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Von Graphen, Genen und dem WWW


Online-Skriptum


Bedrohte Arten, das Schicksal von Genen
und der Zufall in der Evolution
 

Rettung bedrohter Arten

Wir besprechen nun einige Anwendungen des Formalismus, den wir in den beiden vorigen Abschnitten entwickelt haben. Es geht in ihnen um die Analyse der Entwicklung von Populationen unter dem Blickwinkel der Verwandtschaftsnähe und des bei der Rekombination wirkenden Zufalls.

Die am schlimmsten vom Aussterben bedrohten Tierarten sind nur mehr durch wenige Exemplare vertreten. Betrachten wir als Beispiel ein Zuchtprogramm zur Rettung einer solchen Art, in dem mit drei nichtverwandten Exemplaren (zwei weiblichen und einem männlichen) begonnen wird. Weiters nehmen wir an, dass jeder Wurf aus drei Jungen besteht (wobei durch eine Hormonbehandlung beeinflusst werden kann, ob es ein weibliches und zwei männliche Jungen gibt oder umgekehrt). Zwei Kreuzungsvarianten werden diskutiert:

Variante 1 Variante 2

Welche ist vom genetischen Standpunkt vorzuziehen?

Durch Anwendung der im vorigen Abschnitt erörterten Begriffe und Berechnungsmethoden ergibt sich:

  • Variante 1: Die jüngste Generation besteht aus drei Geschwistergruppen. Wir schreiben sie in derselben Reihenfolge wie oben an und notieren die Verwandtschafts- und Inzuchkoeffizienten:


    Zwei Individuen innerhalb einer solchen Gruppe haben zueinander einen Verwandtschaftskoeffizienten von 5/16, während Individuen aus verschiedenen Geschwistergruppen einen Verwandtschaftskoeffizienten von 3/16 haben. Der Inzuchtkoeffizient jedes Individuums dieser Generation beträgt 1/8.
  • Variante 2: Die jüngste Generation besteht aus zwei Geschwistergruppen, die einen Vater aus der Gründergeneration haben und einer, die eine Mutter aus der Gründergeneration hat. Die Verwandtschafts- und Inzuchtkoeffizienten haben folgende Werte:


    Durch triviale Vertauschung ergeben sich alle anderen F's und f 's. Die beiden ersten Gruppen sind nun von der dritten weiter entfernt als in Variante 1. Allerdings sind die Verwandtschafts- und Inzuchtkoeffizienten in der dritten Gruppe sehr hoch.

Was können wir mit diesen Zahlen nun anfangen, um die beiden Varianten zu bewerten? Im Prinzip haben wir alle dafür nötigen Hilfsmittel - wir müssen nur die richtigen Fragen stellen. Dazu definieren drei Kenngrößen, die Populationen als Ganzes charakterisieren. Ganz allgemein betrachten wir eine beliebige Population innerhalb eines Verwandtschaftsgraphen. Sie bestehe aus n Individuen. Wenn wir uns erinnern, was Verwandtschafts- und Inzuchtkoeffizienten bedeuten, ergeben sich die folgenden drei Größen fast zwangsläufig:

  1. Ein unmittelbares Maß für die Gefährung einer Population durch Inzucht ist der erwartete Anteil (die erwartete relative Häufigkeit) von Individuen, die "aufgrund der Abstammung" an einem gegebenen Genort zwei gleiche Allele tragen. Das ist genau der mittlere Inzuchtkoeffizient
    M   =      1 

           
    S
     
    x
     F(x) ,
    n
      (1)
    wobei sich die Summe über alle Individuen der betrachteten Population erstreckt.
     
  2. Als nächstes hätten wir gern ein quantitatives Maß für die genetische Variabilität, soweit sie durch die im Graphen dargestellten Verwandtschaftsverhältnisse beeinflusst wird. Dazu betrachten wir zunächst die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Allele, die aus dem Genpool der Population ("mit Zurücklegen") zufällig ausgewählt werden, "aufgrund der Abstammung" gleich sind. Das ist genau der mittlere Verwandtschaftskoeffizient
    V   =      1 

           
    S
     
    x, y
      f(x, y) ,
    n2
      (2)
    wobei alle Paare (x, y) zugelassen sind. Über die Beiträge mit x = y tragen auch die Inzuchtkoeffizienten zu dieser Größe bei. Je kleiner V ist, umso geringer sind die Gefahren, die von schädlichen rezessiven Allelen ausgehen. Der kleinstmögliche Wert für V ist 1/(2n). Ihm entspricht die Situation, dass keine zwei Allele "aufgrund der Abstammung" gleich sind. Der Maximalwert für V ist 1. Ihm entspricht die Situation, dass alle vorkommenden Allele "aufgrund der Abstammung" gleich sind.
     
