barberi.red
      Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt ...

„Ich möchte,
dass meine Bücher Skalpelle, Molotowcocktails
oder Minengürtel sind
und dass sie nach Gebrauch
wie ein Feuerwerk
zu Asche zerfallen.“
 
Michel Foucault
Herzlich Willkommen! Home
Shutter Island
© Shutter Island, Martin Scorsese (2010) Paramount Pictures

"Der Wahnsinn ist eine soziale Konstruktion" 

Zur Aktualität der Antipsychiatrie

von Alessandro Barberi

„Die Psychiater verwechseln Armut und Elend mit psychischen Leiden;
sie verwechseln zwei Aspekte:
Ein Mensch ist bedürftig, fühlt sich elend und schlecht,
und sie sagen, er ist schizophren.“
Franco Basaglia

 Nach der Durchsetzung biologisch-neurologischer Paradigmen stellen sozial-wissenschaftliche Erklärungen psychischer Krankheiten oder Störungen ihrem unterrepräsentierten Gewicht nach einen blinden Fleck im Diskurs der Psychiatrie dar. Die in den Siebzigerjahren aufkommende Antipsychiatrie fasste indes die normalen wie pathologischen Formen des menschlichen (Un-)Bewusstseins als Teil des „symbolischen und sozioökonomischen Feldes“ auf und ist insofern immer noch von großer Aktualität und Brisanz. Gerade dann, wenn im Blick auf eine Wissenssoziologie der Naturwissenschaften darauf bestanden wird, dass auch die Modelle der Lebenswissenschaften zu einem großen Teil auf der diskursiven und modellbildenden Praxeologie von Medizinern, Biologen oder Physiologen beruhen. Die folgenden Ausführungen zeigen einleitend auf, wie der Tendenz nach soziologische Ätiologien durch das Übergewicht von biologischen Erklärungsmodellen im Feld der Psychiatrie abgedrängt werden. In einem zweiten Schritt werden in aller gebotenen Kürze mit Ernst Cassirer (bzw. Ludwig Binswanger & Aby Warburg), Wilhelm Reich und Jacques Lacan drei Vorläufer antipsychiatrischer Argumentationen in Erinnerung gerufen, um mit Franco Basaglia, Ronald D. Laing, Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari antipsychiatrische Grundpositionen im eigentlichen Sinne zu thematisieren.

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I Einleitung

Titticut Follies
© Titticut Follies, Frederick Wiseman (1967) Zipporah Films

  In den Ätiologien unserer psychiatrischen Lehrbücher finden sich – zumeist in der methodischen Ableitung der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis[1] – mehrere wissenschaftlich untersuchte Faktoren, welche die Bedingungen und Voraussetzungen psychischer Erkrankungen erklären sollen: So hält Gerd Huber unter der Mitarbeit von Gisela Goss in Psychiatrie. Lehrbuch für Studium und Weiterbildung[2] fest, dass sich bereits um 1900 zwei Pole der psychiatrischen Ätiologie herauskristallisiert hatten: ein vorwiegend biologisch-organischer (etwa bei Bleuler) und ein psycho- und soziogenetischer (etwa bei Jaspers) Erklärungsrahmen. Dabei werden im Rahmen der psychiatrischen Klassifikationsordnung im Sinne einer multifaktoriellen Genese Interaktionen von (biologischer) Anlage und (sozialer) Umwelt gegeneinander abgewogen. Verkürzt gesagt stehen sich im Sinne dieser methodischen Polung der Ursachenforschung im Bereich der Seelenkunde zwei allgemeinere Bereiche menschlichen Wissens gegenüber: Hier die Gesamtheit der Lebenswissenschaften (Medizin, Physiologie bzw. Neurologie), die – zusammenfassend gesagt – allesamt auf Funktionsweisen der Natur rekurrieren, und da die empirischen Sozialwissenschaften bzw. Humanwissenschaften (Anthropologie, Soziologie, Psychologie), die sich ihrerseits auf die Funktionsweisen der Gesellschaft bzw. der Kultur beziehen. Dabei formulieren Huber und Goss:

 „Die Schizophrenie ist eine vorwiegend erbbedingte Erkrankung. Zu dieser Annahme berechtigen die Befunde der Familien-, Zwillings- und Adoptionsuntersuchungen, insbesondere der Unterschied der Konkordanzziffern bei eineiigen und bei zweieiigen Zwillingen. Andererseits … [wurde nachgewiesen, A.B.] …, daß peristatische und dabei somatische, psychische und soziale Faktoren für die Manifestation, die Übersetzung vom Genotyp in den Phänotyp eine Rolle spielen."[3]

 Dabei ist im Blick auf diese Argumente bemerkenswert, dass trotz der Vorgabe einer wissenschaftlich „neutralen“ Ausbalancierung von natürlichen und gesellschaftlichen Faktoren, von der Akzentsetzung her die (natürlichen) Erbbedingungen „vorwiegend“ sind und die peristatischen nur „eine Rolle“ am Weg „vom Genotyp in den Phänotyp […] spielen“, was de facto auch eine Rückbuchstabierung soziologischer Begriffe in biologische darstellt.[4]

 Wie wirkt sich in einem weiteren Schritt dieses (auch machtpolitische) Gefälle zwischen Lebens- und Humanwissenschaften im Aufbau der psychiatrischen Ätiologie bei Huber und Gross aber näherhin aus? In fünf Kapiteln behandeln sie ausgehend von den (soeben zitierten) „Familien-, Zwillings- und Adoptionsstudien“ auch „Indizien für eine somatische Hypothese“, wobei sie hier biochemische, pathophysiologische und neuroradiologische Befunde verwerten. Darüber hinaus analysieren sie die Rolle und Funktion von „Konstitution, Körperbau und Primärpersönlichkeit“ sowie die „Multikonditionalität“ peristatischer Faktoren. Ganz am Ende ihrer Abhandlung erläutern sie dann auch psycho- und soziogenetische Theorien der Krankheitsursache, wobei es gerade aus sozialwissenschaftlicher Sicht mehr als bezeichnend ist, dass – ähnlich wie im philosophischen Diskurs – der ablehnende Begriff des „Soziologismus“ auftaucht, der eine „universelle These zur Erklärung anthropologischer Zentralprobleme einschließlich der sog. Geisteskrankheiten“[5] behauptet habe. Und genau an dieser Stelle kommen nun die AutorInnen, was für die hier vorgestellten Ausführungen von großer Bedeutung ist, auf die Antipsychiatrie zu sprechen:

  „Auch wenn die Psychose in einem anderen sog. psychedelischen Modell eine wertvolle Erfahrung und ein natürlicher Vorgang der Heilung des von der Gesellschaft Normalität genannten Zustandes von Entfremdung ist, wird anderen, den Eltern, der Familie, die Schuld für ihr Zustandekommen aufgebürdet. Die gefährliche Tendenz, Sündenböcke zu suchen und zu finden (>scapegoat stereotype<) ist den verschiedenen Varianten der antipsychiatrischen Ideologie (LAING, BASAGLIA, COOPER, FOUCAULT, JERVIS, WOLLF und HARTUNG) gemeinsam […]"[6]

Was geschieht indes, wenn man die eingangs knapp skizzierte „biologi(sti)sche“ Tendenz der ätiologischen Faktorenanalyse grundlegend aus soziologischer, ökonomischer und historischer Perspektive umkehrt und es als eine gefährliche Ideologie betrachtet psychische Krankheiten oder Störungen der Tendenz nach im Sinne einer biologischen Doxa auf die neurologische Natur oder auf chemische Prozesse im Gehirn zurückzuführen?[7] Was wenn es nur auf die ökonomischen Interessen der Pharmaindustrie zurückgeht, dass die Heilung eines Menschen heutzutage neurologisch fast ausschließlich über atypische Neuroleptika in Aussicht gestellt wird?[8] Was wenn schon lange vor der Antipsychiatrie auch in den Lebens- und Humanwissenschaften klar geworden ist, dass der Gegensatz von Normal und Pathologisch einzig ein gradueller ist?[9]

