Wimmer: Vorlesung WS 2005/06 180210 Philosophie im 20. Jahrhundert
1. Vorlesung 4. Oktober 2005: Einleitung in das Thema - Abgrenzung
des Zeitraums und
Fragen der Auswahl und Interpretation
Überlegungen zu Zeitraum und Gliederung
| Auswahlkriterien und Quellenfragen Die erste Frage ist: Wann
fängt das 20. Jahrhundert an, wann hört es auf? Diese Frage
zu beantworten heißt, dass schon ein bestimmtes Verständnis
dieser Epoche gegeben ist.
Der Kalender allein gibt keine Antwort. Es wäre nichtssagend, die
Epoche einfach von 1900 bis 2000 zu datieren, es sei denn, diese beiden
Daten würden den Zeitraum in sinnvoller Weise von demjenigen davor
und jenem danach abgrenzen, was aber nicht der Fall ist. Weder in der
politischen Geschichte, noch in der Geschichte von Technik,
Wissenschaft oder auch der Philosophie stellt das Jahr 1900 irgendwo in
der Welt einen Wendepunkt dar, dem ein ähnlicher Wendepunkt im
Jahr 2000 entsprechen würde. Zwar war das Bewusstsein um 1900
durchaus präsent, an einem "Jahrhundertende", in einem fin de siècle zu leben, aber
dem entspricht kein vergleichbares Bewusstsein hundert Jahre
später, und
es bezog sich vorwiegend auf Entwicklungen im Bereich der
Künste und der Literatur.
Wir müssen also eine sinnvollere Abgrenzung als die
kalendermäßige für dasjenige finden, was in unserem
Zusammenhang das "20. Jahrhundert" genannt werden soll. Und da es sich
bei dieser Vorlesung um die "Philosophie" dieses "Jahrhunderts" handeln
wird, sollte eben die Abgrenzung von anderen "Jahrhunderten" auch mit
Bezug auf die Philosophie Sinn machen.
Überlegen wir zunächst einmal, mit welchen anderen
Lebensbereichen oder Ereignissen diese Epoche abgegrenzt werden
könnte.
1) Ein "kurzes 20. Jahrhundert"?
Von 1917 (Oktoberrevolution in Russland) bis 1989 (Fall der
Berliner Mauer): 72 Jahre
Konkurrenz der Nationen und Ideologien
Wenn wir an Ereignisse im internationalen politischen Bereich denken,
die nachhaltig und unwiderruflich frühere Zustände beenden,
so zieht sich das 19. noch eineinhalb oder beinahe zwei Jahrzehnte in
das 20. Jahrhundert. "Die Welt der Sicherheit" (Stefan Zweig: Die Welt
von Gestern. Wien 1948, Kap. 1) geht mit dem (ersten) Weltkrieg zu
Ende. Diese "Sicherheit" sah Zweig im Glauben "an den ununterbrochenen,
unaufhaltsamen 'Fortschritt'", der "für jenes Zeitalter wahrhaftig
die Kraft einer Religion" hatte (Zweig 1948, 19). Es gab natürlich
Zweifler, wie in jeder Religion, und so beschrieb der Anarchist Georges
Sorel 1908 "Les illusions du progrès". Beides, der
Fortschrittsglaube und der Anarchismus dieses späten 19.
Jahrhunderts, sind uns nur mehr schwer nachvollziehbar.
Der Erste Weltkrieg,
die Auseinandersetzung zwischen den konkurrierenden Imperien der
industrialisierten Welt, beginnt erst 1914, er beendet die zuvor
liegende Periode allerdings nachhaltig. Im dritten Kriegsjahr macht in
einem der beteiligten dynastischen Imperien, in Russland (Zarendynastie
der Romanov), ein Aufstand der Arbeiter dem feudalen System ein Ende,
indem auch noch dessen konstitutionelle Variante, die seit einem halben
Jahr konzediert war, die Regierung Kerenskijs, im Oktober einer
Räterepublik unter Führung von Lenin weichen musste. Im
Spätherbst 1918 waren die dynastischen Imperien des Deutschen
Reiches (Kaisertum der Hohenzollern seit dem Deutsch-Französischen
Krieg, also seit ca. 50 Jahren) wie auch Österreich-Ungarns
(Kaisertum der Habsburger seit 1804, in der bestehenden Form als k.u.k.
