Documentation Philosophy On Stage #4

verwickeltes denken // Lecture-Text

Lecture by Jens Badura [CV]

Angang. Variationen zum bewegten Denken.
„Wenn man mich fragt, womit ich die meiste Zeit meines bisherigen wachen Lebens verbracht habe, so kann ich ohne Zögern sagen: mit Gehen, Mit Gehen, – vielleicht auch mit Denken. Denn das kommt mir fast gleichbedeutend vor. Beides ist eine Tätigkeit, die kleine Teilstrecken eines unendlichen Weges durchmisst. Der Gedanke, gleich einem Strahl, ist das Produkt einer Bewegung, aus stofflicher und geistiger Vibration geboren, und er ist gleichzeitig eine bewegende Kraft. Daraus ergibt sich eine Wechselwirkung zwischen Denken und Gehen. Man kann im Liegen träumen und grübeln, im Sitzen oder Stehen kann man vorhandenen Stoff ausformen oder nachgestalten, – angeblich auch vorhandenen Denkstoff, wie man so leichtfertig sagt und wie es Gott sei Dank niemals geschieht, „zu Ende denken“. Der Denkbeginn jedoch, das freie, unabhängige Vor-sich-hin-Denken, das wache Aufspüren unerwarteter Denkgefährten, geht wohl am besten, wenn auch der Körper denkt. (Carl Zuckmayer)

Es soll ums Gehen gehen, wanderndes Gehen darum, genauer, wie das Gehen als Wandern Weltverwicklung ist, eine Praxis, die auch das Philosophieren als ein tätiges Denken fortgetragen und geprägt hat. Verwickelt in Gedankengängen, verworren im Wahrheitswert, in Begegnungen mit Weggefährten begleitet, gewendet, gewandelt.

„Der Wanderer. — Wer nur einigermaßen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, — wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses gibt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; deshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Tor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Tor reicht, dass die Raubtiere bald ferner bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm seine Zugtiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie eine Gottheit des Zornes, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz, Trug, Unsicherheit, als vor den Toren — und der Tag ist fast schlimmer, als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaß der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne: — sie suchen die Philosophie des Vormittages.“ (Friedrich Nietzsche)

Wandern, das Gehen, der Aufbruch aus dem regelbewehrten Gedankengebäude, der Denk-Gang. Wandern: „grössere Strecken zu Fuss zurücklegen“, „in Bewegung sein, gehen, ziehen, reisen, leben“; aus der alten Bedeutung „wiederholt wenden, hin und her wenden“ entwickelt sich „von einem Ort zum andern ziehen“, seit dem 18. Jh. „grössere Strecken in der Natur zu Fuss zurücklegen“, semantisch dem „Wandeln“ nahe.
Wandern – Wandeln – hin und her drehen, nicht festgestellt sein in der Welt. In Bewegung sein, den Weg machen, auf dem Weg sein. BE-WEGen, die Welt be-wegen, mit Wegen versehen.

„Überhaupt geht der Begriff der Bewegung so mannigfach aus dem Sinnlichen oder Sichtbaren ins Gedachte, Unsinnliche, nur Empfundene über, dass es unmöglich ist, die Fälle zu erschöpfen.“ (Jacob und Wilhelm)
Also – wendig sein, im Fortgang, im Denken, im Vollzug der Gegenwärtigkeit im Um-gang mit dem Sehen, dem Meinen, der Fürwahrhaltung dessen, was im Moment sich zeigt, ausgehend davon, dass sich etwas, nie aber alles zeigt, uns gleichwohl die Zeit in ein unstetes Wollen des Weiter-Denkens treibt. Die Wandelhalle, Peripatos, als Raum und Modus des Denkens, Gedankengang-Raum, Quellzone der philosophischen Tradition, des bewegten Dialogs mit der Welt, Forum des Meinens, Deines, meines, seines Meinens, erhofft ein Sehen, ein Wis-Sehen. Ordnungen erschaffen, aus dem Meinen, neue An-Läufe, um die Grammatik der Welt zu dechiffrieren.
„Man ist im Besitz seiner Meinungen wie man Besitzer von Fische ist, – insofern man nämlich Besitzer eines Fichteichs ist. Man muss fischen gehen und Glück haben,– denn hat man seine Fische, seine Meinungen. Ich rede hier von lebendigen Meinungen, von lebendigen Fischen. Andere sind zufrieden, wenn sie ein Fossilien-Cabinet besitzen – und, in ihrem Kopfe, „Überzeugungen“.“ (Friedrich Nietzsche)