 Und was wenn – wie der Ideologiekritiker Karl Marx vermutete[10] – ein(e) Arbeitslose(r) von sich selbst und ihren/seinen Produkten entfremdet wird und deshalb ins Burn-Out rast? Was wenn in unserer Gesellschaft die Schuld am „Versagen“ oder an der menschlichen „Funktionsuntüchtigkeit“ eben nicht bei den Ausgeschlossenen liegt, sondern sich einer allgemeinen und systematischen Verschuldung im Sinne der kapitalistischen Ökonomie verdankt?[11] Was wenn die Verwandtschaftsstrukturen unserer Familien kein Idyll darstellen, sondern psychische Störungen tatsächlich aus den inneren Konstellationen und Konflikten der – wie man in den Siebzigerjahren gerne und nicht zu Unrecht sagte –„bürgerlichen Familie“ resultieren?[12]  

Und was, wenn nicht die Antipsychiatrie, sondern vielmehr die Psychiatrie vor allem im Blick auf den Nationalsozialismus und die faschistischen Euthanasieprogramme daran beteiligt war, Sündenböcke „zu suchen und zu finden“, um etwa Linke, Homosexuelle und unsere jüdischen MitbürgerInnen >stereotyp< zu >scapegoats< zu machen und dann unter Einsatz aller technologischen Mittel zu töten?[13]

 All diese Fragen sind einzig und allein rhetorisch und verweisen auf einen machtkritischen Impuls, der im Kontext der internationalen „Weltrevolution von 1968“ (Immanuel Wallerstein)[14] u.a. mit der Antipsychiatrie verbunden war. Denn die Jugendrevolte stellte die davor etablierten Bestände der wissenschaftlichen Ordnungsmuster – und dabei auch jene der Psychiatrie – aus sozialen, ökonomischen und politischen Gründen zutiefst infrage und forderte ihre Veränderung. Der allgemeinen „revolutionären“ Aufbruchstimmung jener Jahre entsprach eine grundlegende demokratische Kritik jeglicher Autorität, die sich konsequenterweise auch in den akademischen Institutionen fortsetzte. Und so stellt auch die Antipsychiatrie eine politische Widerstandslinie dar, die ohne diesen sozialhistorischen Kontext nicht angemessen bewertet werden kann. Es lassen sich allerdings bereits in der Zeit vor 1968 in verschiedenen Diskussionszusammenhängen Argumente ausfindig machen, die in der Antipsychiatrie gebündelt und aktualisiert wurden.

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II Vorläufer: Verschiebungen (in) der Psychiatrie

Cockoo's Net
© One flew over the Cuckoo's Net, Milos Forman (1975) United Artists

2.1. Ernst Cassirer: Zur Pathologie des Symbolbewusstseins

 In seiner Philosophie der symbolischen Formen[15] hat der große radikalidealistische und neokantianische Transzendentalphilosoph Ernst Cassirer (1874-1945) dem Thema der Pathologie des Symbolbewusstseins[16] ein eigenes Kapitel im dritten Band gewidmet. Im großen Bogen der Philosophie der symbolischen Formen, die das menschliche Bewusstsein in seinen symbolischen Aussagefunktionen historisch von der Magie und dem Mythos über die Religion, das Gesetz, die Politik und die Selbstreflexion der Wissenschaft hin verfolgt, ist es bemerkenswert, dass Cassirer zum Ende seiner Darstellung hin die Frage der Pathologie des menschlichen „Geistes“ anhand der Aphasielehre erläutert und damit seelische Störungen bereits hier auf sprachliche Fehlfunktionen bezieht. Die Geisteskrankheiten haben – im Sinne seiner Analyse von Substanz und Funktionsbegriff[17] – keinen wesenhaft und substantiell „unvernünftigen“ Charakter, sondern resultieren aus dem Zusammenbruch der symbolischen (d. h. auch mentalen) Grundstrukturen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft bzw. Kultur, die Bedingung und Voraussetzung für Sprechen, Handeln und deren Stabilität sind.

 Dies ist umso bemerkenswerter als jüngst die Krankenakten von Aby Warburg, der am 16. April 1921 in Luwig Binswangers Sanatorium Bellevue mit der Diagnose Schizophrenie eingeliefert wurde, und die diesbezügliche Korrespondenz Binswangers publiziert wurden, aus denen deutlich hervorgeht, dass es – neben den Gesprächen mit Fritz Saxl – vor allem die Besuche Ernst Cassirers im Verlauf des Jahres 1923 waren, welche die (un)endliche (Selbst)heilung Warburgs einleiteten.[18]

 Cassirer rekapituliert mithin in seinem Hauptwerk auch den „Wahn“ Aby Warburgs, dessen Genesung wohl mit Gesprächen über das Symbolische einherging. Aber damit nicht genug schlug Cassirer Binswanger zu einem erstaunlichen Zeitpunkt eine radikale Reform der Psychopathologie vor, in der nicht nur die biologisch-neurologischen Aspekte im Blick auf den Patienten eine Rolle spielen sollten, sondern vor allem dessen (phänomenologisch über das Denken gegebene) Fähigkeit zur Symbolisierung bzw. deren Zerstörung. Psychische Krankheit wäre demnach vor allem eine Instabilität im Symbolischen und keine neurologische Anomalie. Norbert Andersch hat dies jüngst in einem bemerkenswerten Artikel herausgearbeitet.[19] Binswanger ist von den Vorschlägen Cassirers anfangs begeistert, doch verhindern sowohl die Flucht Cassirers vor den Nationalsozialisten und sein dadurch mitverursachter früher Tod als auch die bezeichnende Wende Binswangers zu Heideggers (politischer) Fundamentalontologie[20] eine (gestaltpsychologische) Transformation der Psychiatrie. Man kann mithin Cassirers Pathologie des Symbolbewusstseins mit Fug und Recht als eine Anti- oder Gegenpsychiatrie avant la lettre bezeichnen. Dies auch deshalb weil der „gefährliche Ideologe“ Michel Foucault in seinem ersten Buch Psychologie und Geisteskrankheit[21] vor allem auf Binswanger rekurrierte und während eines Aufenthalts in Hamburg eingehend Cassirer studierte und exzerpierte noch bevor dieser ins Französische übersetzt war.[22] Doch dies nur als Andeutung und Vorwegnahme. 

Repulsion
© Repulsion, Roman Polanski (1965) Compton Films

2.2. Wilhelm Reich: Funktionale und relationale Diagnostik der paranoiden Schizophrenie

 Hatten die Nationalsozialisten mit Cassirer die Möglichkeit einer phänomenologischen oder symboltheoretischen Reform der Psychiatrie aus dem Land gejagt und diesbezügliche Ansätze auf Jahrzehnte hin zerstört, so wurde mit den brennenden Büchern Wilhelm Reichs (1897-1957) auch die Basis einer marxistisch und materialistisch orientierten Psychiatrie ins Exil getrieben. Es ist mehr als bezeichnend, dass Reich genau im Jahr 1933 – nicht nur nach Karl Kraus ein Jahr exzessiver „Gleichschaltung“ – zwei bedeutende Bücher publizierte, die im deutschsprachigen Raum erst um 1968 – und dabei wieder im Umfeld der Antipsychiatrie – intensiv rezipiert werden sollten: die Charakteranalyse[23] und die Massenpsychologie des Faschismus[24]. Im Rahmen seiner bemerkenswerten und an Marx orientierten Faschismusanalyse untersuchte Reich eingehend die „gesellschaftliche und ideologische Funktion“ der Sexualunterdrückung und die durch sie effektuierten Perversionen im Herzen der Normalität.[25] Bereits am Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft war mithin für Reich (und andere Psychoanalytiker aber eben auch Marxisten) klar, dass eine Gesellschaft oder ein Staat insgesamt – etwa im Sinne einer Staatsparanoia[26] – in „kollektiven Wahn“ kippen kann. Ausgehend von dieser massenpsychologischen Feststellung erweiterte Reich seine Charakteranalyse 1948 um ein Kapitel mit dem Titel Die schizophrene Spaltung, in dem er in eindrücklicher Art und Weise einen Fall paranoider Schizophrenie behandelte und dabei – ähnlich wie Cassirer – den schizophrenen Prozess (und damit auch das Verhältnis von Normal und Pathologisch) in seiner Funktionalität und Relationalität analysierte:

 „Der ‚gut angepasste‛ homo normalis setzt sich aus genau denselben [sic! A.B.] Erfahrungen zusammen wie der Schizophrene; darüber lässt die Tiefenpsychiatrie keinen Zweifel. Er unterscheidet sich von ihm allein darin, daß diese Funktionen bei ihm in anderer Beziehung zu einander stehen.[27] (Kursivsetzungen von A.B.)

