Maßstäbe, Längen und Raumkrümmung im Gravitationsfeld

Beschreibung und Aufgaben

Was bedeutet es eigentlich, dass (wie die Allgemeine Relativitätstheorie voraussagt) der "Raum in der Nähe massiver Körper gekrümmt ist"? Was ist gemeint, wenn (wie es manchmal heißt) "Maßstäbe in der Nähe massiver Körper verkürzt sind"? Diese Animation soll verdeutlichen, welche beobachtbaren (messbaren) Effekte solchen Aussagen zugrunde liegen. Dabei wollen wir Schritt für Schritt vorgehen:
  1. Stellen wir uns vor, einer Expedition anzugehören, der eine spezielle Mission übertragen wurde. Kürzlich wurde ein sehr schwerer und kompakter Himmelskörpers entdeckt, und es gehen Gerüchte um, dass in dessen Nähe die Gesetze der euklidischen Geometrie (zu denen die bekannten geometrischen Beziehungen für Figuren in der Zeichenebene gehören) nicht gelten. Die Expedition soll nun überprüfen, ob an diese Gerüchte zutreffen. Ihr wichtigstes Werkzeug sind Maßstäbe. Mit ihrer Hilfe kann die Länge einer Linie durch simples Aneinanderlegen gemessen werden.
     
  2. Aus Sicherheitsgründen möchte die Expedition dem Himmelskörper nicht zu nahe kommen, kann ihre Vermessungen daher nur außerhalb vornehmen. Zu den einfachsten Linien, die gänzlich außerhalb des (sich als kugelsymmetrisch herausstellenden) Zentralkörpers verlaufen, zählen Kreise (genauer: Kreislinien), die konzentrisch um ihn angeordnet sind.

    Nach dem Aufruf der Animation (oder nachdem der Button Reset gedrückt wurde) siehst du den Zentralkörper und zwei solche Kreise, einen roten und einen blauen, die beide in der gleichen Äquatorialebene des Zentralkörpers liegen.

    Den Umfang eines derartigen Kreises zu messen, fällt unserer Expediion nicht schwer, denn genau dafür ist sie bestens ausgerüstet. Die Umfänge der in der Animation dargestellten Kreise werden mit u1 und u2 bezeichnet. Eine weitere Größe, die leicht gemessen werden kann, ist der Radialabstand der beiden Kreislinien. Wir bezeichnen ihn mit dem Symbol Ds.
     
  3. Die Expedition beginnt also damit, sich auf zwei (beliebige) Kreise festzulegen und ihre Umfänge u1 und u2 zu messen. Ist damit automatisch auch der Radialabstand Ds bekannt? Das ist eine gute Frage, denn sie führt direkt zu einer Möglichkeit, die Gültigkeit der euklidischen Geometrie zu überprüfen.
    Aufgabe 1: Unter der Annahme, dass für jeden Kreis

    Umfang  =  2p × Radius

    gilt, drücke Ds durch u1 und u2 aus!
    Beachte, dass die Beziehung zwischen u1, u2 und Ds, die du erhalten hast, auf einer Annahme beruht! Ist es möglich, dass diese Annahme nicht gerechtfertigt ist?
     
  4. Um die letzte Frage zu beantworten, muss die Expedition den Radialabstand Ds messen und das Messergebnis mit dem in Aufgabe 1 berechneten Wert vergleichen.

    Nun klicke auf den Button Start! Es erscheint ein kleines interaktives Tool: Mit Hilfe der beiden Schieberegler können die Werte der Umfänge u1 und u2 eingestellt werden. (Durch Klick auf die grauen Dreiecke rechts und links der Schieberegler kannst du Feineinstellungen in Schritten von 0.05 vornehmen). Alle Längen sind in Einheiten von Kilometern angegeben. Im oberen Bereich der Animation sind zwei (auf vier Nachkommastellen gerundete) Zahlenwerte eingeblendet, die nach jeder Betätigung der Schieberegler aktualisiert werden:
     
    • Links: Der Wert von Ds, den die Expedition tatsächlich misst.
      Wir wollen hier nicht verheimlichen, dass dieser Wert genau jener ist, den die Allgemeine Relativitätstheorie (ART) für einen kugelsymmetrischen, nichtrotierenden, sehr schweren und kompakten Zentralkörper voraussagt.
    • Rechts: Der Betrag der Größe (u2 - u1)/(2p), der sich für den Radialabstand der Kreise auf der Basis der euklidischen Geometrie ergeben würde (siehe Aufgabe 1).
       
