©
Shutter Island, Martin Scorsese (2010) Paramount Pictures
"Der Wahnsinn
ist eine soziale Konstruktion"
Zur
Aktualität der Antipsychiatrie
von
Alessandro Barberi
„Die Psychiater
verwechseln Armut und Elend mit psychischen Leiden;
sie
verwechseln zwei Aspekte:
Ein Mensch
ist bedürftig, fühlt sich elend und schlecht,
und sie
sagen, er ist schizophren.“
Franco Basaglia
Nach der
Durchsetzung
biologisch-neurologischer Paradigmen stellen sozial-wissenschaftliche
Erklärungen psychischer Krankheiten oder Störungen
ihrem unterrepräsentierten
Gewicht nach einen blinden Fleck im Diskurs der Psychiatrie dar. Die in
den
Siebzigerjahren aufkommende Antipsychiatrie fasste indes die normalen
wie
pathologischen Formen des menschlichen (Un-)Bewusstseins als Teil des
„symbolischen und sozioökonomischen
Feldes“ auf und ist insofern immer noch von
großer Aktualität und Brisanz. Gerade dann, wenn im
Blick auf eine
Wissenssoziologie der Naturwissenschaften darauf bestanden wird, dass
auch die
Modelle der Lebenswissenschaften zu einem großen Teil auf der
diskursiven und
modellbildenden Praxeologie von Medizinern, Biologen oder Physiologen
beruhen.
Die folgenden Ausführungen zeigen einleitend auf, wie der
Tendenz nach
soziologische Ätiologien durch das Übergewicht von
biologischen
Erklärungsmodellen im Feld der Psychiatrie abgedrängt
werden. In einem zweiten
Schritt werden in aller gebotenen Kürze mit Ernst Cassirer
(bzw. Ludwig
Binswanger & Aby Warburg), Wilhelm Reich und Jacques Lacan drei
Vorläufer
antipsychiatrischer Argumentationen in Erinnerung gerufen, um mit
Franco
Basaglia, Ronald D. Laing, Michel Foucault, Gilles Deleuze und
Félix Guattari
antipsychiatrische Grundpositionen im eigentlichen Sinne zu
thematisieren.
__________________________________
I
Einleitung
© Titticut Follies, Frederick Wiseman (1967) Zipporah Films
In den
Ätiologien unserer
psychiatrischen Lehrbücher finden sich – zumeist in
der methodischen Ableitung
der Psychosen aus dem schizophrenen
Formenkreis
– mehrere wissenschaftlich untersuchte Faktoren, welche die
Bedingungen und
Voraussetzungen psychischer Erkrankungen erklären sollen: So
hält Gerd Huber
unter der Mitarbeit von Gisela Goss in Psychiatrie.
Lehrbuch für Studium und Weiterbildung
fest,
dass sich bereits um 1900 zwei Pole der psychiatrischen
Ätiologie
herauskristallisiert hatten: ein vorwiegend biologisch-organischer
(etwa bei
Bleuler) und ein psycho- und soziogenetischer (etwa bei Jaspers)
Erklärungsrahmen.
Dabei werden im Rahmen der psychiatrischen Klassifikationsordnung im
Sinne
einer multifaktoriellen Genese Interaktionen von (biologischer) Anlage und (sozialer) Umwelt
gegeneinander abgewogen. Verkürzt
gesagt stehen sich im Sinne dieser methodischen Polung der
Ursachenforschung im
Bereich der Seelenkunde zwei allgemeinere Bereiche menschlichen Wissens
gegenüber: Hier die Gesamtheit der Lebenswissenschaften
(Medizin, Physiologie
bzw. Neurologie), die – zusammenfassend gesagt –
allesamt auf Funktionsweisen
der Natur rekurrieren, und da die
empirischen Sozialwissenschaften bzw. Humanwissenschaften
(Anthropologie,
Soziologie, Psychologie), die sich ihrerseits auf die Funktionsweisen
der Gesellschaft bzw. der Kultur beziehen. Dabei formulieren Huber
und Goss:
„Die Schizophrenie
ist eine vorwiegend erbbedingte
Erkrankung. Zu dieser Annahme berechtigen die Befunde der Familien-,
Zwillings- und Adoptionsuntersuchungen, insbesondere der Unterschied
der Konkordanzziffern bei eineiigen und bei zweieiigen Zwillingen.
Andererseits … [wurde nachgewiesen, A.B.] …,
daß
peristatische und dabei somatische, psychische und soziale Faktoren
für die Manifestation, die Übersetzung vom Genotyp in
den
Phänotyp eine Rolle spielen."
Dabei ist im
Blick auf diese
Argumente bemerkenswert, dass trotz der Vorgabe einer wissenschaftlich
„neutralen“ Ausbalancierung von
natürlichen und gesellschaftlichen Faktoren,
von der Akzentsetzung her die (natürlichen) Erbbedingungen
„vorwiegend“ sind
und die peristatischen nur „eine Rolle“ am Weg
„vom Genotyp in den Phänotyp […]
spielen“, was de facto auch eine Rückbuchstabierung
soziologischer Begriffe in
biologische darstellt.
Wie wirkt sich
in einem
weiteren Schritt dieses (auch machtpolitische) Gefälle
zwischen Lebens- und
Humanwissenschaften im Aufbau der psychiatrischen Ätiologie
bei Huber und Gross
aber näherhin aus? In fünf Kapiteln behandeln sie
ausgehend von den (soeben
zitierten) „Familien-, Zwillings- und
Adoptionsstudien“ auch „Indizien für eine
somatische Hypothese“, wobei sie hier biochemische,
pathophysiologische und
neuroradiologische Befunde verwerten. Darüber hinaus
analysieren sie die Rolle
und Funktion von „Konstitution, Körperbau und
Primärpersönlichkeit“ sowie die
„Multikonditionalität“ peristatischer
Faktoren. Ganz am Ende ihrer Abhandlung
erläutern sie dann auch psycho- und soziogenetische Theorien
der
Krankheitsursache, wobei es gerade aus sozialwissenschaftlicher
Sicht mehr als bezeichnend ist, dass – ähnlich wie
im philosophischen Diskurs –
der ablehnende Begriff des „Soziologismus“
auftaucht, der eine „universelle
These zur Erklärung anthropologischer Zentralprobleme
einschließlich der sog.
Geisteskrankheiten“
behauptet habe. Und genau
an dieser Stelle kommen nun die AutorInnen, was für die hier
vorgestellten
Ausführungen von großer Bedeutung ist, auf die
Antipsychiatrie zu sprechen:
„Auch wenn die
Psychose in einem anderen sog. psychedelischen Modell eine wertvolle
Erfahrung und ein natürlicher Vorgang der Heilung des von der
Gesellschaft Normalität genannten Zustandes von Entfremdung
ist, wird
anderen, den Eltern, der Familie, die Schuld für ihr
Zustandekommen
aufgebürdet. Die gefährliche Tendenz,
Sündenböcke zu suchen und zu
finden (>scapegoat stereotype<) ist den verschiedenen
Varianten
der antipsychiatrischen Ideologie (LAING, BASAGLIA, COOPER, FOUCAULT,
JERVIS, WOLLF und HARTUNG) gemeinsam […]"
Was geschieht indes,
wenn man
die eingangs knapp skizzierte „biologi(sti)sche“
Tendenz der ätiologischen
Faktorenanalyse grundlegend aus soziologischer, ökonomischer
und historischer
Perspektive umkehrt und es als eine gefährliche
Ideologie betrachtet psychische Krankheiten oder
Störungen der Tendenz nach
im Sinne einer biologischen Doxa
auf
die neurologische Natur oder auf chemische Prozesse im Gehirn
zurückzuführen?
Was
wenn es nur auf die ökonomischen Interessen der
Pharmaindustrie zurückgeht,
dass die Heilung eines Menschen heutzutage neurologisch fast
ausschließlich
über atypische Neuroleptika in Aussicht gestellt wird?
Was
wenn schon lange vor der Antipsychiatrie auch in den Lebens- und
Humanwissenschaften klar geworden ist, dass der Gegensatz von Normal
und
Pathologisch einzig ein gradueller ist?
