Franz Martin Wimmer
Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie
WS 2013
Übersicht
gesamt:
1. Vorlesung: Begriffliches,
Bedeutungen von "Geschichte", Geschichtstheorie als Theorie von
"stories" (H. White)
2. Vorlesung: Thema
1: Vorstellungen zum Verlauf von Geschichte
3. Vorlesung: Thema
2: Akteure und Faktoren
4. Vorlesung: Thema
3: Annahmen von Gesetzmäßigkeiten
5. Vorlesung: Thema
4: Erkennbarkeit - idiographisch vs nomothethisch
6. Vorlesung: Thema
5: Erklärbarkeit - hermeneutisch vs szientistisch
7. Vorlesung: Thema 6: Beschreibbarkeit - Perspektivität vs
Objektivität
Siebte Vorlesung (7. und 14. 1. 2014)
- Die Sehepunkte
Johann Martin Chladenius: Einleitung zur richtigen
Auslegung vernünftiger Reden und Schriften. Hg.: Lutz
Geldsetzer. Düsseldorf: Stern Verlag, 1969. (Erstdruck: 1742)
"§ 308. Von einer Geschichte hat man mehr als eine richtige
Vorstellung
Das, was in der Welt geschieht, wird von verschiedenen Leuten
auch auf verschiedene Art angesehen: daß, wenn viele eine
Beschreibung von einer Geschichte machen sollten, in jeder etwas
Besonderes würde angetroffen werden, wenn sie sich gleich
insgesamt die Sache, soviel an ihnen gelegen, richtig
vorgestellt hätten. Die Ursache dieser Verschiedenheit ist teils
in dem Ort und in der Stellung unseres Leibes, die bei jedem
verschieden ist, teils in der verschiedenen Verbindung, die wir
mit den Sachen haben, teils in unserer vorhergehenden Art zu
gedenken, zu suchen, vermöge welcher dieser auf das, der andere
auf jenes Achtung zu geben sich angewöhnt hat. Man glaubt zwar
gemeiniglich, daß jede Sache nur eine richtige Vorstellung
machen könnte, und wenn daher in den Erzählungen sich einiger
Unterschied befinde, so müsse die eine ganz recht und die andere
ganz unrecht haben. Allein diese Regel ist weder andern gemeinen
Wahrheiten noch einer genaueren Erkenntnis unserer Seele gemäß.
Wir wollen jetzo mit einem gemeinen Exempel erweisen, wie
verschiedene eine einzige Sache sich auf mancherlei Art
vorstellen können. Gesetzt es befinden sich bei einer
vorfallenden Schlacht drei Zuschauer, davon der eine auf einem
Berge zur Seite des rechten Flügels der einen Armee, der andere
auf einer Höhe zur Seiten des linken Flügels, der dritte hinter
derselben Armee der Schlacht zusieht. Wenn diese drei ein
genaues Verzeichnis von dem, was sich bei der Schlacht
zugetragen, machen sollten, so wird allen Fleißes ungeachtet
keines Erzählung mit den übrigen ganz genau übereinkommen. [...]
Ebenso ist es mit allen Geschichten beschaffen; eine Rebellion
wird anders von einem getreuen Untertanen, anders von einem
Rebellen, anders von einem Ausländer, anders von einem Hofmann,
anders von einem Bürger oder Bauern angesehen, wenn auch gleich
jeder nichts, als was der Wahrheit gemäß ist, davon wissen
sollte. Es ist zwar gewiß, daß alle wahren Erzählungen von einer
Geschichte in gewissen Stücken derselben übereinkommen müssen,
weil, wenn wir uns gleich gewissermaßen in verschiedenen
Umständen befinden, und also auch gewisse Stücke der Geschichte
nicht auf einerlei Art ansehen, wir dennoch überhaupt in den
Regeln der menschlichen Erkenntnis miteinander übereinkommen.
Allein wir wollen dieses behaupten, daß, wenn verschiedene
Personen, auch nach ihrer richtigen Erkenntnis, eine Geschichte
erzählen, in ihren wahren Erzählungen sich dennoch ein
Unterschied befinden könne.
