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4.1 Die mikrokanonische Gesamtheit

Als mikrokanonisches Ensemble haben wir jene Gesamtheit von Mikrozuständen bezeichnet, die bei gegebenen $N,V$ eine Energie im Intervall $[E, \Delta E]$ aufweisen. Die Anzahl der möglichen Mikrozustände, die einem System unter den Bedingungen $(N,V,E)$ zukommen, ist proportional zu dem Volumsbereich im Phasenraum, in dem diese Mikrozustände liegen. Der Logarithmus dieses Phasenraumvolumens (gemessen in Volumseinheiten $(\Delta x \Delta v)^{3N}$) wurde tentativ mit der aus der Thermodynamik bekannten Entropie $S(N,V,E)$ identifiziert. Damit diese Gleichsetzung sinnvoll ist, muß $S$ zwei Eigenschaften aufweisen, die aufgrund der Thermodynamik gefordert werden:

1.
Im Gleichgewicht sollte sich die verfügbare Gesamtenergie $E = E_{1}+E_{2}$ so auf die beiden Systeme aufteilen, daß
\begin{displaymath}
\left. \frac{d S(N_{1},V_{1},E_{1})}{dE_{1}}\right\vert _{E_...
...S(N_{2},V_{2},E_{2})}{dE_{2}}\right\vert _{E_{2}= E-E_{1}^{*}}
\end{displaymath} (4.1)

Die Größe $T \equiv [d S(N,V,E)/dE]^{-1}$ wird als Temperatur bezeichnet.
2.
Im Gleichgewicht sollte S additiv sein:
\begin{displaymath}
S(N_{1},V_{1},E_{1}) + S(N_{2},V_{2},E_{2}) \stackrel{?}{=}
S(N_{1}+N_{2},V_{1}+V_{2},E_{1}+E_{2})
\end{displaymath} (4.2)



Abbildung 4.1: Isoliertes System: $\rightarrow $ mikrokanonische Gesamtheit
\begin{figure}\includegraphics[width=300pt]{fig/f4mkg.ps}
\end{figure}




THERMISCHE WECHSELWIRKUNG
Nehmen wir nun an, zwei Systeme ($N_{1},E_{1}$) und ($N_{2},E_{2}$) werden miteinander in thermischen Kontakt gebracht; sie können also Energie austauschen, wobei aber die Gesamtenergie $E \equiv E_{1}+E_{2}$ erhalten bleiben soll; ihre ,,privaten`` Volumina und Teilchen bleiben getrennt. Wir wollen die Frage beantworten, wie groß das Phasenraumvolumen des zusammengesetzen Systems ist.

Ad 1. Die optimale Teilenergie $E_{1}^{*}$ genügt der Forderung $\Gamma_{2}(E_{2})  \partial \Gamma_{1}(E_{1})/ \partial E_{1}$ $ =\Gamma_{1}(E_{1})  \partial \Gamma_{2}(E_{2})/ \partial E_{2}$, oder
\begin{displaymath}
\frac{\partial}{\partial E_{1}}
\left. \ln \Gamma_{1}(E_{1}...
...\left. \ln \Gamma_{2}(E_{2}) \right\vert _{E_{2}=E-E_{1}^{*}}
\end{displaymath} (4.3)

Dies ist aber nichts anderes als die aus der Thermodynamik bekannte Gleichung
\begin{displaymath}
\left. \frac{\partial S_{1}(E_{1})}{\partial E_{1}}
\right\...
...{2}(E_{2})}{\partial E_{2}}
\right\vert _{E_{2}=E-E_{1}^{*}}
\end{displaymath} (4.4)

oder, mit $\partial S / \partial E \equiv 1/T$,
\begin{displaymath}
T_{1}=T_{2}  .
\end{displaymath} (4.5)

Ad 2. Die Gesamtenergie sei gemäß $E \equiv E_{1}+E_{2}$ auf die beiden Teilsysteme aufgeteilt. Dann ist nach 3.30
\begin{displaymath}
\Gamma_{1+2}(E) = \Gamma_{1}(E_{1}^{*})   \Gamma_{2}(E-E_{1}^{*})
\end{displaymath} (4.6)

und daher
$\displaystyle S_{1+2}$ $\textstyle =$ $\displaystyle k   \ln \frac{\Gamma_{1+2}(E)}{g^{3N}}
= k \ln \left[ \frac{\Gam...
...}(E_{1}^{*})}{g^{3N_{1}}}  
\frac{\Gamma_{2}(E-E_{1}^{*})}{g^{3N_{2}}} \right]$  
  $\textstyle =$ $\displaystyle k \ln \frac{\Gamma_{1}(E_{1}^{*})}{g^{3N_{1}}}   +  
k \ln \frac{\Gamma_{2}(E-E_{1}^{*})}{g^{3N_{2}}}$  
  $\textstyle =$ $\displaystyle S_{1}(E_{1}^{*}) + S_{2}(E-E_{1}^{*})$ (4.7)

wobei $E_{1}^{*}$ jene Teilenergie des Systems $1$ ist, für die das Produkt $\Gamma_{1}(E_{1})\Gamma_{2}(E-E_{1})$ ein Maximum ist.

