Spezielle Relativitätstheorie


15. Die Geometrie der Raumzeit
 

Was bedeutet eigentlich Geometrie?

Geometrie ist, etwas salopp ausgedrückt, das Studium von "Abständen". Aus dem Mathematikunterricht kennen wir die Geometrie der Zeichenebene (auch euklidische Ebene genannt): Wir wissen, was der Abstand zweier Punkte ist (daher haben wir einen Begriff von der Länge einer Strecke und der Bogenlänge einer Kurve), und wir kennen einige elementare Sachverhalte, die in geometrischen Figuren wie Dreiecken, Vierecken oder Kreisen auftreten: etwa den Satz über die Winkelsumme im Dreieck, den Satz von Pythagoras oder die Beziehung  u = 2p zwischen Umfang und Radius eines Kreises. (Falls Sie jetzt fragen, was Winkel mit Längen zu tun haben: Der Winkelbegriff ist aus dem Längenbegriff abgeleitet. In einem Dreieck mit gegebenen Seitenlängen sind alle Winkel eindeutig bestimmt. Dies - oder die bekannte Geschichte mit der Bogenlänge des Kreissektors - kann man dazu benutzen, um zu definieren, was ein Winkel ist).

Um derartige Beziehungen besser studieren zu können, benutzen wir Koordinatensysteme. Sind etwa zwei Punkte A und B in der euklidischen Ebene gegeben, und ist ein (kartesisches) Koordinatensystem gewählt, so werden jedem Punkt zwei Koordinaten zugeordnet. Sind (x1, y1) die Koordinaten von A und (x2, y2) die Koordinaten von B, so spielen die Koordinatendifferenzen  Dx =  x2 - x1  und  Dy =  y2 - y1  eine wichtige Rolle. Hier ein Diagramm zur Erinnerung:

Wird der Abstand zwischen den Punkten A und B (d.h. die Länge der Strecke AB) mit Dl bezeichnet, so gilt die Gleichung

Dl2  =  Dx 2 + Dy 2 . (1)

Das folgt aus dem Satz von Pythagoras und wird beim Lösen von Mathematikaufgaben tagtäglich verwendet. Der Abstand Dl ist die (positive) Quadratwurzel dieses Ausdrucks.

Die Vorschrift (1) ist äußerst wichtig - sie trägt auch die Bezeichnung Metrik (oder euklidische Metrik): Man kann sie als Grundlage für die gesamte Geometrie der euklidischen Ebene ansehen und dazu benutzen, um den Abstandsbegriff (und auch die Begriffe der Länge einer Strecke und der Bogenlänge einer Kurve) formal ganz präzise zu definieren. Sie besitzt eine phantastische Eigenschaft, die wir die "Invarianz unter Koordinatentransformationen" nennen: Falls wir uns entschliessen, ein anderes, gegenüber dem obigen verdrehtes (kartesisches) Koordinatensystem zu verwenden, so sind die Koordinaten derselben Punkte nun durch andere Zahlen gegeben. Wir bezeichnen sie mit (x'1, y'1) für A und (x'2, y'2) für B. Das ist im nächsten Diagramm illustriert:

Die Methode, das Abstandsquadrat zu berechnen, ist aber dieselbe wir in (1), denn der Satz von Pythagoras gilt ja auch in dieser Situation:  Dl2  =  Dx' 2 + Dy' 2. In welchem (kartesischen) Koordinatensystem auch immer wir die "Summe der Quadrate der Koordinatendifferenzen" bilden, es kommt stets dasselbe heraus:

  Dx 2 + Dy  Dx' 2 + Dy' 2 . (2)

Das ist die mathematische Rechtfertigung dafür, (1) als vom Koordinatensystem unabhängige geometrische Größe, eben als Abstandsquadrat, zu interpretieren.