 Diese Feststellung steht mit der Massenpsychologie gerade deshalb in Zusammenhang, weil es in Deutschland „ganz normale“ Menschen waren, die dem Faschismus nachliefen und in „perverser“ Art und Weise die eigene Unterwerfung sowie die Vernichtung der Anderen und des (u. a. psychoanalytischen) Widerstands wünschten bzw. begehrten. Im Normalbürger, im Durchschnittsmenschen lauert mithin das „Monströse“, „Teuflische“ und „Abnorme“. Umgekehrt eröffnet die Schizophrenie einerseits „archaische“ Bewusstseinsformen wie jene der Mystik oder aber auch ein aufgeklärtes „Durchschauen“ der sozialen Verhältnisse:

 „Der schizoide Mensch durchschaut mühelos Heuchelei und verhehlt dies nicht. Er hat, ganz im Gegensatz zu homo normalis, ein hervorragendes Verständnis für emotionelle Gegebenheiten. Ich betone diese typischen Eigenschaften des Schizophrenen, damit verständlich wird, warum homo normalis den schizoiden Geist so haßt.[28]

 Dabei bündeln sich im Rahmen der paranoiden Schizophrenie in binären Gegensätzen wie Gut/Böse oder Gott/Teufel in metaphorisch verschobener Weise ganz spezifische und konfliktbeladene soziale Situationen, die in die Charakterstruktur und -panzerung von Patienten eingelassen sind. Deshalb arbeitet Reich sich in diesem Text in beeindruckender Weise an der Grenze von Vernunft und Wahnsinn vor, indem er permanent ihre Plätze umkehrt und dabei versucht sich aus beiden „Denksysteme(n)“[29] herauszudrehen. Dabei betont Reich auch, dass der schizophrene Bewusstseinszustand deckungsgleich ist mit jenem außerordentlicher Leistungen. Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn kann nicht mehr genau gezogen werden, weil diese beiden Pole – und dafür steht das Gesamtwerk Wilhelm Reichs – ihre Plätze tauschen können. Auch dies eine Verschiebung des psychiatrischen Wissens, die von der Antipsychiatrie aufgenommen wurde und nach wie vor immenses kritisches Potential besitzt.

Birdy
© Birdy, Alan Parker (1984)  Tri Star  Pictures

2.3. Jacques Lacan: Diskursive Drehungen und Fadenringe 

 Die genannten reflexiven und inversiven Analysen der „Geistesstörungen“ wurden auch im Rahmen jener Diskussionen aufgenommen, die man mit dem Sammelbegriff Strukturalismus zusammenfassen kann und die sich durchwegs um die Relationalität des Symbolischen gedreht haben.[30] Im hier diskutierten Zusammenhang sind dabei vor allem die Schriften des Psychiaters und Psychoanalytikers Jacques Lacan (1901-1981) von großer Bedeutung,[31] weil auch in ihnen die bei Cassirer und Reich knapp angedeutete Umkehrung eines „wesenhaften“ Unterschieds zwischen Normal und Pathologisch bzw. zwischen Vernunft und „Wahnsinn“ eine überaus wichtige Rolle spielt. Man kann sagen, dass die weiter oben bei Cassirer ausgemachte Betonung der symbolischen Di(t)mension[32] der Geistesstörung sich bei Lacan über die an Ferdinand de Saussure orientierte relationale Sprachtheorie[33] fortsetzt, indem er – um es mit einem weithin bekannten Satz zusammenzufassen – dem Unbewussten attestierte, es sei strukturiert wie eine Sprache. So hat Lacan bereits in seiner psychiatrischen Dissertation eingehend die innere Logik und „Rationalität“ der Paranoia untersucht[34] und kam in der Folge zu einer Unterscheidung von vier Redeformen und d. h. Diskurstypen, die (nicht nur) für die Psychoanalyse von großer Bedeutung sind: 

 Lacan unterschied 1. den Diskurs des Herren, 2. den Diskurs der Universität, 3. den Diskurs des Hysterischen und 4. den Diskurs des Analytikers.

 Im hier diskutierten Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass der Psychoanalytiker nach Lacan auch den universitären Diskurs der Psychiatrie in die Nähe des Herrendiskurses rückt und diesen – ähnlich wie bei Reich – von einem „Außen“ her gleichsam transversal durchläuft. Dieser Blickwechsel, diese „Verrückung“ des analytischen Beobachterstandpunkts markiert mithin auch eine psychoanalytische Gegenposition zur und einen tiefen Bruch mit der „wissenschaftlich anerkannten Wahrheit“ der akademischen Psychiatrie aus der Dr. Lacan seinerseits kam.[35] Eine derartige Konstellation lässt sich übrigens schon bei Freud aufweisen, der seine „Metapsychologie“ auch im Abstand zu seiner Privatdozentur als Neuropathologe entwickelte und „akademisch“ immer wieder nach „neurologischen“ Absicherungen für seine Analysen suchte.[36] Durch diese Voraussetzungen kam Lacan – der in seinen Vorlesungen bzw. Seminaren durchaus stotterte, um die „Rationalität“ von Fehlleistungen hörbar zu machen – zu einer symbolorientierten Analytik, in der psychische „Störungen“ hemmende Knoten und „Fadenringe“ im Redefluss der menschlichen Stimme sind, die therapeutisch durch das psychoanalytische Gespräch aufgelöst werden sollen und – nach Lacan mit variabler Sitzungsdauer – auch aufgelöst werden können.[37] Auch die Lacansche strukturale (d. i. symbolische, relationale) und auch materialistische Psychoanalyse[38] bot der Bewegung der Antipsychiatrie, die nunmehr in einigen herausragenden Vertretern diskutiert werden soll, buchstäblich eine ganze Reihe von Anknüpfungspunkten.