  3. Eine dritte Kenngröße ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Allele, die zufällig aus verschiedenen Individuen ausgewählt werden, "aufgrund der Abstammung" gleich sind. Sie ist durch
    W   =      1 

           
    S
     
    x ¹ y
      f(x, y) 
    n (n - 1)
      (3)
    gegeben und lässt sich durch M und V in der Form
    W   =      n 


    -   1

      (1 + M ) 
     
    n - 1 2n
      (4)
    ausdrücken. Die Definition dieser Größe spielt genau die Mendelsche Vererbungslogik nach, die wir in einem früheren Abschnitt besprochen haben, und daher ist W die erwartete Gefährdung der möglichen Nachkommen der Population, wobei Zufallspaarung vorausgesetzt ist und zwischen männlichen und weiblichen Individuen nicht unterschieden wird. In diesem Sinn ist W der erwartete Wert von M für die nächste Generation.

Berechnen wir diese Größen für die (aus n = 9 Individuen bestehende) jüngste Generation unseres Zuchtprogramms in beiden Varianten, so ergibt sich folgendes Bild:

  Variante 1 Variante 2
 M  1/8 = 0.125  1/12 » 0.083 
 V   37/144 » 0.257  2/9 » 0.222 
 W  7/32 » 0.219   35/192 » 0.182 

Variante 2 schneidet hinsichtlich aller drei Kriterien besser ab, ist also ganz eindeutig vom genetischen Standpunkt vorzuziehen. (Übungsaufgaben: Rechnen Sie diese Zahlen nach! Finden Sie eine noch bessere Variante?)

Beispiele dieser Art sind nicht aus der Luft gegriffen. So wurde etwa vor kurzem in China ein Zuchtprogramm für Tiger mit acht Gründerexemplaren begonnen. Bei der Planung spielen Berechnungen wir die obige eine wichtige Rolle. Zusätzlich werden genetische Tests durchgeführt, die gefährliche Genkombinationen mit größerer Sicherheit aufspüren als die bloße auf den Mendelschen Gesetzen beruhende Wahrscheinlichkeitsrechnung. Derartige Maßnahmen eines sinnvollen "Zuchtmanagements" sollen helfen, zumindest einigen bedrohten Arten wieder auf die Beine zu helfen.
 

Populationsmodell und genetische Drift

Gehen wir nun dazu über, Populationen über viele Generationen hinweg zu verfolgen. Verwandtschaftsgraphen sind in gewisser Hinsicht die "Bühne", auf der sich die Evolution abspielt - in ihnen bewegen sich die Allele, finden Mutationen statt, bekommen Neuerungen ihre Chance. Zwar ist diese Bühne nicht vorgegeben - sie wird erst durch das Zusammenwirken aller beteiligten Faktoren geschaffen - aber für einen einzelnen, kleinen Akteur wie ein Allel erscheint sie aber zunächst als vorgegebene Struktur, in der er sein Glück versuchen muss.

Gerne wüsste wir, die der große Verwandtschaftsgraph der Menschheit oder einer anderen Art aussieht - das würde es uns erleichtern, Fragen der Entwicklung des Lebens und unserer eigenen Geschichte zu beantworten. Allein, wir wissen es nicht, und daher sind wir auf Näherungen und vereinfachte Modelle angewiesen (ähnlich wie die Physik darauf verzichtet, die Bewegung aller Atome des brodelnden Wasserkessels zu beschreiben und sich mit vereinfachten Annahmen und der Betrachtung von Mittelwerten bescheidet).

Das Hauptthema der Verwandtschaftsgraphen ist der Zufall: jener Zufall, der bei der Durchmischung der Gene, der großen Errungenschaft der sexuellen Fortpflanzung, wirkt. Im Kleinen ist er mathematisch hervorragend zu beschreiben - wie wirkt er sich im Großen aus? Um dieser Frage nachzugehen, betrachten wir ein Modell, in dem eine Generation auf die andere folgt. Dabei nehmen wir vereinfachend an,

  • dass es in jeder Generation gleich viele männliche wie weibliche Individuen gibt,
  • dass die Populationszahl in jedem Schritt um den Faktor r wächst, und
  • dass Paarungen zufällig erfolgen.