Aber auch dem dreidimensionalen (euklidischen) Raum geben wir einen Abstandsbegriff, indem wir einfach eine Koordinate hinzufügen. Die Metrik, die räumliche Abstände durch Koordinatendifferenzen ausdrückt, ist durch

Dl2  =  Dx 2 + Dy 2 + Dz 2 . (3)

gegeben, und die dreidimensionale Version von (2) heißt nun  Dx Dy 2  + Dz   Dx' + Dy' + Dz' 2 , wobei sich die gestrichenen Koordinaten auf ein beliebiges räumlich verdrehtes (kartesisches) Koordinatensystem beziehen. Verallgemeinerungen auf höherdimensionale (euklidische) Räume können wir uns zwar nicht vorstellen, aber von den Grundgleichungen her funktionieren sie nach demselben Muster.

Gleichung (2) und ihre dreidimensionale Schwester (3) drücken die Freiheit aus, zur Darstellung der Lage von Punkten beliebige (kartesische) Koordinatensysteme zu verwenden. Das ist insbesondere dort wichtig, wo wir die Geometrie auf die Physik anwenden: Da es keine ausgezeichnete Richtung im Raum gibt, kann es auch kein ausgezeichnetes Koordinatensystem geben, und es muss uns freistehen, die Koordinatenachsen beliebig zu orientieren (solange sie aufeinander normal stehen).

Mit den Vorschriften (1) und (3) ausgerüstet, sind wir in der Lage, geometrische Sachverhalte durch Berechnungen zu analysieren. Auch die Vektorrechnung, die eine mächtige Methode zur Problemlösung darstellt, kann aus ihnen begründet werden. Die aus diesen Vorschriften (und der ihrer höherdimensionalen Verwandten) folgenden mathematischen Gesetzmäßigkeiten werden unter dem Sammelnamen "euklidische Geometrie" zusammengefasst.

(1) und (3) zeigen, dass wir in der Mathematik die Freiheit haben, innerhalb einer Menge einen Abstandsbegriff zu definieren. Wir können aber auch anderen Mengen einen Abstandsbegriff geben, und eine dieser Mengen ist unser eigentliches Thema: die Raumzeit.
 

Die Raumzeit-Metrik - eine mathematische Beobachtung

In der Geometrie der (euklidischen) Ebene oder des dreidimensionalen (euklidischen) Raumes bedeuten Abstände immer Längen. Die Spezielle Relativitätstheorie legt es nahe, der Raumzeit eine Struktur geben, die durchaus auch als "Abstandsbegriff" bezeichnet werden kann, und die sich auf Längen und Zeiten bezieht.

Zunächst lassen wir die zwei räumlichen Koordinaten y und z weg (d.h. wir betrachten das zweidimensionale Modell der Raumzeit) und fixieren ein Inertialsystem. Sind zwei Ereignisse A und B gegeben, so werden ihnen Raumzeit-Koordinaten zugeordnet. Sind (t1, x1) die Koordinaten von A und (t2, x2) die Koordinaten von B, so spielen die Koordinatendifferenzen  Dt =  t2 - t1  und  Dx =  x2 - x1  eine wichtige Rolle. Hier das zugehörige Raumzeit-Diagramm:

Wenn wir im Fall der euklidischen Geometrie die Freiheit haben, ein beliebiges (kartesisches) Koordinatensystem zu verwenden, haben wir in der Speziellen Relativitätstheorie die Freiheit, ein beliebiges Inertialsystem zu verwenden. Über den Zusammenhang zwischen den Raumzeit-Koordinaten eines Ereignisses in zwei verschiedenen Inertialsystemen haben wir im Abschnitt über die Lorentztransformation gesprochen. Stellen wir gegenüber:

  • In der eulidischen Geometrie ist die Beziehung zwischen zwei Koordinatensystemen (wenn sie denselben Ursprung haben) durch eine Drehung gegeben.
  • In der Speziellen Relativitätstheorie ist die Beziehung zwischen zwei Inertialsystemen (wenn ihre Uhren im Moment des Übereinstimmens der räumlichen Koordinatenursprünge auf Null gestellt werden) durch eine Lorentztransformation gegeben..