Wer lebendige Meinungen haben möchte, keine toten Fische, keine fossilierte Ordnung der Gedanken, ein Gedanken-Gedenken statt eines Denken der Gedankengänge, wer nicht zu sehr über-ZEUGT, vom Denkzügelnden Zaum-Zeug verdingt sein will, der muss gehen, fischen gehen, im Leben fischen, sinnliche Netze auswerfen und erwarten, was sich in ihnen verwickelt, worin sie sich verwickeln.

„Wollt Ihr hoch hinaus, so braucht die eigenen Beine! Lasst Euch nicht empor tragen setzt euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe.“ (Friedrich Nietzsche)

Wandern also Form des Gehens, ein Voranschreiten in Offenheiten, fortwährender An-Lauf. Gehen – eine „vom menschlichen Organismus verursachte Ortsveränderung des ganzen Körpers“. Aus eigener Kraft auf den Weg, weg, aufbrechen, verlassen. Etwas Lassen. Lokomotion, Rhythmus der Bewegung, sich in den Puls des Werdens einschreiten.

„Im Wandern liegt etwas meine Gedanken Anfeuerndes und Belebendes, und ich kann kaum denken, wenn ich mich nicht vom Platze rühre; mein Körper muss in Bewegung sein, wenn es mein Geist sein soll.“ (Jean-Jacques Rousseau)
Gehen, gehen, ire – ein nach form und gehalt überaus reich entwickeltes wort, dessen erschöpfende behandlung ein werk für sich wäre“ (Jacob und Wilhelm Grimm)

Also auf den Weg, weg, gehen und gähnen, in eine Leere und damit eine Fülle der Offenheit, direkt angegangen von der Welt, ausgesetzt in ihr.

„So wenig wie möglich sitzen; keinem Gedanken Glauben schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung, – in dem nicht auch Muskeln ein Fest feiern. Alle Vorurtheile kommen aus den Eingeweiden.– Das Sitzfleisch … ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.“ (Friedrich Nietzsche)

„Die Muskeln ein Fest feiern lassen“ um zu denken. Gehend in der Welt sein. Die Welt atmen. Lebendig sein, fortlaufend. Durch den Raum in der Zeit sein, durch die Zeit im Raum. „Faire la planche“, treibend, und doch in Tuchfühlung mit den Dingen. Das Werden in den Füssen spüren. Sich nicht in Wegleitungsdispositiven angezeigter Pfade vergehen. Nicht in bibliomorphen Denkkomplexen ver-dingen.
Leben heisst Denken, Denken heisst leben, sich im Denken gehen und um-gehen lassen heisst – sich leben lassen.
Daher „(…) gehören[wir] nicht zu denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoß von Büchern zu Gedanken kommen – unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden (Friedrich Nietzsche)
Durch die Welt um In-der-Welt zu sein. In Berührung mit den Widerständigkeiten, die sich in sie eingeschrieben, sedimentiert, gefaltet haben. Mal verwundert, verstört, mal zerstreut, tätig weltoffen, unvermittelt – mal intuitiv, mal im Vehikel der Rationalitäten.

„Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Überfeine und unfeine Leute mögen ihre Glossen darüber machen nach Belieben; es ist mir ziemlich gleichgültig. Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. Man kann fast überall bloß deswegen nicht recht auf die Beine kommen und auf den Beinen bleiben, weil man zuviel fährt. Wer zuviel in dem Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen. Das Gefühl dieser Wahrheit scheint unaustilgbar zu sein. Wenn die Maschine steckenbleibt, sagt man doch noch immer, als ob man recht sehr tätig dabei wäre: »Es will nicht gehen.« (…) Wo alles zuviel fährt, geht alles sehr schlecht, man sehe sich nur um! Sowie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen, wie man soll, man tut notwendig zuviel oder zuwenig. Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft. Schon deswegen wünschte ich nur selten zu fahren, und weil ich aus dem Wagen[638] keinem Armen so bequem und freundlich einen Groschen geben kann. Wenn ich nicht mehr zuweilen einem Armen einen Groschen geben kann, so lasse mich das Schicksal nicht länger mehr leben!“ (Gottfried Seume)

Wer nicht geht, dem entgeht etwas. Wie ergeht es mir oder was erfahre ich?

