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      Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt ...

„Die eigentliche Manufaktur unterwirft
nicht nur den früher selbständigen Arbeiter
dem Kommando und der Disziplin des Kapitals, s
ondern schafft überdem eine hierarchische Gliederung
unter den Arbeitern selbst.“

Karl Marx

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"Selektionsmaschine Casting-Show" 

von Alessandro Barberi

I Systemtheoretisches Panspectron:
Big Brother & Taxi Orange

Wikimedia Commons
© Big Brother in Tschechien: Wikimedia Commons,  Author: Ludek Kovar

Als nach der niederländischen Erstausstrahlung von Big Brother im Jahre 1999 nahezu alle Länder des Empire eine von Endemol produzierte Beobachtungsmaschine ins kulturindustrielle Dispositiv der Massenmedien implementierten, hatte der global operierende kybernetische Kapitalismus Worten schlussendlich Taten folgen lassen. Denn klarer konnte nicht zu Tage treten, dass die technokratischen Medientechnologen der Gegenwart in zugespitzter Form schon längst umgesetzt hatten, was Foucault nach dem Pariser Mai 1968 mit einem einfachen Titel und in Rekurs auf Marx auf den Punkt gebracht hatte: Überwachen (Rein in den Repräsentationscontainer!) und Strafen (Raus aus dem Repräsentationscontainer!). Dass dieses selektive Kontroll- und Produktionsfeld den großen Bruder aus Orwells 1984 mit einem lächelnden Augenaufschlag titelgebend zitierte – war da nicht auch die blonde Linda de (Ende-)Mol im Spiel? – markiert geschichtlich eine bemerkenswert zynische Offenlegung der Funktionsweisen von Überwachungstechnologien am Beginn des spätkapitalistischen 3. Jahrtausends, die auch in Österreich mit Taxi Orange sichtbar wurde.

Denn die Informations- und Kommunikationstechnologen hatten die Logik des Foucaultschen Panopticons bereits reterritorialisiert – d. h. wohl auch: in Marketingseminaren diskutiert – und systemtheoretisch um mehrere (scheinbar demokratische) Rückkopplungsschleifen erweitert: das klassische Panopticon wurde im Zuge einer feingliedrigen Transformation zum Panspectron (Branden Hookway) in dem nunmehr zirkulär jede/r Einzelne jede/n Anderen überwacht und vice versa. Die ZuseherInnen beobachten die KandidatInnen im Inneren des Containers bzw. in einem Haus in der Speisinger Straße 66, wobei die Insassen wiederum die anderen KandidatInnen beobachten, welche – wenn sie raus müssen – von Außen beobachtet/beobachtend auf das Innere blicken. Die ZuseherInnen stimmen dann über Telefon bzw. Quote scheinbar mit und beobachten am Fernsehschirm als Beobachter die Beobachter beim Beobachten, um sich selbst beim Beobachten zu beobachten. Nichts anderes ist Systemtheorie als mediale Steuerung der Massen im Sinne eines Erziehungsprogramms.

Denn auch die Moderatoren von Big Brother & Taxi Orange beobachteten konsequenterweise die beobachtenden KandidatInnen und die beobachtet/beobachtenden ZuseherInnen. Und die hierarchisch übergeordneten Chefredakteure bzw. Regisseure kontrollierten die Redakteure und Moderatoren, wobei die obersten Etagen der Tendenz nach während der Sendung unsichtbar blieben wie die Aktoren/Akteure in den juristischen bzw. betriebswirtschaftlichen Abteilungen der Fernsehanstalten, die wiederum an globale Konzerne angekoppelt waren und sind. Wurde Endemol nicht jüngst von Goldman Sachs übernommen? Und hat der ORF sein Konzept nicht erfolgreich an einen türkischen Sender verkauft? Insgesamt ist damit im Westen eine mehrfache kybernetische Parallelschaltung ins Sichtbarkeitsfeld der Medien eingebaut worden, die mit der S(t)imulation einer „demokratischen Wahl“ einherging, aber mit Sicherheit keine war und einer politischen Eskamotage, einem Täuschungsmanöver gleichkam. Aber – und dieser Umstand ist hier wichtig – alle ZuseherInnen wurden über die scheinbare Partizipation durch die Quotenbeteiligung mit der vermeintlich souveränen Macht ausgestattet, symbolisch über Leben und Tod der KandidatInnen zu entscheiden. Und darin liegt die voyeuristische Lust an der sozialen (und kybernetischen) Selektion. Mit Big Brother & Taxi Orange begann mithin gerade durch die S(t)imulation von Demokratie das Verschwinden und die Verunmöglichung von realer Demokratie und wirklicher (medialer) Öffentlichkeit.

