Franz Martin Wimmer
Kritische Geschichtsphilosophie: Idiographie vs Nomothetik
Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie
WS 2013
Übersicht
gesamt:
1. Vorlesung: Begriffliches,
Bedeutungen von "Geschichte", Geschichtstheorie als Theorie von
"stories" (H. White)
2. Vorlesung: Thema
1: Vorstellungen zum Verlauf von Geschichte
3. Vorlesung: Thema
2: Akteure und Faktoren
4. Vorlesung: Thema
3: Annahmen von Gesetzmäßigkeiten
5. Vorlesung: Thema 4: Erkennbarkeit - idiographisch vs
nomothethisch
6. Vorlesung: Thema
5: Erklärbarkeit - hermeneutisch vs szientistisch
7. Vorlesung: Thema
6: Beschreibbarkeit - Perspektivität und Objektivität
Fünfte Vorlesung (26. 11. und 3.12. 2013)
Übersicht der fünften Vorlesung:
Windelband 1894 | Beispiel: Ibn Khaldun
Im zweiten Abschnitt dieser Vorlesung
geht es nicht mehr um Theorien über (den Gesamtverlauf von) Geschichte,
sondern um Fragen, die Geschichte (als
wissenschaftliches Unternehmen, als mögliches Feld von Erkenntnis)
betreffen, also um
"Kritische" Geschichtsphilosophie
Zur Terminologie vgl.
William Dray: Philosophy of history. Englewood Cliffs, N.J.:
Prentice Hall, 1993. (Erstdruck: 1964)
Die Sache, um die es dabei geht, wird in der Literatur
unterschiedlich benannt, gelegentlich wird auch von "formaler" oder
von "analytischer" Geschichtsphilosophie gesprochen. Ich bevorzuge
den von Dray verwendeten Ausdruck "kritisch", weil es sich insgesamt
dabei um Fragen handelt, die die Möglichkeiten und Grenzen von
Erkenntnis auf diesem Gebiet betreffen.
Schon Hegel spricht in der Einleitung zu seiner Vorlesung zur
Philosophie der Weltgeschichte von "kritischer Geschichte" und meint
damit "eine Geschichte der Geschichte und eine Beurteilung der
geschichtlichen Erzählungen und Untersuchung ihrer Wahrheit und
Glaubwürdigkeit". Er kennzeichnet diese als eine der
Erscheinungsformen der "reflektierenden" Geschichte, die er zwischen
der "ursprünglichen" und der "philosophischen" Geschichte einordnet.
Letztere, die "philosophische Geschichte", behandelt Hegel dann
gänzlich im Sinn dessen, was wir hier als "spekulative" Geschichte
behandelt haben.
Auch bei anderen Autoren, die im ersten Teil (über "spekulative"
Geschichtsphilosophie) angesprochen wurden, finden sich
selbstverständlich Ausführungen zu Fragen der "kritischen"
Geschichtsphilosophie ebenso, man denke nur an Ibn Khalduns (s.u.) Ausscheiden von unmöglich zutreffenden
Berichten und seiner Formulierung von Kriterien für wahrscheinlich
oder für gewiss wahre Berichte; oder auch an das Axiom Vicos
"verum et factum convertuntur", an Spenglers
Setzung einer "morphologischen" als einzig zuverlässiger
Betrachtungsweise, usw.
Unter dem Titel der kritischen Geschichtsphilosophie werden drei
Themen besprochen, Fragen der Erkennbarkeit, der Erklärbarkeit und
der Beschreibbarkeit historischer Sachverhalte (s. oben Übersicht)
Unterscheidung
idiographischer und nomothetischer Wissenschaft(en)
Die Unterscheidung wurde eingeführt von:
Wilhelm Windelband: Geschichte
und Naturwissenschaft. Rede zum Antritt des Rektorats der
Kaiser-Wilhelm- Universität Strassburg gehalten am 1. Mai
1894. 3. Aufl. Straßburg: Heitz,
1904. (Erstdruck: 1894) Im Internet: hier
PRÜFUNGSRELEVANT FÜR THEMA 4
Ergänzend wird zur Lektüre empfohlen:
Rainer Thurnher: "Ist die Unterscheidung von
nomothetischen und idiographischen Wissenschaften noch
zeitgemäß? Eine Auseinandersetzung mit der
Einheitswissenschaftsthese." In: Analyse und Kritik, Nr. 6
(1984): 190-211. Im Internet: hier
((Im folgenden Exzerpt von Windelbands Rede sind Einfügungen in
doppelten Klammern ((...)) von fmw, Text außerhalb solcher
Klammern Original; vorangestellte Ziffern geben die jeweilige
Seite an, von der der Text stammt.))
8: ((Philosophie und
Mathematik)) mögen unter dem alten Namen der "rationalen"
Wissenschaften zusammengefasst werden ...
Unter Erfahrungswissenschaften dagegen verstehen wir
diejenigen, deren Aufgabe es ist, eine irgendwie gegebene und
der Wahrnehmung zugängliche Wirklichkeit zu erkennen ...
Für die Einteilung dieser auf die Erkenntnis des Wirklichen
gerichteten Disziplinen ist gegenwärtig die Schei-
9: dung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften
geläufig: ich halte sie in dieser Form nicht für glücklich.
Natur und Geist - das ist ein sachlicher Gegensatz, der in
den Ausgängen des antiken und den Anfängen des
mittelalterlichen Denkens zu beherrschender Stellung gelangt
und in der neueren Metaphysik von Descartes und Spinoza bis zu Schelling und Hegel mit voller Schroffheit aufrecht
erhalten worden ist. ... ((Gegenstands-Unterscheidung jetzt
nicht mehr so gesehen, )) dass sie unbesehen zur Grundlage
einer Klassifikation gemacht werden dürfte. ... ((auch die
)) Annahme einer "inneren Wahrnehmung" als besonderer
Erkenntnisart wenigstens stark in Zweifel gezogen. ((und die
Psychologie ist)) nicht unterzubringen ((ihrem Gegenstand
nach Geisteswissenschaft und )) Grundlage aller übrigen; ihr
10: ganzes Verfahren aber, ihr methodisches Gebahren ist vom
Anfang bis zum Ende dasjenige der Naturwissenschaften. Daher
sie denn es sich hat gefallen lassen müssen, gelegentlich als
die "Naturwissenschaft des inneren Sinnes" oder gar als
"geistige Naturwissenschaft" bezeichnet zu werden.
Eine Einteilung, welche solche Schwierigkeiten aufweist, hat
keinen systematischen Bestand ... ((Psychologie hat mit
Naturwissenschaften das Verfahren gemeinsam, auf allgemeine
Gesetze abzuzielen, aber )) Demgegenüber ist die Mehrzahl
derjenigen empirischen Disziplinen, die man wohl sonst als
Geisteswissenschaften bezeichnet, entschieden darauf
gerichtet, ein einzelnes, mehr oder minder ausgedehntes
Geschehen von einmaliger, in
11: der Zeit begrenzter Wirklichkeit zu voller und
erschöpfender Darstellung zu bringen. ((Einzelnes Ereignis,
bis )) Wesen und Leben eines Mannes oder eines ganzen Volkes,
um die Eigenart und die Entwicklung einer Sprache, einer
Religion, einer Rechtsordnung, eines Erzeugnisses der
Literatur, der Kunst oder der Wissenschaft ...
... eine rein methodologische, auf sichere logische Begriffe
zu gründende Einteilung der Erfahrungswissenschaften ... Das
Einteilungsprinzip ist der formale Charakter ihrer
Erkenntnisziele. Die einen suchen allgemeine Gesetze, die
anderen besondere geschichtliche Tatsachen...