Lorentztransformationen spielen daher eine zu Drehungen des Koordinatensystems analoge Rolle. Wie jene erlauben sie es, bei der Beschreibung eines Sachverhalts zwischen verschiedenen Bezugssystemen zu wechseln.

Anmerkung für jene, die es genau wissen wollen: In der vollen (vierdimensionalen) Theorie können Lorentztransformationen auch in andere als in die x-Richung stattfinden, und die beiden beteiligten Inertialsysteme können zueinander räumlich beliebig verdreht sein, aber wir begnügen uns in diesem Abschnitt meist mit dem zweidimensionalen Modell der Raumzeit (das nur durch eine Zeitkoordinate t und eine Raumkoordinate x charakterisiert wird und daher Veranschaulichungen in Form von Raumzeit-Diagrammen erlaubt). Es enthält alles für uns Wesentliche.

Weiters können die beiden Inertialsysteme noch zueinander versetzt sein (d.h. ihre räumlichen Koordinatenursprünge müssen einander gar nicht treffen). In diesem Fall spricht man von Poincaré-Transformationen, analog dazu, dass kartesische Koordinatensysteme des euklidischen Raumes nicht denselben Ursprung haben müssen.

Wenn wir neben dem ursprünglichen auch ein anderes bewegtes Inertialsystem betrachten, bekommen dieselben Ereignisse andere Raumzeit-Koordinaten, sagen wir (t'1, x'1) für A und (t'2, x'2) für B. Zwischen den Kordinatendifferenzen im ersten und jenen im zweiten Inertialsystem gilt nun eine bemerkenswerte Beziehung:

 c2 Dt 2 - Dx  =  c2 Dt' 2 - Dx' 2 . (4)

Mit Hilfe der Formeln

t'   =   g ( t - (v/c2) x )
x'   =   g ( x - v t )
(5a)
(5b)

und

g  =  (1 - v2/c2 )-1/2 ,
(6)

für die Lorentztransformation in x-Richtung lässt sich das ganz leicht nachrechnen. Im Grunde genommen ist uns die Beziehung (4) bereits im Abschnitt über den Bondischen k-Kalkül als Nebenresultat begegnet. (Für jene, die dort nachlesen und Formeln vergleichen wollen: wir haben dort nur die Koordinaten eines einzigen Ereignisses betrachtet. Das andere ist sozusagen im Ursprung des Raumzeit-Diagramms gesessen).

Die Gleichung (4) besagt, dass der Ausdruck  c2 Dt - Dx 2  in jedem beliebigen Inertialsystem berechnet werden kann - und jedesmal kommt dasselbe heraus! Es liegt nahe, einen Ausdruck mit dieser Eigenschaft eine Lorentz-Invariante (der zweidimensionalen Theorie) zu nennen. Was bedeutet das? Es bedeutet, in einer modernen Sprache ausgedrückt, dass wir hier eine vom Inertialssystem unabhängige geometrische Größe gefunden haben. Sie hängt nur von den beiden Ereignissen A und B ab, nicht aber vom konkreten Bezugssystem, das wir zur Berechnung gewählt haben!

Da uns die Form des Ausdrucks  cDt - Dx  berechtigterweise an das Abstandsquadrat  Dx Dy  der euklidischen Geometrie erinnert - siehe (1) -, und da (4) eine ähnliche (Invarianz-)Aussage wie (2) ist, geben wir dieser Größe den Namen Raumzeit-Metrik (oder schlicht Metrik) und bezeichnen sie mit Ds 2 :

 Ds 2   =  c2 Dt 2 - Dx 2 . (7)

Werden die beiden weggelassenen Koordinaten y und z wieder hinzugefügt, so entsteht mit

 Ds 2   =  c2 Dt 2 - Dx 2 - Dy 2 - Dz 2 (8)

der Ausdruck für die Metrik der vollen, vierdimensionalen Raumzeit. Auch er hat in jedem Inertialsystem den gleichen Wert, stellt also eine Lorentz-Invariante (der vierdimensionalen Theorie) dar.
 