§ 309. Was der Sehe-Punkt sei
Diejenigen Umstände unserer Seele, unseres Leibes und unserer
ganzen Person, welche machen oder Ursache sind, daß wir uns eine
Sache so und nicht anders vorstellen, wollen wir den Sehe-Punkt
nennen. Wie nämlich der Ort unseres Auges, und insbesondere die
Entfernung von einem Vorwurf, die Ursache ist, daß wir ein
solches Bild und kein anderes von der Sache bekommen, also gibt
es bei allen unseren Vorstellungen einen Grund, warum wir die
Sache so und nicht anders erkennen: und dieses ist der
Sehe-Punkt von derselben Sache. [...] Das Wort Sehe-Punkt ist
vermutlich von Leibniz zuerst in einem allgemeinern Verstande
genommen worden, da es sonst nur in der Optik vorkam. Was er
damit anzeigen sollte, kann man am besten aus unserer Definition
ersehen, welche denselben Begriff deutlich erklärt. Wir bedienen
uns hier desselben Begriffs, weil er unentbehrlich ist, wenn man
von den vielen und unzähligen Abwechslungen der Begriffe, die
die Menschen von einer Sache haben, Rechenschaft geben soll."
(S. 71-73)
Die Tendenz der Zeit, in der das geschrieben wurde, geht im
Allgemeinen in die entgegengesetzte Richtung. Wir nennen diese
Epoche "Aufklärung" und verbinden damit eher Ansätze wie
denjenigen, den Jakob Brucker (der genau zur selben Zeit sein
Hauptwerk veröffentlichte) für den Bereich der Philosophiehistorie
verfolgt hat, nämlich die vielen besonderen Denkweisen, die in der
Geschichte auftreten, aus ihren jeweiligen Bedingtheiten zu
erklären, sie an Erkenntnissen der Vernunft zu messen und auf
diese Weise Irrtümer des Denkens auszuscheiden. Das Hauptwerk ist:
Jakob Brucker: Historia Critica Philosophiae a Mundi Incunabilis,
ad Nostram usque Aetatem Deducta. 2. Aufl. Vol. I-VI. Lipsiae:
Breitkopf, 1766 - 67. (Erstdruck: 1742-44)
Zu Brucker vgl.
Franz Martin Wimmer: Interkulturelle Philosophie. Geschichte und
Theorie. 2. Aufl. Internet-Auflage.
2001, Kap. 2.5, S. 213ff und Anhang 3, insb. § 7f
Was von Chladenius formuliert wird, hat hingegen in Diskursen der
letzten Jahrzehnte eine große Rolle gespielt und an Bedeutung
gewonnen - die These, dass es nicht nur unvermeidlich ist, die
Welt aus einer jeweils bestimmten Perspektive zu
beschreiben, dass vielmehr das Fehlen bestimmter Perspektiven eine
ideologische Verzerrung der Wirklichkeit, insbesondere in der
Geschichtswissenschaft darstellt. Besonders deutlich wird das in
der Frauengeschichte bzw. der feministischen
Geschichtswissenschaft, wie z.B. bei
Gisela Bock: "Der Platz der Frauen in der Geschichte." In Neue
Ansätze in der Geschichtswissenschaft, Hg.: Herta Nagl-Docekal und
Franz Martin Wimmer, S. 113-32. 2. Aufl.: Wien:
WUV-Universitätsverlag, 1994.
oder auch in neuen Ansätzen von postkolonialer
Geschichtsschreibung, vgl.
Sebastian Conrad und Shalini Randeria (Hg.): Jenseits des
Eurozentrismus: Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und
Kulturwissenschaften. Frankfurt/M. - New York: Campus, 2002.
Vgl. zum Term "Sehepunkte" auch die Selbstbeschreibung des
Internet-Rezensionsjournals "sehepunkte"
Bedeutungen von "objektiv"
(1) der Sache entsprechend, vom Objekt, vom Gegenstand
kommend
(2) ohne subjektive Teilnahme, allgemein anerkannt
(3) frei von Emotionen, ohne wertende Stellungnahme
(4) Tatsachen richtig, allseitig bzw. in allen relevanten
Aspekten wiedergebend
Weder decken sich diese einzelnen Konnotationen des Begriffs, noch
ist irgend eine von ihnen unproblematisch. Einige Punkte dazu,
insbesondere zu historischen Aussagen zu überlegen:
ad (1) Sind Kriterien dafür Konsens der ForscherInnen oder was
sonst? Sicher ist Ausschluss von gewiss falschen Rekonstruktionen
(wie schon bei Ibn Khaldun) ein Schritt dazu, reicht aber nicht
aus; andere Schritte wären evtl. (aber auch nicht generell
ausreichend) Beschränkung auf materielle Daten, Konsistenz von
Beschreibungen.