Und was wenn
– wie der
Ideologiekritiker Karl Marx vermutete
–
ein(e) Arbeitslose(r) von sich selbst und ihren/seinen Produkten entfremdet wird und deshalb ins Burn-Out
rast? Was wenn in unserer Gesellschaft die Schuld am
„Versagen“ oder an der
menschlichen „Funktionsuntüchtigkeit“ eben
nicht bei den Ausgeschlossenen
liegt, sondern sich einer allgemeinen und systematischen Verschuldung
im Sinne der kapitalistischen Ökonomie verdankt?
Was
wenn die Verwandtschaftsstrukturen unserer Familien kein Idyll
darstellen,
sondern psychische Störungen tatsächlich aus den
inneren Konstellationen und
Konflikten der – wie man in den Siebzigerjahren gerne und
nicht zu Unrecht
sagte –„bürgerlichen Familie“
resultieren?
Und was, wenn nicht die
Antipsychiatrie, sondern vielmehr die Psychiatrie vor allem im Blick
auf den
Nationalsozialismus und die faschistischen Euthanasieprogramme daran
beteiligt
war, Sündenböcke „zu suchen und zu
finden“, um etwa Linke, Homosexuelle und
unsere jüdischen MitbürgerInnen
>stereotyp< zu >scapegoats< zu
machen und dann unter Einsatz aller technologischen Mittel zu
töten?
All diese
Fragen sind einzig
und allein rhetorisch und verweisen auf einen machtkritischen Impuls,
der im
Kontext der internationalen „Weltrevolution von
1968“ (Immanuel Wallerstein)
u.a.
mit der Antipsychiatrie verbunden war. Denn die Jugendrevolte stellte
die davor
etablierten Bestände der wissenschaftlichen Ordnungsmuster
– und dabei auch
jene der Psychiatrie – aus sozialen, ökonomischen
und politischen Gründen
zutiefst infrage und forderte ihre Veränderung. Der
allgemeinen
„revolutionären“ Aufbruchstimmung jener
Jahre entsprach eine grundlegende
demokratische Kritik jeglicher Autorität, die sich
konsequenterweise auch in
den akademischen Institutionen fortsetzte. Und so stellt auch die
Antipsychiatrie eine politische Widerstandslinie dar, die ohne diesen
sozialhistorischen Kontext nicht angemessen bewertet werden kann. Es
lassen
sich allerdings bereits in der Zeit vor 1968 in verschiedenen
Diskussionszusammenhängen Argumente ausfindig machen, die in
der
Antipsychiatrie gebündelt und aktualisiert wurden.
__________________________________
II
Vorläufer: Verschiebungen (in) der Psychiatrie
©
One flew over the Cuckoo's Net, Milos Forman (1975) United Artists
2.1.
Ernst Cassirer: Zur Pathologie des Symbolbewusstseins
In seiner Philosophie der symbolischen Formen hat der große
radikalidealistische und
neokantianische Transzendentalphilosoph Ernst Cassirer (1874-1945) dem
Thema
der Pathologie des Symbolbewusstseins
ein
eigenes Kapitel im dritten Band gewidmet. Im großen Bogen der
Philosophie der symbolischen Formen,
die
das menschliche Bewusstsein in seinen symbolischen Aussagefunktionen
historisch
von der Magie und dem Mythos über die Religion, das Gesetz,
die Politik und die
Selbstreflexion der Wissenschaft hin verfolgt, ist es bemerkenswert,
dass
Cassirer zum Ende seiner Darstellung hin die Frage der Pathologie des
menschlichen „Geistes“ anhand der Aphasielehre
erläutert und damit seelische Störungen
bereits hier auf sprachliche Fehlfunktionen bezieht. Die
Geisteskrankheiten
haben – im Sinne seiner Analyse von Substanz
und Funktionsbegriff
–
keinen wesenhaft und substantiell
„unvernünftigen“ Charakter, sondern
resultieren aus dem Zusammenbruch der symbolischen (d. h. auch
mentalen)
Grundstrukturen innerhalb einer gegebenen Gesellschaft bzw. Kultur, die
Bedingung und Voraussetzung für Sprechen, Handeln und deren
Stabilität sind.
Dies ist umso
bemerkenswerter
als jüngst die Krankenakten von Aby Warburg, der am 16. April
1921 in Luwig
Binswangers Sanatorium Bellevue mit
der Diagnose Schizophrenie eingeliefert wurde, und die
diesbezügliche
Korrespondenz Binswangers publiziert wurden, aus denen deutlich
hervorgeht,
dass es – neben den Gesprächen mit Fritz Saxl
– vor allem die Besuche Ernst
Cassirers im Verlauf des Jahres 1923 waren, welche die (un)endliche
(Selbst)heilung Warburgs einleiteten.
Cassirer
rekapituliert mithin
in seinem Hauptwerk auch den „Wahn“ Aby Warburgs,
dessen Genesung wohl mit Gesprächen
über das Symbolische einherging. Aber damit nicht genug schlug
Cassirer
Binswanger zu einem erstaunlichen Zeitpunkt eine radikale Reform der
Psychopathologie vor, in der nicht nur die biologisch-neurologischen
Aspekte im
Blick auf den Patienten eine Rolle spielen sollten, sondern vor allem
dessen
(phänomenologisch über das Denken gegebene)
Fähigkeit zur Symbolisierung bzw.
deren Zerstörung. Psychische Krankheit wäre demnach
vor allem eine Instabilität
im Symbolischen und keine neurologische Anomalie. Norbert Andersch hat
dies
jüngst in einem bemerkenswerten Artikel herausgearbeitet.
Binswanger ist von den Vorschlägen Cassirers anfangs
begeistert,
doch verhindern sowohl die Flucht Cassirers vor den Nationalsozialisten
und sein dadurch mitverursachter früher Tod als auch die
bezeichnende Wende Binswangers zu Heideggers (politischer)
Fundamentalontologie
eine
(gestaltpsychologische) Transformation der Psychiatrie. Man kann mithin
Cassirers Pathologie des
Symbolbewusstseins mit Fug und Recht als eine Anti- oder
Gegenpsychiatrie avant la lettre
bezeichnen. Dies auch
deshalb weil der „gefährliche Ideologe“
Michel Foucault in seinem ersten Buch Psychologie
und Geisteskrankheit vor allem auf Binswanger rekurrierte
und während eines Aufenthalts in Hamburg eingehend Cassirer
studierte und
exzerpierte noch bevor dieser ins Französische
übersetzt war.
Doch
dies nur als Andeutung und Vorwegnahme.
©
Repulsion, Roman Polanski (1965) Compton Films
2.2.
Wilhelm Reich: Funktionale und relationale Diagnostik der paranoiden
Schizophrenie
Hatten die
Nationalsozialisten mit Cassirer die Möglichkeit einer
phänomenologischen oder
symboltheoretischen Reform der Psychiatrie aus dem Land gejagt und
diesbezügliche Ansätze auf Jahrzehnte hin
zerstört, so wurde mit den brennenden
Büchern Wilhelm Reichs (1897-1957) auch die Basis einer
marxistisch und
materialistisch orientierten Psychiatrie ins Exil getrieben. Es ist
mehr als
bezeichnend, dass Reich genau im Jahr 1933 – nicht nur nach
Karl Kraus ein Jahr
exzessiver „Gleichschaltung“ – zwei
bedeutende Bücher publizierte, die im deutschsprachigen
Raum erst um 1968 – und dabei wieder im Umfeld der
Antipsychiatrie – intensiv
rezipiert werden sollten: die Charakteranalyse
und
die Massenpsychologie des Faschismus.
Im
Rahmen seiner bemerkenswerten und an Marx orientierten
Faschismusanalyse
untersuchte Reich eingehend die „gesellschaftliche und
ideologische Funktion“
der Sexualunterdrückung und die durch sie effektuierten
Perversionen im Herzen
der Normalität.
Bereits am Beginn der
nationalsozialistischen Herrschaft war mithin für Reich (und
andere
Psychoanalytiker aber eben auch Marxisten) klar, dass eine Gesellschaft
oder
ein Staat insgesamt – etwa im Sinne einer Staatsparanoia
– in
„kollektiven Wahn“ kippen kann. Ausgehend von
dieser massenpsychologischen
Feststellung erweiterte Reich seine Charakteranalyse 1948 um ein
Kapitel mit
dem Titel Die schizophrene Spaltung,
in dem er in eindrücklicher Art und Weise einen Fall
paranoider Schizophrenie
behandelte und dabei – ähnlich wie Cassirer
– den schizophrenen Prozess (und
damit auch das Verhältnis von Normal und Pathologisch) in
seiner Funktionalität
und Relationalität analysierte:
„Der
‚gut angepasste‛ homo normalis setzt sich aus
genau denselben [sic! A.B.] Erfahrungen zusammen wie der Schizophrene;
darüber
lässt die Tiefenpsychiatrie keinen Zweifel. Er unterscheidet
sich von ihm
allein darin, daß diese Funktionen bei ihm in anderer
Beziehung zu einander
stehen.“ (Kursivsetzungen
von A.B.)