Das heißt, bei thermischem Kontakt zwischen zwei nach außen isolierten Systemen fließt so lange Energie von einem System zum anderen, bis die Größe $ \partial S / \partial E$ ($\equiv 1/T$) in beiden Systemen gleich groß ist. Da das zusammengesetzte System dann das größtmögliche Volumen im Phasenraum einnimmt, ist diese Aufteilung der Energien die wahrscheinlichste. Es können zwar Fluktuationen um diese Energieaufteilung auftreten, diese bleiben aber wegen der Schärfe des Maximums von $\Gamma_{1}(E_{1})\Gamma_{2}(E-E_{1})$ sehr klein.

Man sollte sich bewußt sein, daß die obigen Aussagen zwar von eminenter physikalischer Bedeutung sind, daß sie aber - in relativ einfacher Weise - aus den geometrischen Eigenschaften hochdimensionaler Kugeln hergeleitet werden konnten.

BEISPIEL:
Betrachten wir $2$ Systeme wie im obigen Beispiel, wobei aber vor der thermischen Wechselwirkung $E_{1}=36$, $E_{2}=72$ und somit $E_{1+2}=108$ sein soll. Das Maximum des Produkts $\Gamma_{1}(E_{1})\Gamma_{2}(E-E_{1})$ liegt bei $E_{1}^{*}= E_{2}^{*}=54$, und das zugehörige Volumen im Phasenraum ist

\begin{displaymath}
\Gamma_{1}(E_{1}^{*})\Gamma_{2}(108-E_{1}^{*})
= \left[ \frac{1}{36} \left(\pi e 10^{4}\right)^{3/2}
\right]^{72}
\end{displaymath} (4.8)

Wie verhält sich nun das Volumen (und damit die Wahrscheinlichkeit) einer anderen Energieverteilung, beispielsweise $(46,62)$ zu 4.8?

\begin{displaymath}
\frac{\Gamma_{1}(46) \Gamma_{2}(62)}{ \Gamma_{1}(54) \Gamma_...
...
= \left( \frac{46 \cdot 62}{54 \cdot 54}\right)^{54}
= 0.30
\end{displaymath} (4.9)

Die Energiefluktuationen sind bei diesen kleinen Systemen also noch relativ groß: $\delta E_{1}/E_{1}^{*} \approx 8/54 = 0.15$. Für größere Teilchenzahlen wird $\delta E_{1}/E_{1}^{*}$ aber mit $1/\sqrt{N}$ kleiner: $(515 \cdot 565 / 540 \cdot 540 )^{540} = 0.31 $; somit $\delta E_{1}/E_{1}^{*} \approx 25/540 = 0.05$.


THERMODYNAMIK IM MIKROKANONISCHEN ENSEMBLE
Das System, dessen Mikrozustände der mikrokanonischen Gesamtheit angehören, soll nun mit der Außenwelt in Kontakt stehen. Die makroskopischen Bedingungen ($V,E$) sollen sich ändern, und zwar in quasistatischer Weise, das heißt so langsam, daß das System jederzeit die zu den augenblicklichen Makrobedingungen gehörige Mikrogesamtheit durchlaufen kann.

Handelt es sich zum Beispiel um ein Gas mit der anfänglichen Energie $E$ und dem Volumen $V$, dann soll die zu $E(t), V(t)$ gehörige Phasenraum-Schale jederzeit gleichmäßig überstrichen werden, bevor sich $E$ und $V$ weiter verändern. Unter dieser Voraussetzung steht die aufgenommene bzw. abgegebene differentielle Energie $dE$ mit der differentiellen Volumenänderung gemäß

\begin{displaymath}
dS = \left( \frac{\partial S}{\partial E}\right)_{V}   dE
+ \left( \frac{\partial S}{\partial V}\right)_{E}   dV
\end{displaymath} (4.10)

in Zusammenhang.

Definiert man (neben $T \equiv (\partial S / \partial E)_{V}^{-1}$) den Druck gemäß

\begin{displaymath}
P \equiv T   \left( \frac{\partial S}{\partial V}\right)_{E}
\end{displaymath} (4.11)

dann ist 4.10 identisch mit der thermodynamischen Gleichung
\begin{displaymath}
dS = \frac{1}{T} (dE + P   dV) \;\; \;
{\rm oder} \;\;\;
dE = T   dS - P   dV \;\; {\rm\bf (1. Hauptsatz)}
\end{displaymath} (4.12)

Beispiel: Klassisches ideales Gas, mit

\begin{displaymath}
S(N,V,E) = Nk \ln \left[ \frac{V}{N}
\left( \frac{4 \pi E e}{3 N m g^{2}} \right)^{3/2} \right]
\end{displaymath} (4.13)

Löst man diese Gleichung nach $E$ auf, dann erhält man die innere Energie $U(S,V) \equiv E$ zu

\begin{displaymath}
U(S,V) = \frac{3Nmg^{2}}{4 \pi V^{2/3}}   e^{2S/3Nk - 1}
\end{displaymath} (4.14)

