Spezielle Relativitätstheorie


1. Einleitung
 

Wovon handelt die Spezielle Relativitätstheorie?

Um in aller Kürze eine Antwort auf diese Frage zu geben, stellen wir uns vor, dass irgendein physikalischer Prozess stattfindet und von zwei relativ zueinander bewegten Beobachtern betrachtet und vermessen wird. Danach werden die von beiden Beobachtern aufgenommenen Daten (z.B. die auftretenden räumlichen Abstände und die Zeit, die der Prozess gedauert hat) verglichen. Die Spezielle Relativitätstheorie handelt zunächst schlicht und einfach von den Beziehungen der beiden Datensätze.

Das mag reichlich nebensächlich erscheinen, zieht aber dennoch tiefgreifende Konsequenzen nach sich: Hat etwa für den einen Beobachter der Prozess eine Zeitspanne Dt gedauert, für den anderen die Zeitspanne Dt', so hätte die Physik vor der Relativitätstheorie (die galileische Physik, um ihr einen Namen zu geben) vorausgesagt, dass Dt = Dt' ist. Genaue Messungen der Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts am Ende des 19. Jahrhunderts (das berühmte Michelson-Morley-Experiment) ließen Zweifel an der Gültigkeit der galileischen Physik aufkommen: Die Lichtgeschwindigkeit hatte anscheinend immer denselben Wert, unabhängig davon, wie schnell sich Quelle oder Beobachter bewegen. So etwas gibt es in der galileischen Physik nicht: Wird eine Bowling-Kugel in einem fahrenden Eisenbahnwaggon mit einer Geschwindigkeit (relativ zum Waggon) von 10 km/h gerollt, und fährt der Zug (relativ zu den Schienen) mit 60 km/h, so bewegt sich die Kugel relativ zu den Schienen mit 70 km/h. Jede Geschwindigkeit relativ zum Waggon wird gemäß der galileischen Physik um 60 km/h erhöht, wenn sie vom System der Schienen aus betrachtet wird - dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Lichts hier eine Ausnahme bilden sollte, wäre auf der Basis der galileischen Physik völlig unverständlich gewesen.

Eineinhalb Jahrzehnte später (im Jahr 1905) veröffentliche Albert Einstein die Spezielle Relativitätstheorie. Die Argumente, die zu ihr hinführen, sind Gegenstand dieses Lehrgangs - hier wollen wir nur vorwegnehmen, dass die Theorie eine dramatische Voraussage macht: Die Zeitintervalle Dt und Dt' müssen nicht unbedingt gleich sein - ihr Verhältnis hängt vom relativen Bewegungszustand der beiden Beobachter ab! Voraussagen dieser Art wurde mittlerweile unzählige Male experimentell überprüft.

Somit ist "die Zeit" keine universelle, für alle Beobachter geltende Größe mehr, und auch räumliche Abstände (Distanzen) hängen auf ähnliche Weise vom Bewegungszustand der Beobachter ab. Die Spezielle Relativitätstheorie impliziert also ein neues Konzept von Raum und Zeit. Weiters sieht sie alle Inertialsysteme (wir werden unten noch ein paar Worte zu diesem Begriff sagen) als "gleichberechtigt" an: Die physikalischen Gesetze haben in jedem Inertialsystem dieselbe Form.

So what? Nun, die meisten der physikalischen Theorien, die es im 19. Jahrhundert gab (und die noch immer die Grundlage für einen großen Teil des Physikunterrichts bilden), genügen diesen Forderungen nicht. Damit war es notwendig, zahlreiche bis dahin geltende physikalische Konzepte (z.B. die bekannte Formel E = mv2/2 für die kinetische Energie eines mit Geschwindigkeit v bewegten Körpers) fallenzulassen und "relativistische" Versionen zu entwerfen. Insgesamt haben diese Entwicklungen zu einem völlig veränderten Bild der physikalischen Wirklichkeit (und in weiterer Folge des gesamten Universums) geführt.

An dieser Stelle sei ein Hinweis auf einen häufig gemachten Fehler erlaubt: Oft wird gesagt, die Spezielle Relativitätstheorie handle von geradlinigen und gleichförmigen Bewegungen, während die Analyse von beschleunigten Bewegungen in den Bereich der Allgemeinen Relativitätstheorie fällt. Das ist ganz und gar nicht richtig! Die Spezielle Relativitätstheorie zielt auf die Beschreibung beliebiger physikalischer Prozesse (also auch beschleunigter Bewegungen), sofern diese in einem Inertialsystem beobachtet und in Bezug auf dieses beschrieben werden. Die Allgemeine Relativitätstheorie ist zuständig für Situationen, in denen es gar keine Inertialsysteme gibt (was genau dann der Fall ist, wenn Gravitationskräfte auftreten bzw. nicht vernachlässigt werden können)!