Die Bedeutung der Raumzeit-Metrik

Da wir nun so eine schöne Struktur gefunden haben, ist die Vermutung naheliegend, dass sie auch eine physikalische Bedeutung hat. Das ist tatsächlich der Fall. Das Vorzeichen von Ds 2 sagt uns ob, die beiden Ereignisse A und B miteinander in kausalem Kontakt stehen können und welche Bedeutung Ds 2 hat. Wir unterscheiden drei Fälle, wie A und B zueinander liegen können:

  • Ist Ds > 0, so ist es möglich, mit einer Geschwindigkeit v < c von einem zum anderen Ereignis zu gelangen. Man sagt dann, die beiden Ereignisse liegen zeitartig zueinander. In diesem Fall gibt es ein Inertialsystem I', in dem sie am selben Ort stattfinden. (Um es in der zweidimensionalen Theorie mit Koordinaten (t, x) zeichnerisch zu finden, muss dessen t'-Achse lediglich parallel zur Strecke AB gewählt werden). Das frühere kann das spätere Ereignis beeinflussen.
    Ds 2 ist (bis auf einen Faktor c2) das Quadrat der Eigenzeit, die für eine Uhr vergeht, die sich geradlinig gleichförmig vom früheren zum späteren Ereignis bewegt. (Beweis: Im Inertialsystem I' finden beide am selben Ort statt, daher ist Dx' = 0, woraus Ds 2 = c2 Dt' 2 folgt. Dt' ist aber gerade die Zeit, die für die besagte Uhr vergeht).
     
  • Ist Ds < 0, so ist es nicht möglich, mit einer Geschwindigkeit £ c von einem zum anderen Ereignis zu gelangen. Man sagt dann, die beiden Ereignisse liegen raumartig zueinander. In diesem Fall gibt es ein Inertialsystem I', in dem sie gleichzeitig stattfinden. (Um es in der zweidimensionalen Theorie mit Koordinaten (t, x) zeichnerisch zu finden, muss dessen x'-Achse lediglich parallel zur Strecke AB gewählt werden). Keines der beiden Ereignisse kann das andere beeinflussen.
    Ds 2 ist das Negative des räumlichen Abstands zwischen beiden Ereignissen, gemessen in jenem Inertialsystem, in dem die gleichzeitig stattfinden. Er wird manchmal auch "Eigenlänge" genannt. (Beweis: Im Inertialsystem I' finden beide Ereignisse gleichzeitig statt, daher ist Dt' = 0, woraus  Ds 2- Dx' - Dy' - Dz'  folgt).
    Hier sollte man sich an der unglücklichen Schreibweise von Ds 2 als Quadrat nicht stossen - sie hat sich als Analogie zu Dl2 in (1) eingebürgert, obwohl sie eigentlich falsch ist, denn Ds 2 kann auch negativ sein.
     
  • Ist Ds = 0, so kann ein (geradlinig verlaufendes) Lichtsignal die beiden Ereignisse verbinden. Man sagt dann, die beiden Ereignisse liegen lichtartig zueinander. Das frühere Ereignis kann das spätere mit Hilfe eines Lichtsignals beeinflussen.
    In diesem Fall hat die aus (8) entstehende Gleichung  c2 Dt 2 - Dx 2 - Dy 2 - Dz = 0  eine interessante Bedeutung: Ist eines der beiden Ereignisse festgehalten, stellt sie eine Kugel dar, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausdehnt (bzw. zusammenzieht) - die Front einer Kugelwelle.

Damit ist die physikalische Bedeutung der Raumzeit-Metrik aufgeklärt. Sie stellt das Beste dar, was wir als den "Abstand" zweier Ereignisse in der Raumzeit definieren können - je nach der kausalen Lage der Ereignisse beschreibt sie einmal eine (Eigen-)Zeit, ein anderes Mal einen räumlichen Abstand, jeweils mit genauen (und sinnvollen) Messvorschriften. Wir stellen die drei verschiedenen Bedeutungen, die die Größe Ds 2 annehmen kann, für die zweidimensionale Raumzeit in einem Diagramm zusammen:

Liegen die beiden Ereignisse zeitartig (rot) oder raumartig (blau) zueinander, so ist Ds 2 (bis auf den Faktor c2) die Eigenzeit bzw. die Eigenlänge. Der dritte Fall (grün) wird daran erkannt, dass Ds 2 = 0, d.h. cDt Dx 2 ist - dann liegen die beiden Ereignisse auf einer Photon-Weltlinie. (Die Tatsache, dass für solche - lichtartig zueinander liegenden - Ereignisse Ds 2 = 0 ist, regt manchmal zur Aussage an, dass "für ein Photon keine Zeit vergeht").