Die einzigen frei wählbaren Parameter des Modells sind die (auf eine Generation bezogene) Wachstumsrate r und die Zahl g der Gründer, die die nullte Generation des Graphen bilden.

Hier ist die Frage angebracht, ob diese Voraussetzungen auf menschliche Populationen anwendbar sind. Lassen sich die Werte der Parameter r und g angeben? Die Unsicherheiten sind hier sehr groß.

  • Bereits der Begriff der "Population" ist ziemlich unscharf. Genau genommen gibt es innerhalb jeder Bevölkerung Gruppen (und innerhalb dieser Gruppen Untergruppen - man denke an Kontinente, Länder, Regionen, Städte und Dörfer), innerhalb derer bevorzugt geheiratet wird, aber auch einen Austausch zwischen diesen Gruppen, der mit der Entfernung und anderen Faktoren abnimmt. Migrationsbewegungen bauen zusätzliche Strukturen auf.
  • Wird angenommen, dass einer Generation 20 Jahre entsprechen und r während der letzten 50 000 Jahre ungefähr zwischen 1.001 und 1.007 lag (mit steigender Tendenz), so lassen sich die von Anthropologen und Paläoanthropologen grob abgeschätzten Werte für die Größe der menschlichen Gesamtbevölkerung der Erde (von einigen Millionen vor 50 000 Jahren bis zu einer halben Milliarde im Jahr 1600 n. Chr.) reproduzieren. Allerdings dürfte es erhebliche Unterschiede zwischen verschiedenen Populationen gegeben haben (beispielsweise ist anzunehmen, dass der Besiedlung Amerikas vor 12 000 Jahren ein sehr rasches Wachstum folgte - es wurden Wachstumsraten bis zu 1.2 diskutiert). Gegen Ende dieser Periode haben die Erfindung der Landwirtschaft und der Metallbearbeitung das Wachstum zusätzlich beschleunigt, und ab dem siebzehnten Jahrhundert stieg r aufgrund der Entwicklung und Expansion der industriellen Produktionsweise bis zu Werten von 1.47 an.
  • Die typische Anzahl g der Gründer einer Population ist noch schwieriger abzuschätzen. So wurde vermutet, dass die Besiedlung von Nord- und Südamerika von einer Gruppe von wenigen hundert Menschen ihren Anfang nahm! Auch für die Größe der Menschheit vor etwa 150 000 Jahren (vor der Zeit der ersten Auswanderungen aus Afrika) wurden eher kleine Zahlen (zwischen 1000 und 2000) diskutiert. Wir werden im nächsten Abschnitt ein Argument dafür finden.

Wir dürfen daher eines nicht aus den Augen verlieren: Der Sinn eines auf den Voraussetzungen gleichbleibender Wachstumsrate und Zufallspaarung basierenden populationsgenetischen Modells besteht darin, prinzipielle Mechanismen zu erkennen. Dass deren Wirkung in der Realität oft durch zusätzliche Einflüsse abgeschwächt wird, muss - wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen auch - in Kauf genommen werden.

Jeder Verwandtschaftsgraph ist "nach oben abgeschnitten" ist, d.h. die Vorfahren der Gründer sind in ihm nicht enthalten. Das führt zu einer Unterschätzung der Nähe der Verwandtschaft. Jene Aspekte der Verwandtschaft, die weiter zurückliegen (die beispielsweise die Identität einer Art stiften), werden dabei nicht berücksichtigt.

Die dynamischen Variablen des Modells sind die Populationsgröße n und die bereits oben definierten Mittelwerte (1) und (2) der Verwandtschaftskoeffizienten. Sind ihre Werte in einer Generation bekannt, so haben wir mit der obigen Formel (4) einen guten Näherungsausdruck für den Wert von M in der nächsten Generation. Es ist nicht schwer, nachzurechnen, dass der Wert von V in der nächsten Generation V + (1 - M)/(4rn) beträgt (Übungsaufgabe). Führen wir nun die Bezeichnungen nj, Vj und Mj für die Werte dieser Größen in der j-ten Generation ein, so erhalten wir das iterative System

nj    =         r nj-1                           
  (5)
Vj    =         Vj-1  +    1