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III Antipsychiatrische Positionen

12 Monkeys
© 12 Monkeys, Terry Gilliam (1994)  Universal Pictures

3.1. Franco Basaglia: Angriff(e) auf die Institution

 1978 verabschiedete das italienische Parlament die Legge centottanta (Gesetz 180) mit dem in international einzigartiger Weise die schrittweise Auflösung der psychiatrischen Anstalten festgeschrieben wurde. Das Gesetz ist auch heute noch in Kraft. Auf breiter gesellschaftlicher (und d. h. naturgemäß auch politischer) Ebene wurde nach langwierigen öffentlichen Diskussionen juristisch fixiert und definiert, dass es illegitim und mithin auch illegal ist, einen Menschen zu psychiatrisieren und als abnormal zu internieren.[39] Maßgeblich beteiligt an dieser legistischen Entwicklung war der Psychiater Franco Basaglia (1924-1980), der im Zuge seiner Laufbahn die erschreckenden und menschenunwürdigen Zustände in den italienischen Kliniken (Elektroschocks, Lobotomie, medikamentöse Ruhigstellung etc.) beobachten musste und Zeit seines Lebens dagegen ankämpfte. Grundlage dieser Kritik an der wissenschaftlich nicht reflektierten Rolle und Funktion der psychiatrischen Autorität war dabei eine sozio-ökonomische Analyse der institutionell reproduzierten Festschreibung von Normen, die per se ihr Gegenteil – mithin das Abnormale – herstellen, produzieren und also mitkonstruieren.[40] Dabei taucht auch immer wieder ein Begriff auf, dessen analytische Qualität bis heute nichts an Deskriptionskraft verloren hat und nicht nur Menschen mit psychischen Leiden betrifft: Stigmatisierung

 „Die psychiatrischen Diagnosen haben inzwischen einen kategorialen Wert erlangt, insofern nämlich, als sie eine Etikettierung, eine Stigmatisierung des Kranken darstellen, über die hinaus es keine Möglichkeit der Aktion oder Annäherung gibt.“ (Hervorhebung von A.B.)[41]

 Dokument der allgemeinen machtkritischen Perspektiven, die im Zuge der internationalen Protestbewegung zirkulierten, ist der von Basaglia 1975 herausgegebene Band zur Rolle der Intellektuellen in modernen kapitalistischen Gesellschaften, in dem sich u. a. herausragende Artikel von Noam Chomsky, Ronald D. Laing und Michel Foucault finden. Der Titel ist bezeichnend und gleichzeitig Programm: Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen[42]. Dabei wurde – ähnlich wie in Deutschland mit Jürgen Habermas angesichts des Verhältnisses von Erkenntnis und Interesse[43]– pointiert diskutiert, in welcher Art und Weise „Wissenschaften“ ideologische Herrschaftsfunktionen übernehmen und direkt an der erneuten Unterdrückung von Ausgeschlossenen und der Verwerfung ihrer Bedürfnisse beteiligt sind. Basaglia betonte in seinen Schriften die repressive Funktion der psychiatrischen Institution und mithin ihrer „Ordnung“. Dabei ist mit allem Nachdruck einem in Fachliteratur und Medien immer wieder behaupteten Vorurteil entgegenzutreten, nachdem die Antipsychiatrie die Existenz des „Wahnsinns“, also den Bewusstseinszustand von Psychosen oder Neurosen, von Paranoia oder Schizophrenie geleugnet hätte. Das glatte Gegenteil ist – nicht nur – bei Basaglia der Fall:

 „Ich habe nie gesagt, es gäbe keine Geisteskrankheit. Lieber möchte ich sagen: Ich kritisiere die Idee der Geisteskrankheit. Die Existenz des Wahnsinns leugne ich nicht. Wahnsinn ist etwas Menschliches. Die Frage ist, wie man damit umgehen soll, welche Haltung wir als Psychiater diesem menschlichen Phänomen gegenüber einnehmen müssen, wie wir auf die damit zusammenhängende Not eingehen können.[44]

 Eine Haltung, die man – wie oben gezeigt – bei Cassirer annehmen, bei Reich direkt nachweisen und bei Lacan in strukturierter und formalisierter Form nachlesen kann.

Asylum
© R. D. Laings Asylum, Peter Robinson (1972)  Peter Robinson Associates

3.2. Ronald D. Laing: The Asylum & Erfahrung(en)

 Von größter Bedeutung für die Argumentationsstrategien der Antipsychiatrie waren auch die Schriften des englischen Psychiaters Ronald D. Laing (1927-1987), der sich intensiv mit der inneren Dynamik der „schizophrenen Erfahrung“[45] beschäftigte und dabei phänomenologische und existenzphilosophische Ansätze verband. Dabei stand vor allem die Interpersonalität zwischen Arzt und Patient sowie der soziale Zusammenhang der Familie im Mittelpunkt seiner Forschungen, wobei er immer auch das „Setting“ des institutionellen Gefüges der Anstalt, des „Asyls“[46] analysierte. Dabei untersuchte Laing reflexiv die Unterscheidung zwischen dem Selbst und den Anderen[47]. Einer der Ausgangspunkte seiner Forschungen war die schwierige Bestimmung dessen, was der Begriff der „Schizophrenie“ denn eigentlich sei, wobei das Erkenntnisinteresse Laings sich explizit darauf richtete „Schizophrenie“ als „Bezeichnung für einen Zustand“ zu begreifen, „den die meisten Psychiater Patienten zuschreiben, die sie schizophren nennen.“[48]

 Mithin untersuchte auch Laing die innere Struktur psychiatrischer Klassifikationsordnungen und die begriffliche Herstellung des Gegenstands „psychische Krankheit“ bzw. „Wahnsinn“. Ab 1965 betrieb er gleichsam „anthropologische Feldstudien“, indem er in Kingsley Hall, London gemeinsam mit seinen Patienten eine Wohngemeinschaft gründete. Ein berührendes und hoch informatives Dokument dieser Zusammenarbeit stellt der Dokumentarfilm R. D. Laings Asylum[49] dar, der 1972 erschienen ist. In Auseinandersetzung mit den Diskursen der „Schizophrenen“ publizierte Laing auch einen lyrikähnlichen Band mit dem Titel Knots/Knoten[50], indem er in einer ganzen Reihe von Gedichten die sprachlichen „Delirien“ seiner Patienten in poetisch-poetologische Form brachte. Darüber hinaus untersuchte Laing immer auch die mentalen „Spiegelungen“[51] innerhalb sozialer Felder wie der Familie, um den spezifischen Charakter der „schizophrenen Erfahrung“ zu erfassen und durchzuarbeiten. Laing ging dabei von einem unbewussten „Abbilden (Mapping)“[52] aus, über das soziale Verhältnisse wie die „Familie als System“[53] sich verinnerlichen und so auch Störungen, Problemlagen oder Double-Binds eben dieses Systems übertragen. 

 Dabei ist auch bei Laing ein epistemologisches Reflektieren des Verhältnisses von „Gegebenem“ und „Konstruiertem“ nachweisbar, wobei er nachdrücklich auch auf ethnologische bzw. anthropologische Erkenntnisbestände zurückgreift:

 „Nach Hegel ist die Welt ‚eine Einheit aus dem Gegebenen und dem Konstruierten‘. Es ist schwierig, festzustellen, was ‚gegeben‘ ist und was unsere ‚Konstruktionen‘ sind. Eine Möglichkeit besteht darin, zu vergleichen, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten […] die Welt erfahren. Bei der ersten Begegnung mit den Forschungsergebnissen der Anthropologie reagierten oder reagieren wir alle überrascht, ja ungläubig, auf die riesigen Unterschiede, die es in der Art des Erfahrens gibt.“[54]

 Es lässt sich hier leicht erkennen, dass nicht nur ein theoretisch-philosophisches Reflexionspotential frei gesetzt wird, sondern sich dieses im Sinne eines Shiftings transkulturell auf eine Erfahrungstheorie ausweitet, die man – im Vorgriff auf die Studien Michel Foucaults – als eine „Ethnologie unseren eigenen Gesellschaft“[55] und damit auch ihrer symbolischen (Un-)Bewußstseinszustände zwischen „Normal“ und „Pathologisch“ bezeichnen kann. Daraus resultiert eine für die gesamte Antipsychiatrie grundlegende Frage: Welche (sozialen und epistemologischen) Voraussetzungen und Bedingungen müssen strukturell gegeben sein, damit ein symbolisches (Un-)Bewußstseinsphänomen, eine (phänomenologische) „Erscheinung“ oder Erfahrung wie der „Wahnsinn“ überhaupt gegeben sein und auftauchen kann. Festzuhalten ist hier noch ein Mal, dass der sozial konstruierte Charakter des Wahns – gerade angesichts des Existentialismus – definitiv nicht bedeutet, dass er nicht existiert. Weder Basaglia, noch Laing noch Michel Foucault, von dem ebenfalls das genaue Gegenteil überliefert ist, hätten dies behauptet.

