Grundidee der Dekohärenz

Wieso sieht die Welt so klassisch aus?


Franz Embacher


Wieso sehen wir keine makroskopischen Superspositionen? Angenommen, ein großes Objekt kann sich in zwei (normierten Quanten-)Zuständen befinden, die zwei makroskopisch unterscheidbaren Orten entsprechen (bezeichnen wir sie mit L für links und R für rechts):
 

Aus der Sichtweise der Quantentheorie spricht zunächst nicht dagegen, dass der Zustand des Objekts eine Superposition

2 – 1/2 ( | L + | R 〉 ) (1)

ist. Allerdings ist ein solches Objekt nicht allein auf der Welt. Es besitzt eine Umgebung, mit der es wechselwirkt, und diese Tatsache reicht bereits in einfachen Modellen aus, makroskopische Superpositionen wie (1) praktisch unbeobachtbar zu machen. Sehen wir uns die Grundidee dieses Mechanismus an.

Wie modellieren die Umgebung als ein einziges Teilchen (im Folgenden nennen wir es "Photon"), das zunächst im Anflug ist und, wie hier eingezeichnet, auf die linke der beiden möglichen Positionen zielt:
 

Die Teilsysteme "großer Körper" und "Umgebung" sind zu diesem Zeitpunkt noch völlig voneinander unabhängig, und wir nehmen an, dass sich das Gesamtystem in der Superposition

| ψvor  =  2 – 1/2  ( | L  |   + | R  |   )  =  2 – 1/2  ( | L + | R )  |   (2)

befindet. Die Bezeichnung  vor  bezieht sich auf die Zeit, bevor die beiden Teilsystemen miteinander wechselwirken. Mathematisch gesehen, drückt sich die Unabhängigkeit dadurch aus, dass dieser Zustand das Produkt zweier Teilzustände ist. Jede Voraussage für eine Messung, die sich nur auf das System "großer Körper" bezieht, ist identisch mit der Voraussage für die entsprechende Messung im Zustand (1), ganz so, als ob es die Umgebung gar nicht gäbe.

Nun nehmen wir an, dass, wenn das Photon näher kommt, die beiden Teilsysteme miteinander wechselwirken. Nach einiger Zeit werden die beiden Komponenten der Superposition so aussehen:
 

Trifft das Photon auf den Körper, wird es nach unten reflektiert. Wir nehmen dabei an, dass es sehr viel leichter als der Körper ist und diesen nicht beeinflusst. Nachdem die Wechselwirkung stattgefunden hat, befindet sich das Gesamtsystem im Zustand

| ψnach  =  2 – 1/2  ( | L  |   + | R  |   ) (3)

Die Umgebung kann in diesem einfachen Modell nur einen der beiden (normierten) Zustände |   und |   annehmen. Wir wollen nun voraussetzen, dass diese beiden Zustände im Prinzip in einer einzigen Messung voneinander unterschieden werden können. Zustände können durch eine geeignete Messung nur dann zuverlässig voneinander unterschieden werden, wenn sie aufeinander orthogonal stehen. Wir verlangen also, dass

  |    =  0 (4)

ist.

Genau genommen, muss der Übergang von (2) nach (3) durch einen Hamilton-Operator beschrieben werden und stellt eine eine unitäte Zeitentwicklung dar. Ein Hamilton-Operator dieses Typs wird manchmal als von Neumann-Operator bezeichnet. Halten wir fest, dass die durch ihn beschriebene Wechselwirkung zwei Eigenschaften hat:
  • Die Umgebung beeinflusst das System "großer Körper" nicht, d.h. in (3) kommen dieselben Teilzustände | L  und | R  vor wir in (2).
  • Die Teilzustände |   und |   der Umgebung sind prinzipiell in einer Messung voneinander zu unterscheiden, d.h. es gilt (4). Mit anderen Worten: diese beiden Zustände bilden eine orthogonale Basis für das Teilsystem "Umgebung".
Beide Eigenschaften liegen in realistischen Systemen höchstens näherungsweise vor, aber sie helfen, die nun folgenden Betrachtungen einfach zu halten und geben den Blick frei auf den tieferen Grund dafür, dass wir in der Natur keine Superpositionen vom Typ (1) finden. Analysieren wir nun die Situation. Nach der Wechselwirkung liegt der Zustand (3) vor. Was hat sich geändert? Vom Standpunkt des Gesamtsystems aus nicht viel: Ein (reiner) Zustand ist in einen anderen (reinen) Zustand übergegangen. Von Standpunkt eines Beobachters, der an der Umgebung nicht interessiert ist (oder von ihr gar nichts weiss) und seine Messungen auf das System "großer Körper" beschränkt, hat sich allerdings etwas ganz Entscheidendes geändert!