Wir wollen noch ein Wort zu den kausalen Verhältnissen in der Raumzeit sagen: Wird das Ereignis A festgehalten, so bildet die Menge aller zu A lichtartig liegenden Ereignisse den Lichtkegel von A (dessen Inneres in den Vergangenheitslichtkegel - alle Ereignisse, die A beeinflussen können - und den Zukunftslichtkegel - alle Ereignisse, die von A beeinflusst werden können - zerfällt). Die Menge außerhalb des Lichtkegels heißt auch die Gegenwart von A (alle Ereignisse, die in einem geeigneten Inertialsystem mit A gleichzeitig stattfinden):

Die Gesamtheit aller Lichtkegel bestimmt also, welche Ereignisse kausal miteinander verbunden sein können (man spricht auch von der Kausalstruktur der Raumzeit).
 

Wieso also "Geometrie"?

Die formale Ähnlichkeit der Gleichungen (7) bzw. (8) mit (1) bzw. (3) lässt erahnen, dass wir auf der Basis der Raumzeit-Metrik ebenso "Geometrie betreiben" können wie auf der Basis der euklidischen Metrik. Das ist tatsächlich der Fall:

In Analogie zur euklidischen Geometrie begründet die Raumzeit-Metrik (7) bzw. (8) die sogenannte Minkowski-Geometrie (oder Lorentz-Geometrie, wegen der Minuszeichen in der Metrik auch pseudo-euklidische Geometrie genannt). Die Minuszeichen in der Metrik bewirken, dass hier vieles anders aussieht als in der gewohnten Zeichenebene oder im dreidimensionalen Raum. Der springende Punkt ist aber beiden Geometrien gemeinsam: Gewisse Ausdrücke hängen nicht von der Art und Weise der Beschreibung (der Wahl des Bezugssystems, in dem mit ihnen hantiert wird) ab. Sie stellen eigenständige - eben "geometrische" - Größen dar. Diese Sichtweise der Raumzeit hat viele Konsequenzen, und sie hat die Physik während der letzten hundert Jahre tiefgehend verändert. Wir wollen nur einige Aspekte nennen, um das zu verdeutlichen:

  • Das Relativitätsprinzip (siehe den Abschnitt Postulate) verlangt, dass die physikalischen Gesetze in allen Inertialsystemen dieselbe Form haben sollen. In der geometrischen Sichtweise bedeutet das, dass die grundlegenden Gleichungen jeder physikalischen Theorie durch geometrische Objekte der Raumzeit ausgedrückt werden sollen, damit ihre Unabhängigkeit von der Beschreibungsweise von vornherein sichergestellt ist. Das ist mittlerweile zu einem zentralen "Design"-Prinzip der modernen Physik geworden. Geometrische Sichtweisen werden heute nicht nur auf die Raumzeit, sondern auch auf viele andere Mengen, die in der Physik auftreten (z.B. die "Menge aller elektromagnetischen Feldkonfigurationen"), angewandt.
     
  • Die formalen Ähnlichkeiten zur euklidischen Geometrie erlauben es oft, unsere geometrischen Anschauungen zu benutzen. So können (wie wir oben bereits angemerkt haben) die Lorentztransformationen als Analogien der Drehungen von Koordinatensystemen aufgefasst werden. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen: Die - physikalisch und mathematisch ein bisschen sperrige - relativistische Geschwindigkeitsaddition kann als raumzeitliche Variante des Satzes von der Winkelsumme im Dreieck aufgefasst werden (wie am Ende des entsprechenden Abschnitts bemerkt wurde)!
     