The Hours
© The Hours, Stephen Daldry (2002)  Paramount Pictures

3.3. Michel Foucault: An der Grenze von Wahnsinn und Unvernunft

 In den Schriften des französischen Historikers und Diskursanalytikers Michel Foucault (1926-1984) bündeln sich auf unterschiedlichster Ebene die bisher vorgestellten Argumentationslinien, die historisch in die Antipsychiatrie einflossen. Von Binswanger und Cassirer über Reich, Lacan, Basaglia und Laing finden sich in seinen Schriften[56] an verstreuten Stellen offene Bezugnahmen zu den hier und bisher diskutierten Problembereichen. Für die Antipsychiatrie, die nicht sein einziges Forschungsgebiet war, wurde die historische Studie Wahnsinn und Gesellschaft[57] eine wichtige Referenz. Denn im Blick auf Wahnsinn und Unvernunft (folie et déraison) versuchte er zu erforschen, „ […], wie sich ein Diskurs mit wissenschaftlichem Anspruch, die Psychiatrie, aus historischen Situationen heraus bildet.[58]

 Dabei untersucht Wahnsinn und Gesellschaft überaus quellenreich die abendländische Trennung und Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn (seit dem Ende des Mittelalters), um sich – ähnlich wie bei Laing – der „Erfahrung des Wahnsinns“ anzunähern und die Geschichte des Ausschlusses der „Irren“ zu schreiben. Foucault verfolgt damit die dunklen Seiten unserer eigenen Rationalitätsansprüche im Blick auf unterwerfende Normalisierungsstrategien.[59] Es geht dabei um die Gewaltakte und Verwerfungen, die im Namen der (psychiatrischen) Rationalität diskursiv und damit auch im Zugriff auf die menschlichen Körper ausgeübt wurden, um die Leben der infamen Menschen[60], die – auch lesbar in unseren Archiven – meist unbekannt und anonym blieben, aus jeweils gegebenen Gesellschaften auszuschließen. Foucault analysiert auf breiter historischer Basis das Verhältnis von Ein- und Ausschluss, von Inklusion und Exklusion und fokussiert dabei vor allem auf die Begriffs- und Diskursgeschichte, also auf die den Wissenschaften immanenten Terminologien und Klassifikationsordnungen, deren Doxa und Dogmatik immer schon die mehr als gerechtfertigte Vermutung aufwerfen, das mit ihnen etwas eben nicht stimmen kann.

 Aus dieser historischen Perspektive gab Foucaults radikale Machtkritik – die in seinen politischen Aktionen und Eingriffen immer auch jeweils gegenwärtige Praxis wurde wie etwa mit dem Engagement für Gefangene in der Groupe d‘information sur les prisons – der Antipsychiatrie eine historische Grundlage, die vom zeitlichen Rahmen her auch hinsichtlich der vorliegenden Geschichte(n) des Kapitalismus seit dem 16. Jahrhundert anschlussfähig war. Auch mit seiner Studie zur Geburt der Klinik[61], mit der er die Mechanismen bzw. Technologien der medizinisch-klinischen „Ordnungsmaschine“ untersuchte, legte er mit den Grundstein zu einer dezidiert kritischen[62] Analyse wissenschaftlicher Wahrheitsansprüche in Geschichte und (aktueller) Gesellschaft, die er nicht nur im Blick auf die Lebenswissenschaften durcharbeitete, sondern annähernd in Bezug auf alle Disziplinen im Streit der Fakultäten. Jüngst ist im Übrigen eine für die Foucaultsche Geschichtsschreibung konstitutive Übersetzung erfolgt: Frieder Otto Wolf hat Für Marx von Louis Althusser aus dem Jahr 1965 erneut übertragen und macht mithin auch ein zeithistorisches Dokument publik, dass die an der Kapitalismuskritik und an Marx orientierten Anteile der Foucaultschen Diskursanalyse nunmehr auch im deutschsprachigen Raum eindringlich vor Augen führt.[63] All diese bisher nur in äußerster Kürze diskutierten Aspekte finden sich 1972 in einem Text wieder, der als französisches antifaschistisches Manifest des „Revolutionär-Werdens“ (Deleuze) des Mai 68 und damit auch der Antipsychiatrie gelesen werden kann und der abschließend schlaglichtartig diskutiert werden mag.

Clockwork Orange
© A Clockwork Orange, Stanley Kubrick (1968)  Warner Bros

3.4. Der Anti-Ödipus: Faschistische Paranoia & revolutionäre Schizophrenie

 Der Philosoph Gilles Deleuze (1925-1995) und der Psychiater Félix Guattari (1930-1992) haben im Anti-Ödipus[64] die Ansätze und Problematisierungen, die hier – natürlich verkürzt – diskutiert wurden in beeindruckender und immens produktiver Art und Weise zusammengefasst. Dieses Manifest der französischen Studentenrevolution von 1968 stellt eine intellektuelle Synthese der oben diskutierten wissenschaftlichen Brüche mit einer dogmatischen Psychiatrie dar und ist gleichzeitig ein historisches Dokument für all die Diskussionszirkel und Debatten, die sich in dieser Zeit – vornehmlich im Umfeld der Reformuniversität von Vincennes – ergaben. Vom Titel weg markierte dieser Text den Bruch und die Diskontinuität mit autoritären Erziehungsmustern und unternahm den Versuch selbst in der psychoanalytischen Theoriebildung die sozialdisziplinierenden Effekte von Psychoanalyse und Psychiatrie umzukehren und – im Sinne einer radikalen und „militanten“ Kapitalismuskritik im Marxschen Sinne[65] – umzuwerten.

 Der Anti-Ödipus markiert insofern in Folge der 68er-Bewegung einen grundlegenden Wechsel der analytischen Beobachterperspektive indem die von ihm empfohlene „Schizo-Analyse“ mit allem Nachdruck die Rationalität und innere Logik menschlicher „Delirien“ als symbolische (Un-)Bewußsteinsformen betonte und diese als Teile der menschlichen Vernunft, des menschlichen (Un-)Bewusstseins verteidigte. Einige der intellektuellen Voraussetzungen dieses Meisterwerkes wurden im Rahmen dieses Artikels bereits diskutiert. Es sei nur mit Nachdruck daran erinnert, dass diese Arbeit nach wie vor ein immenses Archiv an Verweisen und verarbeiteten Texten bietet. Hier soll im Blick auf die Antipsychiatrie in aller Kürze die bei Guattari und Deleuze gefasste deutliche Unterscheidung von Paranoia und Schizophrenie vorgestellt und paraphrasiert werden, weil sie auch die heute gängige Diagnostik der „paranoiden Schizophrenie“ fundamental in Frage stellt.

 Denn im Anti-Ödipus besetzt der Paranoiker einen höheren „zentralen“ Ort der kapitalistischen Herrschaft, er baut sich (mentale) Repräsentationsräume für seine theatralischen Inszenierungen und meint einer „höheren“ Klasse und Rasse anzugehören. Er führt Klassen- und Rassentrennung ein, er despezifiziert[66] den Körper der Gesellschaft, den „Sozius“, und beginnt Massen und Meuten maschinell zu besetzen und bis hin zur Menschenvernichtung zu steuern. Sein Herrschaftswahn will die flächendeckende „Integration durch Segregation“ aller Peripherien nach rassistischen und dogmatischen Kriterien. Wie bei den Nationalsozialisten soll der Lebensraum des bzw. seines (deutschen) Volkes, das Territorium, sukzessive erweitert werden. Der paranoid gewordene faschistische Staat (aber auch ein paranoisches Individuum) besetzt die Ländereien, territorialisiert, setzt sich in den entlegensten Orten totalitär fest, beutet aus und terrorisiert die Anderen, die Randständigen, die Ausgeschlossenen, die Minoritäten, die an diesem Terror Leidenden, denen krankhaft die (vermeintlich) verdoppelte Stärke seiner Stärke bis hin zur totalen Vernichtung aufgezwungen wird. Der Vergleich mit der Tötungsmaschinerie des Holocaust liegt hier nicht nur nahe. 