Monarchie, seit dem "Ausgleich" mit Ungarn, also seit ca 55 Jahren)
Vergangenheit. Die vierte dynastische Großmacht, das Osmanische
Reich (begründet fast zeitgleich mit dem ersten habsburgischen
deutschen Kaiser im 13. Jahrhundert) bestand formell noch einige
weitere Jahre, war aber einer territorialen Aufteilung durch die
Siegermächte (Italien, Frankreich, England) unterworfen und
dagegen hilflos.
Das ist europäische Geschichte, aber es ist nicht nur
europäische Geschichte. Mit dem Ende des deutschen und des
osmanischen Reichs werden die Grenzen der Kolonialreiche und
sogenannten Einflusssphären verschoben, in Asien wie in Afrika, in
Lateinamerika wie im pazifischen Raum. England und Frankreich
dominieren stärker als zuvor in der gesamten Alten Welt, Japan als
eine der Siegermächte des Krieges dehnt seine Territorien in
dessen Folge aus, die neue Sowjetunion hat Gebietsverluste hinzunehmen,
aber sie realisiert eine ganz neue Auffassung von Gesellschaft und
Staat. So ist staatspolitisch das "19. Jahrhundert" spät zu Ende
gegangen.
Aber was hat da mit dem Ersten Weltkrieg und dessen Ende begonnen?
In weiteren Regionen der Welt setzt sich die Ideologie des
Nationalstaats durch – in den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns
ebenso wie in der neuen türkischen Republik, die einen weltweit
stark beachteten und auch erfolgreichen Kampf um Selbstbestimmung und
Modernisierung führt. Im britischen Indien war 1914 der
"Nationalkongress" gegründet worden, in dem sehr unterschiedliche
Strömungen vertreten waren – von Theosophen und Hindu-Reformern
bis zu Marxisten – die jedoch alle auf eine Unabhängigkeit Indiens
abzielten. Japan hatte sich nach den Reformjahrzehnten der Meiji-Zeit,
nach siegreichen Kriegen gegen China (1895), Russland (1905) und als
Mitglied der Entente im Ersten Weltkrieg als militärische
Großmacht in Ostasien etabliert und entwickelte expansionistische
Ideen. Im islamischen Raum entstanden eine Reihe neuer Staaten (wie der
Irak, Syrien oder Saudi-Arabien), andere Länder führten
weitreichende Reformen durch (der Iran unter dem neuen Schah, aber auch
Afghanistan), die auf eine wirtschaftliche und außenpolitische
Selbständigkeit abzielten.
2) Ein noch kürzeres Jahrhundert?
Von 1905 (Sieg Japans über Russland) bis 1960 (das
"afrikanische Jahr"): 55 Jahre
Entkolonialisierung
In einem zweijährigen Krieg, der um Gebiete und Einflüsse in
Ostasien geführt wird, besiegt Japan eine europäische
Großmacht, wobei insbesondere der Sieg über die russische
Flotte (Seeschlacht bei Tsushima) sehr großen Eindruck in Asien
macht, nachdem etwa fünf Jahrhunderte lang die europäische
Vorherrschaft in Asien auf maritime Ressourcen gegründet gewesen
war. Spätestens nach diesem Krieg ist Japan ein Kolonialreich,
Korea wird für 50 Jahre japanische Kolonie, nachdem Taiwan schon
zehn Jahre früher von China an Japan abgetreten worden war.
Nach dem Zweiten Weltkrieg zerfallen nach und nach die alten
politischen Kolonialreiche endgültig. An ihre Stelle treten zuerst
Nationalstaaten, dann überstaatliche Gebilde, von denen einige
(OAU, arabische Liga etc.) wenig erfolgreich sind im Vergleich zu EU.
Taugt diese Abgrenzung für unser Thema?
Die letzte Phase des politischen Kolonialismus ist sicher wichtig
für die Entstehung der heutigen Welt, aber der damit angesprochene
Zeitraum ist zu kurz und die geistigen Auseinandersetzungen damit sind
nicht zentral in der Philosophie oder erlangen darin erst später
Bedeutung.
3) Ein langes Jahrhundert?