Diese Feststellung steht mit
der Massenpsychologie gerade deshalb in Zusammenhang, weil es in
Deutschland
„ganz normale“ Menschen waren, die dem Faschismus
nachliefen und in „perverser“
Art und Weise die eigene Unterwerfung sowie die Vernichtung der Anderen
und des
(u. a. psychoanalytischen) Widerstands wünschten bzw.
begehrten. Im
Normalbürger, im Durchschnittsmenschen lauert mithin das
„Monströse“,
„Teuflische“ und „Abnorme“.
Umgekehrt eröffnet die Schizophrenie einerseits
„archaische“ Bewusstseinsformen wie jene der Mystik
oder aber auch ein
aufgeklärtes „Durchschauen“ der sozialen
Verhältnisse:
„Der
schizoide Mensch durchschaut mühelos Heuchelei und
verhehlt dies nicht. Er hat, ganz im Gegensatz zu homo normalis, ein
hervorragendes Verständnis für emotionelle
Gegebenheiten. Ich betone diese
typischen Eigenschaften des Schizophrenen, damit verständlich
wird, warum homo
normalis den schizoiden Geist so haßt.“
Dabei bündeln sich im Rahmen
der paranoiden Schizophrenie in binären Gegensätzen
wie Gut/Böse oder
Gott/Teufel in metaphorisch verschobener Weise ganz spezifische und
konfliktbeladene soziale Situationen, die in die Charakterstruktur und
-panzerung von Patienten eingelassen sind. Deshalb arbeitet Reich sich
in
diesem Text in beeindruckender Weise an der Grenze von Vernunft und
Wahnsinn
vor, indem er permanent ihre Plätze umkehrt und dabei versucht
sich aus beiden
„Denksysteme(n)“
herauszudrehen. Dabei
betont Reich auch, dass der schizophrene Bewusstseinszustand
deckungsgleich ist
mit jenem außerordentlicher Leistungen. Die Grenze zwischen
Genie und Wahnsinn
kann nicht mehr genau gezogen werden, weil diese beiden Pole
– und dafür steht
das Gesamtwerk Wilhelm Reichs – ihre Plätze tauschen
können. Auch dies eine
Verschiebung des psychiatrischen Wissens, die von der Antipsychiatrie
aufgenommen wurde und nach wie vor immenses kritisches Potential
besitzt.
©
Birdy, Alan Parker (1984) Tri Star Pictures
2.3.
Jacques Lacan: Diskursive Drehungen und Fadenringe
Die genannten reflexiven
und inversiven Analysen der
„Geistesstörungen“ wurden auch im Rahmen
jener Diskussionen aufgenommen, die man mit dem Sammelbegriff Strukturalismus zusammenfassen
kann und die sich durchwegs um die Relationalität
des Symbolischen gedreht haben.
Im
hier diskutierten Zusammenhang sind dabei vor allem die Schriften des
Psychiaters und Psychoanalytikers Jacques Lacan (1901-1981) von
großer
Bedeutung,
weil auch in ihnen die bei Cassirer und Reich knapp angedeutete
Umkehrung eines „wesenhaften“ Unterschieds zwischen
Normal
und Pathologisch bzw. zwischen Vernunft und
„Wahnsinn“ eine
überaus wichtige Rolle spielt. Man kann sagen, dass die weiter
oben bei Cassirer ausgemachte Betonung der symbolischen
Di(t)mension der Geistesstörung sich bei
Lacan über die an Ferdinand de
Saussure orientierte relationale
Sprachtheorie
fortsetzt, indem
er – um es mit einem weithin bekannten Satz zusammenzufassen
– dem Unbewussten attestierte, es sei strukturiert wie eine
Sprache. So hat Lacan bereits in seiner psychiatrischen Dissertation
eingehend die innere Logik und
„Rationalität“ der
Paranoia untersucht
und
kam in der Folge zu einer Unterscheidung von vier Redeformen und d. h.
Diskurstypen, die (nicht nur) für die Psychoanalyse von
großer Bedeutung sind:
Lacan unterschied 1. den Diskurs
des Herren, 2. den Diskurs der
Universität, 3. den Diskurs
des Hysterischen und 4. den Diskurs
des Analytikers.
Im hier diskutierten
Zusammenhang ist es wichtig zu betonen, dass der Psychoanalytiker nach
Lacan
auch den universitären Diskurs der Psychiatrie in die
Nähe des Herrendiskurses
rückt und diesen – ähnlich wie bei Reich
– von einem „Außen“ her
gleichsam
transversal durchläuft. Dieser Blickwechsel, diese
„Verrückung“ des
analytischen Beobachterstandpunkts markiert mithin auch eine
psychoanalytische
Gegenposition zur und einen tiefen Bruch mit der
„wissenschaftlich anerkannten
Wahrheit“ der akademischen Psychiatrie aus der Dr.
Lacan seinerseits kam.
Eine
derartige Konstellation lässt sich übrigens schon bei
Freud aufweisen, der
seine „Metapsychologie“ auch im Abstand zu seiner
Privatdozentur als
Neuropathologe entwickelte und „akademisch“ immer
wieder nach „neurologischen“
Absicherungen für seine Analysen suchte.
Durch
diese Voraussetzungen kam Lacan – der in seinen Vorlesungen
bzw. Seminaren
durchaus stotterte, um die „Rationalität“
von Fehlleistungen hörbar zu machen –
zu einer symbolorientierten Analytik, in der psychische
„Störungen“ hemmende
Knoten und „Fadenringe“ im Redefluss der
menschlichen Stimme sind, die
therapeutisch durch das psychoanalytische Gespräch
aufgelöst werden sollen und
– nach Lacan mit variabler Sitzungsdauer – auch
aufgelöst werden können.
Auch
die Lacansche strukturale (d. i.
symbolische, relationale) und auch materialistische
Psychoanalyse
bot
der Bewegung der Antipsychiatrie, die nunmehr in einigen herausragenden
Vertretern diskutiert werden soll, buchstäblich eine ganze
Reihe von
Anknüpfungspunkten.
__________________________________
III
Antipsychiatrische Positionen
©
12 Monkeys, Terry Gilliam (1994) Universal Pictures
3.1.
Franco Basaglia: Angriff(e) auf die Institution
1978
verabschiedete das
italienische Parlament die Legge
centottanta (Gesetz 180) mit dem in international
einzigartiger Weise die
schrittweise Auflösung der psychiatrischen Anstalten
festgeschrieben wurde. Das
Gesetz ist auch heute noch in Kraft. Auf breiter gesellschaftlicher
(und d. h.
naturgemäß auch politischer)
Ebene
wurde nach langwierigen öffentlichen Diskussionen juristisch
fixiert und
definiert, dass es illegitim und mithin auch illegal ist, einen
Menschen zu
psychiatrisieren und als abnormal zu internieren.
Maßgeblich
beteiligt an dieser legistischen Entwicklung war der Psychiater Franco
Basaglia
(1924-1980), der im Zuge seiner Laufbahn die erschreckenden und
menschenunwürdigen Zustände in den italienischen
Kliniken (Elektroschocks,
Lobotomie, medikamentöse Ruhigstellung etc.) beobachten musste
und Zeit seines
Lebens dagegen ankämpfte. Grundlage dieser Kritik an der
wissenschaftlich nicht
reflektierten Rolle und Funktion der psychiatrischen Autorität
war dabei eine sozio-ökonomische Analyse
der
institutionell reproduzierten Festschreibung von Normen,
die per se ihr Gegenteil – mithin das Abnormale –
herstellen, produzieren und also mitkonstruieren.
Dabei
taucht auch immer wieder ein Begriff auf, dessen analytische
Qualität bis heute
nichts an Deskriptionskraft verloren hat und nicht nur Menschen mit
psychischen
Leiden betrifft: Stigmatisierung
…
„Die
psychiatrischen Diagnosen haben inzwischen einen
kategorialen Wert erlangt, insofern nämlich, als sie eine
Etikettierung, eine
Stigmatisierung des Kranken darstellen, über die hinaus es
keine Möglichkeit der
Aktion oder Annäherung gibt.“ (Hervorhebung
von A.B.)