  • Wir haben in den Abschnitten über die Lorentzkontraktion und die Lorentztransformation erwähnt, dass räumliche Abstände von Ereignissen, die nicht gleichzeitig stattfinden, nicht einfach in einem Raumzeit-Diagramm abgelesen werden können. Wird in einem Raumzeit-Diagramm ein bewegtes Inertialsystem dargestellt, so stimmen die physikalischen Einheiten seiner ("schrägen") Achsen nicht mit denen der Zeichenebene überein. (Daher haben wir in den beiden früheren Abschnitten vom "Einheiten-Problem" gesprochen).

    Das mag zunächst irritierend wirken. Der Sachverhalt kann aber sehr leicht mit Hilfe des Begriffs der Metrik aufgeklärt werden: Es ist einfach der Ausdruck (7) für die Metrik, der (bis auf ein Minuszeichen) das Quadrat des physikalisch gemessenen Abstands darstellt! Die Zeichenebene wird zwar benutzt, um Raumzeit-Diagramme zu zeichnen, aber ihre euklidische Geometrie stimmt nicht mit der Geometrie der Raumzeit überein. Wird versucht, das Analogon des "Einheitskreises" zu finden, um eine bequeme Darstellung der Einheiten auf allen denkbaren Achsen bewegter Inertialsysteme zur Hand zu haben, stößt man auf
    eine Hyperbel bzw. in der vollen Version auf ein Hyperboloid, das mittlerweile in Form der sogenannten "Massenschale" in der Teilchenphysik ganz unverzichtbar geworden ist. Mit Hilfe der Formel (7) können Sie sich ganz leicht davon überzeugen, dass alle Ereignisse, die den Punkten auf der roten Hyperbel

    entsprechen, den räumlichen Abstand 1 vom Ursprung O (d.h. vom Ereignis t = x = 0) haben (wenn er in dem Inertialsystem, in dem O und das betreffende Ereignis gleichzeitig stattfinden, gemessen wird). Als Beispiel ist die x'-Achse eines bewegten Inertialsystems eingezeichnet. Damit ist das "Einheiten-Problem" der x'-Achsen gelöst. (In analoger Weise ist die Hyperbel  t2 - x2/c2  = 1  für die Eigenzeiten, d.h. für die Einheiten auf den Zeitachsen zuständig - zeichnen Sie sie!)
     

  • Im Abschnitt über das Zwillingsparadoxon und die Geodäten der Raumzeit wurde ein Kriterium für die kräftefreien Bewegung formuliert ("Die Weltlinie einer kräftefreien Bewegung ist eine Geodäte"), das ganz dem Geist der geometrischen Sichtweise entspricht. Es kann mit Gewinn auf die Allgemeine Relativitätstheorie übertragen werden, in der die Begriffe der Geradlinigkeit und Gleichförmigkeit nicht mehr zur Verfügung stehen, sehr wohl aber ein raumzeitlicher Abstandsbegriff (die sogenannte Riemannsche Metrik, eine gekrümmte Version der Minkowski-Metrik) und daher der Begriff der Geodäte.
     
  • Geometrische Verfahren können genutzt werden, um konkrete Problemstellungen effizient zu lösen. Die Mathematik, die uns das gestattet, wurde zwar teilweise bereits vor der Relativitätstheorie entwickelt, hat aber erst mit ihr die Physik erobert. Wir können z.B. Objekte definieren, die den aus dem Mathematikunterricht bekannten Vektoren entsprechen (die sogenannten Vierervektoren), um uns das Leben zu erleichtern. Die sogenannte Tensorrechnung (und ganz allgemein das Gebiet der Differentialgeometrie) fällt in dieselbe Kategorie.

Ihre volle Bedeutung gewinnt die geometrische Sichtweise der Raumzeit erst in der Allgemeinen Relativitätstheorie, aber in der Speziellen Relativitätstheorie hat sie ihre Wurzeln.


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