoloniale Diskurse

An diesem Termin wird besprochen:
Werkübersicht der Periode | Philosophiehistorische Werke der Epoche sowie als Thema: Strukturalismus


Beispiele für philosophische und philosophisch relevante Literatur zwischen 1961 und 1989

Die in dieser Liste beispielhaft ausgewählten Buchtitel zu philosophischen Fragen mit Erscheinungsjahr zwischen 1961 und 1989 zeigen die Entwicklung neuer Richtungen und Fragestellungen neben der Weiterentwicklung früherer Ansätze:

Strukturalismus

Strukturalismus bezeichnet im Allgemeinen xxx

In der philosophischen Diskussion waren es zuerst und vor allem französische Theoretiker in den 1960er Jahren, die die Begriffe "Struktur" und "System" als Grundbegriffe aller Wissenschaften und auch der Philosophie ansahen.
Günter Schiwy führte 1966/67 mit einigen von ihnen Gespräche und dokumentierte sie in einer frühen Darstellung ("Der französische Strukturalismus", Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969. Sein Buch ist in neuerer Auflage übrigens immer noch erhältlich.) Ich zitiere nach der Erstausgabe dieser Interviews:

Michel Foucault (1926-84; Interview Mai 1966):
THESE 1: Grundlegend ist "das System"
Wir haben die Generation Sartres als eine durchaus mutige und großherzige Generation empfunden, die sich für das Leben, die Politik, die Existenz leidenschaftlich einsetzte ... Wir jedoch, wir haben für uns etwas anderes entdeckt, eine andere Leidenschaft, die Leidenschaft für den Begriff und für das, was ich das "System" nennen möchte. (zit. Schiwy 203)
Unter System hat man eine Gesamtheit von Beziehungen zu verstehen, die sich unabhängig von den Inhalten, die sie verbinden, erhalten und verändern. (zit. Schiwy 204)
... als Lévi Strauss für die Gesellschaften und Lacan für das Unbewußte zeigten, daß der "Sinn" vermutlich nichts als eine Art Oberflächenwirkung, eine Spiegelung, ein Schaum sei; daß das, was uns im Tiefsten durchdringt, was vor uns da ist, was uns in der Zeit und im Raum hält, eben das System ist. (zit. Schiwy 204)

THESE 2: "Das Subjekt" gibt es nicht, der "Humanismus" schafft illusorische Probleme
Was ist dieses anonyme System ohne Subjekt, was ist es, das denkt? Das "Ich" ist zerstört (denken Sie nur an die moderne Literatur) - nun geht es um die Entdeckung des "es gibt". Es gibt ein "man". In gewisser Weise kehren wir damit zum Standpunkt des 17. Jahrhunderts zurück, mit folgendem Unterschied: nicht den Menschen an die Stelle Gottes zu setzen, sondern ein anonymes Denken, Erkenntnis ohne Subjekt, Theoretisches ohne Identität ... (zit. Schiwy 204)
Der Humanismus ist ein Verfahren gewesen, das mit Begriffen wie Moral, Wert und Versöhnung Probleme löste, die zu lösen man überhaupt nicht imstande war. Kennen Sie den Ausspruch von Marx? Die Menschheit stellt sich nur Probleme, die sie lösen kann. Ich glaube, daß man sagen kann: Der Humanismus gibt vor, Probleme zu lösen, die er nicht stellen darf!  ... [z.B.] die Beziehungen des Menschen zur Welt, das Problem der Realität, das Problem des künstlerischen Schaffens, des Glücks und alle die Zwangsvorstellungen, die es in keiner Weise verdienen, theoretische Probleme zu sein. (zit. Schiwy 205)

Jacques Lacan (1901-81; Interview Dezember 1966):
THESE 3: Es gibt kein Unter"bewußtsein"
Sartres ganze Philosophie läuft darauf hinaus, daß Subjekt und Bewußtsein unlöslich verbunden sind. Aber diese Verbindung ist schon bei Freud durchschnitten. Bei ihm ist nicht von einem Unterbewußtsein die Rede, ebensowenig wie von einem Vorbewußtsein, nein: das Unbewußte ist als vom Bewußtsein getrennt gesetzt. Es hat, von außergewöhnlichen Umständen abgesehen, keinen Zugang zum Bewußtsein.  (zit. Schiwy 196)

THESE 4: "Autonomie des Subjekts" ist illusorisch
Wir müssen uns heute der Illusion von der Autonomie des Subjekts entledigen, wenn wir eine Wissenschaft vom Subjekt konstituieren wollen. ...
Ich denke nicht, daß der Mensch gemeint ist, denn ich vermeide, vom Menschen zu sprechen. Ich versuche zu konstruieren, was daraus resultiert, daß beim redenden Wesen "es" anderswo spricht als dort, wo der Mensch sich als sprechend begreift und woraus er mit Bestimmtheit schließt, daß er Mensch sei, weil er spricht. Wie steht es also um sein Sein, da, wo es sich herausstellt, daß er über das, was er denkt, nichts weiß? (zit. Schiwy 197)
Und Schiwy interpretiert Lacan: "Der Mensch, das Subjekt - sie verschwinden. Der dem Analytiker sich sprechend anvertrauende Patient spricht nicht als Mensch und Einzelner: es spricht vielmehr aus ihm und in ihm, und dieses "Es" hat wiederum keinen persönlichen Charakter, sondern ist aufgebaut entsprechend den vorgegebenen sprachlichen Strukturen." (Schiwy 72)

Claude Lévi-Strauss (1908-?; Interview 1967):
THESE 5: Strukturalistische Wissenschaft ist gegen "theologischen Humanismus"
Ich will nicht den Beweis einer Anti-Philosophie antreten. Aber gegenwärtig laufen wir Gefaht, von einer Art theologischem Humanismus gefangengenommen zu werden. Überall dort, wo sich in der Vergangenheit Wissenschaft herausgebildet hat, haben die Leute gesagt: Was Sie mit Ihrer Wissenschaft vorschlagen, stellt die Existenz Gottes in Frage. Heute sagt man uns: Das stellt die Existenz des Menschen in Frage. (zit. Schiwy 148)

THESE 6: Die Unterscheidung "Natur-Kultur" liegt im menschlichen Geist, nicht in der Wirklichkeit
Es scheint mir heute, daß der Gegensatz Natur-Kultur weniger eine Eigenschaft des Wirklichen wiederspiegelt, als vielmehr eine Antinomie des menschlichen Geistes: Der Gegensatz ist nicht objektiv, es sind die Menschen, die das Bedürfnis haben, ihn zu formulieren. Er stellt vielleicht eine Vorbedingung zur Enstehung der Kultur dar. (zit. Schiwy 145)

Roland Barthes (1915-1980; Interview 1966):
THESE 7: Die Struktur ist "nur ein simulacrum"
Das Ziel jeder strukturalistischen Tätigkeit, sei sie nun reflexiv oder poetisch, besteht darin, ein "Objekt" derart zu rekonstruieren, daß in dieser Rekonstitution zutage tritt, nach welchen Regeln es funktioniert (welches seine Funktionen sind). Die Struktur ist in Wahrheit also nur ein simulacrum des Objekts, aber ein gezieltes, "interessiertes" Simulacrum, da das imitierte Objekt etwas zum Vorschein bringt, was im natürlichen Objekt unsichtbar oder, wenn man lieber will, unverständlich blieb. (zit. Schiwy 154)

Andere VertreterInnen strukturalistischer Philosophie xxx


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Erstellt: Wintersemester 2005