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II Know-How als Humankapital:
Wer wird Millionär? & Millionenshow

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© Big Brother is watching you, Wikimedia Commons, Author: Frederic Guimont

Während seit den Siebzigerjahren – vor allem deutsche – Intellektuelle über die Systemtheorie gelernt hatten, sich in den kybernetischen Schaltungen von Luhmanns Beobachterordnungen zu bewegen, wurde den Regierten und d. i. den Bevölkerungen schon mit Aktenzeichen XY und – uns eben näher – noch mit Wer wird Millionär? & Millionenshow eine paranoische Maschine der autopoietischen Selbst- und Fremdbeobachtung gleichsam wie ein diskursiver Chip eingebaut. Nach der Studentenrevolte von 1968 gab der (deutsche) Staat einen klaren Appell aus: Jede/r BürgerIn ein Polizist! Und jeder Polizist ein selbstorganisiertes Beobachtungsobjekt für hierarchisch höhergestellte Beobachter und Beamte. Luhmanns an Hegel orientierte Systemtheorie griff dabei, wie auch Jürgen Habermas – damals im Widerstand – argumentierte, genauso in die Lebenswelten der Linken ein, wie Horst Herolds Rasterfahndung, die eine intellektuell herausfordernde, wenngleich wahrscheinlich illegale – weil gegen das Grundgesetz gerichtete – kybernetisch-mathematische Kombination von Datensätzen der BürgerInnen darstellte. Österreich war dahingehend im Kalten Krieg nur ein strategischer Minimundus im Süden der BRD. Die „Sympathisantenkreise“ der Linken, die zum allergrößten Teil nichts mit gewalttätigem Linksradikalismus zu tun hatten, wurden dabei technokratisch vom braunen Sumpf der Bürokratie über den sog. „Radikalenerlass“ und Berufsverbote eben als potentielle „Radikale“ und „Anarchistische Gewalttäter“ klassifiziert, stigmatisiert und selektiert.

Vierzig Jahre später hat sich an dieser Logik der polizeilichen (Gf-)Rasterfahndung nicht viel geändert, nur dass die Technologien mit den industriellen Innovationen und Revolutionen unserer Wissens- und Informationsgesellschaft Schritt gehalten haben. Und so war es gerade die serienmäßige Ausstrahlung von Wer wird Millionär? & Millionenshow die den selektiv-eugenischen Begriff des Humankapitals massenmedial auf den Punkt brachte. Denn wer in einer Wissensgesellschaft am meisten weiß, der verdient – wie wir wissen – auch mehr Geld. Wir wissen aber auch nach jeder Sendung, dass wir als Wissensarbeiter, als Cognitarians (Bifo) oder Ich-AG’s aus kausalen Gründen kein Geld haben, weil wir eben zu wenig wissen. So behauptet es zumindest die Logik des Kapitals. Dabei ist hervorzuheben, dass viele TeilnehmerInnen (auch oder vor allem unter den GewInnerinnen) keine akademische Ausbildung genossen haben und dennoch die symbolische Karriereleiter der Wissensbefragung – mit oder ohne Sicherheitsstufe – bis hin zu sechs Nullerstellen erklommen. AkademikerInnen dürften wohl der Tendenz nach vor dem möglichen symbolischen Verlust ihres Status zurückgeschreckt sein. Wäre ja auch blöd, wenn der Herr Doktor nicht einmal bis Frage 5 kommt.