  (- Mj-1 )                
4 r nj-1
  (6)
Mj    =      nj-1 

 
 Vj-1 -    1

  (1 + Mj-1 ) 
 
nj-1 - 1 2 nj-1
  (7)

mit den Anfangsbedingungen n0 = g, V0 = 1/(2g), M0 = 0, wobei wir g ³ 2 setzen. So andersartig diese Gleichungen jetzt auch aussehen mögen als die Berechnungen der letzen beiden Abschnitte - sie sind nichts anderes als die auf den Mendelschen Gesetzen beruhende Entwicklung unserer Kenngrößen in einem großen, aber im Durchschnitt relativ einheitlich aufgebauten Verwandtschaftsgraphen. Um die Gültigkeitsgrenzen des Modells abzustecken, bemerken wir:

  • Das Modell beruht auf der Annahme, dass keines der im Spiel befindlichen Allele seinen Trägern einen Vor- oder Nachteil bietet. Den Gleichungen (5) - (7) liegt lediglich der Zufall der Rekombination zugrunde. Das Modell ist daher nur auf (weitgehend) selektionsneutrale Allele anwendbar.
  • Zwar ist die Möglichkeit, dass neue Allele durch Mutation entstehen, nicht eigens vorgesehen, aber sie kann berücksichtigt werden, indem "seltene Allele", die durch einen Gründer eingebracht werden (und die uns bei der Definition der Verwandtschaftsgrößen bereits gute Dienste geleisten haben), als neue Mutanten behandelt werden. Was nicht in diesem Modell vorgesehen ist, ist der Verlust an Kopien eines Allels durch Mutation an beliebigen Stellen im Graphen. Ist die Zahl der betrachteten Generationen sehr groß, so wird das Modell daher die Verwandtschaftsgrößen (z.B. die Wahrscheinlichkeit, zwei Kopien desselben Allels zu tragen) überschätzen.

Werden die Gleichungen (5) - (7) ein bisschen unter die Lupe genommen, so ergeben sich zwei Fälle:

  • Ist r = 1, so stagniert die Populationsszahl, und Vj und Mj konvergieren streng monoton wachsend gegen 1. Daher werden alle Allele früher oder später unweigerlich durch ein einziges ersetzt - man sagt, dass es fixiert worden ist. Dieses Resultat ist bemerkenswert, da laut Voraussetzung keines der Allele einen Selektionsvorteil hat. Sie sind alle "gleichberechtigt", und dennoch setzt sich eines durch reine Zufallswirkung durch. Die Zeit, die dieser Prozess benötigt, ist proportional zur Größe g der Population. Nach ungefähr 10g Generationen sind Vj und Mj auf weit über 0.9 angestiegen. Eine solche Populationsentwicklung ist (mit dem extrem kleinen Wert g = 2) bei den Termiten realisiert - wir werden weiter unten auf sie zu sprechen kommen.
  • Ist r > 1, d.h. exponentiell wachsende Populationszahl (nj = g r j), so konvergieren Vj und Mj streng monoton wachsend gegen ein und dieselbe Zahl < 1. Insbesondere in kleinen Populationen kann sich daher die Allelverteilung innerhalb relativ kurzer Zeit durch reine Zufallswirkung stark ändern.

In beiden Fällen ergibt sich, dass der Zufall der Rekombination eine erhebliche Rolle spielt - insbesondere, wenn die Population klein ist. Diese Art des Zufalls heißt genetische Drift. Auf ihm basiert die Erwartung, dass sich Allelverteilungen (z.B. die Häufigkeit der Blutgruppen) in getrennten Populationen in zufälliger Weise auseinander entwickeln werden. Wir haben diese Erwartung bei der Rekonstruktion der frühen menschlichen Wanderungen in einem früheren Abschnitt bereits verwendet. Wichtig ist, dass es sich hierbei nicht um eine Wirkung der natürlichen Selektion handelt! In diesem Sinn kann das System (5) - (7) als Modell der genetischen Drift betrachtet werden.