„Von einem Zugabteil aus gesehen, das Land.
Ein Püree aus Grün. Eine Suppe aus Grün.
Mit all diesen so gründlich überflüssigen Details (Bäumen usw.),
die obenauf treiben, genau wie Klümpchen in der Suppe.
All das macht Lust sich zu erbrechen.“ 
(Michel Houllebec)

Das viatorische Weltverhältnis – eines der Selbststätigkeit, der Selbstgängigkeit, der lokomotorischen Selbstbestimmung im Vernehmen mit jeweiligen Umgebungen, Land-Schaften, Um-Welten, konstellar bedacht und liminal im Verharren, bekömmlich sich verlieren im Nicht-mehr-hier und Noch-nicht-dort. Abkunft und Zukunft im Nebel, dadurch der Moment klar, unerahnt. In der Welt gehen, nicht auf dem Globus stehen.

„Im Fahren, auch wenn ich selber lenkte., kam ich nie so recht mit. Im Fahren war das, was mich erst ausmacht, nie dabei. Im Fahren werden ich beschränkt auf eine Rolle, die mir widerspricht: im Auto die einer Hinterglasfigur, auf dem Rad die eines Lenkstangenhalters und Pedaltreters. Gehen. Die Erde treten. Freihändig bleiben. Ganz aus eigenem schaukeln“. (Peter Handke)

Denken und Gehen, gehen und denken. Was geht mir durch den Kopf, wenn ich durch die Welt gehe? Wie geht die Welt mich an?

„Wollt Ihr hoch hinaus, so braucht die eigenen Beine! Lasst euch nicht emportragen, setzt euch nicht auf fremde Rücken und Köpfe.“ (Friedrich Nietzsche)

Die Beziehung von Denken und Gehen intensiv sein lassen, inklusiv zueinander, exklusiv in ihrem Gewirke. Denken hat eine ambulatorische Neigung. Gehen geht das Denken an. Es geht einem durch den Kopf. Es denkt einen durch die Beine.

„Ich habe mit meine besten Gedanken angelaufen“ (Sören Kierkegaard)

Anlaufen – der Gedanke als Resultat eines Widerstandes aus der Erfahrung des Bedingtseins, aus der sich Resonanz mit Wirklichkeiten bildet. Gegen etwas anlaufen – sich etwas anlaufen, gegen die Uhr Laufen, mit der Zeit gehen, aus dem Haus treten.

„Das Geh-Denken (…) geschieht mehrschichtig, es hat polyphonen Charakter, es läuft wie der Lichtstrahl als ungerade Linie oder Kurve, unendlich schnell und sehr langsam zugleich, es hat wie die Gangart des mitlaufenden Hundes ein stets wechselndes Tempo, immer zu Abschweifungen und Umwegen bereit, und folgt doch im grossen Zug einer bestimmten Spur, die ein unsichtbarer Hundeherr oder Leithund vor mir her gezogen hat. Denn es ist ja alles schon einmal gedacht worden oder überhaupt alles Denkbare insgesamt in der Welkt vorhanden. (…) Es mag Leute geben, die dieses [zwang- und zwecklose Dahin- und Rundherum-Denken] einfach als Phantasieren bezeichnen würden, und (…) das wäre in meinem Betracht (…) keine Beschimpfung. Ich möchte nur feststellen, dass eine solche des Freistildenkens, Catch-as-catch-can, gibt, und dass diesem Gehdenken oder Gedankengehen eine enorme Spannung innewohnt, ja ein unaufhörliches Abenteuer, und gleichzeitig verlangt es ein Training, eine Form von Arbeitsdisziplin, die in der Steuerung, der Navigation zwischen den Wirbeln und Untiefen der verschiedene Bildschichten und Assoziationswellen besteht. Das Abenteuerliche besteht darin, dass man dabei immer wieder auf Unerwartetes und Neues stösst, wobei es keineswegs darauf ankommt, ob das Neue wirklich neu ist (…).“ (Carl Zuckmayr)

Ich gehe, also denke ich. Wie geht es mir, wenn ich denke, wie denke ich, wenn ES mit geht?