Wurde mit Big Brother & Taxi Orange also ein „Demokratiespiel“ als virtuelle Subversion in Szene gesetzt, so trieben Wer wird Millionär? & Millionenshow ein „Wissens- und Wahrheitsspiel“ in die Köpfe der Zuschauermengen, das deshalb so interessant war, weil der Tellerwäscher vor aller Augen durch sein Wissen zum Millionär werden und dabei alle sozialen Hierarchien überspringen konnte. A Star is born! … und zwar als Fetischobjekt des Begehrens für all jene, die sich in den gesellschaftlichen Hierarchien am Ende des (Arbeits-)Tages den Entscheidungen von Professoren oder Managern oder auch PolitikerInnen zu beugen haben. Strikt neoliberal am Wissen eines (unternehmerischen) Individuums ausgerichtet lässt die richtige, wahre Beantwortung von fünfzehn Fragen für einen blitzartigen Moment eine Inversion zu, in der ein Nobody in den Himmel des Wissens aufsteigt. (Hatte nicht Althusser betont, dass die Schule [Wissen] um 1800 an die Stelle der Kirche [Glaube] getreten ist?) Dass sich dabei natürlich nichts an der Eigentumsordnung unserer Gesellschaft ändert, ist buchstäblich (informatisches und d. h. auch Fernseh-) Programm. Denn selbst wenn der eine Star es auch geschafft hat selektiert zu werden, so kehren doch am nächsten Morgen alle an ihren Platz in der kapitalistischen Produktionsordnung zurück und übertragen das Wissen an den Chef, der sich allerdings durchaus beeindruckt zeigen kann von der letzten Show und dem Wissen eines Knechts, ist er doch – gemessen an global operierenden Konzernen – selbst nichts anderes als ein Knecht. Ein Knecht als potentieller Millionär …

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III Popularisiertes Starsystem:
Deutschland sucht den Superstar & 
Starmania

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© Screens, Wikimedia Commons, Author: Hakr0003

Zwischen 1920 und 1950 etablierten Hollywoods Produktionsfirmen – allen voran Metro-Goldwyn-Mayer – ein Starsystem, das einzelne SchauspielerInnen über langfristige Verträge mit der Firma verband, ihnen „fürstliche“ Honorare und beeindruckende Privilegien zugestand und sie wie Götter behandelte. Der auf eine Person zugeschnittene Finanzstrom der Star Machine war der wichtigste Produktionsfaktor des Charismas und des Glamours einer Marlene Dietrich oder einer Greta Garbo. Wenngleich ein solches System in dieser Form nicht mehr existiert, so erklärt es doch geschichtlich einige Funktionsweisen der Casting Shows. Denn weit oberhalb der anderen, bei den Sternen und im Himmel ist im Diesseits schon jener oder jene, der/die alle anderen überflügelt. Und dieses Versprechen auf Höheres, auf den Ausbruch aus dem irdischen Leben ist auch Deutschland sucht den Superstar & Starmania immanent. Wie in einem Betrieb oder bei Filmproduktionen wird bereits im Vorfeld eine betriebwirtschaftliche und kybernetische Selektionsmaschine platziert, die bis in die kleinsten Gesten, Träume und Hoffnungen der KandidatInnen und ZuschauerInnen hineinreicht und das ganze mikrologische Spektrum menschlicher Gefühle vor die Kamera zerrt, um eine brutale Auswahl der „Begabtesten“ zu treffen.