Die durch das Modell beschriebene Zeitentwicklung lässt sich recht gut am Computer verfolgen. So ergibt sich beispielsweise für g = 1000 und r = 1.003 (eher langsames Wachstum) folgender Plot für Vj und Mj (die beiden Funktionen sind mit freiem Auge nicht zu unterscheiden) während der ersten 3000 Generationen:

Beide Größen streben einem Wert knapp über 0.08 zu. Nach 3000 Generationen ist die Population auf stattliche acht Millionen angewachsen. Sind (hypothetischerweise) alle 2000 Allele in der Gründerpopulation befindlichen Allele voneinander verschieden, sind nun etwa 8% aller Individuen homozygot. Die Wahrscheinlichkeit, zwei identische Allele zufällig aus dem Genpool zu ziehen, ist ebenso groß. Wieviele Alleltypen werden untergegangen sein? Machen wir eine Überschlagsrechnung: wenn noch die Kopien von k verschiedenen Allelen mit gleicher Häufigkeit vorhanden sind, entspricht das einer Urne mit 16 Millionen Kugeln, die je eine von k Farben haben. Die Wahrscheinlichkeit, zwei gleichfarbige Kugeln (mit Zurücklegen) herauszuziehen, ist 1/k. Setzen wir das gleich 0.08, so ergibt sich k = 12.5. Von den ursprünglich 2000 Alleltypen der Gründer sind also nur mehr wenige mit nennenswerter Verbreitung vorhanden - die anderen sind entweder ausgestorben oder mit sehr viel kleineren Häufigkeiten vertreten! (Allgemein ist die Größenordnung der in der j-ten Generation noch einigermaßen häufig vertretenen Alleltypen durch Vj-1 gegeben).

Allerdings wird sich bei einer derart großen Zahl von Generationen die Wirkung von allmählich angehäuften Mutationen zeigen: nicht alle in diesem Modell als identisch verbuchten Allele werden identisch sein. Weiters ist das Modell insofern unrealistisch, als sich kaum je eine Population über derart viele Generationen ohne Aufspaltungen entwickelt.

Vertiefende Bemerkungen: Unser Modell macht keine direkten Aussagen über die relativen Häufigkeiten der einzelnen Allele. Dass Vj und Mj streng monoton wachsen, bedeutet, dass die Individuen (aufgrund des zugrundeliegenden Graphen) immer verwandter werden. Es bedeutet nicht, dass sich Allelhäufigkeiten monoton verhalten. Dennoch können wir ein paar allgemeine Aussagen machen: Allelhäufigkeiten erleben in der Regel Höhen und Tiefen. Im Fall r = 1 wird schließlich ein einzigen Allel gewinnen, bis dahin aber vielleicht einige Male am Rand des Aussterbens gestanden sein. Um diesem Aspekt nachzugehen, ist es sinnvoll, ein "seltenes Allel" zu betrachten (d.h. unter allen Allelen eines zu markieren, das in der Gründergeneration genau einmal vertreten ist). Seine relative Häufigkeit in der j-ten Generation sei mit pj bezeichnet. Der Erwartungswert von pj ist in jeder Generation 1/(2g). Das folgt zwar trivial aus Punkt 1 des Satzes im vorigen Abschnitt, ist aber zunächst nicht leicht zu verstehen, zumal sich dieser Wert von Generation zu Generation nicht ändert. Das Schwankungsquadrat (die Varianz) von pj lässt sich unschwer als (2gV - 1)/(2g)2 berechnen, ist also nicht null! Die erwartete Änderung der relativen Häufigkeit des seltenen Allels von der (j-1)-ten zur j-ten Generation, d.h. der Differenz pj - pj-1, ist null, aber das Schwankungsquadrat dieser Größe stellt sich als (1 - Mj-1)(8grnj-1)-1 heraus. Es ist nicht schwer, diese Beziehungen mit Hilfe der bisher besprochenen Begriffe und Methoden zu nachzurechnen. Daraus ergibt sich ein ganz grobes Bild, wie man sich das Schicksal eines Allels vorstellen kann: Die Häufigkeit eines in der Gründergeneration in einer einzigen Kopie vorliegenden ("seltenen") Allels verhält sich wie ein Zufallsweg (random walk) pj = pj-1 ± (1 - Mj-1)1/2 (8grnj-1)-1/2 (wobei bei jedem Schritt gewürfelt wird, ob + oder - gilt) mit Anfangswert p0 = 1/(2g). Je größer die Population ist (und je näher Mj-1 bei 1 ist), umso kleiner fallen die Schritte aus. Die relative Häufigkeit aller anderen Allele gemeinsam ist durch 1 - pj gegeben, sobald pj feststeht. Ist pj eines Tages (d.h. für ein j) gleich 0, so ist das Allel ausgestorben. Ist pj eines Tages gleich 1, so ist das Allel als einzig überlebendes fixiert. In einer großen Population sterben die meisten dieser seltenen Allele aus. Mit den obigen Werten g = 1000 und r = 1.003 und ergibt sich als Beispiel für ein seltenes Allel, das bis zur 111. Generation überlebt, folgender Plot, in dem pj gegen j aufgetragen ist:
 


