Abstract

Versteckter Glaube oder doppelte Identität? Das Bild des Marranentums im 19. und 20. Jahrhundert:
Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Berlin 22.-24. März 2009



Doppelte Identität – Marranentum in Wien? Ad fontes!
„Ausgetretene“, Konvertiten und Revertiten in Wien 1782-1914

Ad fontes! Austrittserklärungen, eigenhändig unterzeichnete „Reverse“ beim Übertritt zum Christentum, Rücktrittserklärungen zum Judentum, Eintrittsbücher, Taufregister, Austrittsbücher ... und noch andere Quellen sind erhalten und wurden aufgearbeitet: 16.000 Austrittserklärungen von Erwachsenen für sich und ihre Kinder wurden beim Magistrat Wien abgegeben, in Diözesan und Pfarrarchiven liegen „Reverse“ vor, welche eigenhändig unterzeichnet wurden, in Kurrent, in der jüdischen Schrift oder auch nur mit dem bloßen Handzeichen. Gesuche um Namenswechsel wurden gestellt, in welchen ausführlich die Motive dargelegt werden mußten, zusammen mit den „Rekursen“, mit welchen Berufung auf einen ablehnenen Bescheid eingelegt wurde, finden sich in Wiener Archiven – überreiche Quellen, quer durch alle Gesellschaftsschichten, die ein genaues Hinsehen ermöglichen, bereits publiziert. Vor dem Erscheinen: Der Austritt aus dem Judentum in Wien von 1868-1914.

Marranentum im engeren Sinn des Wortes, Zwangstaufe und Festhalten am Glauben der Väter, hat es – von wenigen Einzelfällen abgesehen - in Wien im 19. Jahrhundert nicht gegeben: Mit einer einizigen Ausnahme, die Ärmsten der Armen betreffend, jüdische Dienstmädeln, deren Kinder zur Übernahme ins Findelhaus im Vormärz zwangsgetauft wurden, deren Mütter sich taufen lassen mußten, um über das Schicksal ihrer Kinder etwas zu erfahren – konfessionell vergewaltigte Mutterliebe. Hier können wir vielleicht, in dem einen oder anderen Fall davon ausgehen, dass weiterhin nach jüdischen Gebräuchen und Gesetzen gelebt wurde, da ja eine Rückkehr zum Judentum erst ab dem Jahr 1868 möglich war. Interkonfessionelle Ehen zwischen Juden und Christen gab es in Österreich bis zum Jahr 1938 nicht, das bedeutet: Eine etwaige Verehelichung war bis zum Jahr 1868 katholisch – Marranentum in einer katholisch geschlossenen Ehe?

Die Taufbücher dokumentieren jedoch ein Marranentum im weiteren Sinn mit umgekehrten Vorzeichen: Jüdische Eltern aus der Oberschichte ließen ihre Kinder geheim taufen, sicherten die katholische Erziehung durch Gouvernanten, lebten weiter als Juden in der jüdischen Gemeinde. Später, nach Einführung der Notzivilehe, bei welcher ein Partner jüdisch blieb, der andere aus der Kirche austreten mußte, brachte man die Kinder oft gleich nach der Geburt zur Taufe – ob hier ein jüdischer Haushalt geführt wurde, mit katholischem Dienstpersonal, sei dahingestellt.

Relativ häufige Eheschließungen unter Konvertiten könnten als Marranentum im weiteren Sinn bezeichnet werden, ein Ausdruck einer doppelten Identität. Wendet man sich den Quellen zu, dann belegen diese, dass Eheschließungen unter Konvertiten nur spezifisch für jene gebildete Oberschichte war, die bisher im Zentrum der Forschung gestanden ist: Künstler, Literaten, Wissenschaftler, Industrielle. Man kannte sich von früher, war miteinander befreundet, verliebte sich, heiratete. Dies war nur ein geringer Teil aus einer gebildeten Mittel- und Oberschichte, die ihrerseits nur drei bis acht Prozent der Konvertiten stellte. Bei den Anderen war es gerade eine projektierte Eheschließung mit einem Nichtjuden, die zum Austritt aus dem Judentum führte, auch nach dem Jahr 1868, nach der Einführung der Notzivilehe.

In den Quellen der Rückkehr wird allerdings hin und wieder betont, dass man durch die äußeren Verhältnisse sich gezwungen gesehen habe die Taufe anzunehmen, man jedoch über Jahre und Jahrzehnte nicht aufgehört habe als Jude zu leben. Derartige Aussagen sollten mit Zurückhaltung interpretiert werden, beförderten sie doch das angestrebte Ziel der Rückkehr zum Judentum. Es ist zudem naheliegend, daß man vor einem offiziellen Glaubenswechsel nicht mehr nach dem alten Glauben lebt - und somit schon vor dem offiziellen Rücktritt ein jüdisches Leben führt, über einige Zeit schon die Gebräuche und Gesetze hält - mit Marranismus hat das nichts zu tun. Umgekehrt betonten auch „Taufkandidaten“ in gleicher Weise immer wieder, ebenfalls durch Quellen belegt, man habe als Christ gelebt, Jahre und Jahrzehnte, vor der Annahme der Taufe.

Gerald Stourzh, unser Doyen der Historiker in Wien, hat heuer bei der Tagung der GSA eine Neutralisierung emotional positiv und negativ aufgeladener Begriffe im Kontext jüdischer Konvertiten vorgeschlagen und auch die steigende Tendenz vermerkt, Konvertiten und „Ausgetretene“, auch Konvertitenkinder, geboren nach der Konversion der Eltern, nach dem Muster der Nürnberger Gesetze im Jüdischen festzubinden – etwa durch deren Aufnahme in jüdisch-biographische Lexika. Hüten wir uns im Gebrauch eines emotional aufgeladenen Begriffes vor einem Etikettenschwindel!

Wien, am 4. Februar 2009

Anna L. Staudacher