Dokument der allgemeinen
machtkritischen Perspektiven, die im Zuge der internationalen
Protestbewegung
zirkulierten, ist der von Basaglia 1975 herausgegebene Band zur Rolle
der
Intellektuellen in modernen kapitalistischen Gesellschaften, in dem
sich u. a.
herausragende Artikel von Noam Chomsky, Ronald D. Laing und Michel
Foucault
finden. Der Titel ist bezeichnend und gleichzeitig Programm: Befriedungsverbrechen. Über die
Dienstbarkeit der Intellektuellen.
Dabei
wurde – ähnlich wie in Deutschland mit
Jürgen Habermas angesichts des
Verhältnisses von Erkenntnis und
Interesse–
pointiert diskutiert, in
welcher Art und Weise „Wissenschaften“ ideologische
Herrschaftsfunktionen
übernehmen und direkt an der erneuten Unterdrückung
von Ausgeschlossenen und
der Verwerfung ihrer Bedürfnisse beteiligt sind. Basaglia
betonte in seinen
Schriften die repressive Funktion der psychiatrischen Institution und
mithin
ihrer „Ordnung“. Dabei ist mit allem Nachdruck
einem in Fachliteratur und
Medien immer wieder behaupteten Vorurteil entgegenzutreten, nachdem die
Antipsychiatrie die Existenz des „Wahnsinns“, also
den Bewusstseinszustand von
Psychosen oder Neurosen, von Paranoia oder Schizophrenie geleugnet
hätte. Das
glatte Gegenteil ist – nicht nur – bei Basaglia der
Fall:
„Ich
habe nie gesagt, es gäbe keine Geisteskrankheit.
Lieber möchte ich sagen: Ich kritisiere die Idee der
Geisteskrankheit. Die
Existenz des Wahnsinns leugne ich nicht. Wahnsinn ist etwas
Menschliches. Die
Frage ist, wie man damit umgehen soll, welche Haltung wir als
Psychiater diesem
menschlichen Phänomen gegenüber einnehmen
müssen, wie wir auf die damit
zusammenhängende Not eingehen können.“
Eine Haltung, die man – wie
oben gezeigt – bei Cassirer annehmen, bei Reich direkt
nachweisen und bei Lacan
in strukturierter und formalisierter Form nachlesen kann.
©
R. D. Laings Asylum, Peter Robinson (1972) Peter Robinson
Associates
3.2.
Ronald D. Laing: The Asylum & Erfahrung(en)
Von größter Bedeutung für die
Argumentationsstrategien der Antipsychiatrie waren auch die Schriften
des
englischen Psychiaters Ronald D. Laing (1927-1987), der sich intensiv
mit der
inneren Dynamik der „schizophrenen Erfahrung“
beschäftigte
und dabei phänomenologische und existenzphilosophische
Ansätze verband. Dabei
stand vor allem die Interpersonalität zwischen Arzt und
Patient sowie der
soziale Zusammenhang der Familie im Mittelpunkt seiner Forschungen,
wobei er
immer auch das „Setting“ des institutionellen
Gefüges der Anstalt, des „Asyls“
analysierte.
Dabei untersuchte Laing reflexiv die Unterscheidung zwischen dem Selbst und den Anderen.
Einer
der Ausgangspunkte seiner Forschungen war die schwierige Bestimmung
dessen, was
der Begriff der „Schizophrenie“ denn eigentlich
sei, wobei das
Erkenntnisinteresse Laings sich explizit darauf richtete
„Schizophrenie“ als
„Bezeichnung für einen Zustand“ zu
begreifen, „den die meisten Psychiater
Patienten zuschreiben, die sie schizophren nennen.“
Mithin
untersuchte auch Laing
die innere Struktur psychiatrischer Klassifikationsordnungen und die
begriffliche Herstellung des Gegenstands „psychische
Krankheit“ bzw.
„Wahnsinn“. Ab 1965 betrieb er gleichsam
„anthropologische Feldstudien“, indem
er in Kingsley Hall, London gemeinsam
mit seinen Patienten eine Wohngemeinschaft gründete. Ein
berührendes und hoch
informatives Dokument dieser Zusammenarbeit stellt der Dokumentarfilm R.
D. Laings Asylum dar, der 1972 erschienen ist. In
Auseinandersetzung mit den Diskursen der
„Schizophrenen“ publizierte Laing auch
einen lyrikähnlichen Band mit dem Titel Knots/Knoten,
indem er in einer ganzen Reihe von Gedichten die sprachlichen
„Delirien“ seiner
Patienten in poetisch-poetologische Form brachte. Darüber
hinaus untersuchte
Laing immer auch die mentalen „Spiegelungen“
innerhalb
sozialer Felder wie der Familie, um den spezifischen Charakter der
„schizophrenen Erfahrung“ zu erfassen und
durchzuarbeiten. Laing ging dabei von
einem unbewussten „Abbilden (Mapping)“
aus,
über das soziale Verhältnisse wie die
„Familie als System“
sich
verinnerlichen und so auch Störungen, Problemlagen oder
Double-Binds eben
dieses Systems übertragen.
Dabei ist auch
bei Laing ein
epistemologisches Reflektieren des Verhältnisses von
„Gegebenem“ und
„Konstruiertem“ nachweisbar, wobei er
nachdrücklich auch auf ethnologische bzw.
anthropologische Erkenntnisbestände zurückgreift:
„Nach
Hegel ist die Welt ‚eine Einheit aus dem
Gegebenen und dem Konstruierten‘. Es ist schwierig,
festzustellen, was
‚gegeben‘ ist und was unsere
‚Konstruktionen‘ sind. Eine Möglichkeit
besteht
darin, zu vergleichen, wie Menschen zu verschiedenen Zeiten und an
verschiedenen Orten […] die Welt erfahren. Bei der ersten
Begegnung mit den
Forschungsergebnissen der Anthropologie reagierten oder reagieren wir
alle
überrascht, ja ungläubig, auf die riesigen
Unterschiede, die es in der Art des
Erfahrens gibt.“
Es
lässt sich hier leicht
erkennen, dass nicht nur ein theoretisch-philosophisches
Reflexionspotential
frei gesetzt wird, sondern sich dieses im Sinne eines Shiftings
transkulturell auf eine Erfahrungstheorie ausweitet, die
man – im Vorgriff auf die Studien Michel Foucaults
– als eine „Ethnologie
unseren eigenen Gesellschaft“
und
damit auch ihrer symbolischen
(Un-)Bewußstseinszustände zwischen
„Normal“ und
„Pathologisch“ bezeichnen kann. Daraus resultiert
eine für die gesamte Antipsychiatrie
grundlegende Frage: Welche (sozialen und epistemologischen)
Voraussetzungen und
Bedingungen müssen strukturell gegeben sein, damit ein
symbolisches (Un-)Bewußstseinsphänomen,
eine (phänomenologische) „Erscheinung“
oder Erfahrung wie der „Wahnsinn“
überhaupt gegeben sein und auftauchen kann. Festzuhalten ist
hier noch ein Mal,
dass der sozial konstruierte
Charakter des Wahns – gerade angesichts des Existentialismus
– definitiv nicht
bedeutet, dass er nicht
existiert. Weder Basaglia, noch Laing noch Michel Foucault, von dem
ebenfalls
das genaue Gegenteil überliefert ist, hätten dies
behauptet.
©
The Hours, Stephen Daldry (2002) Paramount Pictures
3.3.
Michel Foucault: An der Grenze von Wahnsinn und Unvernunft
In den
Schriften des
französischen Historikers und Diskursanalytikers Michel
Foucault (1926-1984) bündeln
sich auf unterschiedlichster Ebene die bisher vorgestellten
Argumentationslinien, die historisch in die Antipsychiatrie einflossen.
Von
Binswanger und Cassirer über Reich, Lacan, Basaglia und Laing
finden sich in
seinen Schriften
an
verstreuten Stellen offene Bezugnahmen zu den hier und bisher
diskutierten Problembereichen. Für die Antipsychiatrie, die
nicht
sein einziges Forschungsgebiet war, wurde die historische Studie Wahnsinn und Gesellschaft
eine wichtige Referenz.