Zunächst bemerken wir, dass der Zustand (3) – im Gegensatz zu (2) – nicht mehr das Produkt zweier Teilzustände ist. Die Summe (1) kommt nun – rein formal betrachtet – in (3) nicht mehr vor. Bedeutet das, dass der Zustand für einen auf Messungen am großen Körper beschränkten Beobachter nun keine makroskopische Superposition mehr ist? Die Antwort darauf heißt erstaunlicherweise ja!

Der Beobachter, der sich mit all seinen Messungen auf ein Teilsystem beschränkt, fängt mit dem Ausdruck (3) für den Gesamtzustand nichts an. Er hätte gern eine Beschreibung, in der nur die Zustände | L  und | R  vorkommen. Ihm kann geholfen werden: Die Beschreibung von Teilsystemen wird in der Quantentheorie durch Dichtematrizen besorgt.

Die Dichtematrix des Gesamtsystems vor und nach der Wechselwirkung ist

ρvor     =   | ψvor ψvor |
    ρ
nach   =  | ψnach ψnach | .
(5)

Die Dichtematrix eines Teilsystems geht aus der Dichtematrix für das Gesamtsystem durch Bildung der partiellen Spur über das andere (nicht beobachtete) Teilsystem hervor (und heißt "reduzierte Dichtematrix"). Der Vorgang wird manchmal auch TOU (trace over unobservables) genannt. Bezeichnen wir das System "großer Körper" mit und das System "Photon" mit , so ist die reduzierte Dichtematrix für das System "großer Körper" vor und nach der Wechselwirkung

ρ vor    =  Tr ( ρvor )
  ρ
 nach    =  Tr ( ρnach ) .
(6)

Da die Zustände |   und |   eine orthogonale Basis für das Teilsystem "Umgebung" bilden, kann die partielle Spur über jeden Operator A des Gesamtsystems mit Hilfe der Formel

Tr ( A )  =    | A |   +   | A |   (7)

berechnet werden. Tr ( A ) ist ein Operator innerhalb des Teilsystems "großer Körper". Damit, und unter Verwendung von (2), (3), (4) und den Normierungsbedingungen

  |    =    |    =  1 (8)

berechnen wir die in (6) definierten reduzierten Dichtematrizen. Nach einigen einfachen Rechenschritten stellt sich heraus:

ρ vor  =  2 – 1  ( | L + | R ) ( L | + R | )                                                
 =  2 – 1  ( | L L | + | R L | + | L R | + | R R | )
(9)

und

ρ nach  =  2 – 1  ( | L L | + | R R | ) . (10)

Diese beiden Resultate zeigen den physikalischen Unterschied zwischen den Verhältnissen vor und nach der Wechselwirkung auf. Physikalische Voraussagen für Messungen sind in diesen beiden Zuständen definitiv verschieden:
  • Vor der Wechselwirkung: (9) ist ein zwar durch eine Dichtematrix beschriebener, aber dennoch reiner Zustand. Diese Formel sagt nichts anderes aus, als dass der Körper im Zustand (1) ist, nämlich in einer makroskopischen Superposition. Die Behauptung
    "Der Körper ist entweder (mit Wahrscheinlichkeit 1/2) im Zustand | L  oder (mit Wahrscheinlichkeit 1/2) im Zustand | R "
    kann – wenn viele Kopien desselben Zustands zur Verfügung stehen – durch Messungen statistisch widerlegt werden: Es lassen sich Messreihen durchführen, in deren Ergebnissen "Interferenzterme" auftreten.
     