Laut Thermodynamik ist $ T =(\partial U / \partial S)_{V}$; daher gilt

\begin{displaymath}
T = \frac{2}{3} \frac{U}{Nk}
\end{displaymath} (4.15)

Die spezifische Wärme des idealen Gases ist daher, in Einklang mit dem Experiment,

\begin{displaymath}
C_{V}=\frac{3}{2} Nk  .
\end{displaymath} (4.16)

Der Druck ergibt sich aus $P = - (\partial U / \partial V)_{S}$:

\begin{displaymath}
P = \frac{2}{3} \frac{U}{V} = \frac{NkT}{V}
\end{displaymath} (4.17)



SIMULATION IM MIKROKANONISCHEN ENSEMBLE: DIE MOLEKULARDYNAMIK-RECHNUNG
Es ist uns nicht schwergefallen, die Entropie $S$ eines idealen Gases als Funktion der Größen $N$, $V$ und $E$ herzuleiten. Aus $S(N,V,E)$ aber ließ sich die Thermodynamik dieses simplen Modellsystems ableiten. Die Lösung des Problems war deshalb so einfach, weil wir keine Kräfte zwischen den Teilchen annahmen. Die Statistische Mechanik hält auch für jene Fälle Lösungsverfahren bereit, in denen die Partikel miteinander in Wechselwirkung stehen. Eine Darstellung dieser theoretischen Methoden (Virialentwicklung, Integralgleichungs-Theorien usw.) läßt sich im gegebenen Rahmen aber nicht unterbringen.

Ein pragmatischeres Verfahren zur Ermittlung der thermodynamischen Eigenschaften eines beliebigen Modellsystems ist die Computersimulation. Die klassischen Bewegungsgleichungen von Massenpunkten, die über durch ein abstandsabhängiges Potential $u(r)$ (beispielsweise nach Lennard-Jones) miteinander wechselwirken, lauten

\begin{displaymath}
\frac{d \vec{v}_{i}}{dt} = - \frac{1}{m} \sum_{j \neq i}
\frac{\partial u(r_{ij})}{\partial
\vec{r}_{i}}
\end{displaymath} (4.18)

Für einen zur Zeit $t$ gegebenen Mikrozustand $\left\{ \vec{r}_{i} , \vec{v}_{i}  ;\; i=1, \dots N \right\}$ kann man diese Bewegungsgleichungen jeweils für einen kurzen Zeitschritt $\Delta t$ mittels numerischer Näherungen lösen; die so berechneten neuen Positionen und Geschwindigkeiten zur Zeit $t+\Delta t$ sind wieder Ausgangswerte für den nächsten Rechenschritt und so fort. Dieses Simulationsverfahren wird als Molekulardynamik-Methode bezeichnet.

Da wir nur Kräfte zwischen den Teilchen, aber keine äußeren Kräfte annehmen, bleibt die Gesamtenergie im System erhalten: die Trajektorie des Systems liegt also auf der Energiefläche $E=const$. Wenn das System chaotisch ist, werden alle Zustände auf dieser Hyperfläche mit gleicher Häufigkeit aufgesucht. Ein Mittelwert über besagte Trajektorie müßte also einem Mittelwert über das mikrokanonische Ensemble entsprechen. So lassen sich zum Beispiel die beiden Beiträge zur inneren Energie als Mittelwerte gemäß $U_{i} \equiv \langle E_{kin}\rangle + \langle E_{pot} \rangle$ errechnen, wobei zu jedem Zeitpunkt $E_{kin}$ aus den Geschwindigkeiten und $E_{pot} \equiv (1/2)\sum_{i,j} u(r_{ij})$ aus den Positionen zu bestimmen ist. In ähnlicher Weise kann die Temperatur aus $3NkT/2 \equiv \langle E_{kin}\rangle$, der Druck aus dem Mittelwert des sogenannten ,,Virials`` berechnet werden. Als Virial bezeichnet man die Größe $W \equiv (1/2)\sum_{i}\sum_{j \neq i} \vec{K}_{ij} \cdot \vec{r}_{ij}$; der Duck ist gegeben durch $P=NkT/V + \langle W \rangle / 3V$.

Im Fall harter Kugeln erfolgt die Berechnung der Teilchenbahnen anders. Bei gegebenen $\vec{r}_{i}, \vec{v}_{i}$ berechnet man die Zeitspanne $t_{0}$ bis zum allernächsten Stoß, der zwischen irgendwelchen zwei Teilchen im System - nennen wir sie $i_{0}$ und $j_{0}$ - vergehen wird. Dann bewegt man alle Kugeln im System um den Weg $\Delta \vec{r}_{i}=\vec{v}_{i} t_{0}$ weiter. Die Geschwindigkeiten der beiden Stoßpartner $i_{0},j_{0}$ werden gemäß den Gesetzen des elastischen Stoßes neu berechnet, und der Kreis ist geschlossen.

Weitere Details zur MD-Methode sind in [VESELY 78] und [VESELY 94] zu finden, ebenso in [ALLEN 90]


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F. J. Vesely / StatPhys Tutorial, Deutsch, 2001-2003