12: So dürfen wir sagen: die Erfahrungswissenschaften suchen
in der Erkenntnis des Wirklichen entweder das Allgemeine in
der Form des Naturgesetzes oder das Einzelne in der
geschichtlich bestimmten Gestalt ... Die einen sind
Gesetzeswissenschaften, die anderen Ereigniswissenschaften;
jene lehren, was immer ist, diese, was einmal war. Das
wissenschaftliche Denken ist - wenn man neue Kunstausdrücke
bilden darf - in dem einen Falle
n o m o t h e t i s c h,
in
dem anderen
i d i o g r a p h i s c h.
... bleibt zu bedenken, dass dieser methodische Gegensatz nur
die Behandlung, nicht den Inhalt des Wissens selbst
klassifiziert. ... dass dieselben Gegenstände zum Objekt einer
nomothetischen und daneben auch einer idiographischen
Untersuchung gemacht werden können. ((Bezieht sich hier auf
Sprachwft, Biologie und auch Astronomie des einen Universums))
...
14: Gemeinsam ist ... der Naturforschung und der Historik der
Charakter der Erfahrungswissenschaft ...
15: ((Mikroskopieren wie Experimentieren muss ebenso nach
Regeln gelernt werden wie Interpretieren, Stilerfassen etc.
Die Logik hat sich bisher )) weit mehr der nomothetischen als
der idiographischen Tendenz zugewendet ...
18: Es fragt sich: was ist für den Gesamtzweck unserer
Erkenntnis wertvoller, das Wissen um die Gesetze oder um die
Ereignisse? das Verständnis des allgemeinen zeitlosen Wesens
oder der einzelnen zeitlichen Erscheinungen?
19: ((Utilität?)) Vor ihr sind beide Denkrichtungen
gleichmässig zu rechtfertigen. Das Wissen allgemeiner Gesetze
hat überall den praktischen Wert, die Voraussicht künftiger
Zustände und ein zweckmässiges Eingreifen des Menschen in den
Lauf der Dinge zu ermöglichen. ... Nicht minder aber ist alle
zweckvolle Tätigkeit im gemeinsamen Menschenleben auf die
Erfahrungen des historischen Wissens angewiesen. Der Mensch
ist ... das Tier, welches Geschichte hat. ... Sollte dereinst
durch irgend ein elementares Ereignis, sei es in der
Aussengestaltung unseres Planeten, sei es in der
Innengestaltung der Menschenwelt, die heutige Kultur
verschüttet werden - wir können sicher sein, dass die späteren
Geschlechter nach ihren Spuren ebenso eifrig graben werden,
wie wir nach denen des Altertums. ...
Aber nicht solcher Nutzen ist es, wonach wir fragen: hier
handelt es sich um den inneren Wissenswert.
20: ((was sind historische Tatsachen? Nicht, was als Ereignis
beweisbar ist, Goethe hat sich am 22.2. 1780 )) ein
Billetkästchen ... anfertigen lassen ((belegt durch Rechnung,
was )) enorm wahr und gewiss ... und doch ... keine
historische Tatsache ((ist)) weder eine
literaturgeschichtliche noch eine biographische.
21: ... wesentliche Zweck alles Einzelwissens, sich einem
grossen Ganzen einzufügen, ist nun keineswegs auf die
induktive Unterordnung des Besonderen unter den
Gattungsbegriff oder unter das allgemeine Urteil beschränkt:
er erfüllt sich ebenso da, wo das einzelne Merkmal sich als
bedeutsamer Bestandteil einer lebendigen Gesamtanschauung
einordnet. ((Eleatisch-platonisches Erbe; Schopenhauer spricht
Geschichte Wissenschaftlichkeit ab)) weil sie stets nur das
Besondere und nie das Allgemeine erfasse. ((Positivismus: ))
"aus der Geschichte eine Naturwissenschaft zu machen", wie es
die sogenannte Geschichtsphilosophie des Positivismus
vorgeschlagen hat. ((Da bleiben nur)) ein paar triviale
Allgemeinheiten, die sich nur mit der sorgfältigen
Zergliederung ihrer zahlreichen Ausnahmen entschuldigen
lassen.
22: ((Einzigartigkeit des Individuums, Grauen vor ewiger
Wiederkehr)) Wie schlimm entwertet ist das Leben, wenn es
genau so schon, wer weiss wie oft dagewesen sein und, wer
weiss wie oft sich noch wiederholen soll ... gilt erst recht
von der Gesamtheit des geschichtlichen Prozesses: er hat nur
Wert, wenn er einmalig ist.
23: ((Christentum gegen Hellenismus: einmalige Tatsachen gegen
Idee der Wiederkehr))
Andererseits bedürfen nun aber die idiographischen
Wissenschaften auf Schritt und Tritt der allgemeinen Sätze,
welche sie in völlig korrekter Begründung nur den
nomothetischen Disziplinen entlehnen können. ... wenn man
historische Beweise auf ihre rein logische Form bringen will,
so erhalten sie stets als oberste Prämissen Naturgesetze des
Geschehens, insbesondere des seelischen Geschehens. ...
((ABER:)) Der notorisch äusserst unvollkommene Grad, bis zu
welchem bisher die Gesetze des Seelenlebens haben formuliert
werden können, hat den Historikern niemals im Wege gestanden
((sie hatten natürliche Menschenkenntnis, Takt und geniale
Intuition, )) um ihre Helden und deren Handlungen zu
verstehen. Das ... lässt es sehr zweifelhaft erscheinen, ob
die von den Neuesten geplante mathematisch-naturgesetzliche
Fassung der elementaren psychischen Vorgänge einen
nennenswerten Ertrag für unser Verständnis des wirklichen
Menschenlebens liefern wird.
24: ((Subsumtionsmodell:)) In der Kausalbetrachtung nimmt
jegliches Sondergeschehen die Form eines Syllogismus an,
dessen Obersatz ein Naturgesetz, bezw. eine Anzahl von
gesetzlichen Notwendigkeiten, dessen Untersatz eine zeitlich
gegebene Bedingung oder ein Ganzes solcher Bedingungen, und
dessen Schlusssatz dann das wirkliche einzelne Ereignis ist.
25: ((Aber die Verbindung zwischen dem Gesetz und dem
einzelnen Ereignis ist nicht selbst ein Gesetz.)) So wenig,
wie der bei der syllogistischen Subsumtion angefügte Untersatz
eine Folge des Obersatzes selbst ist, so wenig ist beim
Geschehen die zu dem allgemeinen Wesen der Sache hinzutretende
Bedingung aus diesem gesetzlichen Wesen selbst abzuleiten.
Vielmehr ist diese Bedingung als ein selbst zeitliches
Ereignis wiederum auf eine andere zeitliche Bedingung
zurückzuführen, aus der sie nach gesetzlicher Notwendigkeit
gefolgt ist: und so fort bis in infinitum.
26: ... so hilft uns alle Subsumtion unter jene Gesetze nicht,
um das einzelne in der Zeit Gegebene bis in seine letzten
Gründe hinein zu zergliedern. Darum bleibt für uns in allem
historisch und individuell Erfahrenen ein Rest von
Unbegreiflichkeit - etwas Unaussagbares, Undefinierbares. So
widersteht das letzte und innerste Wesen der Persönlichkeit
der Zergliederung durch allgemeine Kategorien, und dies
Unfassbare erscheint vor unserem Bewusstsein als das Gefühl
der Ursachlosigkeit unseres Wesens, d. h. der individuellen
Freiheit.
((Verweist auf Spinozas Unterscheidung endlicher und
unendlicher Kausalität, Leibniz' vérités èternelles
und de fait))
27: Das Gesetz und das Ereignis bleiben als letzte,
inkommensurable Grössen unserer Weltvorstellung nebeneinander
bestehen. Hier ist einer der Grenzpunkte, an denen der
wissenschaftliche Gedanke nur noch die Aufgabe bestimmen, nur
noch die Frage stellen kann in dem klaren Bewusstsein, dass er
nie im Stande sein wird sie zu lösen.