Von 1883 (Ausbruch des Krakatau, vgl. Wikipedia) bis 1990
(Entstehung des Internet, vgl. GITNet): 107 Jahre analoge globale Kommunikation
Nehmen wir Kommunikationstechniken der Menschheit als Kriterium
für die Abgrenzung des 20. Jahrhunderts, so scheint es am
plausibelsten, dessen Beginn bereits 1883 anzusetzen mit dem ersten
Ereignis, das innerhalb kürzester rund um den Globus –
natürlich nur in den damals hochtechnisierten Zentren – bekannt
wurde.
Dies ist der Ausbruch des Vulkans Krakatau in der Sundastraße
zwischen Sumatra und Java. Das Ereignis war binnen Stunden in New York
bekannt, denn es gab damals seit kurzem funktionierende Verbindungen
über Seekabel. Was der holländische Beamte in Java
telegrafierte, wusste man sehr schnell in den Zentren der
nördlichen Hemisphäre – es war der Beginn dessen, was viel
später das "globale Dorf" genannt wurde.
Taugt diese Abgrenzung für das Thema? Inhaltlich-philosophisch?
Kommunikationsmedien sind für die Entwicklung jeder Wissenschaft
und auch der Philosophie sehr wichtig. Aber die Medien der Philosophie
waren bis zum Internet doch ausschließlich Bücher,
Zeitschriften und Kongresse. Globale Kommunikation in diesem Bereich
hat nicht mit der Telegrafie eingesetzt.
4) Ein noch längeres, vorgezogenes Jahrhundert:
Von 1874 (Brentano) bis 1989: 115 Jahre Letztbegründungen
In den 1870er bis 1890er Jahren sind philosophische Werke anzusetzen,
die auf das 20. Jahrhundert wesentlich gewirkt haben:
Franz Brentano veröffentlicht 1874
die "Psychologie vom empirischen Standpunkte" (und 1889 "Vom Ursprung
sittlicher Erkenntnis"),
Gottlob Freges "Begriffsschrift, eine der arithmetischen nachgebildete
Formelsprache des reinen Denkens" erscheint 1879 (und 1892 "Über
Sinn und Bedeutung"),
1882 erscheint von Friedrich Nietzsche sowohl "Menschliches,
Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister", als auch der
"Zarathustra";
Wilhelm Dilthey veröffentlicht 1883 seine "Einleitung in die
Geisteswissenschaften";
von Karl Marx erscheint 1885 (postum, von Engels herausgegeben) der
zweite und 1894 der dritte Band des "Kapital".
Im Jahr 1900 erscheinen unter anderem:
Sigmund Freud: Die Traumdeutung
Pjotr Kropotkin: Memoiren eines Revolutionärs (russ. 1899)
Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des
Physischen zum Psychischen (2. Auflage, EA 1886)
Georg Simmel: Philosophie des Geldes und
Wilhelm Wundts erster Band von: Völkerpsychologie. Eine
Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte
Mit diesen Titeln sind schon gewisse Themen angesprochen, die das
philosophische Denken der Zeit bis in den Ersten Weltkrieg bestimmen
werden: Die Psyche wird auf neue Weise und intensiv erforscht wie auch
die Möglichkeiten und Grenzen des Erkennens. Wirtschaft und
Gesellschaft werfen Fragen auf und die Besonderheiten menschlicher
Existenz in den unterschiedlichen Kulturen werden verstärkt als
Problem wahrgenommen. Diese Themen verstärken sich in der Folge.
Meine eigene (vorläufige) Gliederung dieses Jahrhunderts richtet
sich nach vorherrschenden neuen Fragestellungen, Themen oder Methoden
und sieht so aus:
1) Bis 1914: Idealismus, Lebensphilosophie, Psychologismus,
Wissenschaftstheorie
2) 1914 bis 1929: Phänomenologie, Marxismus, Pragmatismus
3) 1929 bis 1960: Analytische Philosophie, Ideologie und
Ideologiekritik, Existenzphilosophie, Historismus
4) 1960 bis 1989: Strukturalismus, Feminismus, Hermeneutik,
Neomarxismus, Postmoderne, postkolonialer Diskurs
Probleme der Auswahl und Orientierung
Die Quellen sind unübersichtlich, was sich durch das
Internet noch verstärkt hat.