 Denn die von den Nazis verlogen und euphemistisch sogenannte „Endlösung“, die in Wahrheit für Millionen von Menschen (jüdische MitbürgerInnen, Roma, Linke, Homosexuelle und eben der Norm nicht entsprechende Subjekte) den sicheren Tod bedeutete war vor allem im Wesen ihrer Technik die (massen-)mörderischste paranoische Maschine, die technokratisch bis hin zur Errichtung von Gaskammern je in die Realität umgesetzt wurde.[67] In einem derartigen paranoiden System benötigt der wahnsinnige Herrscher nicht nur seine Offiziere, Assistenten und Adepten, er muss zur Stabilisierung seiner Macht aggressiv eine statistische und exekutive, mithin eine polizeiliche Ordnung ins Land hineintreiben, um es verwaltbar und damit beherrschbar zu machen. Dazu baut er sich (ob im Delirium oder in der sozialen Wirklichkeit ist sich da gleich) allgemeine Berechnungsmaschinen und Aufschreibesysteme, die ihm die Macht über die Massen geben sollen. Er will über Millionen herrschen und sie in immer größeren statistischen Zahlen repräsentiert sehen und treibt sich selbst in den absoluten Punkt der totalen Überwachung. Er betreibt, so präzisieren Guattari und Deleuze in aller Kürze, eine „molare Makrophysik“ der toten und tötenden Anti-Produktion, die den gesamten sozialen Raum auf Dauer ins Unglück stürzt.

„Elias Canetti hat sehr gut gezeigt, wie der Paranoiker Massen und >>Meuten<< organisiert, wie er sie kombiniert, sie in Gegensatz stellt, sie steuert. Der Paranoiker macht Massen zu Maschinen, er ist der Künstler großer molarer Einheiten, statistischer Formationen, herdenhafter Gebilde, organisierter Massenphänomene.“[68]

Demgegenüber solidarisiert sich der Schizophrene mit den Verworfenen, den verfolgten „Rassen“ und Klassen. Er ist ein verfolgter jüdischer Mitbürger, ein versklavter Schwarzer („un nègre“), ein chinesischer Wanderarbeiter, ein gekündigter Proletarier oder eine vergewaltigte Frau. Er hat eine schwarze, eine gelbe, eine rote Haut, er ist ein Tier, eine Ratte, ein Hamster (im Rad), gleichsam ein Schnabeltier oder ein vierbeiniger Vogel.[69] Und ein von den Eltern geprügeltes Kind. Und manchmal heult er vor Schmerzen wie ein geschlagener Hund. Er flieht als Exilierter den mit Blut durchtränkten (deutschen) Boden, so wie die Revolutionäre – man denke nur an Marx oder Heinrich Heine – oft genug ihr eigenes Land fliehen mussten, weil für die Staatsparanoiker die Gefahr bestand, dass ihre demokratischen und sozialen Impulse die Massen gegen die Herrschenden aufbringen könnten.

 Er ist auf der Flucht, ein Nomade auf Wanderung und beständig in der Diaspora. Er flieht wie Trotzki vor der stählernen Übermacht der Bürokratie Stalins und geht daher von der Peripherie her auf das Zentrum los.[70] Vom Blickwinkel und der Beobachterperspektive her hat er die größere Chance zu sehen, was in den Zentren der Bourgeoisie eigentlich passiert. Der Schizophrene verlässt den für ihn vorgesehenen Platz in der Fabriksmaschine des Kapitalismus und flieht aus den vorgefertigten Positionen, Stellungen und Standpunkten. Deshalb verliert er seine „Identität“. Deshalb löst sich – auch in der psychiatrischen Beobachtung – sein „Ich“ auf. Der Schizophrene betreibt mithin eine revolutionäre „molekulare Mikrophysik“ des lebenden und belebenden Produktionsprozesses im Blick auf eine bessere Zukunft des sozialen Zusammenlebens.

 „Doch der (schizophrene, A.B.) Revolutionär weiß, daß die Flucht revolutionär ist, withdrawals, freaks, sofern man nur die Decke mit sich reißt oder ein Stück des Systems fliehen läßt. Durch die Mauer brechen, und sei es, daß man sich zum Neger macht nach Art von John Brown. George Jackson: Es mag sein, dass ich fliehe, aber während meiner ganzen Flucht suche ich eine Waffe!“[71]

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IV Schluss

Terminator
© Terminator 2: Judgement Day, James Cameron (1991)
CarolcoPictures,, Lightstorm Entertainment,  Studio Canal Plus

 François Dosse hat in einem Interview mit großem Nachdruck darauf hingewiesen, dass diese stark von Guattari ausgehende „Militanz“ in Paris nach dem Mai 68 – und dabei vor allem in maoistischen Zirkeln wie der Gauche prolétarienne in Nanterre – eine dezidiert „pazifizierende“ Rolle gespielt hat.[72] Denn wo gesprochen wird und man sagen und schreiben kann, was man in seiner Wut und in seinem Zorn auf die bestehenden Verhältnisse denkt, da wird noch nicht geschossen oder gemordet. Dosse berichtet auch von Kontakten der beiden mit dem Heidelberger Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK)[73], dass im Gegensatz zu den französischen Verhältnissen direkt in die Illegalität gedrängt wurde und sich zu großen Teilen der zweiten Generation der RAF anschloss. Haben wir aus Frankreich indes je von linksradikalem Terror im Sinne der RAF oder der Roten Brigaden gehört? Es scheint gesichert zu sein, dass durch die Radikalisierung der Studentenbewegung in der Bundesrepublik erneut eine radikale Reform der Psychiatrie ver- und behindert wurde, die sich wie in diesem Artikel versucht wurde zu zeigen – nicht zuletzt auf Diskussionen in der Weimarer Republik hätte stützen können. Denn sowohl die Transzendentalphilosophie Cassirers – über die Vermittlung Michel Foucaults – als auch die materialistische Psychiatrie des Marxismus im Sinne Wilhelm Reichs hätte mit dem Anti-Ödipus repatriiert werden können, was indes nicht und nie geschah. Demgegenüber hielten Deleuze und Guattari nachgerade apodiktisch fest:

 
„Die Schizo-Analyse ist transzendental und materialistisch zugleich.“[74]

 


Anmerkungen


[1] Vgl. einleitend Bäuml, Josef: Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Ein Ratgeber für Patienten und Angehörige, Springer Medizin Verlag, Heidelberg 1994.

[2] Vgl. Huber, Gerd (unter Mitarbeit von Gisela Gross): Psychiatrie. Lehrbuch für Studium und Weiterbildung, 7. Auflage, Schattauer Verlag, Stuttgart 2005, 366

[3] ibid. 341.

[4] Ich habe jüngst angesichts der unsäglichen Debatte um die kruden Thesen Thilo Sarrazins versucht, umgekehrt und dementgegen den Nachweis zu führen, dass bemerkenswerterweise viele Begriffe der Biologie wissenschaftsgeschichtlich auf sozioökonomische bzw. wirtschaftsgeschichtliche Termini zurückgehen. Dies kann vor allem angesichts von Begriffen wie Gabe, Begabung, Talent, Erbe, Vererbung, Erbanlage, Erbgut,Veranlagung oder Reproduktion mit allem Nachdruck argumentiert werden. Vgl. Barberi, Alessandro: Zur Biologisierung des Sozialen, in: ZUKUNFT 10/2010, 22-26. Online unter: http://diezukunft.at/?p=1598

[5] Vgl. Huber, Psychiatrie, 366.