Um die grundlegenden Aussagen der Speziellen Relativitätstheorie herzuleiten, sind einige Annahmen nötig, die nicht durch blosses Nachdenken erschlossen werden können, sondern an den Anfang der Theorie gestellt werden. Solche Annahmen nennen wir Postulate. Wir können sie nicht logisch rechtfertigen (da im Prinzip auch andere Postulate möglich sind). Sie drücken einerseits experimentelle Befunde und andererseits philosophische Grundhaltungen aus. Auf beides kann die Physik nicht verzichten. Bewähren müssen sich die auf Postulaten aufgebauten physikalischen Theorien letzten Endes im Experiment.

Von den Postulaten, auf denen die Spezielle Relativitätstheorie ruht, ist im nächsten Abschnitt die Rede.
 

Einige Voraussetzungen für die nächsten Abschnitte

Um zügig zu den interessanten Themen der Speziellen Relativitätstheorie voranschreiten zu können, wollen wir uns nicht lange mit der Diskussion von Begriffen aufhalten, die sowieso erst im Laufe der Zeit vertrauter und klarer werden. Wir fassen hier einige Punkte zusammen, die in den folgenden Abschnitten als Voraussetzungen benötigt werden.

Wir werden oft von Ereignissen sprechen. Ein Ereignis kann "irgendwo" und "irgendwann" stattfinden. Genau genommen sollten wir von Punktereignissen sprechen: sie haben keine räumliche Ausdehnung und keine Zeitdauer - sie sind sozusagen die "Atome" jeder Theorie von Raum und Zeit. Die Menge aller Ereignisse wird Raumzeit genannt. Da der Ort eines Ereignisses in einem Koordinatensystem durch drei Zahlen (Koordinaten: xyz) und die Zeit, zu der es stattfindet, durch eine Zahl t angegeben wird, ist die Raumzeit ein vierdimensionales Gebilde. Die vier Zahlen (t, x, y, z) werden daher auch die Raumzeit-Koordinaten eines Ereignisses genannt. Oft können zwei räumliche Koordinaten (y und z) ignoriert werden. Dann sprechen wir vom zweidimensionalen Modell der Raumzeit (oder einfach von der zweidimensionalen Raumzeit).

Die Bewegung eines (Punkt-)Teilchens kann, wenn sie nur in einer Richtung stattfindet, im Rahmen des zweidimensionalen Modells der Raumzeit analysiert werden. Wir können sie in Form eines grafischen Fahrplans darstellen:

Jeder Punkt der Zeichenebene entspricht einem Ereignis. (In diesem Sinn stellt die Zeichenebene die - auf zwei Dimensionen reduzierte - Raumzeit dar). Die rot eingezeichnete Linie wird Weltlinie des Teilchens genannt. Sie gibt darüber Auskunft, wo das Teilchen wann ist. Das Inverse der Steigung der Weltlinie in einem Ereignis ist die (Momentan-)Geschwindigkeit. Bewegt sich das Teilchen gleichförmig, so ist seine Weltlinie eine Gerade (deren Steigung gleich dem Inversen der Geschwindigkeit ist). Derartige grafische Darstellungen werden Raumzeit-Diagramme genannt.

Die Lichtgeschwindigkeit c spielt in der Speziellen Relativitätstheorie eine wichtige Rolle. Allerdings ist die Lichtausbreitung ein elektromagnetischer Wellenvorgang, dessen physikalische Details für die meisten Argumentationen nicht wirklich benötigt werden und eher vom eigentlichen Thema ablenken würden. Wir werden es uns daher so einfach wie möglich machen und an vielen Stellen von "Photonen" sprechen. Darunter verstehen wir idealisierte (punktförmige, d.h. nicht ausgedehnte) Teilchen, die sich geradlinig und mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen. Dasselbe ist gemeint, wenn wir von Lichtsignalen sprechen. (Das Wort "Photon" ist der Quantentheorie des Lichts entlehnt - über die Natur der Photonen als "masselose Teilchen", aus denen das Licht besteht, werden wir lediglich im Abschnitt über die Energie ein paar Worte sagen). Um Lichtsignale grafisch bequem darstellen zu können, werden in Raumzeit-Diagrammen Einheiten verwendet, in denen, wie diese Abbildung zeigt,

die Weltlinien von Photonen um 45° geneigt sind. (Es gibt mehrere Methoden, das zu erreichen. So können etwa Sekunden als Zeiteinheiten und "Lichtsekunden" als Längeneinheiten verwendet werden. Eine andere Methode besteht darin, c t anstelle von t als Koordinate auf der Zeitachse aufzutragen. Beide Methoden laufen darauf hinaus, sich vorzustellen, in den Diagrammen sei c = 1 gesetzt und Geschwindigkeiten immer im Verhältnis zu c - also dimensionslos - definiert). Eine Weltlinie, die überall steiler als 45° ansteigt (wie es z.B. für die in der ersten Abbildung gezeigte Weltlinie der Fall ist), beschreibt eine Bewegung, für die der Betrag der Momentangeschwindigkeit immer kleiner als die Lichtgeschwindigkeit ist.