ad (2) es muss zwar intersubjektive Möglichkeiten des Überprüfens
von Aussagen geben, das setzt aber nicht voraus, dass (numerisch)
alle zum selben Ergebnis kommen, dieselbe Aussage aufgrund der
Daten machen; zumindest ist zu beachten, dass die "allgemeine
Anerkennung" diejenige durch "alle Fachleute" bedeuten kann (also
Schulung, Begriffsbildung etc. voraussetzt) - was wieder zur Frage
der Paradigmen (White) zurückführt
ad (3) Es ist zu unterscheiden, ob von der Auswahl (der
Gegenstände), von der Wahl der Beschreibungsbegriffe oder von
Erklärungshypothesen die Rede ist. Bei der Auswahl spielen stets
(auch) Emotionen eine Rolle, und: nicht jede Emotion ist immer
irrational oder epistemisch unzuverlässig. Bei der Beschreibung
und Erklärung könnten gefühlsbehaftete Ausdrücke (wie z.B.
"Judenverfolgung") dann "objektiv" im Sinn von (1) sein, wenn die
Sache selbst ein Wert- oder Unwertzusammenhang ist. Aber auch dann
muss die Wertsetzung beim Wissenschaftler bewusst gemacht werden
können.
ad (4) das ist die Forderung nach relevanten wahren Darstellungen,
denn zu unterscheiden ist in einer Darstellung Teilwahrheit und
Unwahrheit. Zwei scholastische Kurzformeln illustrieren das
Problem:
- die "suppressio veri" unterdrückt relevante Fakten und
vermittelt darum etwas Unzutreffendes
Beispiel: A und B beschreiben das Resultat von N bei einem
Wettbewerb.
A sagt: "N ist Zweiter geworden." (klingt positiv)
B sagt: "N ist Vorletzter geworden." (klingt negativ)
Weder A noch B sagen: An diesem Wettbewerb waren drei Personen
beteiligt. Ihre unterschiedlichen Aussagen sind zwar nicht unwahr,
aber jede davon vermittelt einen falschen Eindruck.
- die "suggestio falsi" suggeriert sprachlich ein Faktum, das
nicht zutrifft.
Die vier Konnotationen von "objektiv" sollten in Betracht gezogen
werden, wenn gefragt wird, ob und wie weit "Geschichte" objektiv
ist. Die Frage spielt eine Rolle in drei Bereichen: bei der
Auswahl (von Themen, Gegenständen), zweitens in den Methoden des
Untersuchens von Gegenständen und Prüfens von Ergebnissen, und
drittens im Darstellen und Vermitteln von Ergebnissen der
Forschung. Wir können uns also fragen:
(1) In welchem Sinn gibt es Objektivität in der Auswahl von Daten
und von Themen?
Hier sind die unter 2-4 angeführten Bedeutungen von "objektiv"
relevant.
Nach der zweiten Bedeutung von "objektiv" stützt sich historisches
Wissen auf derartige Daten, die intersubjektiv zugänglich sind,
deren Aussagekraft also (prinzipiell von beliebigen Menschen)
nachprüfbar ist, die also in diesem Sinn "allgemein anerkannt"
(oder eben bestritten) werden können. Das scheint weitgehend
unproblematisch, soweit es sich nur um den Bereich von Daten
handelt, da heißt das nur, dass kein "Geheimwissen" als Datum
gelten soll. Welche Daten überhaupt, die die Bedingung erfüllen,
herangezogen, untersucht, interpretiert usw. werden, ist damit
nicht gesagt, sondern hängt mit der Themenwahl zusammen.
Gar nicht unproblematisch ist die Wahl des (historischen)
Gegenstands, dabei spielt sowohl individuelles, als auch
kollektives Interesse, der Zeitgeist, politisches Engagement usw.
eine wichtige Rolle. Hierbei kann nur bedingt (jeweils innerhalb
von Diskursgrenzen) von einer "allgemeinen Anerkennung"
ausgegangen werden.