Dabei verschieben sich die Macht- und Disziplinartechnologien der älteren Sendungsmodelle insofern, als das Beobachtungsdispositiv des Wissens sich auf das (künstlerische) Können ausdehnt, wobei Deutschland sucht den Superstar & Starmania vorgeben, allen eine Chance zu geben, sich zu messen und sich durchzusetzen. Und die Masse ist vor den Fernsehschirmen aufgerufen sich selbst ein Bild zu machen, weshalb zwischen Lächerlichkeit und emotionaler S(t)imulation ein Abgrund klafft, bei dem es als legitim erscheint, sich – man möchte sagen: faschistisch – über andere zu erheben. Wer rausfällt hat eben nicht bestanden und muss gehen. Permanente Konkurrenz des Banalen, sukzessive Selektion im Zeitalter digitaler Reproduzierbarkeit der Waren und der Menschen als Waren. Ganz genauso wie in einer Firma im Rahmen einer Stellenvergabe, werden die Humankapitalien der KandidatInnen geschätzt und eingeschätzt. In den konkurrierenden Fangemeinden der Casting Shows spiegelt sich mithin auch die Selbsteinschätzung von Lohnabhängigen und die Hoffnung auf eine Selbsterhöhung, die um (fast) jeden Preis gegen die Unterlegenen durchzusetzen ist.

Bezeichnend genug, dass dabei ein Mensch wie Dieter Bohlen, der – wir wissen es – Betriebswirtschaft studierte, als populärer Experte des (künstlerischen) Wissens im Rahmen einer (eigentümlich besetzten) Jury erscheinen und sich dabei bis hin zur Ehrenbeleidigung und Erniedrigung von KandidatInnen alles herausnehmen kann, um sich „aufzuführen“. Gerade der Nicht-Sänger und Nicht-Musiker von Modern Talking gilt einer ganzen Nation – Ach, die vielen goldenen Schallplatten! – als Kenner der Materie und als popkultureller Feinspitz, als Monarch der Quote, dessen Urteilsvermögen angeblich über den Dingen steht. Aber auch die österreichische Variante war nicht viel besser: Hatte Dr. Bogdan Roscic nicht 1988 mit Gesellschaftstheorie als kritische Theorie des Subjekts über Adorno promoviert? Von der Gesellschaft und ihrer Theorie blieb am Ende nur mehr der Lohnzettel von Universal Music übrig, wodurch Roscic selbst als äußerst kritisches Subjekt im Hauptabendprogramm erschien. Davor hatte der ORF bereits damit begonnen, den Bildungsauftrag dadurch zu erfüllen, dem Herrn Doktor die Sendeleitung von Ö3 zu übertragen. Was für eine Karriere! Immerzu bergauf! … Die Folgen sind bekannt.

Indes werden auch die Juroren des Vulgären und des Stumpfsinns über das telefonische Verfahren der Cross-Channel-Technik mit der WählerInnengunst des Publikums verschaltet, womit auch ihr Expertenwissen als „demokratisch“ rückgekoppelt erscheint. In Wahrheit hämmern all diese Formate den Medienkonsumenten die dem Kapitalismus immanente Selektionsmaschine ein, nach der nur das „Talent“ darüber entscheidet, ob man im Betrieb als Chef oder am Musikmarkt als Star Anerkennung erhält. Die gesellschaftlichen Produktionsbedingungen des Starsystems selbst bleiben dabei natürlich außen vor und sollen auch unsichtbar bleiben. Denn im Grunde ist es bei Big Brother & Taxi Orange, bei Wer wird Millionär? & Millionenshow sowie bei  Deutschland sucht den Superstar & Starmania vollkommen gleichgültig, wer gewinnt. Hauptsache, die Selektionsmaschine rennt, obwohl sie brennt. 

Kontakt


Mag. Alessandro Barberi

Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien
Chefredakteur Medienimpulse

Wiener Medienpädagogik/Universität Wien
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Mail. alessandro.barberi@univie.ac.at