„Wenn wir einen Gehenden genau beobachten, wissen wir auch, wie er denkt. Wenn wir einen Denkenden beobachten, wissen wir auch, wie er geht. Wir beobachten einen Gehenden längere Zeit auf das genauste und kommen nach und nach auf sein Denken, auf die Struktur seines Denkens, wie wir, wenn wir einen Menschen längere Zeit beobachten, wie er denkt, nach und nach darauf kommen, wie er geht. Beobachte also längere Zeit einen Denkenden und beobachte dann, wie er geht, umgekehrt, beobachte längere Zeit einen Gehenden und beobachte dann, wie er denkt. Nichts ist aufschlussreicher, als wenn wir einen Denkenden gehen sehen, wie nichts aufschlussreicher, wenn wir einen Gehenden sehen, der denkt, wodurch wir ohne weiteres sagen können, wir sehen wie der Gehende denkt, wie wir sagen können, wir sehen wie der Denkende geht, weil wir den Denkenden gehen sehen, umgekehrt den Gehenden denken und so fort (…).“ (Thomas Bernhard)

Was entgeht mir, wenn ich mich nicht denken lassen – wie gedankenlos ist es, wenn ich festsitze im Gedankengebäude?
Der Körper denkt also in Bewegung. Der Gedankengang ist Bewegung. Ein Dasein im von Ort zu Ort, in Perspektiven gelangend. Perspicere – mit dem Blick durchdringen, was sich zeigt – und zugleich sich auch von dem, was sich zeigt affizieren lassen, einlassen darauf, dass es nicht zu fassen ist, doch nicht in Verharrung erstarren und es FESTSTELLEN wollen, ins Konzept zur Erstarrung zwingen, zum Fossil machen, sondern es als Mannigfaltigkeit am Leben, ins Leben lassen.

„Hüten wir uns nämlich, meine Herrn Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss“ angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher contradiktorischen Bergriffe wie „reine Vernunft“, „absolute Geistigkeit“, Erkenntnis an sich“: – hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretirenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird, hier wird also immer ein Widersinn und Unbegriff von Auge verlangt. Es giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches „Erkennen; und je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser „Begriff“ dieser Sache, unser „Objektivität“ sein. Den Willen aber überhaupt eliminieren, die Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten: wie? hiesse das nicht den Intellekt casrtriern? …“ (Friedrich Nietzsche)

Aus dem einen Standpunkt die Vielheit seine Perspektivierungen machen. Die Welt gibt sich in mehr Wellenlängen, als es das Spektrum des Begreifens zu fassen vermag. Dem Klaren das Verworrene an die Seite stellen, Hand in Hand. Viatorisch Denken heisst, sich dem Unvermögen zur Feststellung aussetzen. Abstraktion ist Verlust, Konkretion befangen. Doch lassen wir sie Komplizen sein, üben wir das.
Erkennen ist – Aufmerksam sein, auf dem Weg bleiben, nicht vom Erkannten hynotisiert, von der Erwartung gebannt. In die Aussetzung eingelassen bleiben. Das Plötzliche nicht fürchten, für die Gewahrwerdung empfänglich bleiben, die Konzentration vermögen, den Hinweis deuten. In den Perspektiven der Gegenwärtigkeit. Mit der Integrität eines vollziehenden Denkens.

„Das Perspektivische ist die Grundbedingung alles Lebens“ (Friedrich Nietzsche)

Das Wandern ist ein, ist mein Exerzitium dieser Gegenwärtigkeit.
Doch wo bleibt der feste Standpunkt, die Warte, von den Werten gestützt, die Wahrheit, mit der die Perspektiven ihrer Uneigentlichkeit überführt werden können, dem Wanderer die Karte in die Hand gegeben, das ewige Wegnetz markiert werden kann? Wer geht noch ohne God’s Positioning System in freies Gelände?