Denn im Blick auf Wahnsinn und Unvernunft (folie
et déraison) versuchte er zu erforschen,
„ […], wie sich ein Diskurs mit
wissenschaftlichem Anspruch, die Psychiatrie, aus historischen
Situationen
heraus bildet.“
Dabei
untersucht Wahnsinn und Gesellschaft
überaus
quellenreich die abendländische Trennung und Grenzziehung
zwischen Vernunft
und Wahnsinn (seit dem Ende des Mittelalters), um sich –
ähnlich wie bei Laing
– der „Erfahrung des Wahnsinns“
anzunähern und die Geschichte des Ausschlusses
der „Irren“ zu schreiben. Foucault verfolgt damit
die dunklen Seiten unserer
eigenen Rationalitätsansprüche im Blick auf
unterwerfende
Normalisierungsstrategien.
Es
geht dabei um die Gewaltakte und Verwerfungen, die im Namen der
(psychiatrischen) Rationalität diskursiv und damit auch im
Zugriff auf die
menschlichen Körper ausgeübt wurden, um die Leben
der infamen Menschen,
die
– auch lesbar in unseren Archiven – meist unbekannt
und anonym blieben, aus
jeweils gegebenen Gesellschaften auszuschließen. Foucault
analysiert auf
breiter historischer Basis das Verhältnis von Ein- und
Ausschluss, von
Inklusion und Exklusion und fokussiert dabei vor allem auf die
Begriffs- und
Diskursgeschichte, also auf die den Wissenschaften immanenten
Terminologien und
Klassifikationsordnungen, deren Doxa und Dogmatik immer schon die mehr
als
gerechtfertigte Vermutung aufwerfen, das mit ihnen etwas eben nicht
stimmen
kann.
Aus dieser
historischen
Perspektive gab Foucaults radikale Machtkritik – die in
seinen politischen
Aktionen und Eingriffen immer auch jeweils gegenwärtige Praxis
wurde wie etwa
mit dem Engagement für Gefangene in der Groupe
d‘information sur les prisons – der
Antipsychiatrie eine historische
Grundlage, die vom zeitlichen Rahmen her auch hinsichtlich der
vorliegenden
Geschichte(n) des Kapitalismus seit dem 16. Jahrhundert
anschlussfähig war.
Auch mit seiner Studie zur Geburt der
Klinik,
mit der er die
Mechanismen bzw. Technologien der medizinisch-klinischen
„Ordnungsmaschine“
untersuchte, legte er mit den Grundstein zu einer dezidiert kritischen
Analyse
wissenschaftlicher Wahrheitsansprüche in Geschichte und
(aktueller)
Gesellschaft, die er nicht nur im Blick auf die Lebenswissenschaften
durcharbeitete, sondern annähernd in Bezug auf alle
Disziplinen im Streit der
Fakultäten. Jüngst ist im Übrigen eine
für die Foucaultsche Geschichtsschreibung
konstitutive Übersetzung erfolgt: Frieder Otto Wolf hat Für Marx von Louis Althusser aus
dem Jahr 1965 erneut übertragen und macht
mithin auch ein zeithistorisches Dokument publik, dass die an der
Kapitalismuskritik und an Marx orientierten Anteile der Foucaultschen
Diskursanalyse nunmehr auch im deutschsprachigen Raum eindringlich vor
Augen
führt.
All
diese bisher nur in äußerster Kürze
diskutierten Aspekte finden sich 1972 in
einem Text wieder, der als französisches antifaschistisches
Manifest des „Revolutionär-Werdens“
(Deleuze) des Mai 68 und damit auch der
Antipsychiatrie gelesen werden kann und der abschließend
schlaglichtartig
diskutiert werden mag.
©
A Clockwork Orange, Stanley Kubrick (1968) Warner Bros
3.4.
Der Anti-Ödipus: Faschistische Paranoia &
revolutionäre Schizophrenie
Der Philosoph
Gilles Deleuze
(1925-1995) und der Psychiater Félix Guattari (1930-1992)
haben im Anti-Ödipus
die
Ansätze und Problematisierungen, die hier –
natürlich verkürzt – diskutiert
wurden in beeindruckender und immens produktiver Art und Weise
zusammengefasst.
Dieses Manifest der französischen Studentenrevolution von 1968
stellt eine
intellektuelle Synthese der oben diskutierten wissenschaftlichen
Brüche mit
einer dogmatischen Psychiatrie dar und ist gleichzeitig ein
historisches
Dokument für all die Diskussionszirkel und Debatten, die sich
in dieser Zeit –
vornehmlich im Umfeld der Reformuniversität von Vincennes
– ergaben. Vom Titel weg markierte dieser Text den Bruch
und die Diskontinuität mit autoritären
Erziehungsmustern und unternahm den
Versuch selbst in der psychoanalytischen Theoriebildung die
sozialdisziplinierenden Effekte von Psychoanalyse und Psychiatrie
umzukehren
und – im Sinne einer radikalen und
„militanten“ Kapitalismuskritik im Marxschen
Sinne
–
umzuwerten.
Der Anti-Ödipus markiert insofern in
Folge der 68er-Bewegung einen
grundlegenden Wechsel der analytischen Beobachterperspektive indem die
von ihm
empfohlene „Schizo-Analyse“ mit allem Nachdruck die
Rationalität und innere
Logik menschlicher „Delirien“ als symbolische
(Un-)Bewußsteinsformen betonte
und diese als Teile der menschlichen Vernunft, des menschlichen
(Un-)Bewusstseins
verteidigte. Einige der intellektuellen Voraussetzungen dieses
Meisterwerkes
wurden im Rahmen dieses Artikels bereits diskutiert. Es sei nur mit
Nachdruck
daran erinnert, dass diese Arbeit nach wie vor ein immenses Archiv an
Verweisen
und verarbeiteten Texten bietet. Hier soll im Blick auf die
Antipsychiatrie in aller
Kürze die bei Guattari und Deleuze gefasste deutliche
Unterscheidung von
Paranoia und Schizophrenie vorgestellt und paraphrasiert werden, weil
sie auch
die heute gängige Diagnostik der „paranoiden
Schizophrenie“ fundamental in
Frage stellt.
Denn im Anti-Ödipus besetzt der
Paranoiker einen höheren „zentralen“ Ort
der kapitalistischen Herrschaft, er baut sich (mentale)
Repräsentationsräume
für seine theatralischen Inszenierungen und meint einer
„höheren“ Klasse und
Rasse anzugehören. Er führt Klassen- und
Rassentrennung ein, er despezifiziert
den
Körper der Gesellschaft, den „Sozius“, und
beginnt Massen und Meuten maschinell
zu besetzen und bis hin zur Menschenvernichtung zu steuern. Sein
Herrschaftswahn will die flächendeckende
„Integration durch Segregation“ aller
Peripherien nach rassistischen und dogmatischen Kriterien. Wie bei den
Nationalsozialisten soll der Lebensraum des bzw. seines (deutschen)
Volkes, das
Territorium, sukzessive erweitert werden. Der paranoid gewordene
faschistische
Staat (aber auch ein paranoisches Individuum) besetzt die
Ländereien, territorialisiert,
setzt sich in den
entlegensten Orten totalitär fest, beutet aus und terrorisiert die Anderen, die
Randständigen, die Ausgeschlossenen,
die Minoritäten, die an diesem Terror Leidenden, denen
krankhaft die
(vermeintlich) verdoppelte Stärke seiner Stärke bis
hin zur totalen Vernichtung
aufgezwungen wird. Der Vergleich mit der Tötungsmaschinerie
des Holocaust liegt
hier nicht nur nahe.
Denn die von
den Nazis verlogen und euphemistisch sogenannte
„Endlösung“, die in Wahrheit für
Millionen von Menschen (jüdische
MitbürgerInnen, Roma, Linke, Homosexuelle und eben der Norm
nicht entsprechende Subjekte) den
sicheren Tod bedeutete
war vor allem im Wesen ihrer Technik die
(massen-)mörderischste paranoische
Maschine, die technokratisch bis
hin
zur Errichtung von Gaskammern je in die Realität umgesetzt
wurde.