((Schluss des Texts))
Entwurf einer (naturwissenschaftlichen)
Kultur- und Geschichtswissenschaft im 8./14. Jahrhundert
Abd al-Rahman IBN KHALDUN (732/1332 Tunis - 808/1406 Kairo)
Zum Leben vgl. WIKIPEDIA
Hauptwerk:
Kitab al-Ibar (Geschichte der Araber und Berber) 7 Bde.
Der erste Band u.d.T. Al-Muqaddimah enthält die
methodologischen und geschichtsphilosophischen Thesen. In Europa
seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt. Möglich ist eine
Bekanntheit (und somit möglicher Einfluss auf Vico) im 18.
Jahrhundert aufgrund der Darstellung in
Dimitrie Cantemir: Geschichte des Osmanischen Reichs (Historia
Incrementorum atque Decrementorum Aulae Othmanicae). Hamburg:
Christian Herold, 1745. (Erstdruck lat.: 1716)
Übersetzungen der Muqaddimah:
Annemarie Schimmel: Ibn Chaldun, Ausgewählte Abschnitte aus der
muqaddima (Tübingen: Mohr 1951) Hier zitiert als (Schimmel S.n)
Mathias Pätzold: Ibn-Khaldun, Buch der Beispiele. (Leipzig: Reclam
1992) Hier zitiert als (Pätzold S.n)
Alma Giese und Wolfhart Heinrichs: Ibn Khaldun: Die Muqaddima:
Betrachtungen zur Weltgeschichte. München: C.H. Beck, 2011.
Franz Rosenthal: Ibn Khaldun. The Muqaddimah. 3 Bde.
(Princeton: Univ.Pr. 1967) Hier zitiert als (Rosenthal S.n) Volltext
im Internet
Franz Rosenthal: Ibn Khaldun. The Muqaddimah. (Abridged edition by
N.J. Dawood, Princeton: Univ.Pr. 1981) Hier zitiert als (Dawood S.n)
Hier zitierte Sekundärliteratur:
Muhsin Mahdi: Ibn Khaldun, in: M.M.Sharif (Hg.): A History of Muslim
Philosophy (Wiesbaden 1966; hier in Bd. 2, S.969 ff.) Zitiert als
(Mahdi, S.n)
S.H. Nasr: An Introduction to Islamic Cosmological Doctrines.
Cambridge, Mass. 1964
PRÜFUNGSRELEVANT
FÜR Ibn Khaldun:
Ibn Khaldun: Die Muqaddima: Betrachtungen zur
Weltgeschichte. Übersetzt von Alma Giese und Wolfhart
Heinrichs. München: C.H. Beck, 2011. Kapitel 1, S. 111-132
Ibn Khalduns neue Wissenschaft befasst
sich mit all dem, was in der Kultur der Menschen, d.h. in ihrem
Zusammenleben und Zusammenwirken sich aus der Natur der Menschen
notwendig ergibt. Dabei wird ein wichtiger Begriff ausgesprochen, wo
von der asabiyya die Rede ist, der solidarisierenden Kraft
die die Menschengruppen zusammenschweißt, ihnen Stärke und
Zusammenhalt verleiht. Ohne asabiyya ist die volkreichste
Gruppe ohnmächtig und unterliegt der kleinen Gruppe, die asabiyya
hat. Die Geschichte der asabiyya ist also auch die
Geschichte der Völker, der Menschheit. Es ist eine strittige Frage,
die hier nicht entschieden werden soll, ob Ibn Khaldun mit der asabiyya
etwas im weitesten Sinn Materielles gemeint habe (wofür etwa
sprechen könnte, dass die asabiyya wie ein Lebewesen wächst,
reift und vergeht) oder ein im weitesten Sinn Geistiges (dafür würde
etwa sprechen, dass die asabiyya nur den Menschen
zugesprochen, den Tieren abgesprochen wird; aber auch. dass sie in
ähnlicher Weise wie die Sprache entsteht und nicht direkt von
Umweltbedingungen abhängig erscheint).
Diese Frage muss hier offen bleiben. Es soll ausschließlich die
Methodologie der neuen Wissenschaft Ibn Khalduns thematisch sein,
und diese verändert sich nicht unter der einen oder der anderen der
angesprochenen Annahmen.
Die mit dem Begriff der asabiyya verbundene Theorie Ibn
Khalduns über den Rhythmus und die Gesetzmäßigkeiten des Entstehens,
Wachsens, Stagnierens und Verfallens von Staaten gehört in den
Zusammenhang von spekulativer Geschichtsphilosophie und wird hier
nicht ausgeführt. Sie hat jedoch insbesondere in staatstheoretischen
Diskursen im osmanischen Reich im 16. und 17. Jahrhundert eine sehr
große Rolle gespielt. xxxLit
Mit seiner Methodologie will Ibn Khaldun sichern, dass keine
unrichtigen Berichte über die Vergangenheit als richtig, keine
unwahrscheinlichen als wahrscheinlich aufgenommen werden. Sie soll
also unmögliche und unwahrscheinliche Geschichtswelten zu
unterscheiden bzw. auszuschalten ermöglichen. Aus unterschiedlichen
Perspektiven entstehen unterschiedliche Vergangenheitswelten, aber
auch unterschiedliche Gegenwartswelten. Eine Welt, in der
Seeungeheuer einen Eroberer daran hindern können, eine Stadt zu
erbauen, fand Ibn Khaldun in Berichten von Geschichtsschreibern vor:
wenn berichtet wurde, Alexander der Große sei von derartigen
Monstern daran gehindert worden, Alexandria zu bauen - sie
schreckten seine Arbeiter, also habe sich Alexander in einem großen
hölzernen Behälter, der eine Glasschachtel enthielt, auf den
Meeresgrund begeben, dort die Ungeheuer abgezeichnet und nach diesen
Zeichnungen dann Metallbilder herstellen lassen, die am Ufer
aufgestellt worden seien. Als nun die Monster wieder auftauchten, um
die Arbeit weiter zu stören, erschraken sie ihrerseits zu Tode und
ergriffen die Flucht.
Die Welt, in der dergleichen möglich sein soll, ist für Ibn Khaldun
eine erdichtete Welt, aber vielleicht im Einzelnen aus anderen
Gründen als für uns. Ibn Khaldun erklärt diese Geschichte für
unmöglich und somit sicher erfunden, weil nämlich, erstens, kein
Anführer ein derartiges Risiko eingehen könne, ohne dass sein Volk
ihn seines Leichtsinns wegen sofort absetzen würde; zweitens, weil
es physisch unmöglich wäre und zum Tode führen würde, sich in solche
Meerestiefen zu begeben (nicht allerdings des Druckes wegen, sondern
wegen der spezifischen Kälte des Wassers, die etwa die Fische durch
große eigene Hitze ausgleichen, weswegen diese wiederum sterben,
wenn sie an die Luft kommen und keine Kühlung mehr haben); und
drittens, weil Dämonen in der Lage seien, verschiedene Gestalt
anzunehmen, weshalb die Idee mit den Abbildern gar nicht
funktionieren würde.
Der Bericht über Alexander und die Meerungeheuer ist also notwendig
falsch, eine solche Gegenwart kann es nie gegeben haben. Noch mit
einer Reihe von Beispielen aus Schriften der Historiker seiner
Tradition erläutert er seinen Satz: Historische Berichte sind nicht
deshalb zutreffend, weil sie über eine lange Zeit und zweifelsfrei
belegt sind. Zu allererst muss das Berichtete nach gesichertem
Wissen auch möglich sein. Im Fall der Meermonster widerspricht der
Bericht einem soziologischen und einem naturwissenschaftlichen
Gesetz sowie einer Hypothese über die Natur von Dämonen.