Nach der dritten Bedeutung von "objektiv"
(2) In welchem Sinn gibt es objektive Methoden?
xxx
(3) In welchem Sinn sind Darstellungs- und Vermittlungsformen
objektiv?
xxx
- Gibt es vielleicht Grade, Maßstäbe von Objektivität? Dazu vgl.:
Jürgen Kocka: "Angemessenheitskriterien historischer Argumente."
In Arbeiten an der Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel im 19.
und 20. Jahrhundert. , S. 40-45. 2. Aufl.: Göttingen:
Vandenhoeck&Ruprecht, 2012. (Erstdruck des Aufsatzes: 1977).
Teilweise im Internet: hier
PRÜFUNGSRELEVANT ZU THEMA 7
K. behandelt hier drei Fragen von Grenzüberschreitungen:
(1) Bedingungen, unter denen aus sachbedingt notwendiger Selektion
erkenntnisverzerrende Einseitikeit wird:
a) wenn fachspezifische Überprüfungsmethoden
verletzt werden
b) wenn Regeln der formalen Logik verletzt
werden
c) wenn die Frage nach alternativen Selektionen
nicht gestellt wird
d) wenn der selektive Charakter des Ergenisses
nicht angedeutet wird
(2) Bedingungen, unter denen aus sachbedingt notwendigem Bezug auf
außerwissenschaftliche Gesichtspunkte erkenntnisverstellende
Parteilichkeit wird
a) wenn das Engagement die Einhaltung
fachspezifischer Regeln und von Regeln der formalen Logik
verhindert
b) wenn aufgrund des Engagements eine nötige
Kritik oder Revision unmöglich ist
c) wenn nicht solche (wissenschaftliche und
außerwissenschaftliche) Bedingungen erfüllt sind, in denen ein
Engagement mit anderen Engagements konkurrieren kann und
tatsächlich damit konfrontiert wird
d) wenn eine unmittelbare Beziehung zwischen
Engagement und Forschung besteht
(3) Bedingungen, unter denen aus der Verwertung von historischem
Wissen eine Instrumentalisierung wird, die historische Erkenntnis
behindert oder verbiegt
a) wenn bei einem Widerspruch zwischen
historischen Aussagen und politischen Zielsetzungen dieser zu
Lasten der historischen Aussagen gelöst wird in einer Weise, die
fachspezifische Überprüfungsregeln und/oder logische Regeln
verletzt
b) wenn historisches Wissen für Zwecke
eingesetzt wird, deren Realisierung die realen Bedingungen
aufhebt, welche Geschichtswissenschaft (institutionell) benötigt
Wird all dies nicht verletzt, so kann es (und wird es) immer noch
verschiedene historische Darstellungen und Argumentationen geben.
Welche darunter sind (auf Grund ihrer größeren Objektivität)
vorzuziehen? K. formuliert hier Präferenzkriterien für
geschichtswissenschaftliche Darstellungen und Argumente. Es ist
jener der Vorrang zu geben,
a) die andere in sich einbezieht
b) die mehr vom Gegenstand erschließt
c) die individuelles und kollektives Gegenwartsverständnis und
Zukunftsperspektiven vermittelt
d) die bessere Chancen hat, dem Publikum mitgeteilt zu werden
e) die ihre eigene Entstehung mit reflektiert und einsichtig macht
Geschichtsphilosophisches Hauptwerk:
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (= Unzeitgemäße
Betrachtungen, II, 1874)
PRÜFUNGSRELEVANT ZU NIETZSCHE
Der Text ist im Internet zugänglich: hier
Zitate im folgenden nach: Studienausgabe in 4 Bänden. Bd.1.
Frankfurt/M.: Fischer, 1968. S. 188-251.
Andere Arbeiten, in denen geschichtsphilosophische Themen entwickelt werden: Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik (1872); Menschliches, Allzumenschliches (1878-80); Zarathustra (1883-84)
Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es gibt einen Grad, Historie zu treiben, und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet: ein Phänomen, welches an merkwürdigen Symptomen unserer Zeit sich zur Erfahrung zu bringen jetzt ebenso notwendig ist, als es schmerzlich sein mag. (Nutzen und Nachteil der Historie, S. 188)
Bei Nietzsche stoßen wir auf eine gegen den Historismus gewandte Skepsis gegen alles, was sich bloß auf Gewordensein stützt, selbst dann noch, wenn dieses überwunden werden soll. Der Übermensch, von dem er manchmal spricht, handelt "aus eigenen Gnaden", ohne Rück-Halt.