In
einem derartigen paranoiden System benötigt der wahnsinnige
Herrscher nicht nur
seine Offiziere, Assistenten und Adepten, er muss zur Stabilisierung
seiner
Macht aggressiv eine statistische und exekutive, mithin eine
polizeiliche
Ordnung ins Land hineintreiben, um es verwaltbar und damit beherrschbar
zu
machen. Dazu baut er sich (ob im Delirium oder in der sozialen
Wirklichkeit ist
sich da gleich) allgemeine Berechnungsmaschinen und Aufschreibesysteme,
die ihm
die Macht über die Massen geben sollen. Er will über
Millionen herrschen und
sie in immer größeren statistischen Zahlen
repräsentiert sehen und treibt sich
selbst in den absoluten Punkt der totalen Überwachung. Er
betreibt, so
präzisieren Guattari und Deleuze in aller Kürze, eine
„molare Makrophysik“ der
toten und tötenden Anti-Produktion, die den gesamten sozialen
Raum auf Dauer
ins Unglück stürzt.
„Elias Canetti hat sehr gut gezeigt, wie der Paranoiker
Massen und >>Meuten<< organisiert, wie er
sie kombiniert, sie in
Gegensatz stellt, sie steuert. Der Paranoiker macht Massen zu
Maschinen, er ist
der Künstler großer molarer Einheiten, statistischer
Formationen, herdenhafter
Gebilde, organisierter Massenphänomene.“
Demgegenüber
solidarisiert
sich der Schizophrene mit den Verworfenen, den verfolgten
„Rassen“ und Klassen.
Er ist ein verfolgter
jüdischer
Mitbürger, ein versklavter Schwarzer („un
nègre“), ein chinesischer
Wanderarbeiter, ein gekündigter Proletarier oder eine
vergewaltigte Frau. Er
hat eine schwarze, eine gelbe, eine rote Haut, er ist ein Tier, eine
Ratte, ein
Hamster (im Rad), gleichsam ein Schnabeltier oder ein vierbeiniger
Vogel.
Und
ein von den Eltern geprügeltes Kind. Und manchmal heult er vor
Schmerzen wie
ein geschlagener Hund. Er flieht als Exilierter den mit Blut
durchtränkten
(deutschen) Boden, so wie die Revolutionäre – man
denke nur an Marx oder
Heinrich Heine – oft genug ihr eigenes Land fliehen mussten,
weil für die
Staatsparanoiker die Gefahr bestand, dass ihre demokratischen und
sozialen
Impulse die Massen gegen die Herrschenden aufbringen könnten.
Er ist auf der
Flucht, ein Nomade auf Wanderung und beständig in der
Diaspora. Er flieht wie
Trotzki vor der stählernen Übermacht der
Bürokratie Stalins und geht daher von
der Peripherie her auf das Zentrum los.
Vom
Blickwinkel und der Beobachterperspektive her hat er die
größere Chance zu
sehen, was in den Zentren der Bourgeoisie eigentlich passiert. Der
Schizophrene
verlässt den für ihn vorgesehenen Platz in der
Fabriksmaschine des Kapitalismus
und flieht aus den vorgefertigten Positionen, Stellungen und
Standpunkten.
Deshalb verliert er seine „Identität“.
Deshalb löst sich – auch in der
psychiatrischen Beobachtung – sein „Ich“
auf. Der Schizophrene betreibt mithin
eine revolutionäre „molekulare
Mikrophysik“ des lebenden und belebenden
Produktionsprozesses im Blick auf eine bessere Zukunft des sozialen
Zusammenlebens.
„Doch
der (schizophrene, A.B.) Revolutionär weiß,
daß
die Flucht revolutionär ist, withdrawals, freaks, sofern man
nur die Decke mit
sich reißt oder ein Stück des Systems fliehen
läßt. Durch die Mauer brechen,
und sei es, daß man sich zum Neger macht nach Art von John
Brown. George
Jackson: Es mag sein, dass ich fliehe, aber während meiner
ganzen Flucht suche
ich eine Waffe!“
__________________________________
IV Schluss
©
Terminator 2: Judgement Day, James Cameron (1991)
CarolcoPictures,,
Lightstorm Entertainment, Studio Canal Plus
François Dosse hat in einem
Interview mit großem Nachdruck darauf hingewiesen, dass diese
stark von
Guattari ausgehende „Militanz“ in Paris nach dem
Mai 68 – und dabei vor allem
in maoistischen Zirkeln wie der Gauche
prolétarienne in Nanterre
– eine
dezidiert „pazifizierende“ Rolle gespielt hat.
Denn
wo gesprochen wird und man sagen und schreiben kann, was man in seiner
Wut und
in seinem Zorn auf die bestehenden Verhältnisse denkt, da wird
noch nicht
geschossen oder gemordet. Dosse berichtet auch von Kontakten der beiden
mit dem
Heidelberger Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK),
dass im Gegensatz zu den französischen Verhältnissen
direkt in die Illegalität
gedrängt wurde und sich zu großen Teilen der zweiten
Generation der RAF
anschloss. Haben wir aus Frankreich indes je von linksradikalem Terror
im Sinne
der RAF oder der Roten Brigaden gehört? Es scheint gesichert
zu sein, dass
durch die Radikalisierung der Studentenbewegung in der Bundesrepublik
erneut
eine radikale Reform der Psychiatrie ver- und behindert wurde, die sich
wie in
diesem Artikel versucht wurde zu zeigen – nicht zuletzt auf
Diskussionen in der
Weimarer Republik hätte stützen können. Denn
sowohl die Transzendentalphilosophie
Cassirers – über die Vermittlung Michel Foucaults
– als auch die
materialistische Psychiatrie des Marxismus im Sinne Wilhelm Reichs
hätte mit
dem Anti-Ödipus
repatriiert werden
können, was indes nicht und nie geschah. Demgegenüber
hielten Deleuze und
Guattari nachgerade apodiktisch fest:
„Die
Schizo-Analyse ist transzendental und
materialistisch zugleich.“
Anmerkungen
Vgl.
einleitend Bäuml, Josef: Psychosen aus dem schizophrenen
Formenkreis. Ein
Ratgeber für Patienten und Angehörige, Springer
Medizin Verlag, Heidelberg
1994.
Vgl.
Huber, Gerd (unter Mitarbeit von Gisela Gross): Psychiatrie. Lehrbuch
für
Studium und Weiterbildung, 7. Auflage, Schattauer Verlag, Stuttgart
2005, 366
Ich
habe
jüngst angesichts der unsäglichen Debatte um die
kruden Thesen Thilo Sarrazins
versucht, umgekehrt und dementgegen den Nachweis zu führen,
dass
bemerkenswerterweise viele Begriffe der Biologie
wissenschaftsgeschichtlich auf
sozioökonomische bzw. wirtschaftsgeschichtliche Termini
zurückgehen. Dies kann
vor allem angesichts von Begriffen wie Gabe,
Begabung, Talent,
Erbe, Vererbung,
Erbanlage, Erbgut,Veranlagung
oder Reproduktion mit allem
Nachdruck
argumentiert werden. Vgl. Barberi, Alessandro: Zur Biologisierung des
Sozialen,
in: ZUKUNFT 10/2010, 22-26. Online unter: http://diezukunft.at/?p=1598
Vgl.
Huber, Psychiatrie, 366.
Vgl.
dazu die wissenschaftsgeschichtlichen Abhandlungen zur
„Geschichte unseres
Gehirns“: Hagner, Michael: Geniale Gehirne, Zur Geschichte
der
Elitegehirnforschung, Wallstein Verlag, Göttingen 2004 und
Borck, Cornelius:
Hirnströme. Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie
(=
Wissenschaftsgeschichte), Göttingen: Wallstein 2005. Im
Zusammenspiel dieser
beiden Studien steht vor Augen, dass verschiedene Diskurse,
Wissensformen,
Instrumente und Apparaturen an der Konstitution des sozial-, medien-
und
kulturgeschichtlichen „Objekts Gehirn“ beteiligt
waren und sind.
Die
Studien des Psychiaters und Psychotherapeuten Stefan Weinmann von der
Berliner Charité
legen etwa nahe, dass die Einführung der atypischen Neuroleptika nicht
aufgrund medizinischer Erkenntnisse, sondern über die
Umsetzung von
Marktstrategien der Pharmaindustrie erfolgte. Vgl. Stefan Weinmann:
Erfolgsmythos Psychopharmaka – Warum wir Medikamente in der
Psychiatrie neu
bewerten müssen, Psychiatrieverlag 2008.
Vgl.
Canguilhem, Georges: Das Normale und das Pathologische, Carl Hanser
1982. Vgl.
auch Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens, in: ders.:
Gesammelte Werke, Vierter Band, Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1999.