Jede Art von Geschichtsbetrachtung schließt unmögliche
Vergangenheiten aus, aber nicht jede die selben und nicht jede mit
den selben Begründungen. Ibn Khaldun setzt seiner Methodologie
dieses bescheidene Ziel: ein Kriterium zu liefern für die
Unterscheidung wahrer, wahrscheinlicher, unwahrscheinlicher und
falscher Berichte über die menschliche Vergangenheit. Die
Wissenschaft, die er im Sinn hat, fragt nicht, was die beste
Gesellschaftsform sei (wie es eine Lehre von der politischen Kunst
tun muss), sie sucht auch nicht zu überzeugen (was jede Rhetorik zum
Besten der jeweiligen Gesellschaft tut und tun muss), sondern sie
soll lediglich feststellen, welche Arten von Gemeinschaften, welche
Formen von Kultur in dem Sinn notwendig sind, als sie sich aus der
menschlichen Natur ergeben. Sie trägt also vergleichsweise
bescheidene Frucht, und vielleicht, so vermutet er, ist dies der
Grund, warum sie bei den griechischen und arabischen Philosophen
bisher nicht vorzufinden ist:
"die Gelehrten interessierten sich möglicherweise nur
für den praktischen Nutzen, der im Falle der Wissenschaft von
der menschlichen Kultur ... nur in Hinblick auf die
Verifizierung historischer Nachrichten besteht. Auch wenn die
Fragestellungen der Wissenschaft von der menschlichen
Kultur im wesentlichen wie auch im speziellen recht achtbar
sind, beschränkt sich ihr Nutzen jedoch auf die Bestätigung der
Richtigkeit von überlieferten Nachrichten. Das ist nicht viel.
Deshalb hielten sich die Weisen von diesem Wissenschaftsgebiet
fern." (Pätzold, 45)
Dass es sich tatsächlich um eine neue Wissenschaft handelt,
will Ibn Khaldun doch nicht mit Sicherheit behaupten, obwohl er "auf
die Behandlung dieses Gebietes durch irgend jemanden auf der Welt
... nicht gestoßen" (Pätzold, 45) sei. Versuche solcher Art sollte
es doch wohl gegeben haben, sie sind wohl verschollen: "Das, was an
Wissenschaften nicht zu uns gelangte, ist umfangreicher als das, was
uns erreichte." Die Wissenschaften der Perser, der Chaldäer, Syrer,
Babylonier, der "Ägypter und derer, die vor ihnen lebten" sind
verschollen: "Zu uns gelangten lediglich die Wissenschaften eines
Volkes, nämlich der Griechen" (ebd.) durch die Übersetzer des
Kalifen al-Mamun. "Über die Wissenschaften anderer Völker wissen wir
nichts." (ebd.)
Die Methode einer Wissenschaft von Geschichte und Kultur nach
Ibn Khaldun
Wie erkennt man gesicherte Kenntnis über die Welt der Kultur, wie
unterscheidet man sie von unsicheren oder unwahren Berichten, von
Märchen, Sagen, bloßen Erdichtungen, von Propagandaberichten oder
Entstellungen? Wie muss der Geschichts- und Kulturwissenschafter
vorgehen, welche Prinzipien muss er als in der Geschichte wirksam
voraussetzen, wenn er zu wahren, gesicherten und gehaltvollen
Aussagen gelangen will? Dies sind die Fragen, die Ibn Khaldun in
seiner umfänglichen "Einleitung" zu einer Weltgeschichte vorweg
beantworten will.
Ibn Khaldun unterscheidet mit seiner Tradition zwischen zwei
Grundtypen von Wissenschaft: den natürlichen einerseits, die
dem Menschen als einem Naturwesen zugänglich sind; diese werden als
rationale oder intellektuelle Wissenschaften
bezeichnet, da der Mensch von Natur aus ein vernunftfähiges,
rationales Lebewesen sei. Die zweite, davon grundsätzlich
verschiedene Gruppe bilden die göttlichen Wissenschaften,
wozu etwa die islamische Rechtswissenschaft gehört, die auf
Offenbarung beruhen. Diese sind nicht den Menschen als solchen,
sondern jeweils nur einer Religionsgemeinschaft zu eigen. Von ihnen
will Ibn Khaldun die Wissenschaft von der Kultur streng trennen.
Die erste Gruppe bilden die sogenannten philosophischen
Wissenschaften, es sind vier: Logik, Mathematik, Physik und
Metaphysik. Sie enttsprechen in unserem Sprachgebrauch etwa:
Philosophie, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften. Diese philosophischen
Wissenschaften unterscheiden sich nach ihrem jeweiligen Gegenstand.
Es ist nun die Frage, zu welcher Gruppe die Wissenschaft von
menschlicher Kultur gehört. Ihr Gegenstand ist der Zusammenschluss
von Menschen und dessen je besondere Form.
Die Wissenschaft, die Ibn Khaldun grundlegen will, gehört nicht zur
Logik. Diese wird bestimmt als
"a science protecting the mind from error in the process
of evolving unknown facts one wants to know from the available,
known facts. Its use enables the students to distinguish right
from wrong wherever he so desires in his study of the essential
and accidential perceptions and apperceptions."(Rosenthal Bd.3,
S.111
Da die Kulturwissenschaft wie die Logik von geschaffenen Dingen
handelt, wird sie zwar die Ergebnisse der Logik verwerten und
anwenden müssen, aber sie ist selbst nicht damit befasst, gültige
Abstraktions- und Schlussformen zu erarbeiten.
Was die mathematischen Wissenschaften angeht, so haben diese
mit Messungen und Quantitäten zu tun, entweder in praktischer
Hinsicht (angewandte Künste) oder in theoretischer Weise
(Zahlenlehre). Sie sind - insbesondere die praktischen
mathematischen Disziplinen - für die Wissenschaft von der Kultur
eine Voraussetzung, da sie Auskunft geben über die mathematischen
Eigenschaften solcher Dinge wie Sterne, die möglicher Weise einen
Einfluss auf die Kultur ausüben.
Aber die Kulturwissenschaft hat doch, wenn sie auch von den
Ergebnissen der Mathematik Gebrauch machen muss und mit Quantität
als einer der Kategorien aller geschaffenen Dinge zu tun hat, nicht
Quantität als ihren eigentlichen Gegenstand, sondern die Eigenart
und Gesetzmäßigkeiten eines spezifischen geschaffenen Dings, nämlich
der menschlichen Kultur.
Es bleiben also noch die philosophischen Wissenschaften von
den natürlichen und von den göttlichen Dingen, oder, anders benannt,
"Physik" und Metaphysik. Der Zusammenschluss von Menschen und dessen
Spielarten ist kein göttliches Ding, sondern ein menschliches, ein
geschaffenes und kein ewiges.
Also scheidet die Metaphysik aus. Kulturwissenschaft ist nach Ibn
Khaldun ein Teil der "Physik", der Wissenschaft von Naturdingen.
Damit ist nicht nur der neuzeitliche Begriff der Physik als eigener
Disziplin in Abgrenzung von Chemie, Biologie usw. gemeint, der
Terminus umfasst alle Wissenschaften, deren Gegenstand Naturdinge
sind.
Die nähere Kennzeichnung dessen, was eine Wissenschaft von der
natürlichen Kultur des Menschen festzustellen und auszuschließen
vermag, wird dann auch eine Antwort auf die Frage ermöglichen, wie
man denn eigentlich unterscheiden könne, was der menschlichen
Gesellschaft "ihrem Wesen nach und auf Grund ihrer Natur anhaftet,
was ihr andererseits akzidentell ist", was unwahrscheinlich in der
Geschichte ist und "was ihr unmöglich zukommt". Diese vorläufig noch
formalen Bestimmungen der Möglichkeiten und Aufgaben der
Kulturwissenschaft machen zwar auf einen wichtigen Unterschied
aufmerksam, der auch beim Wissen um geschichtliche Gegebenheiten zu
beachten ist: dass es gewisse und wahrscheinliche Kenntnis davon
gibt, gewiss wahre und gewiss falsche, wahrscheinlich wahre und
wahrscheinlich faIsche. Aber dies wäre zuwenig.