Das Allel hat, wie alle seltenen Allele, mit einer Häufigkeit von 1/2000 = 0.0005 begonnen, dann für viele Generationen Glück gehabt, ist aber schließlich der Übermacht seiner 1999 Konkurrenten erlegen (von denen die meisten ebenfalls untergegangen sind). Für
j > 111 haben die dargestellten Werte keine Bedeutung mehr. Lässt man diesen Prozess oft laufen, so ergibt sich nur ganz selten eine Variante, die 3000 Generationen überlebt. Hier ein Beispiel:
 


Wir sehen, dass der Glückspilz zur Stabilisierung seiner Position neigt, wenn die Population groß geworden ist. Um jene (noch seltener auftretenen) Fälle zu studieren, in denen ein Allele eine größere Häufigkeit erlangt, ist dieser Zufallsprozess, der ja nur heuristisch aus dem Schwankungsquadrat von pj - pj-1 modelliert wurde, ungeeignet. Dafür bieten sich ausgefeiltere Methoden an, die die Zufallswege eines Allels in einem Graphen direkt verfolgen. Mit Hilfe dieser Methoden ist es dann auch möglich, aus der beobachteten Häufigkeit eines Allels auf sein wahrscheinliches Alter (d.h. den Zeitpunkt, zu dem es durch eine Mutation entstanden ist) zu schließen.

Zuletzt merken wir noch an, dass der Gleichgewichtszustand, gegen den unser Modell strebt, dann erreicht ist, wenn Vj und Mj ungefähr gleich groß geworden sind. Wie eine kleine Rechnung zeigt, entspricht die Bedingung Vj = Mj gerade der (im Mittel erwarteten) Gültigkeit des Hardy-Weinberg-Gesetzes, das wir im Abschnitt über Vererbung besprochen haben. In diesem Sinn können wir sagen, dass unser Modell die Annäherung einer Population an das Hardy-Weinberg-Gleichgewicht beschreibt. (Unter den Gründern und in der ersten darauffolgenden Generation ist das Gesetz nicht erfüllt, da es noch keine Homozygoten mit seltenen Allelen gibt. Dieser Effekt entshet dadurch, dass die Gründer eines Verwandtschaftsgraphen als nicht miteinander verwandt gelten).

Diese Resultate zeigen eindrucksvoll, wie stark der in der Rekombination wirkende Zufall (die genetische Drift) die Evolution beeinflusst. Entsteht durch Mutation ein neues Allel, so hat es zunächst gegen diesen Zufall zu kämpfen. Selbst wenn es seinen Trägern Vorteile verschafft (die in der Regel nur zu einer bescheidenen Steigerung der durchschnittlichen Nachkommenszahl führen), kann es aussterben. Erst wenn es diesen Kampf überstanden hat und in zahlreichen Kopien vorliegt, bestimmt die natürliche Selektion sein weiteres Schicksal. Das oft missverstandene und missbrauchte Schlagwort vom "Überleben der Tüchtigsten" (survival of the fittest) ist also bei Weitem nicht der einzige Mechanismus der Evolution!

Um die Wirkungen der Selektion genauer zu studieren, ist eine andere Art von Modellen günstiger, in denen der Verwandtschaftsgraph nicht als vorgegeben gedacht wird, sondern erst durch die Vor- und Nachteile, die ein Allel seinen Trägern verschafft, erzeugt wird.
 

Termiten und Nacktmulle

Im vorvorigen Abschnitt haben wir uns die Hautflügler (Bienen, Wespen und Ameisen) angesehen und in ihren Fortpflanzungsmodalitäten einen möglichen evolutionären Grund für die extreme Kooperation dieser Tiere gefunden. Eine andere Ordnung staatenbildender Insekten sind Termiten (Isoptera), und auch von ihnen können wir etwas über die Mechanismen der Evolution lernen.