  5. Nun sind wir bereit für eine Erforschung der Geometrie des Raumes in der Nähe einer schweren Masse.
    Aufgabe 2: Lies den angezeigten Wert von Ds ab und vergleiche ihn mit jenem, den man auf der Basis der euklidischen Geometrie erwarten würde! Ist der gemessene größer oder kleiner als der euklidische Wert? Um wieviel Prozent weicht er vom euklidischen Wert ab?
    Die TeilnehmerInnen der Expedition jubeln! Sie haben den experimentellen Nachweis erbracht, dass die euklidische Geometrie in der Nähe einer schweren Masse nicht gilt! Um ganz sicher zu gehen, wird die Angelegenheit noch anhand einiger anderer Kreise überprüft:
    Aufgabe 3: Stelle einige andere Werte von u1 und u2 ein und vergleiche erneut Ds mit der euklidischen Erwartung!
    Aufgabe 4: Versuche, diese überraschende Entdeckung in Worte zu fassen!
  6. Die Expedition war also wissenschaftlich sehr erfolgreich, da sie ein neues Naturphänomen bestätigt hat, aber noch vor der Heimkehr stellt sich die Frage: Wenn der Raum nicht den Gesetzen der euklidischen Geometrie, sondern anderen Gesetzen gehorcht - welcher Art sind diese anderen Gesetze? Wie sollen wir ein derartiges Verhalten des Raumes deuten, wie darüber sprechen, wie es uns vorstellen?

    Unter den TeilnehmerInnen entspannt sich eine Diskussion. Folgende Ansicht wird vorgebracht: Offensichtlich ist innerhalb eines Kreises mit gegebenem Umfang "mehr Platz", als aufgrund seines Umfangs zu erwarten gewesen wäre. Die Fläche, in der die (in der Animation gezeigten) Kreise liegen, verhält sich daher gar nicht wie eine Ebene, sondern wie eine gekrümmte Fläche:


    Längen werden in der Fläche gemessen (am besten mit einem Maßband, das sich der Form der Fläche anschmiegt).
    Aufgabe 5: Kann eine solche Deutung die gemessene Beziehung zwischen u1, u2 und Ds erklären? Erklärt sie, dass - für gegebenes u1 und u2 - Ds größer ist als der nach der euklidischen Geometrie erwartete Wert?
    Diese Deutung der Messergebnisse findet allgemein Anklang (jemand erfindet im Zusammenhang mit dem obigen Bild den Ausdruck Gravitationstrichter), wenngleich eine warnende Stimme laut wird:
    Das Bild zeigt eine (zweidimensionale) Fläche, die in einen dreidimensionalen Raum eingebettet ist. Dieser dreidimensionale Raum entspricht nicht einer zusätzlichen Dimension in der Natur! Er ist lediglich ein von uns erfundenes Instrument der Deutung der Messergebnisse: Die Längen von Linien innerhalb der Fläche, in der die Kreise liegen, verhalten sich so, als ob diese Fläche sich in einem dreidimensionalen Raum krümmen würde. Vom mathematischen Standpunkt müssen wir sie als gekrümmt bezeichnen, aber dass sie sich "in einem höherdimensionalen Raum krümmt", ist nur unsere Deutung.
    Da es nun aber auch viele andere derartige Flächen gibt (die sich wegen der Kugelsymmetrie ganz genauso verhalten) können wir sagen, dass der ganze Raum gekrümmt ist!
    Anmerkung: Man hätte statt Kreisen auch konzentrische Kugeln (genauer: Sphären) mit vorgegebeger Oberfläche betrachten können und wäre zu analogen Schlüssen gelangt: Wird einer unserer Kreise mit Umfang u zu einer Kugel vervollständigt, so wird deren Oberfläche als u2/p gemessen, was der euklidischen Beziehung zwischen dem Umfang des Äquators und der Oberfläche einer Kugel entspricht. Der radiale Abstand zweier solcher Sphären ist genau unsere gemessene Größe Ds und damit größer als der erwartete euklidische Wert.
  7. Würden wir konzentrische Kreise betrachten, in deren Mitte keine schwere Masse liegt, so wäre die Ebene, in der die Kreise liegen, so dargestellt:


    Wenn also das Vorhandensein eines schweren Objekts für die gemessene Raumkrümmung verantwortlich ist, können wir sagen: Massen krümmen den Raum. Wir müssen vermuten, dass auch kleine Massen das tun, aber nur bei genügend schweren Objekten werden die Effekte messbar groß. Weit weg von schweren Massen ist der Raum annähernd flach (d.h. nicht gekrümmt). Dort gelten die Gesetze der euklidischen Geometrie.
     