Das Beliebige der Zuerkennung des Wahrscheinlichkeitsgrades einer
Kenntnis, die Beliebigkeit historischer Überzeugungen muss
ausgeschaltet werden können, wenn es eine Wissenschaft davon geben
soll.
Ibn Khalduns Antwort auf diese Frage lässt sich ganz kurz
ausdrücken: Die Wissenschaft von der Kultur hat ihre notwendigen und
hinreichenden Bedingungen darin, dass sie sich an die relevanten und
gesicherten Erkenntnisse von (andern) Naturwissenschaften hält.
Natürlich wirft diese Antwort mehr Fragen auf, als sie auf den
ersten Blick zu beantworten scheint. Man muss etwa fragen: wie sind
die Ergebnisse der Naturwissenschaften, wie ist ihr kategorialer
Apparat gesichert; welche Ergebnisse liegen überhaupt vor und welche
davon sind für die Wissenschaft von menschlicher Kultur relevant,
welche nicht? Wir sehen, dass Ibn Khaldun mit seiner
methodologischen Bestimmung in einen sehr problematischen Bereich
vorstößt und wir werden sehen, dass sein akzeptierter Bereich
relevanten und gesicherten naturwissenschaftlichen Wissens anders
ist als der unsrige.
Naturwissenschaft (Naturphilosophie, Physik) wird von Ibn Khaldun
bestimmt als
"a science that investigates bodies from the point of
view of the motion and stationariness which attach to them. It
studies the heavenly and the elementary bodies (substances), as
well as the human beings, the animals, the plants and the minerals
created from them,. It also studies the springs and earthquakes
that come into being in the earth, as well as the clouds, vapors,
thunder, lightnings, and storms that are in the atmosphere, and
other things. It further studies the beginning of motion in bodies
- that is, the soul in the different forms in which it appears in
human beings, animals, and plants." (Dawood, S.385f.)
Von bewährten Thesen der so gekennzeichneten Naturwissenschaft legt
Ibn Khaldun seiner Wissenschaft nun sechs "Prämissen" (bei Schimmel:
"Vorreden", Pätzold: "einleitende Bemerkungen") zugrunde: die erste
handelt davon, dass der Zusammenschluss für die Menschen
zwangsläufig sei; die Prämissen 2 - 5 sind klimatheoretische Thesen
über den Einfluss der natürlichen Umwelt auf Denken und Verhalten
des Menschen, die sechste Prämisse schließlich handelt von der Rolle
derjenigen Menschen, die "das Unsichtbare sehen", also von
natürlichen Ursachen von Prophetie und Wahrsagekunst. Diese sechs
naturwissenschaftlichen Thesenkomplexe sind nun etwas näher zu
betrachten.
Sechs Prämissen
1) Zusammenschluss und Herrschaft ist für die Menschen
naturnotwendig.
"Die Philosophen geben dem mit ihrer Aussage, daß der
Mensch von Natur aus gesellschaftlich sei, Ausdruck. Das heißt,
daß für ihn der Zusammenschluß, den sie mit dem Terminus 'Stadt'
umreißen, unumgänglich ist. Das ist auch der Sinn des Wortess umran
- menschliche Kultur." (Pätzold 51)
Der Grund: der Mensch ist so geschaffen, dass er Nahrung beschaffen
muss, um zu leben, aber nicht so (im Gegensatz zu den Tieren), dass
er dies als Individuum in ausreichendem Maß könnte.
"Wenn wir die kleinste Menge Nahrung annähmen, die
möglich ist, eine Tagesration Weizen beispielsweise, so kann er
sie nur durch verschiedene Zubereitungen, wie Mahlen, Kneten und
Backen, beschaffen. Jede dieser drei Tätigkeiten aber erfordert
Geräte und Werkzeuge, die nur durch zahlreiche Handwerke, wie
Schmied, Tischler und Töpfer, hergestellt werden können."
(Schimmel, S.18f., vgl. Pätzold, 51; Dawood, 45)
Neben der Nahrungsbeschaffung zwingt auch noch die Verteidigung
gegen Tiere und Feinde zum Zusammenschluss: es "muß jeder einzelne
zu seiner Verteidigung die Hilfe seiner Artgenossen suchen..."
(Schimmel, ebd.)
Nicht also erst zur Erreichung der Humanität ist der Zusammenschluss
nötig, sondern zum puren Überleben - und nur diese Überlegenheit
will Ibn Khaldun hier als natürlich voraussetzen.Wenn nun aber
"die Menschen zu diesem Zusammenschluß kommen, wie wir
es festgestellt haben, und die Kultivierung der Erde durch sie
ausgeführt wird, so brauchen sie unbedingt einen Machthaber, der
sie voneinander fernhält, da in ihrer animalischen Natur
Feindseligkeiten und Gewalttätigkeit liegen, und da die Waffen,
welche zur Abwehr der Feindschaft der wilden Tiere hergestellt
wurden, nicht ausreichen, um die Feindschaft zwischen ihnen
abzuwehren; denn (diese Waffen) sind ja für alle (Menschen)
vorhanden. Es muß also unbedingt etwas anderes geben, das die
Feindschaft unter ihnen abwehrt, und zwar darf dies nicht einer
anderen Art angehören als sie, weil alle Tiere nicht an ihre
Wahrnehmungen und göttlichen Eingebungen heranreichen. Deshalb ist
dieser Machthaber einer von ihnen, der über sie Übergewicht,
Autorität und Brachialgewalt hat, so daß keiner feindlich an den
anderen herankommt." (Schimmel, S.19, vgl. Pätzold, 53f; Dawood,
46f)
Herrschaft ist somit ebenso menschennatürlich wie der
Zusammenschluss - und ebenso ein Produkt zwingenden Mangels.
2) Die natürlichen Gegebenheiten der Erde sind (in sieben
Klimazonen) spezifisch verschieden
Nach sieben geographischen Zonen unterscheiden sich auch die
Kulturen. Ibn Khaldun greift hier zwar nicht, wie Herder dies später
tun wird, über den Globus hinaus, um die Menschengerechtheit der
Erde aufzuzeigen, aber er geht immerhin global vor, bietet eine
Naturgeschichte der Erde als der Umwelt des Menschen. Dabei werden
sieben Zonen unterschieden, in denen die Pflanzen, Tiere, Mineralien
und auch Menschen verschieden seien. Hierin stützt sich Ibn Khaldun
auf griechische und arabische Astronomen und Geographen wie
Ptolemaios, al-Masudi und al-Idrisi, denen er denselben Titel
zuerkennt wie Aristoteles ("weise Männer" = "Philosophen"), Ibn Sina
oder Ibn Rushd: sie sind "Naturphilosophen". (Vgl. Dawood, 49-57)
Alle sieben Zonen sind jeweils von gleicher geographischer Breite,
in ihrer Längenerstreckung jedoch verschieden: die Länge nimmt zum
Äquator hin zu. Der Raum der menschlichen Kultur erstreckt sich
zwischen der dritten und der sechsten Zone.