[6] ibid. 369.

[7] Vgl. dazu die wissenschaftsgeschichtlichen Abhandlungen zur „Geschichte unseres Gehirns“: Hagner, Michael: Geniale Gehirne, Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Wallstein Verlag, Göttingen 2004 und Borck, Cornelius: Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie (= Wissenschaftsgeschichte), Göttingen: Wallstein 2005. Im Zusammenspiel dieser beiden Studien steht vor Augen, dass verschiedene Diskurse, Wissensformen, Instrumente und Apparaturen an der Konstitution des sozial-, medien- und kulturgeschichtlichen „Objekts Gehirn“ beteiligt waren und sind.

[8] Die Studien des Psychiaters und Psychotherapeuten Stefan Weinmann von der Berliner Charité legen etwa nahe, dass die Einführung der atypischen Neuroleptika nicht aufgrund medizinischer Erkenntnisse, sondern über die Umsetzung von Marktstrategien der Pharmaindustrie erfolgte. Vgl. Stefan Weinmann: Erfolgsmythos Psychopharmaka – Warum wir Medikamente in der Psychiatrie neu bewerten müssen, Psychiatrieverlag 2008.

[9] Vgl. Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische, Carl Hanser 1982. Vgl. auch Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: ders.: Gesammelte Werke, Vierter Band, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999.

[10] Vgl. Karl Marx / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, Dietz Verlag, Berlin 1969, 5-530 passim.

[11] Vgl. dazu Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion, in: Baecker, Dirk (Hg.): Kapitalismus als Religion, Berlin 2002. 15-18. Benjamin spricht hier davon, dass der protestantisch-puritanische Charakter des Kapitalismus auf eine „endliche völlige Verschuldung Gottes“ abzielt und hinausläuft. Ibid. 16.

[12] Vgl. zum Gegensatz von elementaren und komplexen Verwandtschaftsstrukturen: Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981. Sowohl intellektuell als auch im Sinne eines zeithistorischen Dokuments ist dahingehend immer noch lesenswert: Bateson, Gregory / Jackson, Don D. et. al.: Schizophrenie und Familie, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1984.

[13] Als österreichisches Beispiel kann hier auf den horriblen Fall des Psychiaters Dr. Heinrich Gross verwiesen werden, der „Am Spiegelgrund“ in zahlreichen Fällen Euthanasie betrieb. Vgl. dazu Neugebauer, Wolfgang / Schwarz, Peter: Der Wille zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der gesellschaftlichen Integration ehemaliger Nationalsozialisten, Herausgegeben vom Bund sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und KünstlerInnen (BSA), Czernin Verlag, Wien 2005.

[14]  Vgl. dazu Wallerstein, Immanuel: Der rassistische Albatross. Die Sozialwissenschaften, Jörg Haider und der Widerstand, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ÖZG) 4/2003/3, 124-143 passim. Des Weiteren ders.: Das Weltsystem seit 1945, online unter: http://www.eurozine.com/articles/article_2011-04-29-wallerstein-de.html (Juli 2011). Anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums der Revolution von 1968 erschien unter anderem folgende Zusammenstellung zentraler Dokumente: Ebbinghaus, Angelika (Hg.) Die 68er. Schlüsseltexte einer Revolte, Promedia, Wien 2008.

[15] Vgl. Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bände, Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt 1994.

[16] Vgl. Cassirer, Ernst: Zur Pathologie des Symbolbewusstseins, in: ders., Philosophie der symbolischen Formen, 3. Band, Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt 1994, 238-325.

[17]  Vgl Cassirer, Ernst: Substanz und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1994.

[18]  Vgl. Binswanger, Ludwig / Warburg, Aby: Die unendliche Heilung, Diaphanes, Zürich-Berlin 2007.

[19] Vgl. Andersch, Norbert: 1929-2009. Vor 80 Jahren: Zur Pathologie des Symbolbewusstseins. Ernst Cassirers uneingelöster Beitrag zu einer radikalen Reform der Psychopathologie, online unter: http://tinyurl.com/6b3bt76 (Juli 2011). Ich danke an dieser Stelle Christian Zolles für diesen Hinweis und überaus heilende Gespräche.

[20] Vgl. dazu Bourdieu, Pierre: Die politische Ontologie Martin Heideggers, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988.

[21]  Vgl. Foucault, Michel: Psychologie und Geisteskrankheit, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968.

[22] Vgl. die ebenfalls mit großer Verspätung im Deutschen erschienene Rezension der Philosophie der symbolischen Formen, die in Frankreich 1966 in den Quinzaine littéraire erschienen ist: Foucault, Michel: Eine Geschichte, die stumm geblieben ist, in: ders.: Dits et Ecrits. Schriften. Erster Band, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001. Die Rezeption Cassirers setzte im deutschsprachigen Raum im Grunde erst in den 1990er Jahren ein, war jedoch für verschiedene Forschungsdurchbrüche in Frankreich – etwa für den Begriff des „symbolischen Kapitals“ bei Bourdieu – konstitutiv.

[23]  Vgl. Reich, Wilhelm: Charakteranalyse, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989.

[24]  Vgl. Reich, Wilhelm: Massenpsychologie des Faschismus, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1986.

[25] Vgl. dazu auch Reich, Wilhelm: Der Einbruch der Sexualmoral, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1972.

[26] Vgl. zu diesem Begriff auch die Habilitationsschrift von Eva Horn, die eine derartige Konstellation der Staatsparanoia im Kalten Krieg und angesichts der Atombombe untersucht: Horn, Eva: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Fischer, Frankfurt am Main 2007, 382 ff. Vgl. dazu auch: Schneider, Manfred: Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin 2010.

[27] Vgl. Reich, Wilhelm: Die schizophrene Spaltung, in: ders.: Charakteranalyse, 520-654, hier: 521.

[28] ibid. 522.

[29]  ibid. 524.

[30]  Vgl. einleitend Deleuze, Gilles: Woran erkennt man den Strukturalismus, Merve, Berlin 1992 und François Dosse, Geschichte des Strukturalismus, 2 Bände, Fischer, Frankfurt am Main 1999.

[31] Vgl. einleitend Roudinesco, Elisabeth: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben – Geschichte eines Denksystems, Kiepenheuer und Witsch, Köln 1996.

[32] Diese Schreibung findet sich bei Lacan, der im Französischen mit der Setzung dieses /t/ in der psychoanalytischen Di(t)mension darauf verweisen wollte, dass Arzt und Patient sich immer im Raum der Sprache (fr. dit bedeutet Sagen) und d. i. eben der Raum des Symbolischen, der Raum von Diskursen befinden. Vgl. dazu etwa das Vorwort zu Lacan, Jacques: Schriften II, Quadriga, Berlin 1991.

[33] Vgl. dazu die hervorragende deutsche Einführung in Lacan von Lang, Hermann: Die Sprache und das Unbewusste. Jacques Lacans Grundlegung der Psychoanalyse, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986.

[34] Vgl. Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren Beziehungen zur Persönlichkeit und Frühe Schriften über die Paranoia, Passagen-Verlag, Wien 2002.

[35] Vgl. Lacan, Jacques: Die Wissenschaft und die Wahrheit, in: ders.: Schriften II, 231-257.

[36] Dabei ist bemerkenswert, dass Freud am Ende seiner Analyse der Paranoia des Senatspräsidenten Schreber dessen „Störung“ mit der Psychoanalyse in Übereinstimmung bringt: „Die durch Verdichtung von Sonnenstrahlen, Nervenfasern und Samenfäden komponierten ‚Gottesstrahlen‛ Schrebers sind eigentlich nichts anders als die dinglich dargestellten, nach außen projizierten Libidobesetzungen und verleihen seinem Wahn eine auffällige Übereinstimmung mit unserer Theorie.“ Vgl. Freud, Sigmund: Über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia, in: ders., Gesammelte Werke. Achter Band. Werke aus den Jahren 1909-1913, Fischer, Frankfurt am Main 1999, 239-320, hier: 315.