  8. In der Diskussion der ExpeditionsteilnehmerInnen wird eine weitere Ansicht geäußert: Nach ihr kommen die gemessenen Abweichungen von der euklidischen Geometrie dadurch zustande, dass Maßstäbe in der Nähe schwerer Massen ihre Längen ändern.
    Aufgabe 6: Wenn die gemessene Beziehung zwischen u1, u2 und Ds dadurch gedeutet wird, dass Maßstäbe ihre Längen ändern können - verkürzen oder verlängern sie sich in der Nähe schwerer Massen?
    Allerdings gibt es auch die gegenteilige Meinung: Wie sollte denn die Veränderung der Länge eines Maßstabs überprüft werden? Mit einem weiteren Maßstab, der herbeigeschafft werden müsste! Leider ändert dieser aber seine Länge ebenfalls, so dass dann beide Maßstäbe wieder gleich lang sind. Einen Effekt, der nicht gemessen werden kann, gibt es aber vom physikalischen Standpunkt gar nicht!

    Man einigt sich darauf, dass die Hypothese von der Maßstabsveränderung (und damit die Aussage, jeder Körper verändere seine Größe in der Nähe einer schweren Masse) eine mögliche (wenngleich nicht sehr geglückte) Deutung ist, um sich überhaupt etwas vorstellen zu können. (Für ein Bild, das diese Deutung illustriert, kicke hier).
     
  9. Der Großteil der Expedition kehrt heim, aber einige Freiwillige bleiben zurück, um eine Fleißaufgabe zu erledigen: Sie wollen durch Messungen überprüfen, ob die Krümmung näher beim Zentralkörper tatsächlich größer ist als weiter weg.
    Aufgabe 7: Betrachte zwei Kreise, deren Umfänge sich nur wenig voneinander unterscheiden, z.B. u1 = 100 und u2 = 100.05 (oder u1 = 99.95 und u2 = 100). Lies die angezeigten Zahlen ab und berechne das Verhältnis von Ds zu seiner euklidischen Erwartung. So erhältst du (für das die obigen Zahlenbeispiel) ein Maß dafür, wie sehr die beobachtete Geometrie von der euklidischen in der Nähe des Kreises mit Umfang u = 100 abweicht.
    Nun wiederhole dies für andere Umfänge! Trage die so erhaltenen Daten in ein Diagramm gegen u ein! Gelingt es dir, sie durch eine Formel zu beschreiben?
  10. Damit haben wir anhand der Animation besprochen, worin sich die Abweichung der beobachteten Geometrie des Raumes von der aufgrund unserer euklidischen Vorstellungen erwarteten Geometrie äußert und wollen zum Abschluss noch einige Bemerkungen anfügen:
     
    • Bei der Vermessung des Raumes, wie sie von der Expedition durchgeführt wurde, stellt sich ein Problem, das wir oben unter den Teppich gekehrt haben: Wie kann durch Messungen außerhalb des Zentralkörpers sichergestellt werden, dass alle Punkte eines der verwendeten Kreise von ihm den gleichen Abstand haben? Hier zwei Möglichkeiten:
       
      • Der Zentralkörper erscheint von allen Punkten der Kreislinie unter dem gleichen Winkel.
      • An allen Punktes der Kreislinie ist das Gravitationsfeld (zu messen etwa durch Abwägen eines Probekörpers) gleich stark.
         
      In beiden Fällen wird die Kugelsymmetrie ausgenutzt.

      Weiters muss eine Kreislinie, wenn sie von einem Punkt, der auf dieser Linie liegt, beobachtet wird, nicht gebogen, sondern gerade erscheinen. Damit ist durch Beobachtungen sichergestellt, dass sie in einer Fläche liegt, die wir oben intuitiv als "Äquatorialebene" bezeichnet haben (von der sich aber durch die nachfolgenden Messungen erwiesen hat, dass sie nicht die Geometrie einer Ebene aufweist). Mit derselben Methode kann sichergestellt werden, dass alle verwendeten Kreise in einer solchen Fläche liegen.
       