Notwendigkeit von Erinnern und Vergessen
Die Schrift vom Nutzen und Nachteil beginnt mit einer Unterscheidung des Menschen vom Tier aufgrund des Zeitbewusstseins und der Erinnerungsfähigkeit:
Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiß nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frißt, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig, noch überdrüssig. (l.c., S. 189)
Der Mensch kann zwar nicht gänzlich vergessen:
Fortwährend löst sich ein Blatt aus der Rolle der Zeit, fällt heraus, flattert fort - und flattert plötzlich wieder zurück, dem Menschen in den Schoß. Dann sagt der Mensch "ich erinnere mich" und beneidet das Tier, welches sofort vergißt und jeden Augenblick wirklich sterben, in Nebel und Nacht zurücksinken und auf immer verlöschen sieht. (l.c., S. 190)
wenn er sich aber umgekehrt ganz am (großen oder unbedeutenden) Geschehenen orientiert, so kaut er bloß wieder und lebt nicht in der Gegenwart. Er muss vergessen wollen:
Das kleinste Glück, wenn es nur ununterbrochen da ist und glücklich macht, ist ohne Vergleich mehr Glück als das größte, das nur als Episode, gleichsam als Laune, als toller Einfall, zwischen lauter Unlust, Begierde und Entbehrung kommt. Bei dem kleinsten aber und bei dem größten Glücke ist es immer eins, wodurch Glück zum Glücke wird: das Vergessenkönnen oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden. (l.c., S. 190 f.)
... es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.
Um diesen Grad und durch ihn dann die Grenze zu bestimmen, an der das Vergangene vergessen werden muß, wenn es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen werden soll, müßte man genau wissen, wie groß die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist; ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen. (l.c., S. 191)
Leben hat Vorrang vor dem Wissen
Das Kriterium für das richtige (Maß des) Vergessen(s) ist das "Leben" von einzelnen wie von Völkern, es ist ein "nie zu vollendendes Imperfektum". In diesem Punkt ist dann auch nichts Rationales oder wissenschaftlich Gesetzmäßiges aufzufinden, sondern jenes Irrationale, das Nietzsche "Leben" oder den "Willen zum Leben" nennt.
Soll nun das Leben über das Erkennen, über die Wissenschaft, soll das Erkennen über das Leben herrschen? Welche von beiden Gewalten ist die höhere und entscheidende? Niemand wird zweifeln: das Leben ist die höhere, die herrschende Gewalt, denn ein Erkennen, welches das Leben vernichtete, würde sich selbst mit vernichtet haben. Das Erkennen setzt das Leben voraus, hat also an der Erhaltung des Lebens dasselbe Interesse, welches jedes Wesen an seiner eignen Fortexistenz hat. So bedarf die Wissenschaft einer höheren Aufsicht und Überwachung: eine Gesundheitslehre des Lebens stellt sich dicht neben die Wissenschaft... (l.c., S. 249)
Doch kann die Historie dem Leben dienen:
Und dies ist ein allgemeines Gesetz; jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden ... (l.c., S. 192)
Die Heiterkeit, das gute Gewissen, die frohe Tat, das Vertrauen auf das Kommende - alles das hängt, bei dem einzelnen wie bei dem Volke, davon ab, daß es eine Linie gibt, die das Übersehbare, Helle von dem Unaufhellbaren und Dunkeln scheidet; davon, daß man ebenso gut zur rechten Zeit zu vergessen weiß, als man sich zur rechten Zeit erinnert; davon, daß man mit kräftigem Instinkte herausfühlt, wann es nötig ist, historisch, wann, unhistorisch zu empfinden. Dies gerade ist der Satz, zu dessen Betrachtung der Leser eingeladen ist: das Unhistorische und das Historische ist gleichermaßen für die Gesundheit eines einzelnen, eines Volkes und einer Kultur nötig.(l.c., S. 192)
Die Historie kann und soll einen solchen Horizont für das Leben schaffen, aber ihre Erkenntnis steht dann immer im Dienst der "Tat" oder des "Lebens". Es ergibt sich daher eine Priorität des Unhistorischen:
Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch immer wissenlos; er vergißt das meiste, um eins zu tun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt, und kennt nur ein Recht, das Recht dessen, was jetzt werden soll. (l.c., S. 193)
Der Prozess des Lebens ist von eigenständigem, nicht mehr auf Anderes bezogenem Wert:
Die Frage aber, bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt brauche, ist eine der höchsten Fragen und Sorgen in betreff der Gesundheit eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur. Denn bei einem gewissen Übermaß derselben zerbröckelt und entartet das Leben, und zuletzt auch wieder, durch diese Entartung, selbst die Historie. (l.c., S. 196)
Wie das Verhältnis von historischem Bewusstsein und unhistorischem Handeln jeweils sein müsste - es ist von Volk zu Volk und von Mensch zu Mensch verschieden - wüsste man erst, wenn man weiß,
wie groß die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Kultur ist...(s.o.)