"The north pole gradually ascends on the horizon of the
cultivated area of the earth until its elevation reaches
sixty-four degrees. Here, all civilization ends. This is the end
of the seventh zone. ... Civilization is impossible in the area
between the sixty-fourth and the ninetieth degrees, for no
admixture of heat and cold occurs there because of the great time
interval between them. Generation, therefore, does not take
place." (Dawood, S. 55)
Diese angenommene Grenze jeder möglichen Kultur verläuft nördlich
der britischen Inseln, wie mittelalterliche Karten zeigen,
beispielsweise das Kartenwerk des päpstlichen Sekretärs Jacopo
Angelo, das 1406, im Todesjahr Ibn Khalduns fertiggestellt wurde.
Nördlich davon findet wegen der langanhaltenden und extremen Kälte
keine "generatio" statt - ebensowenig aber gibt es eine "generatio"
nahe dem Äquator, wo die Hitze eine noch abruptere Austrocknung der
Luft bewirkt, als es die Kälte im Norden tut. Nun betrifft diese
Lebensfeindlichkeit nicht nur die Menschen, sondern ebenso Tiere,
Pflanzen und sogar Mineralien:
"The excessive heat causes a parching dryness in the air
that prevents generation. As the heat becomes more excessive,
water and all kinds of moisture dry up, and the power of
generation is destroyed in minerals, plants, and animals, because
generation depends on moisture." (Dawood, S. 56)
An den (südlichen und nördlichen) Enden der Welt ist also Kultur
nicht möglich, aber auch die natürlichen Dinge sind dort stark
beeinträchtigt. Immerhin gibt es im Norden aus dem eben erwähnten
Grund etwas weiter noch Kultur als im Süden, sodass Ibn Khaldun
zusammenfasst:
"Therefore, there is little civilization in the first
and second zones. There is a medium degree of civilization in the
third, fourth, and fifth zones, because the heat there is
temperate owing to the decreased amount of light. There is a great
deal of civilization in the sixth and seventh zones because of the
decreased amount of heat there. At first, cold does not have the
same destructive effect upon the power of generation as heat ...
this ... is why civilization is stronger and more abundant in the
northern quarter." (Dawood, S. 56f.)
Ibn Ruschd habe sich übrigens, so sagt Ibn Khaldun, in diesem
Zusammenhang geirrt, wenn er annahm, dass der Äquator in einer
symmetrischen Position sei und es darum südlich des Äquator ebenso
wieder gemäßigte Zonen und entsprechend auch Kultur gebe wie
nördlich. Dies ist falsch, sagt Ibn Khaldun: "as to the region south
of the equator, it is made impossible by the fact that the element
of water covers the face of the earth in the south ..."
(Dawood, S. 57)
3) Es gibt gemäßigte und nichtgemäßigte Klimazonen
Die Hautfarbe, ebenso wie die Lebensumstände der Menschen, aber auch
Tier- und Pflanzenwelt und sogar das Mineralreich, unterscheiden
sich in diesen Klimazonen voneinander. Basierend auf der
Untersuchung der Natur von Hitze und Kälte und deren Einfluss auf
die Lebewesen stellt Ibn Khaldun hier die Grundthese jeder
Klimatheorie auf: dass nicht nur die Hautfarbe in den verschiedenen
Klimaten unterschiedlich sei, sondern auch komplexe Kulturelemente
davon bestimmt seien. Wieder bei Montesquieu im 18. Jahrhundert,
aber nicht in jeder vorgetragenen Version, wird sich eine ähnlich
umfassende Klimatheorie finden: nur die Bewohner der mittleren
Klimazone,
"die Bewohner des Magreb, Syriens, des arabischen und
des persischen Irak, Sinds und Chinas, auch Spaniens und die,
welche ihnen nahe sind, wie die Franken und Gallier"
seien ausgewogen und stellten das Maß des Menschlichen dar; es
"sind die Wissenschaften, Künste, Bauten, Kleider,
Speisen, Früchte, Tiere und alles, was in diesen ... gemäßigten
Klimata geschaffen wurde, besonders durch Ausgewogenheit
ausgezeichnet. Ihre menschlichen Bewohner haben die ebenmäßigsten
Körper, Farben, Charaktereigenschaften und dergleichen. ... Sie
sind in allem weit von den Extremen entfernt." (Schimmel, S.23;
vgl. Pätzold, S.56; Dawood, 58)
Es gibt also exemplarische Völker; diese leben in den gemäßigten
Klimaten; sie haben die höchsten menschenmöglichen Kulturformen
entwickelt; ihre Geschichte ist Weltgeschichte. Wenn auch aus
anderen Gründen als Hegel: Ibn Khaldun kennt welthistorische Völker;
es sind dies:
"Die Araber, Römer, Perser, Israeliten und Griechen,
sowie die Bevölkerung von Sind und von China." (Schimmel, S.24)
Diese Völker haben Häuser aus Stein, sie erfinden alle Techniken,
sie verfügen über die "natürlichen Metalle" (Gold, Silber, Eisen,
Kupfer, Blei und Zinn), sie verwenden Gold und Silber als
Zahlungsmittel. Der Irak und Syrien liegen im Zentrum dieser
gemäßigten Zone und "therefore are the most temperate of all these
countries." (Dawood, S. 58)
Ganz anders leben die Menschen in den südlichen und nördlichen
Randzonen. Sie hausen in Hütten aus Lehm und Schilf, essen Durra und
Kräuter, kleiden sich in Rinden oder Tierhäute. Meist aber gehen sie
nackt. Die Früchte ihrer Länder sind eigenartig. In ihren Geschäften
verwenden sie nicht Gold und Silber, sondern tauschen mit Hilfe von
Kupfer, Eisen oder Fellen. Ihre Gemütsart ähnelt derjenigen von
Tieren.
Ihr Charakter kommt .. der Wesensart wilder Tiere nahe,
ja, es wird sogar berichet, daß viele der Schwarzen, die zu den
Bewohnern der ersten Klimazone gehören, in Höhlen und Wäldern
hausen, Kräuter essen, wild und isoliert voneinander leben und
einander auch auffressen. Nicht anders verhält es sich mit den
Slawen. (Pätzold, 56f)
Eine klimatische Ausnahme stellt im Süden - in der ersten und
zweiten Zone - die arabische Halbinsel dar: Dort "herrscht aufgrund
der Feuchte des Meeres ... in gewisser Weise gemäßigtes Klima"
(Pätzold 57), was die hohe dortige Kultur entstehen ließ.
Es gibt nun in der Zeit Ibn Khalduns eine verbreitete Theorie zur
Erklärung solcher Unterschiede, die er den "Genealogen" zuschreibt.
Diese behaupten, die Schwarzen Afrikas seien die Nachkommen von Ham,
dem dritten Sohn Noahs, den der Vater verflucht und zum Diener oder
Sklaven seiner Brüder Japhet (der als Stammvater der Europäer galt)
und Sem (dem Stammvater der Semiten) bestimmt habe:
Einige Genealogen, die keine Ahnung von der Natur
(solcher) Dinge haben meinten, daß die Schwarzen die Kinder von
Ham, dem Sohn von Noah, seien, die infolge der Verfluchung Hams
durch Noah mit schwarzer Hautfarbe gezeichnet worden wären.
Sie wähnten ferner, daß dieser Fluch dann in Hams Hautfarbe sowie
darin, daß Allah dessen Nachkommen zu Sklaven werden ließ,
sichtbar geworden wäre. Was sie hierüber berichten, gehört zu den
Phantastereien von Geschichtenerzählern. (Pätzold 58)
Dies also sei ein Irrtum: nichts stehe in der Bibel über Hams
Hautfarbe. Die Hautfarbe hat ihren Grund nicht in einem biblischen
Fluch, sie "rührt von der Beschaffenheit ihrer Luft her, die von der
im Süden herrschenden starken Hitze beeinflußt wird." (Pätzold 58)
Und: "Man kann feststellen, daß Schwarze - die Bevölkerung des
Südens -, die in der vierten, der gemäßigten oder (sogar) in der
siebenten, zur weißten Farbe tendierenden Zone leben, im Laufe der
Zeit allmählich Nachkommen hervorbringen, die eine weiße Hautfarbe
besitzen." (Pätzold 59) Das Umgekehrte trifft ebenso zu: Menschen
aus der vierten Zone, die im Süden leben, nehmen eine schwarze
Hautfarbe an. Diese These finden wir Ende des 18. Jahrhunderts in
Flögels "Geschichte des menschlichen Verstandes" beinahe
gleichlautend wieder.