    • Um die Lage von Raumpunkten in der Nähe eines kugelsymmetrischen Objekts anzugeben, wird oft eine Radialkoordinate benötigt. Die auf den ersten Blick naheliegende Größe ist der Abstand zum Mittelpunkt des Zentralkörpers. Diese Größe sollte im Prinzip dadurch gemessen werden können, dass Maßstäbe entlang einer radialen Linie, die vom betreffenden Punkt bis zum Mittelpunkt des Zentralkörpers verläuft, aneinandergelegt werden. Dabei können allerdings zwei Probleme auftreten:
       
      • Falls der Zentralkörper ein Schwarzes Loch ist, das alle Körper, die ihm zu nahe kommen - auch Maßstäbe -, in sich hineinzieht und nicht wieder auslässt, ist eine solche Messung gar nicht möglich.
      • Physikalische Prozesse wie das Zusammenbrechen eines Sterns können die Massenverteilung und damit die Raumkrümmung in seinem Inneren ändern. Als Folge kann sich der Abstand zum Mittelpunkt ändern, ohne dass im Außenbereich irgend eine Bewegung stattfindet!
         
      In der Allgemeinen Relativitätstheorie wird statt dessen lieber die Größe

      r   =    u

       
      2p

      verwendet, wobei u der Umfang eines (wie in der Animation betrachteten) Kreises ist. Ist die Masse des Zentralkörpers klein, so stimmt r annähernd mit dem Abstand zu Mittelpunkt, d.h. mit dem Radius des Kreises überein. Die Verwendung dieser Größe geht auf Karl Schwarzschild zurück, der im Jahr 1916 die Geometrie, die die Animation darstellt, aus der Allgemeinen Relativitätstheorie berechnet hat, und wird auch Schwarzschildkoordinate (oder Schwarzschildsche Radialkoordinate) genannt.
       
    • Um zu sehen, wie die Raumkrümmung von der Masse M des Zentralkörpers abhängt, schreiben wir Schwarzschilds Resultat auf. Betrachten wir zwei Kreise, deren Umfänge u1 und u2 nur wenig voneinander abweichen. Mit Dr = r2 - r1 = (u2 - u1)/(2p) und r » u1/(2p) » u2/(2p) ergibt sich als Radialabstand der beiden Kreislinien

      Ds   »   (1  -    2GM

       ) -1/2  Dr . 
      cr

      Dabei ist G die Gravitationskonstante und c die Lichtgeschwindigkeit. Diese Formel gilt umso genauer, je kleiner Dr ist. (Wird durch Dr dividiert und die linke Seite als Ableitung ds/dr interpretiert, so gilt die Formel exakt). Vorsicht: Sie gilt nur außerhalb des Zentralkörpers.
      Aufgabe 8: Benutze diese Formel, um vorauszusagen, wie sehr die Geometrie auf der Erdoberfläche von der euklidischen Geometrie abweicht! Du kannst beispielsweise so vorgehen (die Erde wird dabei als exakte Kugel angesehen):
       
      • Er wird eine Schnur um den Äquator gelegt.
      • Er wird eine zweite Schnur vorbereitet, die um 1 Meter länger ist als die erste. Sie wird ebenfalls in Form eines Kreises um die Erde gelegt.
      • In welcher Höhe liegt die zweite Schnur nach der euklidischen Erwartung?
      • In welcher Höhe liegt die zweite Schnur nach der allgemeinen Relativitätstheorie?
      Aufgabe 9: Wenn du Aufgabe 7 gemacht hast und deine Ergebnisse mit der obigen Formel vergleichst, kannst du die Masse des in der Animation dargestellten Himmelskörpers bestimmen! Wie groß ist sie?
      Durch eine Integration kann auch eine Formel für Ds gefunden werden, die nicht voraussetzt, dass die Kreise nahe beieinander liegen: siehe dazu diese Seite.
       
    • Die obige Formel bricht für Werte der Schwarzschildkoordinate r, die kleiner als

      R S   =    2GM

        
      c2

      sind, zusammen. Liegt diese Grenze (der so genannte Schwarzschildradius) außerhalb des Zentralkörpers (was nur für sehr kompakte Objekte wie zusammenbrechende Neutronensterne geschehen kann), so markiert sie den Ereignishorizont, jenseits dessen alles in ein "Schwarzes Loch" gezogen wird und kollabiert - auch Maßstäbe! Daher existieren in diesem inneren Bereich unbewegliche Kreislinien, wie wir sie in der Animation betrachtet haben, gar nicht!
       
    • Der Vollständigkeit halber merken wir noch an, dass schwere Massen nicht nur eine Krümmung des Raumes bewirken, sondern auch den Gang von Uhren beeinflussen. Gemeinsam werden beiden Arten von Effekten in der Allgemeinen Relativitätstheorie als "Krümmung der Raumzeit" interpretiert.