Vgl.
Karl Marx / Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW Band 3, Dietz
Verlag,
Berlin 1969, 5-530 passim.
Vgl.
dazu Benjamin, Walter: Kapitalismus als Religion, in: Baecker, Dirk
(Hg.):
Kapitalismus als Religion, Berlin 2002. 15-18. Benjamin spricht hier
davon,
dass der protestantisch-puritanische Charakter des Kapitalismus auf
eine
„endliche völlige Verschuldung Gottes“
abzielt und hinausläuft. Ibid. 16.
Vgl.
zum
Gegensatz von elementaren und komplexen Verwandtschaftsstrukturen:
Lévi-Strauss, Claude: Die elementaren Strukturen der
Verwandtschaft, Suhrkamp,
Frankfurt am Main 1981. Sowohl intellektuell als auch im Sinne eines
zeithistorischen Dokuments ist dahingehend immer noch lesenswert:
Bateson,
Gregory / Jackson, Don D. et. al.: Schizophrenie und Familie, Suhrkamp,
Frankfurt am Main 1984.
Als
österreichisches Beispiel kann hier auf den horriblen Fall des
Psychiaters Dr.
Heinrich Gross verwiesen werden, der „Am
Spiegelgrund“ in zahlreichen Fällen
Euthanasie betrieb. Vgl. dazu Neugebauer, Wolfgang / Schwarz, Peter:
Der Wille
zum aufrechten Gang. Offenlegung der Rolle des BSA bei der
gesellschaftlichen
Integration ehemaliger Nationalsozialisten, Herausgegeben vom Bund
sozialdemokratischer AkademikerInnen, Intellektueller und
KünstlerInnen (BSA),
Czernin Verlag, Wien 2005.
Vgl.
dazu Wallerstein, Immanuel: Der rassistische Albatross. Die
Sozialwissenschaften, Jörg Haider und der Widerstand,
Österreichische
Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ÖZG)
4/2003/3, 124-143 passim. Des
Weiteren ders.: Das Weltsystem seit 1945, online unter: http://www.eurozine.com/articles/article_2011-04-29-wallerstein-de.html
(Juli
2011). Anlässlich des vierzigjährigen
Jubiläums der Revolution von 1968
erschien unter anderem folgende Zusammenstellung zentraler Dokumente:
Ebbinghaus, Angelika (Hg.) Die 68er. Schlüsseltexte einer
Revolte, Promedia,
Wien 2008.
Vgl.
Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bände,
Wissenschaftliche Buchgemeinschaft, Darmstadt 1994.
Vgl.
Cassirer, Ernst: Zur Pathologie des Symbolbewusstseins, in: ders.,
Philosophie
der symbolischen Formen, 3. Band, Wissenschaftliche Buchgemeinschaft,
Darmstadt
1994, 238-325.
Vgl
Cassirer, Ernst: Substanz und Funktionsbegriff. Untersuchungen
über die Grundfragen
der Erkenntniskritik, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft,
1994.
Vgl.
Binswanger, Ludwig / Warburg, Aby: Die unendliche Heilung, Diaphanes,
Zürich-Berlin 2007.
Vgl.
Andersch, Norbert: 1929-2009. Vor 80 Jahren: Zur Pathologie des
Symbolbewusstseins.
Ernst Cassirers uneingelöster Beitrag zu einer radikalen
Reform der
Psychopathologie, online unter: http://tinyurl.com/6b3bt76
(Juli 2011). Ich
danke an dieser Stelle Christian Zolles für diesen Hinweis und
überaus heilende
Gespräche.
Vgl.
dazu Bourdieu, Pierre: Die politische Ontologie Martin Heideggers,
Suhrkamp,
Frankfurt am Main 1988.
Vgl.
Foucault, Michel: Psychologie und Geisteskrankheit, Suhrkamp, Frankfurt
am Main
1968.
Vgl.
die
ebenfalls mit großer Verspätung im Deutschen
erschienene Rezension der
Philosophie der symbolischen Formen, die in Frankreich 1966 in den Quinzaine littéraire
erschienen ist:
Foucault, Michel: Eine Geschichte, die stumm geblieben ist, in: ders.:
Dits et
Ecrits. Schriften. Erster Band, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001. Die
Rezeption
Cassirers setzte im deutschsprachigen Raum im Grunde erst in den 1990er
Jahren
ein, war jedoch für verschiedene
Forschungsdurchbrüche in Frankreich – etwa
für
den Begriff des „symbolischen Kapitals“ bei
Bourdieu – konstitutiv.
Vgl.
Reich, Wilhelm: Charakteranalyse, Verlag Kiepenheuer & Witsch,
Köln 1989.
Vgl.
Reich, Wilhelm: Massenpsychologie des Faschismus, Verlag Kiepenheuer
&
Witsch, Köln 1986.
Vgl.
dazu auch Reich, Wilhelm: Der Einbruch der Sexualmoral, Verlag
Kiepenheuer
& Witsch, Köln 1972.
Vgl.
zu
diesem Begriff auch die Habilitationsschrift von Eva Horn, die eine
derartige
Konstellation der Staatsparanoia im Kalten Krieg und angesichts der
Atombombe
untersucht: Horn, Eva: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne
Fiktion,
Fischer, Frankfurt am Main 2007, 382 ff. Vgl. dazu auch: Schneider,
Manfred:
Das Attentat. Kritik der paranoischen Vernunft, Berlin 2010.
Vgl.
Reich, Wilhelm: Die schizophrene Spaltung, in: ders.: Charakteranalyse,
520-654, hier: 521.
Vgl.
einleitend Deleuze, Gilles: Woran erkennt man den Strukturalismus,
Merve,
Berlin 1992 und François Dosse, Geschichte des
Strukturalismus, 2 Bände,
Fischer, Frankfurt am Main 1999.
Vgl.
einleitend Roudinesco, Elisabeth: Jacques Lacan. Bericht über
ein Leben –
Geschichte eines Denksystems, Kiepenheuer und Witsch, Köln
1996.
Diese
Schreibung findet sich bei Lacan, der im Französischen mit der
Setzung dieses
/t/ in der psychoanalytischen Di(t)mension darauf verweisen wollte,
dass Arzt
und Patient sich immer im Raum der Sprache (fr. dit bedeutet
Sagen) und d. i.
eben der Raum des Symbolischen, der Raum von Diskursen befinden. Vgl.
dazu etwa
das Vorwort zu Lacan, Jacques: Schriften II, Quadriga, Berlin 1991.
Vgl.
dazu die hervorragende deutsche Einführung in Lacan von Lang,
Hermann: Die
Sprache und das Unbewusste. Jacques Lacans Grundlegung der
Psychoanalyse,
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986.
Vgl.
Lacan, Jacques: Über die paranoische Psychose in ihren
Beziehungen zur
Persönlichkeit und Frühe Schriften über die
Paranoia, Passagen-Verlag, Wien
2002.
Vgl.
Lacan, Jacques: Die Wissenschaft und die Wahrheit, in: ders.: Schriften
II,
231-257.
Dabei
ist bemerkenswert, dass Freud am Ende seiner Analyse der Paranoia des
Senatspräsidenten Schreber dessen
„Störung“ mit der Psychoanalyse in
Übereinstimmung bringt: „Die durch Verdichtung von
Sonnenstrahlen, Nervenfasern
und Samenfäden komponierten ‚Gottesstrahlen‛
Schrebers sind eigentlich nichts
anders als die dinglich dargestellten, nach außen
projizierten
Libidobesetzungen und verleihen seinem Wahn eine auffällige
Übereinstimmung mit
unserer Theorie.“ Vgl. Freud, Sigmund: Über einen
autobiographisch
beschriebenen Fall von Paranoia, in: ders., Gesammelte Werke. Achter
Band.
Werke aus den Jahren 1909-1913, Fischer, Frankfurt am Main 1999,
239-320, hier:
315.
Vgl. Lacan,
Jacques: Fadenringe, in: ders.: Encore. Das Seminar Buch XX, Quadriga,
Berlin 1991, 127-160.
Die
Arbeiten Slavoj Žižeks stellen auf verschiedenen Ebenen auch den
Versuch dar,
diesen Lacanschen Materialismus mit dem historischen Materialismus
Marxens zu
überkreuzen: Vgl. dazu z. B. Žižek, Slavoj:
Körperlose Organe. Bausteine für
eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan, Suhrkamp, Frankfurt am Main
2005.