Jede Theorie, jede Auffassung über Vergangenheit steht also insgesamt im Dienst des Lebens. Davon ist dann auch die Behandlungsweise des Geschehenen abhängig: es kann nicht um bloß objektive Erkenntnis gehen, denn
Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnisphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, tot: denn er hat in ihm den Wahn, die Ungerechtigkeit, die blinde Leidenschaft, und überhaupt den ganzen irdisch umdunkelten Horizont jenes Phänomens und zugleich eben darin seine geschichtliche Macht erkannt. Diese Macht ist jetzt für ihn, den Wissenden, machtlos geworden: vielleicht noch nicht für ihn, den Lebenden.(l.c., S. 196)
Drei Arten der Geschichtsbetrachtung sieht Nietzsche als wirksam:die monumentalische des tätigen Menschen, die antiquarische des Bewahrenden und die kritische des an der Wirklichkeit Leidenden.
In dreierlei Hinsicht gehört die Historie dem Lebendigen: sie gehört ihm als dem Tätigen und Strebenden, ihm als dem Bewahrenden und Verehrenden, ihm als dem Leidenden und der Befreiung Bedürftigen. Dieser Dreiheit von Beziehungen entspricht eine Dreiheit von Arten der Historie: sofern es erlaubt ist, eine monumentalische, eine antiquarische und eine kritische Art der Historie zu unterscheiden. (l.c., S. 196)
Alle drei Arten aber dienen in unterschiedlicher Weise dem Lebendigen und daher ist die vorherrschende Art jeweils vom Lebens"interesse" bedingt. In der "kritischen", verwerfenden Art, mit Geschichte umzugehen, geschieht das beispielsweise nicht (wie vorgegeben wird), um das Richtige herauszustellen, sondern weil "das Leben" das Alte zerbrechen will.
Hier wird es deutlich, wie notwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nötig hat, die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muß die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquiriert und endlich verurteilt; jede Vergangenheit aber ist wert, verurteilt zu werden - denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen die menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urteil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht. Sein Spruch ist immer ungnädig, immer ungerecht, weil er nie aus einem reinen Borne der Erkenntnis geflossen ist; aber in den meisten Fällen würde der Spruch ebenso ausfallen, wenn ihn die Gerechtigkeit selber spräche. (l.c., S. 204 f.)