Allerdings sei Ham zur Sklaverei gegenüber seinen Brüdern ("aber
niemandes sonst", Pätzold, S.58) verflucht. Die "Genealogen"
verkennen im allgemeinen die wahren Gründe für die Unterschiede
zwischen den Menschen:
... they declared all the Negro inhabitants of the south
to be descendants of Ham. ... They had misgivings about their
colour and therefore undertook to report the aforementioned silly
story. ... Even if the genealogical construction were correct, it
would be the result of mere guesswork, not of cogent, logical
argumentation. It would merely be a statement of fact. (Dawood, S.
59)
Was Ibn Khaldun hier kritisiert, ist eine Frühform der späteren
Rassentheorien, die ausschließlich unter Berufung auf die biblische
Geschichte von Noah und seinen Söhnen die Unterschiede zwischen
menschlichen Gesellschaften oder Kulturen erklären und zugleich
damit auch deren jeweilige Unter- bzw. Überordnung begründen will.
Demgegenüber hält Ibn Khaldun daran fest, dass es mehrere Kriterien
gebe, die in den einzelnen Fällen unterschiedlich anwendbar seien.
Er unterscheidet vier Klassen von Fällen:
Distinctions between races or nations are in some cases
due to a different descent, as in the case of the Arabs, the
Israelites and the Persians. In other cases, they are caused by
geographical location and physical marks, as in the case of the
Zanj, the Abysinians, the Slavs, and the Sudanese Negroes. Again,
in other cases, they are caused by custom and distinguishing
characteristics, as well as by descent, as in the case of the
Arabs. Or, they may be caused by anything else among the
conditions, qualities, and features peculiar to the different
nations. (Dawood, S. 59, Pätzold, S.61)
In diesem Zusammenhang macht Ibn Khaldun noch eine weitere, sehr
interessante Bemerkung bezüglich der Wissenschaftssprache oder der
Definitionsmacht. Er stellt fest, dass die Menschen der südlichen
Zonen als "farbig" bezeichnet werden, nicht aber die der nördlichen
Zonen:
Die Menschen im Norden werden nicht nach ihrer Hautfarbe
bezeichnet, da die Leute, deren Sprache die Bezeichnung lieferte,
selbst von weißer Hautfarbe waren. Sie sahen darin nichts
Außergewöhnliches, das Anlaß gegeben hätte, dies bei der
Bezeichnung zu berücksichtigen ... (Pätzold, S.59f)
Man kann sagen, dass dies bis heute so geblieben ist. Ich möchte ein
eindrückliches Beispiel dafür zitieren, das in einem Aufsatz von
Tina Prokop aus dem Jahr 2000 angeführt ist, wobei es sich hier
nicht um die Hautfarbe handelt, sondern darum, wer als "local
people" oder als "indigen" bezeichnet wird, und nach welchen
Kriterien dies geschieht:
Ein Beispiel zur Verdeutlichung, daß in die Bezeichnung
der "Anderen" immer Machtbeziehungen eingewoben sind: Ein
Forscher, der vielleicht abgesehen von einigen Forschungsreisen,
seit seiner Geburt ständig in einer Stadt in den USA lebt, wird
nicht unter dieser Kategorie "lokal" oder "indigen" subsumiert,
hingegen jedoch ein Bauer, der in einem Dorf im Osten Burkina
Fasos geboren wurde, in seiner Jugendzeit durch dieses Land
gereist war, nationalstaatliche Grenzen in Westafrika überquert
hatte, schließlich seit einigen Jahren mit seiner Familie in einem
Dorf im Süden Burkina Fasos lebt und noch nicht festgelegt hat,
wie lange er bleiben wird. Die Kategorie "lokal" fungiert weniger
als Bezeichnung für den Geburts- oder lebenslangen Wohnort eines
Menschen, sondern bezieht sich auf Menschen in Afrika, nicht
jedoch in den USA. (Prokop: "Indigene, lokale" Kulturen. In:
Journal für Entwicklungspolitik, Wien. Nr. 1, 2000, S.46, Anm. 1)
4) Ein kulturmächtiger Naturfaktor ist die Atmosphäre oder das
Klima
Das Klima bestimmt den Charakter von Menschen. Nach Ibn Khaldun ist
dieses Bestimmungsverhältnis in der Naturwissenschaft dort
nachgewiesen worden, wo man Fröhlichkeit und Traurigkeit als
Ausdehnung bzw. Zusammenziehung des animalischen Lebensgeistes und
allgemeiner durch die "Natur" von Hitze und Kälte habe erklären
können. Es sei eine Beobachtungstatsache, "daß sich die Schwarzen in
der Regel durch Sorglosigkeit, Leichtsinn und ein hohes Maß an
Fröhlichkeit auszeichnen." (Pätzold 62)
Wie ist das zu erklären? Ibn Khaldun beruft sich hier auf die
"Philosophen", die nachgewiesen hätten, dass der "animalische
Lebensgeist" sich bei Hitze ausdehne, was zu Freude und Fröhlichkeit
führe, bei Kälte aber sich zusammenziehe, was zur Traurigkeit führe.
Aber nicht nur die atmosphärische Hitze bewirke dies, sondern etwa
auch Alkohol oder ein heißes Bad.
Da nun die Schwarzen die heißen Klimazonen bewohnen,
(folglich) die Hitze ihre Gemütsart beherrscht und auf den
Ursprung ihrer Entwicklung wirkt ... sind ihre Sinne imVergleich
zu denen der Bevölkerung der vierten Zone erhitzter und stärker
ausgedehnt, neigen sie eher zu Heiterkeit und Freude und sind
(insgesamt) fröhlicher." (Pätzold, S.62)
Es ist indessen nicht nur eine Frage der Breitengrade. Auch in
gemäßigten Zonen tritt das Phänomen auf, und zwar bei
Küstenbewohnern (wegen der stärkeren Reflektion des Sonnenlichts
durch das Meer). Die Ägypter beispielsweise, die in einer gemäßigten
Zone am Meer leben, sind fröhlicher und leichtsinniger als die
Bewohner von Fez auf demselben Breitengrad, die in einer gebirgigen
Gegend leben und darum vorwiegend traurig und ängstlich und besorgt
in Bezug auf die Zukunft sind. Man kann in Fez
... seine Bewohner gesenkten Hauptes und tief bekümmert
sehen und eine bis zur Übertreibung reichende Sorge um die Zukunft
feststellen, so daß ein Einwohner von Fez, obgleich er Nahrung an
Getreide und Weizen für zwei Jahre gehortet hat, frühmorgens
durchaus zum Markt eilen kann, um die Lebensmittel für den Tag zu
kaufen, da er befürchtet, daß ihm etwas von seinem Vorrat
verlorgengehen könnte. (Pätzold 63)
Es liegt alles in der Luft. Die Meinung des al-Masudi, der sich auf
Galen und al-Kindi beruft und mit diesen die Eigenschaften des
Charakters der Schwäche oder Stärke des (Lebens-) "Geistes"
zuschreibt, lehnt Ibn Khaldun als unbewiesen ab. Die wirklichen
Ursachen für dergleichen Unterschiede sind nach Ibn Khaldun
ausschließlich in äußeren Einwirkungen natürlicher Art zu suchen.