Man begegnet sehr unterschiedlichen Listen von Werken und
AutorInnen, deren jeweilige
Orientierungen immer noch mit drei Merkmalen charakterisiert werden
können: chauvinistisch, sexistisch, kulturalistisch.
Auch meine Auswahl wird individuell-subjektiv sein.
Die Gründe dafür liegen auf der Hand:
Jede Darstellung eines derartigen Gegenstands ist durch
individuelle Ausbildung und Interesse und deren Einseitigkeiten bedingt.
Die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts sind
politisch-sozial-kulturell zu nahe, als dass irgend jemand von eigenen
Wertungen, Stellungnahmen bereits abstrahieren könnte.
Also:
Jede/r ist für ihre/seine Liste verantwortlich, es gibt keine
allgemeine Sicherheit, das gilt auch für meinen Bericht hier. Aber
ich halte es für sinnvoll und schlage Ihnen vor, an einer solchen
Liste zu arbeiten und sich dabei jedenfalls immer zu fragen:
Was hat NN zur Philosophie beigetragen?
In welchem Feld der Philosophie hat NN etwas geleistet und was?
Welche Thesen/Begriffe von NN halte ich für wesentlich?
Man kann auch, muss sich aber nicht unbedingt fragen:
Wer hat NN beeinflusst?
Welcher Richtung oder Schule gehört NN an?
Probleme der Interpretation
Eine erste Schwierigkeit, wohl deutlicher als in früheren Epochen
der Philosophie, stellen die Fachsprachen und -terminologien dar.
Die "Schulen" trennen sich, entwickeln Fachsprachen, die schwer
in
einander zu übersetzen sind. Bemühungen (der
Phänomenologie, der Analytischen Philosophie,
des Marxismus) eine verbindliche Terminologie übergreifend zu
finden, sind nicht allgemein überzeugend geworden.
Das vergangene ist auch ein Jahrhundert
neuer Sprachen in der Philosophie.
Zu den im 19. Jahrhundert vorherrschenden wenigen
europäischen Sprachen kommen in der philosophischen Literatur
einige dazu, wie etwa das Spanische.
Die von Höllhuber zitierte Aussage eines Philosophieprofessors der
Sorbonne: "Pour connaître la totalité de la philosophie,
il est nécessaire de posséder toutes les langues, sauf
toutefois l'espagnol" bezieht sich nicht nur auf eine angenommene
Randstellung der spanischen Philosophie und Wissenschaft, sondern auch
auf Annahmen über Besonderheiten des Spanischen, die sie angeblich
für systematische Philosophie ungeeignet machten. Dass
übrigens mit "toutes les langues" in diesem Zitat
selbstverständlich nur wenige europäische gemeint worden sein
werden, versteht sich von selbst. (Höllhuber Geschichte der
Philosophie im spanischen Kulturbereich (1967), S. 9)
Das Englische setzt sich als neue lingua franca der Philosophie in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr durch. Seit der
Ablösung des Lateinischen durch europäische Volkssprachen
(18. Jahrhundert) hatte die Philosophie keine lingua franca. Mehrere
Projekte, eine solche zu schaffen (wie: Interlingua oder die Sprache
der formalen Logik) sind für diese Funktion gescheitert.
In nichteuropäischen Traditionen und (teilweise) Sprachen
wird moderne philosophische Literatur geschaffen. Das betrifft vor
allem ostasiatische Sprachen (Chinesisch, Koreanisch, Japanisch), aber
auch das Arabische, Persische, Türkische und in Einzelfällen
auch (afrikanische) Sprachen, die dazu erstmals eine Terminologie
entwickeln. Vgl. dazu etwa den Vortrag von Heinz Kimmerle in der
"audiothek" über Afrikanische
Philosophie in westlichen Sprachen.
Philosophische Literatur aus nichteuropäischen Sprachen wird
im Zusammenhang der sog. "komparativen Philosophie" in großem
Maßstab übersetzt und kommentiert. Ein Beispiel dafür
sind die ab 1879 von Max Müller herausgegebenen "Sacred
Books of the East". Dabei sind die auftretenden hermeneutischen
Fragen von besonderer Bedeutung. Vielleicht gibt Raimon Panikkar mit
seinem Konzept der "homöomorphen Äquivalente" hier einen
wichtigen Anstoß (vgl. dazu die Seminararbeiten
von Hsue-i
Chen und von Ursula
Taborsky).