Die drei Arten, mit dem Vergangenen umzugehen, können jedoch auch entarten und tatsächlich ist das nach Nietzsche häufig der Fall:
Jede der drei Arten von Historie, die es gibt, ist nur gerade auf einem Boden und unter einem Klima in ihrem Rechte: auf jedem anderen wächst sie zum verwüstenden Unkraut heran. Wenn der Mensch, der Großes schaffen will, überhaupt die Vergangenheit braucht, so bemächtigt er sich ihrer vermittelst der monumentalischen Historie; wer dagegen im Gewohnten und Altverehrten beharren mag, pflegt das Vergangne als antiquarischer Historiker; und nur der, dem eine gegenwärtige Not die Brust beklemmt, und der um jeden Preis die Last von sich abwerfen will, hat Bedürfnis zur kritischen, das heißt richtenden und verurteilenden Historie. Von dem gedankenlosen Verpflanzen der Gewächse rührt manches Unheil her: der Kritiker ohne Not, der Antiquar ohne Pietät, der Kenner des Großen ohne das Können der Großen sind solche zum Unkraut aufgeschossene, ihrem natürlichen Mutterboden entfremdete und deshalb entartete Gewächse. (l.c., S. 201)
Nietzsches Kritik am Historismus ergibt sich aus diesen Grundsätzen: dieser wolle die Historie um jeden Preis zur (objektiven) Wissenschaft machen, der Historist vertritt: "fiat veritas pereat vita" (ebd., S.206) Dies sei jedoch nicht nur unmöglich, sondern schon im Ansatz gefährlich:
In fünffacher Hinsicht scheint mir die Übersättigung einer Zeit in Historie dem Leben feindlich und gefährlich zu sein: durch ein solches Übermaß wird ... (ein) Kontrast von Innerlich und Äußerlich erzeugt und dadurch die Persönlichkeit geschwächt; durch dieses Übermaß gerät eine Zeit in die Einbildung, daß sie die seltenste Tugend, die Gerechtigkeit, in höherem Grade besitze als jede andere Zeit; durch dieses Übermaß werden die Instinkte des Volkes gestört und der einzelne nicht minder als das Ganze am Reifwerden verhindert; durch dieses Übermaß wird der jederzeit schädliche Glaube an das Alter der Menschheit, der Glaube, Spätling und Epigone zu sein, gepflanzt; durch dieses Übermaß gerät eine Zeit in die gefährliche Stimmung der Ironie über sich selbst und aus ihr in die noch gefährlichere des Zynismus: in dieser aber reift sie immer mehr einer klugen egoistischen Praxis entgegen, durch welche die Lebenskräfte gelähmt und zuletzt zerstört werden. (l.c., S. 211 f.)
Objektivismus und Fortschrittsglaube
Zwei der genannten Gefährdungen durch Historie sind das
illusorische Streben nach "Objektivität" und die ebenso
illusorische Einbildung, auf dem Gipfel einer Entwicklung zu
stehen. Zum ersten:
... den ganz unbesonnenen Leuten, die als Historiker im naiven Glauben schreiben, daß gerade ihre Zeit in allen Popularansichten recht habe, und daß dieser Zeit gemäß zu schreiben so viel heiße, als überhaupt gerecht zu sein; ein Glaube, in dem eine jede Religion lebt, und über den, bei Religionen, nichts weiter zu sagen ist. Jene naiven Historiker nennen "Objektivität" das Messen vergangener Meinungen und Taten an den Allerwelts-Meinungen des Augenblicks: hier finden sie den Kanon aller Wahrheiten; ihre Arbeit ist, die Vergangenheit der zeitgemäßen Trivialität anzupassen. Dagegen nennen sie jede Geschichtsschreibung "subjektiv", die jene Popularmeinungen nicht als kanonisch nimmt.
Und sollte nicht selbst bei der höchsten Ausdeutung des Wortes Objektivität eine Illusion mit unterlaufen? Man versteht dann mit diesem Worte einen Zustand im Historiker, in dem er ein Ereignis in allen seinen Motiven und Folgen so rein anschaut, daß es auf sein Subjekt gar keine Wirkung tut: man meint jenes ästhetische Phänomen, jenes Losgebundensein vom persönlichen Interesse, mit dem der Maler in einer stürmischen Landschaft, unter Blitz und Donner, oder auf bewegter See sein inneres Bild schaut, man meint das völlige Versunkensein in die Dinge: ein Aberglaube jedoch ist es, daß das Bild, welches die Dinge in einem solchermaßen gestimmten Menschen zeigen, das empirische Wesen der Dinge wiedergebe. (l.c., S. 219)
Die zweite große Gefahr liegt in der ebenso illusorischen Einbildung, als Kultur, als Volk oder Nation den Gipfelpunkt der Menschheitsentwicklung oder der Entwicklung überhaupt erreicht zu haben:
(Der moderne Mensch) steht hoch und stolz auf der Pyramide des Weltprozesses; indem er oben darauf den Schlußstein seiner Erkenntnis legt, scheint er der horchenden Natur rings umher zuzurufen: "wir sind am Ziele, wir sind das Ziel, wir sind die vollendete Natur." Überstolzer Europäer des neunzehnten Jahrhunderts, du rasest: Dein Wissen vollendet nicht die Natur, sondern tötet nur deine eigne. Miß nur einmal deine Höhe als Wissender an deiner Tiefe als Könnender. (l.c., S. 236)
Einen solchen "objektiven" Gipfel gibt es nach Nietzsche nirgends und niemals, wie wir im folgenden Abschnitt sehen werden.