5) Verschiedenheit von Kulturzuständen ist bedingt durch Art und
Menge der Nahrung
Ernährung wirkt sich ebenso auf den Körper aus, wie auf die
Charaktere von Menschen. Die von Ibn Khaldun vorgetragene
Kausalerklärung dieses Phänomens beruht auf der Untersuchung des
Futters und seiner inneren Feuchtigkeit, der blähenden und zehrenden
Wirkung desselben bei Tieren und Menschen.Er stützt sich hier auf
die Beobachtungen von Tierhaltern; der behauptete Effekt ist sehr
weitreichend, auch Frömmigkeit und Religion seien davon noch
betroffen. Keineswegs wäre ein Überfluss an Nahrung besonders
günstig:
"Wir finden, ... daß diese Menschen, welche Getreide und
Gewürze entbehren, einen besseren Zustand des Körpers und
Charakters aufweisen als die Bewohner der fruchtbaren Hügel, die
im Wohlleben versunken sind: ihre Farben sind reiner, ihre Körper
fehlerloser, ihre Gestalten vollkommener und schöner, ihre
Charaktereigenschaften entfernter von aller Abweichung von der
Norm, ihr Verstand schärfer im Erkennen und Begreifen." (Schimmel,
24)
Zuviel Essen erzeuge überschüssige Kräfte im Körper, die schädlich
seien. Bei den Stadtbewohnern zeige sich dies in besonders
auffallender Weise: sie seien weniger scharf-sinnig und weniger
gottesfürchtig zugleich. Auch die Langzeitfolgen bestimmter
Ernährungsarten seien zu beachten: im Fall einer Hungersnot kann
sich der Übersättigte nicht schnell genug umstellen und stirbt.
Aber:
Those who die in famines are victims of their previous
habitual state of satiation, not of the hunger that afflicts them
for the first time. (Dawood, S. 67)
Tatsächlich könnten Menschen mit unglaublich wenig Nahrung leben. Er
selbst, der Sufi Ibn Khaldun, habe Menschen getroffen, die 40 Tage
lang überhaupt nichts zu sich nahmen, dem Sultan seien zwei Frauen
vorgestellt worden, die sogar mehrere Jahre nichts gegessen hätten.
"They were examined, and the matter was found to be correct."
(Dawood, S. 68) Essen, auch die Quantität, sei eine Frage der
Gewöhnung und des Brauches, nur in sehr geringem Maße eine Frage der
Notwendigkeit. Im allgemeinen gelte: weniger ist besser, sowohl für
den Körper als auch für den Geist.
Doch nicht nur die Menge, auch die Art der Speisen sei
charakterbildend: wer Kamelfleisch isst, erwerbe auf Dauer die
Geduld und Kraft des Kamels. (Dawood, S. 69) - Der Mensch ist, was
er isst ... man kann Ibn Khaldun hier kaum lesen, ohne auf Schritt
und Tritt an Lamettrie, d-Holbach, Helvetius oder Feuerbach erinnert
zu werden. Es ist eine durch und durch materialistische Auffassung
von Geschichte und Kultur. Durch und durch? Zumindest die sechste
"Prämisse" läßt stutzen.
6) Ein natürlicher Kulturfaktor sind schließlich die Prophetien
Es ist hier die Rede von denjenigen Menschen, die "das Unsichtbare
sehen", und Ibn Khaldun stellt die Frage, wodurch diese Fähigkeit
zustandekomme: durch Naturanlage oder durch Übung. Prophetie wird
als die höchste Form menschlicher Seelenäußerung und -betätigung
gesehen, wobei der Koran wiederum als die höchste Prophetie gilt.
Aber auch hier sieht Ibn Khaldun noch natürliche Kräfte am Werk: die
Welt insgesamt baue sich aus Elementen in steigender Ordnung auf, in
einer Hierarchie: Pflanzenseele, Tierseele, Menschenseele. Innerhalb
der Menschenseelen gibt es noch einmal Stufungen: Es gibt die
schwache Menschenseele, die nur bis zu gewöhnlichen Wahrnehmungen
und Beobachtungen kommt; über ihr steht die "Seele der Heiligen",
die den Beginn der geistigen Welt erreichen und hohe Erkenntnisse
finden kann; die dritte Stufe schließlich ist die "Seele der
Propheten", die sich bis zur Engelswelt erhebt - sie erhält
göttliche Eingebungen und übermittelt sie den Menschen. Noch die
höchste Einsicht, die Inspiration des Propheten aber beruht auf
Struktur und Natur der geschaffenen Welt. Ibn Khaldun
"considers all such activities (i.e. prophetische, FW)
to be grounded throughout in the natural properties of the human
soul which, in turn, is closely related to the human body and the
world of generation, of the elements, of sensible bodies, and of
their motion and rest." (Mahdi, S. 902)
Es ist begrifflich interessant, dass das Arabische (bis heute und
auch bei Ibn Khaldun) für die "Inspiration" oder "Offenbarung"
dasselbe Wort (wahy) verwendet, mit der auch die Fähigkeit
von Tieren (und auch Pflanzen, sogar leblosen Dingen) benannt wird,
sich "richtig" zu verhalten - also jene Eigenschaft, die wir
gewöhnlich (allerdings nur bei Tieren, nicht bei Mineralien oder
Pflanzen) als "Instinkt" bezeichnen. Fraglich und für Ibn Khaldun
nicht ohne Problem ist natürlich, wie die richtigen Propheten und
die richtigen Prophetien zu erkennen sind. Dass sie für menschliche
Gesellschaften notwendig sind, steht für ihn aber ebenso außer Frage
wie der Umstand, dass auch sie ihre Ursache in Naturgegebenheiten
haben.
Zusammenfassung
Es gibt gewisse und es gibt wahrscheinliche Kenntnis von der Kultur.
Es gibt einen unbezweifelbaren Prüfstein, an dem man die Wahrheit,
Wahrscheinlichkeit oder Nichtwahrheit von Berichten über die
Geschichte prüfen kann und soll. Diese Prüfung kann stattfinden,
wenn man berücksichtigt, welche menschennatürlichen Thesen die
Naturwissenschaft erwiesen hat. Wenn man, mit anderen Worten, die
notwendigen und hinreichenden Bedingungen kennt und berücksichtigt,
unter denen Kultur entsteht, besteht und sich verändert. Mit Hilfe
dieser Faktoren muss man die vergangene Geschichte rekonstruieren
und erklären. Man darf nur solche Faktoren annehmen, die
naturwissenschaftlich, d.h. durch Erfahrung bewiesen sind und die
allgemein sind, d.h. die das Kulturleben aller Menschen - wenn auch
in je unterschiedlicher Form - bestimmen. Diese sind:
- Der Zwang zu Zusammenschluss und Herrschaft aufgrund der
Unfähigkeit menschlicher Individuen, sich zu verteidigen und sich
lebensnotwendige Nahrung zu verschaffen.
- Die Natur des bewohnbaren Teils der Erde und dessen
unterschiedliche Lebensbedingungen.
- Der bestimmende Einfluss des Klimas auf Hautfarbe und
Lebensumstände der Menschen, der Einfluss der Atmosphäre auf die
Charaktereigenschaften von Menschen.
- Das Verhältnis von Ernährungsweise und Charaktereigenschaften.
- Der Einfluss und die natürliche Entstehung von göttlicher Weisheit
und Prophetie.
Literaturhinweise:
Peter Enz: Der Keim der Revolte. Militante Solidarität und religiöse
Mission bei Ibn Khaldun. (Welten der Philosophie Bd. 9). Freiburg
i.Br.: Alber Verlag, 2012.
Abbas Manoochehri: "Die Dialektik der Asabiyya und die
Sozialphilosophie des 'umran." Übersetzt von Nausikaa
Schirilla. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles
Philosophieren, Nr. 17 (2007): 77-92.
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Erstellt: September 2013 mit Ergänzungen während des
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