[37] Vgl. Lacan, Jacques: Fadenringe, in: ders.: Encore. Das Seminar Buch XX, Quadriga, Berlin 1991, 127-160.

[38] Die Arbeiten Slavoj Žižeks stellen auf verschiedenen Ebenen auch den Versuch dar, diesen Lacanschen Materialismus mit dem historischen Materialismus Marxens zu überkreuzen: Vgl. dazu z. B. Žižek, Slavoj: Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005. Vgl. dazu auch: Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster, München, Fischer 1995.

[39] Italien kommt in den Siebzigerjahren auch insofern eine Sonderstellung zu, als mit dem sog. „Historischen Kompromiss“ zwischen dem Christdemokraten Aldo Moro und dem Kommunisten Enrico Berlinguer eine Koalition möglich schien. Diese wurde durch den Tod von Moro verhindert. Die Stärke der Linken gab der italienischen Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt einen explizit (macht-)kritischen Rahmen, der auch mit der Widerstandslinie der Antipsychiatrie in Zusammenhang steht. Vgl. zum allgemeinen zeithistorischen Rahmen im Blick auf den internationalen Terrorismus die bemerkenswerte Dokumentation von Igel, Regine: Terrorjahre. Die dunkle Seite der CIA in Italien, Herbig Verlag, München 2006.

[40] Zu bedenken ist an dieser Stelle auch, dass der Radikale Konstruktivismus Ernst von Glasersfelds und Heinz von Foersters – der auch ein Kantianismus war – in eben dieser Zeit Kontur gewann: Vgl. Schmidt, J. Siegfried (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1987. Nachrevolutionäre Zeiten sind eben radikale Zeiten.

[41] Vgl. Basaglia, Franco: Was ist Psychiatrie? In: ders. (Hg.): Was ist Psychiatrie?, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974. Die Effekte derartiger Stigmatisierungen in Bezug auf die Konstitution menschlicher Subjektivität untersuchte Goffmann, Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975. Vgl. dazu auch den aktuelleren Sammelband von Menke, Bettine / Vinken Barbara (Hg.): Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, Wilhelm Fink, München 2004.

[42] Vgl. Basaglia, Franco / Basaglia-Ongaro, Franca (Hg.): Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1980. Eine ganz ähnliche Perspektive nahm Pierre Bourdieu nur wenig später 1984 in seinem Meisterwerk Homo Academicus ein, das den sozialempirischen und statistisch erhärteten Nachweis für viele auch im Umfeld der Antipsychiatrie zirkulierende Argumente lieferte. Hier sei nur an das Kapitel „Kategorien des professoralen Verstehens“ erinnert, in dem u. a. eine Blütenlese des (professoralen) Stumpfsinns (samt dessen rituellen Beschimpfungen) geboten wird. Vgl. Bourdieu, Pierre: Homo Academicus, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988, 353 ff., hier: 368-369.

[43] Vgl. Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1968.

[44] Vgl. Basaglia, Franco: Psychiatrie unter Beteiligung des Volkes, in: ders.: Die Entscheidung des Psychiaters. Bilanz eines Lebenswerks, Psychiatrie Verlag, Bonn 2002, 167-181, hier: 175.

[45] Vgl. Laing, Ronald D.: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie über geistige Gesundheit und Wahnsinn, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994.

[46] Vgl. zur Mehrdeutigkeit des Begriffs „Asyl“ auch Vogl, Joseph: Asyl des Politischen, in: Maresch, Rudolf/Werber Niels (Hg.): Raum. Wissen. Macht., Frankfurt am Main 2002, 156-172.

[47] Vgl. Laing, Ronald D.: Das Selbst und die Anderen, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1973.

[48] Vgl. Laing, Ronald D.: Die Politik der Familie, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 1994, 67.

[49] Vgl. Robinson, Peter: R. D. Laings Asylum, Peter Robinson Associates Production 1972.

[50] Vgl. Laing, Ronald D.: Knoten, Rohwolt, Reinbeck bei Hamburg 1977.

[51] Vgl. dazu auch den wichtigen Text, der mit ein Ausgangspunkt von Laings Überlegungen war: Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in ders.: Schriften I, Quadriga, Berlin 1991, 61-70. Vgl. dazu auch den Text von Winnicot, D. W.: Mirror-role of Mother and Family in Child Development, in: Lomas, P. (Hg.): The Predicament of the Family, Hogarth Press 1967 auf den sich Laing in diesem Zusammenhang bezieht.

[52]  Vgl. Laing, Die Politik der Familie, 159 ff.

[53]  ibid. 14.

[54]  ibid. 122.

[55]  Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971, 451.

[56]  Vgl. Foucault, Michel: Schriften. Dits et Ecrits. Vier Bände, Suhrkamp, Frankfurt am Main (ab) 2001.

[57] Vgl. Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt am  Main 1993

[58]  Vgl. Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, 57. Das Foucault sich vor allem gegen Ende seines Lebens ein brüderliches Verhältnis zur Kritischen Theorie wünschte lässt sich auch gut dadurch plausibilisieren, dass die „Dialektik der Aufklärung“ vom Titel weg diese dunklen Seiten der Vernunft ebenfalls unter die Lupe nahm: Vgl. Adorno, Theodor / Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Fischer, Frankfurt am Main 1971, passim.

[59]  Vgl. Foucault, Michel, Die Anormalen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007. Vgl. dazu auch die wunderbare literaturgeschichtliche Arbeit aus dem Umkreis der Kritischen Theorie von Mayr, Hans: Außenseiter, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981.

[60]  Vgl. Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, Merve, Berlin 2001.

[61]  Vgl. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, Fischer, München 1988.

[62]  Vgl. Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Merve, Berlin 1992.

[63]  Vgl. Althusser, Louis: Für Marx, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2011.

[64]  Vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Anti-Ödipus.Kapitalismus und Schizophrenie, suhrkamp, Frankfurt am main 1988.

[65] Der Anti-Ödipus weist eine schiere Unzahl positiver Marxbezüge auf, was in der deutschen Rezeptionsgeschichte schlicht unterging oder untergehen sollte.

[66] Der Begriff der „Despezifikation“ wurde von Domenico Losurdo in die Diskussion eingebracht. Er findet sich nicht im Anti-Ödipus, trifft aber punktgenau die wichtigsten Argumentationslinien von Deleuze und Guattari. Vgl. dazu Losurdo, Domenico: Kampf um die Geschichte, Der historische Revisionismus und seine Mythen. Nolte, Furet und die anderen, Papy Rossa Verlag, Köln 2007.

[67] Vgl. dazu das unhintergehbare Standardwerk von Hilberg, Raoul: Die Vernichtung der europäischen Juden, Fischer, Frankfurt am Main 1990. Vgl. auch die feinsinnige Analyse der wenigen Fotografien, die wir aus dem Umfeld der Gaskammern in Auschwitz besitzen, von Didi-Hubermann, Georges: Bilder trotz allem, München, Wilhelm Fink 2007.

[68]  Vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Anti-Ödipus, 360-361.

[69] Vgl. Engels, Friedrich: Anti-Dühring. Vorwort zu der Auflage von 1885, in: MEW 20, S. 13.

[70]  Vgl. Trotzki, Leo: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Dietz Verlag, Berlin 1990.

[71] Vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Anti-Ödipus, 358.

[73] Vgl. Dosse, Gilles Deleuze. Félix Guattari. Biographie croisée, Kapitel „Antipsychiatrie“, 394-399.

[74] Vgl. Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Anti-Ödipus, 141.

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Mag. Dr. phil. Alessandro Barberi

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