Das Ziel der Geschichte sieht Nietzsche in einer Überwindung des Alten durch den "Übermenschen", der die "dekorative Kultur" verwirft.
(Jeder einzelne) muß das Chaos in sich organisieren, dadurch, daß er sich auf seine echten Bedürfnisse zurückbesinnt. Seine Ehrlichkeit, sein tüchtiger und wahrhafter Charakter muß sich irgendwann einmal dagegen sträuben, daß immer nur nachgesprochen, nachgelernt, nachgeahmt werde; er beginnt dann zu begreifen, daß Kultur noch etwas andres sein kann als Dekoration des Lebens, das heißt im Grunde doch immer nur Verstellung und Verhüllung; denn aller Schmuck versteckt das Geschmückte. (l.c., S. 251)
Der freie Mensch "zerbricht die alten Tafeln" (vgl. Zarathustra ), um neue "aus eigenen Gnaden" zu setzen. Der darin zur Wirklichkeit kommende "Wille zur Macht" steht jenseits von Gut und Böse.
Die "große Zeit" ist die Zeit der "freien Geister":
Es wird die Zeit sein, in der
man sich aller Konstruktionen des Weltprozesses oder auch der
Menschheits-Geschichte weislich enthält, eine Zeit, in der man
überhaupt nicht mehr die Massen betrachtet, sondern wieder die
einzelnen, die eine Art von Brücke über den wüsten Strom des
Werdens bilden. Diese setzen nicht etwa einen Prozeß fort,
sondern leben zeitlos-gleichzeitig, dank der Geschichte, die ein
solches Zusammenwirken zuläßt, sie leben als die
Genialen-Republik, von der einmal Schopenhauer erzählt; ein
Riese ruft dem andern durch die öden Zwischenräume der Zeiten
zu, und ungestört durch mutwilliges lärmendes Gezwerge, welches
unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch
fort. Die Aufgabe der Geschichte ist es, zwischen ihnen die
Mittlerin zu sein und so immer wieder zur Erzeugung des Großen
Anlaß zu geben und Kräfte zu verleihen. Nein, das Ziel
der Menschheit kann nicht am Ende liegen, sondern
nur in ihren höchsten Exemplaren. (l.c., S. 239)
Das erfordert vom Einzelnen,
dass er sich ein Ziel setzt, das alle Ziele Anderer aufwiegt.
Größe liegt nicht im Erfolg, nur im Ziel - das römische Wort "in
magnis voluisse sat est" kommt hier in den Sinn und ist gar
nicht resignativ -
Die Größe soll nicht vom Erfolg abhängen, und Demosthenes hat Größe, ob er gleich keinen Erfolg hatte. (ebd., 242)
Daraus ergibt sich dann auch die Rolle der Vielen, der Massen in der Geschichte:
Man fahre nur fort, ... die Geschichte vom Standpunkt der Massen zu schreiben und nach jenen Gesetzen in ihr zu suchen, die aus den Bedürfnissen dieser Massen abzuleiten sind, also nach den Bewegungsgesetzen der niedersten Lehm- und Tonschichten der Gesellschaft. Die Massen scheinen mir nur in dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal als verschwimmende Kopien der großen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Großen, und endlich als Werkzeuge der Großen; im übrigen hole sie der Teufel und die Statistik! Wie, die Statistik bewiese, daß es Gesetze in der Geschichte gäbe? Gesetze? Ja, sie beweist, wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist: soll man die Wirkung der Schwerkräfte, Dummheit, Nachäfferei, Liebe und Hunger Gesetze nennen? Nun, wir wollen es zugeben, aber damit steht dann auch der Satz fest: soweit es Gesetze in der Geschichte gibt, sind die Gesetze nichts wert und ist die Geschichte nichts wert. (l.c., S. 241)
xxx
dazu: Afrozentrismus, insbesondere Taylor, Ecce
Negro
Paul C. Taylor: "Ecce Negro: How To Become a Race Theorist." In
Critical Affinities. Nietzsche and African American Thought, Hg.:
Jacqueline Scott und A. Todd Franklin, S. 101-23. New York:
State Univ. of New York Pr., 2006.
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