  • Nach der Wechselwirkung: Demgegenüber stellt (10) einen gemischten Zustand dar, für den sich gar keine Formulierung durch einen einzigen reinen Zustand (wie | L  oder | R  oder | L  + | R ) finden ließe. Die Form von (10) besagt, dass die Behauptung
    "Der Körper ist entweder (mit Wahrscheinlichkeit 1/2) im Zustand | L  oder (mit Wahrscheinlichkeit 1/2) im Zustand | R "
    durch Messungen, die die Umgebung ignorieren, nicht widerlegt werden kann – selbst dann nicht, wenn viele Kopien desselben Zustands zur Verfügung stehen! Mathematisch gesehen, handelt es sich nun um ein statistisches Ensemble aus reinen Zuständen. Die Wahrscheinlichkeiten, mit denen der Körper links oder rechts gefunden wird, sind von klassischen Wahrscheinlichkeiten, wie sie auch beim Würfeln auftreten, nicht zu unterscheiden.
Dieser Effekt, den die Wechselwirkung mit der Umgebung bewirkt hat, heißt Dekohärenz. Mit ihr haben wir möglicherweise den Hauptgrund dafür gefunden, warum die Welt um uns herum so "klassisch" aussieht. Bei näherer Betrachtung erscheint die Situation, die wir gerade analysiert haben, reichlich paradox: Einerseits ist es die Umgebung (und der Verzicht darauf, an ihr Messungen vorzunehmen), die die makroskopische Superposition unbeobachtbar macht. Andererseits haben wir die Wechselwirkung gerade so gewählt, dass sie den Körper nicht beeinflusst! Alle ExperimentatorInnen wünschen sich, dass die Umgebung die von ihnen betrachteten Systeme so wenig wie möglich stört – und doch gibt es da eine Wirkung, die sich prinzipiell nicht abschalten läßt: den effektiven Verlust der Superpositionseigenschaft (oder der "Kohärenz", wie es im Fachjargon heißt – daher auch der Name "Dekohärenz").

Dekohärenz also ist nicht eine Folge der Stärke der Wechselwirkung, sondern eine Folge der Tatsache, dass die Umgebung nach der Wechselwirkung Information über das andere Teilsystem trägt. Im Prinzip könnte das jemand ausnützen, um eine Messung am Photon durchzuführen, d.h. um zu fragen, in welchem Zustand ( |   oder |  ) die Umgebung ist. Ist die Antwort etwa |  , so schliesst er, dass das Photon reflektiert worden ist, und dass sich der Körper im Zustand | L  befindet. Es ist genau die Bedingung (4), die es ihm erlaubt, die beiden Zustände des Photons voneinander zu unterscheiden und diesen Schluss zu ziehen. Die pure Tatsache, dass jemand eine solche Messung machen könnte, ist dafür verantwortlich, dass das System "großer Körper" – für sich genommen – keine Superposition mehr ist. Die Dekohärenz wird daher auch manchmal "Messung durch die Umgebung" genannt.

Unser einfaches Modell verwendet natürlich eine Reihe von Vereinfachungen:
  • Die Umgebung hat in realistischen Modellen nicht nur einen Freiheitsgrad, sondern viele. Das macht es für einigermaßen große Objekte in der Praxis unmöglich, alle Freiheitsgrade des Gesamtsystems zu messen. (Dekohärenz ist also nicht deswegen wichtig, weil wir – wie in unserem Modell – so gern darauf verzichten, die Umgebung einzubeziehen, sondern vielmehr, weil in der Praxis unfähig sind, sie zu kontrollieren. Bei gewöhnlichen makroskopischen Objekten reichen etwa die Photonen der Wärmestrahlung aus, um bereits nach extrem kurzen Zeiten einen Dekohärenzeffekt zu erzielen).
  • Die Bedingung (4) mag ein bisschen künstlich erscheinen, und wenn wir eine realistische Wechselwirkung (einen Stoßprozess) zwischen Körper und Photon annehmen, wird sie (bzw. eine Verallgemeinerung auf mehr Freiheitsgrade) nicht mehr exakt gelten. Physikalisch besagt sie jedoch, dass die Umgebung nach der Wechselwirkung genügend Informationen trägt, um zu entscheiden, in welchem der makroskopisch unterscheidbaren Zuständen der Körper ist. Falls die Umgebung sehr viele Freiheitsgrade hat, wird eine Bedingung dieser Art in guter Näherung erfüllt sein.
  • Unsere Voraussetzung, dass die Wechselwirkung den großen Körper nicht beeinflusst, ist natürlich auch nur eine Näherung.
All diese Punkte müssen beachtet werden, wenn die hier dargestellte Grundidee auf realistischere Modelle angewandt und ein quantitatives Maß für die Effektivitat der Dekohärenz gesucht wird. Die in diesem Gebiet innerhalb der letzten Jahrzehnte geleistete Arbeit deutet tatsächlich darauf hin, dass es sich hierbei um den Hauptverantwortlichen für die Unterdrückung makroskopischer Superpositionen handelt. (Siehe auch: Zur Bedeutung der Zahl der Umgebungsfreiheitsgrade).



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