„Was also heisst es (…), zu erkennen – wenn man nur perspektivisch erkennen kann? Es heisst sicher nicht mehr Übereinstimmung mit geistesunabhängigen oder redeunabhängigen ‚Sachverhalten‘. Es gibt keinen Gottesgesichtspunkt, den wir kennen oder uns mit Nutzen vorstellen könnten, sondern nur die verschiedenen Gesichtspunkte tatsächlicher Personen, die verschiedene Interessen und Zwecke erkennen lassen, denen ihre Beschreibungen und Theorien dienlich sind.“ (Hilary Putnam)

Ist dann der Wanderer nicht nur auf der Flucht vor der Wahrheit, vor der Verantwortung, sich auf den wahren Weg begeben zu müssen, dem Heer der Metaphern, den Versuchungen der Uneigentlichkeit, dem fundamentlosen Meinen den Kampf anzusagen, für die zu grosse Tat reumütig um Verzeihung zu bitten, endlich wieder REALIST zu werden?

„Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein:; es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivisches Schätzungen und Scheinbarkeiten; und wollte man, mit der tugendhaften Begeisterung und Tölpelei mancher Philosophen, die „scheinbare Welt“ ganz abschaffen, nun, gesetzt, ihr könntet das, – so bliebe mindestens dabei auch von eurer „Wahrheit“ nichts mehr übrig! Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von „wahr“ und „falsch“ giebt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesamttöne des Scheins, – verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden? Warum dürfte die Welt, die uns etwas angeht –, nicht eine Fiktion sein? Und wer da fragt: „aber zur Funktion gehört ein Urheber“ – dürfte dem nicht rund geantwortet werden: „Warum“? Gehört dieses „Gehört“ nicht vielleicht mit zur Fiktion? Ist es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gehen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle Achtung vor den Gouvernanten: aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem Gouvernanten-Glauben absagte?“ (Friedrich Nietzsche)

Das Denken in Gang halten, auf den Weg bringen, immer neu. In Befremdung wagen, fremd sein, perspektivisch sein, in den Wandlungen des Wanderns. In der Hin-Sicht, der Ab-Sicht, der Um-Sicht, welche im viatorisches Dasein in Vollzug gerät, wenn man sich, den Körper, denken lässt. Aufmerksamkeit gegenüber der Gegenwart praktizieren, dem Denken freies Geleit geben, seinen Weg beim gehen entstehen lassen, nicht nur in die Bahnungen des Begriff zwingen. Sich verwickeln lassen in die Welt, in all-täglichen Gedankengängen, die mit den Dingen gemeinsame Sache machen.
Nicht alles, aber doch viel wäre besser zu denken, wenn man mehr ginge.

Quellen
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999, 33 Bände.
Peter Handke: Die Abwesenheit, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987.
Michel Houllebec: Wiedergeburt, Reinbek: Rowohlt 2005
Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe (KSA), hrsg. von Giorgo Colli und Mazzino Montinari, München/Berlin/New York: Deutscher Taschenbuch Verlag /de Gruyter 1999, 15 Bände; daraus Auszüge aus:
– Menschliches, Allzumenschliches (KSA 2)
– Die fröhliche Wissenschaft (KSA 3)
– Also sprach Zarathustra (KSA 4)
– Genealogie der Moral (KSA 5)
– Jenseits von gut und Böse (KSA 5)
– Ecce Homo (KSA 6)
Wolfgang Pfeifer et al.: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 31997.
Hilary Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990.
Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1981.
Gottfried Seume: Mein Sommer, Frankfurt/M.: Insel 2002.
Carl Zuckmayr: Die langen Wege, Frankfurt/M.: Fischer 1996.


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Led by Arno Böhler, the PEEK-Projekt „Artist Philosophers. Philosophy AS Arts-Based-Research“ [AR275-G21] is funded by the Austrian Science Fund (FWF) as part of the programme for artistic development and investigation (PEEK). Research location: University of Applied Arts Vienna. Brought about in national and international cooperation with: Jens Badura (HdK Zürich), Laura Cull (University of Surrey), Susanne Valerie Granzer (Universität für Musik und darstellende Kunst Wien/Max Reinhardt Seminar), Walter Heun (Tanzquartier Wien), Alice Lagaay (Zeppelin Universität Friedrichshafen). Postdoc: Elisabeth Schäfer (University of Applied Arts Vienna). The lecture series was produced in collaboration with: Institut für Philosophie Universität Wien, University of Applied Arts Vienna [Arno Böhler] and Institut für Theater- Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien [Krassimira Kruschkova].

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