Vgl. dazu auch: Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster,
München, Fischer 1995.
Italien
kommt in den Siebzigerjahren auch insofern eine Sonderstellung zu, als
mit dem
sog. „Historischen Kompromiss“ zwischen dem
Christdemokraten Aldo Moro und dem
Kommunisten Enrico Berlinguer eine Koalition möglich schien.
Diese wurde durch
den Tod von Moro verhindert. Die Stärke der Linken gab der
italienischen
Öffentlichkeit zu diesem Zeitpunkt einen explizit
(macht-)kritischen Rahmen,
der auch mit der Widerstandslinie der Antipsychiatrie in Zusammenhang
steht.
Vgl. zum allgemeinen zeithistorischen Rahmen im Blick auf den
internationalen
Terrorismus die bemerkenswerte Dokumentation von Igel, Regine:
Terrorjahre. Die
dunkle Seite der CIA in Italien, Herbig Verlag, München 2006.
Zu
bedenken ist an dieser Stelle auch, dass der Radikale
Konstruktivismus Ernst von Glasersfelds und Heinz von
Foersters – der auch ein Kantianismus war – in eben
dieser Zeit Kontur gewann:
Vgl. Schmidt, J. Siegfried (Hg.): Der Diskurs des Radikalen
Konstruktivismus,
Frankfurt am Main, Suhrkamp 1987. Nachrevolutionäre Zeiten
sind eben radikale
Zeiten.
Vgl.
Basaglia, Franco: Was ist Psychiatrie? In: ders. (Hg.): Was ist
Psychiatrie?,
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974. Die Effekte derartiger
Stigmatisierungen in
Bezug auf die Konstitution menschlicher Subjektivität
untersuchte Goffmann,
Erving: Stigma. Über Techniken der Bewältigung
beschädigter Identität,
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975. Vgl. dazu auch den aktuelleren
Sammelband von
Menke, Bettine / Vinken Barbara (Hg.): Stigmata. Poetiken der
Körperinschrift,
Wilhelm Fink, München 2004.
Vgl.
Basaglia, Franco / Basaglia-Ongaro, Franca (Hg.):
Befriedungsverbrechen. Über
die Dienstbarkeit der Intellektuellen, Europäische
Verlagsanstalt, Frankfurt am
Main 1980. Eine ganz ähnliche Perspektive nahm Pierre Bourdieu
nur wenig später
1984 in seinem Meisterwerk Homo
Academicus ein, das den sozialempirischen und
statistisch erhärteten Nachweis für viele auch im
Umfeld der Antipsychiatrie
zirkulierende Argumente lieferte. Hier sei nur an das Kapitel
„Kategorien des
professoralen Verstehens“ erinnert, in dem u. a. eine
Blütenlese des
(professoralen) Stumpfsinns (samt dessen rituellen Beschimpfungen)
geboten wird.
Vgl. Bourdieu, Pierre: Homo Academicus, Suhrkamp, Frankfurt am Main
1988, 353
ff., hier: 368-369.
Vgl.
Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Suhrkamp,
Frankfurt am Main 1968.
Vgl.
Basaglia, Franco: Psychiatrie unter Beteiligung des Volkes, in: ders.:
Die
Entscheidung des Psychiaters. Bilanz eines Lebenswerks, Psychiatrie
Verlag,
Bonn 2002, 167-181, hier: 175.
Vgl.
Laing, Ronald D.: Das geteilte Selbst. Eine existentielle Studie
über geistige
Gesundheit und Wahnsinn, Verlag Kiepenheuer & Witsch,
Köln 1994.
Vgl.
zur
Mehrdeutigkeit des Begriffs „Asyl“ auch Vogl,
Joseph: Asyl des Politischen, in:
Maresch, Rudolf/Werber Niels (Hg.): Raum. Wissen. Macht., Frankfurt am
Main
2002, 156-172.
Vgl.
Laing, Ronald D.: Das Selbst und die Anderen, Verlag Kiepenheuer
& Witsch,
Köln 1973.
Vgl.
Laing, Ronald D.: Die Politik der Familie, Verlag Kiepenheuer &
Witsch,
Köln 1994, 67.
Vgl. Robinson,
Peter: R. D.
Laings Asylum, Peter Robinson Associates Production 1972.
Vgl. Laing,
Ronald D.: Knoten, Rohwolt, Reinbeck bei Hamburg 1977.
Vgl.
dazu auch den wichtigen Text, der mit ein Ausgangspunkt von Laings
Überlegungen
war: Lacan, Jacques: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in
ders.:
Schriften I, Quadriga, Berlin 1991, 61-70. Vgl. dazu auch den Text von
Winnicot, D. W.: Mirror-role of Mother and Family in Child Development,
in:
Lomas, P. (Hg.): The Predicament of the Family, Hogarth Press 1967 auf
den sich
Laing in diesem Zusammenhang bezieht.
Vgl.
Laing, Die Politik der Familie, 159 ff.
Vgl.
Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der
Humanwissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1971, 451.
Vgl.
Foucault, Michel: Schriften. Dits et Ecrits. Vier Bände,
Suhrkamp, Frankfurt am
Main (ab) 2001.
Vgl. Foucault,
Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im
Zeitalter der Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993
Vgl.
Foucault, Michel: Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch
mit Ducio
Trombadori, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, 57. Das Foucault sich vor
allem
gegen Ende seines Lebens ein brüderliches Verhältnis
zur Kritischen Theorie
wünschte lässt sich auch gut dadurch
plausibilisieren, dass die „Dialektik der
Aufklärung“ vom Titel weg diese dunklen Seiten der
Vernunft ebenfalls unter die
Lupe nahm: Vgl. Adorno, Theodor / Horkheimer, Max: Dialektik der
Aufklärung,
Fischer, Frankfurt am Main 1971, passim.
Vgl.
Foucault, Michel, Die Anormalen, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007. Vgl.
dazu auch die wunderbare literaturgeschichtliche Arbeit aus dem Umkreis
der Kritischen Theorie von Mayr, Hans: Außenseiter, Suhrkamp,
Frankfurt am Main 1981.
Vgl.
Foucault, Michel: Das Leben der infamen Menschen, Merve, Berlin 2001.
Vgl.
Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des
ärztlichen
Blicks, Fischer, München 1988.
Vgl.
Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Merve, Berlin 1992.
Vgl.
Althusser, Louis: Für Marx, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2011.
Vgl.
Deleuze, Gilles /
Guattari, Félix: Anti-Ödipus.Kapitalismus und
Schizophrenie, suhrkamp, Frankfurt am main 1988.
Der Anti-Ödipus
weist eine schiere Unzahl positiver Marxbezüge auf, was in der
deutschen Rezeptionsgeschichte schlicht unterging oder untergehen
sollte.
Der
Begriff der „Despezifikation“ wurde von Domenico
Losurdo in die Diskussion
eingebracht. Er findet sich nicht im Anti-Ödipus,
trifft aber punktgenau die wichtigsten Argumentationslinien von Deleuze
und
Guattari. Vgl. dazu Losurdo, Domenico: Kampf um die Geschichte, Der
historische
Revisionismus und seine Mythen. Nolte, Furet und die anderen, Papy
Rossa Verlag,
Köln 2007.
Vgl. dazu
das unhintergehbare Standardwerk von Hilberg, Raoul: Die Vernichtung
der
europäischen Juden, Fischer, Frankfurt am Main 1990. Vgl. auch
die feinsinnige
Analyse der wenigen Fotografien, die wir aus dem Umfeld der Gaskammern
in
Auschwitz besitzen, von Didi-Hubermann, Georges: Bilder trotz allem,
München,
Wilhelm Fink 2007.
Vgl.
Deleuze, Gilles /
Guattari, Félix: Anti-Ödipus, 360-361.
Vgl.
Engels, Friedrich: Anti-Dühring. Vorwort zu der Auflage von
1885, in: MEW 20,
S. 13.
Vgl.
Trotzki, Leo: Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, Dietz Verlag,
Berlin
1990.
Vgl. Deleuze,
Gilles /
Guattari, Félix: Anti-Ödipus, 358.
Vgl. Dosse,
Gilles Deleuze. Félix
Guattari. Biographie croisée, Kapitel
„Antipsychiatrie“, 394-399.
Vgl.
Deleuze, Gilles /
Guattari, Félix: Anti-Ödipus, 141.
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