Im Gegensatz zu Hautflüglern sind Termiten insofern "gewöhnliche" Tiere, als Weibchen und Männchen diploid sind, d.h. zwei Chromosomensätze tragen. In ihnen hat die Evolution eine andere Methode entwickelt, extreme verwandtschaftliche Nähe herzustellen: Termiten leben von der Inzucht. Eine Kolonie geht aus der Paarung eines einzigen Königspaars hervor. Stirbt ein Partner, so wird er oder sie durch eines der Kinder ersetzt, so dass über viele Generationen hinweg alle Bewohner eines Termitenhügels einer Schwester-Bruder-Inzuchtkette entspringen. Nehmen wir der Einfachheit halber an, dass das jeweilige Erzeugerpaar immer gemeinsam abdankt, so ergibt sich folgender Verwandtschaftsgraph (linkes Bild)

  

wobei wir uns eine Fortsetzung über viele Generationen vorzustellen haben. (Ähnlich krasse Inzucht wird manchmal im Labor an Mäusepopulationen angewandt). Analysieren wir die Verwandtschaftsverhältnisse: Im rechten Bild sind alle sterilen Individuen weggelassen, und die verbleibenden sind mit den Inzucht- und Verwandtschaftskoeffizienten der (j -1)-ten und der j-ten Generation beschriftet. Mit den im vorigen Abschnitt besprochenen Berechnungsmethoden ergibt sich das iterative Gleichungssystem

Fj  =  fj-1
fj  =  (1/4) × ( 1 + Fj-1 + 2 fj-1 ) 
  (8)

mit den Anfangswerten F0 = 0 und f0 = 0. Es ist ein Spezialfall unseres obigen Populationsmodells (5) - (7) mit r = 1 und g = 2, wobei sich die Variablen gemäß Mj = Fj und Vj = fj/2 + (1 + Fj)/4 umrechnen. Das System (8) kann durch einen geschossenen Ausruck in j gelöst werden, aber uns interessiert hier nur das Verhalten für große j: Die Folgen Fj und fj konvergieren beide gegen 1. (Um ein Gefühl dafür zu bekommen, wie schnell das geht, berechnen und plotten Sie die obigen Kenngrößen für die ersten 30 Generationen!) Für große j bedeutet das, dass alle Individuen mit hoher Wahrscheinlichkeit genetisch identisch und homozygot sind, d.h. zwei gleiche Allele tragen. Sind in der Gründergeneration vier verschiedene Allele vorhanden, so werden drei von ihnen aussterben - welche, das bestimmt der Zufall (die genetische Drift). Jedes Allel, das in der Gründergeneration mit einer Kopie vertreten war, übernimmt mit Wahrscheinlichkeit 1/4 das Ruder. (Das passt bestens mit Punkt 1 des Satzes im vorigen Abschnitt zusammen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein aus einem Individuum zufällig herausgegriffenes Allel gleich einem seltenen Allel ist - was gleich der erwarteten Anzahl der Kopien dieses Allels pro Induviduum ist -, beträgt 1/(2g), also 1/4). Auf diese Weise reduziert Inzucht die genetische Variabilität. Entstehen von Zeit zu Zeit durch Mutationen neue Allele, so hat jeder dieser Mutanten eine reelle Chance, sich in der gesamten Population zu fixieren, sieht sich aber alsbald vom nächsten Neuling herausgefordert. Wir kommen also zu dem Schluss, dass alle Bewohner einer Termitenkolonie mit hoher Wahrscheinlichkeit genetisch identisch sind. Inzucht besitzt hier weniger Nachteile als bei den anderen Tieren, da die Allele, die sich im homozygoten Erbgang schädlich auswirken, von der natürlichen Selektion bereits entfernt wurden (und ständig werden).

Dabei ist es übrigens gar nicht entscheidend, dass eine ständige Kette von Schwester-Bruder-Inzucht stattfindet, sondern dass die Zeugung von Nachkommen in jeder Generation nur einem kleinen, beschränkten Kreis von Individuen vorbehalten ist. Vom mathematischen Standpunkt ist es eine unausweichliche Konsequenz des Modells (5) - (7) mit r = 1, wie wir bereits oben festgestellt haben. (Alle Individuen, die sich nicht fortpflanzen, können dabei getrost weggelassen werden). So führt beispielsweise eine Regelung wie diese

zum gleichen Resultat, nur dauert es etwas länger (Übungsaufgabe!).