Ein in der Speziellen Relativitätstheorie wichtiger, aber für Lernende oft schwieriger Begriff ist der des Inertialsystems. Er bezeichnet

ein Bezugssystem, in dem - so die übliche Formulierung - jeder Körper, auf den keine äußere Kraft wirkt, sich geradlinig und gleichförmig bewegt.

Unter einem Inertialsystem sollte man sich vorerst eine Anordnung von drei aufeinander normalstehenden räumlichen Koordinatenachsen vorstellen, die mit synchronisierten Uhren (wir werden gleich sagen, was das ist) ausgestattet ist. Zwei derartige Anordnungen können sich relativ zueinander geradlinig gleichförmig bewegen. Fürs erste wollen wir es dabei belassen. Eine kräftefreie Bewegung erscheint, wenn sie durch die in diesem System verwendeten Maßstäbe und Uhren vermessen wird, geradlinig und gleichförmig. Jedes Inertialsystem stellt die Raumzeit auf seine Weise dar. Ein Raumzeit-Diagramm (wie die in den beiden obigen Abbildungen wiedergegebenen) zeigt nicht die Raumzeit "an sich", sondern immer nur durch die Brille eines Inertialsystems. Die Zeitachse eines solchen Diagramms stellt die Weltlinie eines im räumlichen Ursprung (x = 0) des betreffenden Inertialsystems ruhenden Beobachters dar. Wird gesagt, dass sich ein Inertialsystem relativ zu einem anderen bewegt, so ist damit die Bewegung dieses räumlichen Ursprungs aus der Sicht des anderen Inertialsystems gemeint.

Wichtig ist, dass jedes Inertialsystem die gesamte Raumzeit abdeckt (so wie ja auch der Gültigkeitsbereich eines ebenen (x y)-Koordinatensystems nicht irgendwo "aufhört"). Jeder physikalische Prozess kann vom Standpunkt jedes Inertialsystems aus betrachtet werden. Formulierungen wie "in einem Inertialsystem" oder "innerhalb eines Inertialsystems" sind zwar gebräuchlich, aber eigentlich ist damit "in Bezug auf ein Inertialsystem" oder "hinsichtlich eines Inertialsystems" gemeint.

Dem Konzept des Inertialsystems haften mehrere Schwierigkeiten an. Die Rolle, die es in der Theorie spielt, lässt sich zu Beginn kaum ermessen. Eine genauere Diskussion seiner Rolle ist keine leichte Angelegenheit und führt zwangsläufig an die Grenzen der Speziellen Relativitätstheorie. Um Lernende nicht gleich zu Beginn mit diesen komplexen Themen zu belasten, wurde sie in den vorletzten Abschnitt Das Kreuz mit den Inertialsystemen verbannt.

In der Speziellen Relativitätstheorie wird anstelle des Begriffs Inertialsystem oft das saloppere Wort Bezugssystem verwendet (obwohl es eigentlich ein etwas allgemeineres Konzept bezeichnet: dazu mehr im Abschnitt über Inertialsysteme).

Mit jedem Inertialsystem ist ein ganz bestimmter Zeitbegriff verbunden. Zeiten werden zunächst mit Uhren gemessen, und Uhren stellen wir uns am einfachsten lokalisiert (d.h. klein, idealerweise punktförmig) vor. Um nun die Zeiten, zu denen Ereignisse an verschiedenen Orten stattfinden, vergleichen zu können, benötigen wir - innerhalb jedes Inertialsystems - einen "globalen" Zeitbegriff, der nicht an einen bestimmten Ort gebunden ist. Wir können uns eine "globale" Zeit so vorstellen, dass an mehreren Orten in einem Inertialsystem Uhren aufgestellt sind. Jede Uhr kann die Zeit eines Ereignisses messen, wenn es an ihrem Ort stattfindet.

All diese Uhren müssen miteinander synchronisiert sein, d.h. sie müssen "gleichzeitig" die gleiche Zeigerstellung aufweisen. Nun ist es ganz einfach, zwei Uhren, die beide (in einem gegebenen Inertialsystem) ruhen, miteinander zu synchronisieren: Man ziehe die Verbindungsstrecke zwischen den beiden Uhren und schicke von deren Halbierungspunkt zwei Photonen in entgegengesetzte Richtungen auf die beiden Uhren zu - dann kommen die Photonen gleichzeitig bei den beiden Uhren an. (Wer will, kann den Begriff "gleichzeitig" so definieren!) Diesen Mechanismus kann man dazu benutzen, alle verwendeten (im Inertialsystem ruhenden) Uhren miteinander zu synchronisieren. Das System all dieser Uhren definiert dann die "globale Zeit" für das Inertialsystem.

Ob ein anderes Inertialsystem denselben Zeitbegriff oder einen anderen hat, ist dabei zunächst offen und hängt von Theorie und Experiment ab: Im Rahmen der galileischen Physik haben alle Inertialsysteme denselben Zeitbegriff, im Rahmen der Speziellen Relativitätstheorie haben relativ zueinander bewegte Inertialsysteme verschiedene Zeitbegriffe.


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