Dieses Resultat legt es nahe, das soziale Verhalten der Termiten als speziellen Fall von Verwandtschaftsaltruismus zu verstehen: Ein Allel, das es seinen Trägern nahelegt, die Kolonie zu verlassen und Nachkommen mit einem nichtverwandten Partner zu zeigen, hat weniger Chance auf Ausbreitung im Genpool als ein Kooperations-Allel. Effektiv geschieht hier also etwas ganz Ähnliches wie bei den Hautflüglern, nur mit anderen Mitteln: die Geschwister sind untereinander näher verwandt als mit ihren (hypothetischen) Nachkommen mit einem Partner aus einer anderen Kolonie. Dieser Ansatz erklärt auch, warum die Kasten steriler Arbeiter bei Termiten aus Individuen beiderlei Geschlechts gebildet werden (während sie bei den Hautflüglern, wie wir gesehen haben, nur aus Weibchen bestehen).

Nach vielen Generationen der Inzucht geschieht dann endlich der genetische Austausch zwischen Nachkommen verschiedener Kolonien (ohne den jede Kolonie über kurz oder lang zu einer eigenen Art würde) - dann wird ausgeschwärmt und "fremdgepaart", und in jeder neugegründeten Kolonie beginnt wieder eine lange Inzuchtkette.

In den siebziger Jahren wurde zur allgemeinen Überraschung entdeckt, dass ein ganz ähnlicher Mechanismus auch von einer Säugetierart verwirklich wurde: von den Nacktmullen, kleinen unbehaarten Nagetieren, die in großen unterirdischen Kolonien in Afrika leben.

Ressourcen:

Geparden

Alle heute lebenden Geparden sind so nahe miteinander verwandt wie Labormäuse nach langer Inzucht. Insgesamt besitzt die Population eine extrem niedrige genetische Variabliltät. Geparde, die tausende von Kilometern entfernt voneinander geboren wurden, zeigten kaum Abstoßungsreaktionen nach Hautverpflanzungen (was sonst nur bei eineiigen Zwillingen der Fall ist). Das ist äußerst ungewöhnlich. Als möglicher Grund wird vermutet, dass die Population der Geparden einmal durch einen Flaschenhals (bottleneck) gegangen ist, d.h. knapp vor dem Aussterben stand. Aufgrund genauerer genetischer Untersuchungen wird geschätzt, dass das vor etwa 10 000 Jahren passiert ist. Das würde bedeuten, dass alle heutigen Geparden nur von wenigen Induviduen, die vor nicht allzu langer Zeit gelebt haben, abstammen.

Unser oben entwickeltes Populationsmodell (5) - (7) berücksichtigt zwar viele Faktoren nicht, aber probieren wir dennoch aus, ob es eine vernünftige Größenordnung für die Zahl der Gepardenvorfahren voraussagt. Falls die Flaschenhalsvermutung stimmt und wir eine Gepardengeneration mit 10 Jahren ansetzen, müssen wir das Modell über 1000 Generationen verfolgen. Heute leben zwar nur mehr an die 12 000 Exemplare, aber das ist vor allem der Verfolgung und Tötung dieser Tiere während der letzten 100 Jahre zu danken. Davor soll es 100 000 Geparden gegeben haben, und wir nehmen diese Zahl als n1000 an, woraus (unter den vereinfachten Annahmen des Modells) eine Wachstumsrate von r = (105/g)1/1000 folgt.

Können wir die Nähe der Verwandtschaft heutiger Geparden quantifizieren? Erinnern wir uns: Der Inzuchtkoeffizient ist die Wahrscheinlichkeit, an einem Genort aufgrund der Abstammung homozygot zu sein. Die genetischen Daten können dahingehend interpretiert werden, dass diese Größe ungefähr den Wert 0.97 hat (wobei dazugesagt sei, dass diese Interpretation nicht unumstritten ist). Wir setzen daher M1000 = 0.97. (Das entspricht dem Inzuchtkoeffizienten von Labormäusen nach zwanzig Generationen exzessiver Inzucht).

Damit ist nur mehr g unbestimmt. Ein bisschen trial and error mit dem System (5) - (7) zeigt, dass der Wert g = 8 (aus dem sich eine Wachstumsrate von 1.0095 ergibt) diese Daten reproduziert. Hat es also in der kritischen Zeit acht Geparden gegeben? Das zu behaupten wäre verwegen, aber nach unserem Modell waren es wenige, und das ist ein schönes Resultat.


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