Universität Wien

Franz Martin Wimmer

Geschichtsphilosophie, Thema1: Vorstellungen zum Verlauf von Geschichte

Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie WS 2013

Übersicht gesamt:

1. Vorlesung: Begriffliches, Bedeutungen von "Geschichte", Geschichtstheorie als Theorie von "stories" (H. White)
2. Vorlesung: Thema 1: Vorstellungen zum Verlauf von Geschichte
3. Vorlesung: Thema 2: Akteure und Faktoren
4. Vorlesung: Thema 3: Annahmen von Gesetzmäßigkeiten
5. Vorlesung: Thema 4: Erkennbarkeit - idiographisch vs nomothethisch
6. Vorlesung: Thema 5: Erklärbarkeit - hermeneutisch vs szientistisch
7. Vorlesung: Thema 6: Perspektivität und Objektivität

Zweite Vorlesung (15. und 22. 10. 2013)


Beispiel 1: China 2.Jh. vAZ - Sima Qian | Literatur
Beispiel 2: Italien 18.Jh. - Giambattista Vico | Literatur

Begriffe und Modelle:

EUROZENTRISMUS?
Altertümlich, überholt?

S. 19: Once upon a time the historical profession was more or less united, at least in the English-speaking world. Professional historians shared a common exposure to the classical and Christian traditions, a common Anglocentric perspective, and a common interpretive theme: the progress of freedom. This, of course, was the liberal or 'Whig' interpretation of history that traced mankind's pilgrimage from Mesopotamia to Mount Sinai, to Runnymede, Wittenberg, and 'two houses of Parliament and a free press' - and assumed that backward peoples, if not weighed down by anchors like Hinduism, would follow the Anglo-American peoples to liberty. This vision held sway until the cataclysm of 1914-18 made belief in progress more difficult to sustain, the Great Depression eroded faith in liberal institutions, and decolonization forced consideration of non-Western cultures on their own terms. Whereupon the historical profession, lacking consensus on proper themes, subjects, methods, and purpose, fractured to the point where considerable rancor now exists over the question of what history is, or ought to be, at all.


Literaturhinweise:
Mircea Eliade: Kosmos und Geschichte. Der Mythos der ewigen Wiederkehr. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1966. (Erstdruck: 1953 Düsseldorf )
Friedrich Rapp: Fortschritt. Entwicklung und Sinngehalt einer philosophischen Idee. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992.
Gilbert Rist: The History of Development: From Western Origins to Global Faith. 3. Aufl. London: Zed Books, 2008.
http://books.google.de/books?id=NpV64yAbBvQC&printsec=frontcover#v=onepage&q&f=false


PRÜFUNGSRELEVANT ZU THEMA 1:
Franz Martin Wimmer: "Goldenes Zeitalter oder Urhorde." In: Kindlers Enzyklopädie: Der Mensch, Hg.: Norbert Loacker,  S. 323-37. Zürich: Kindler, 1983. pdf im Internet




Beispiel 1: Zyklische Geschichtsauffassung: Frühe Geschichtsschreibung in China

China - Geschichte und Geschichtsbild

Wie Funde in Nordchina belegen, ist die menschliche Siedlungsgeschichte am Unterlauf des Huanghe (Hoangho) sehr alt. Der "Pekingmensch" lebte vor etwa 500.000 Jahren in der Gegend der heutigen Hauptstadt Chinas. Um 4000 vAZ gibt es neolithische Ackerbauern in den Lößgebieten des Nordens und Nordwestens, etwa 1000 Jahre später auch am Changjang (Yangtsekiang).

Da Geschichtsschreibung in China früh in beeindruckender Weise entwickelt wurde und bereits im Werk des Sima Qian ein Bild der frühen Staatsbildungen vorgelegt hat, dessen Einzelheiten in vieler Hinsicht von der modernen Geschichtsforschung bestätigt worden sind, möchte ich zunächst von diesem Bild ausgehen. Aber schon früher hatten bedeutende Vertreter aller einflussreichen philosophischen "Schulen" Darstellungen eines urtümlichen Gesellschaftszustandes verfasst, die jeweils auch zentrale Ideen ihrer Theorie spiegelten. Dies hat in seiner Allgemeinheit keine Entsprechung in indischer oder griechischer Philosophie und ist auch nicht ident zu setzen mit den in allen Kulturen vorfindbaren Ursprungsmythen, sondern eher mit idealtypischen Konstrukten wie demjenigen von Hobbes' "Kampf aller gegen alle" zu vergleichen.

Die auffallendsten Züge in den Darstellungen der Frühzeit sind:
* Kulturtechniken (wie: Schrift, Reisanbau, Seidenraupenzucht usw.) werden namentlich Heroen des eigenen Volkes zugeschrieben. Es finden sich in der Zeit der klassischen Schulen keinerlei Spuren einer Erinnerung an frühere Wanderungen oder an außerchinesische Einflüsse. Es ist jedoch umstritten, ob beispielsweise die Schrift in China unabhängig entwickelt wurde. Wenn dies der Fall ist, so ist Schrift dreimal in der Menschheitsgeschichte entstanden (in Ägypten bzw. im Zwischenstromland, in China und in Mesoamerika), im anderen Fall nur zweimal.
* Die Heroen der imaginierten Frühzeit werden zu einer Art von Halbgöttern und spielen eine wichtige Rolle im allgemeinen Ahnenkult. Dabei sind es unterschiedliche Typen, die für spätere Philosophenschulen jeweils entscheidende Vorbildfuktion bekommen: Huangdi, der "Gelbe Kaiser", für die Daoisten; "Yao und Shun" für die Konfuzianer; Yü, der Begründer der legendären Xia-Dynastie für die Mohisten u.a. Vgl. zu den klassischen philosophischen Schulen: VO zur Philosophie in China I
* Das frühe Altertum bzw. der Urzustand selbst wird idealisiert, es wird so etwas wie ein "Goldenes Zeitalter" oder auch ein Zustand tierähnlicher Wildheit vorgestellt.
* Es zeige sich aus der bisherigen Geschichte, dass immer dann eine "Dynastie" gestürzt und von einer neuen "Dynastie" abgelöst worden sei, wenn die Repräsentanten der ersteren Verbrechen gegen das allgemeine Wohl begangen haben. Nach einer bestimmten Reihe sei ein "Zyklus" vollendet und die Geschichte beginne somit gewissermaßen immer wieder von neuem.
* Ein Schöpfungsmythos, wie er in der christlichen Tradition die Rekonstruktion der Menschheitsgeschichte lange Zeit bestimmt hat, fehlt.

Etwa so beschreiben Historiker der Han-Zeit, beginnend mit Sima Qian (Ssu-ma Ch'ien, ca. 145 v. bis 85 v.), die Vorgeschichte. Die Epoche vor der Han-Zeit sei zuerst von "vier Kaisern" (die aber ihr Amt nicht vererbt, sondern jeweils den Würdigsten zur Nachfolge bestimmt hätten) und dann von "drei Dynastien" bestimmt gewesen, auf die noch eine kurze Dynastie vor der jetzigen folgte. Diese vier von Sima Qian beschriebenen "Dynastien" sind:

Diesen "Dynastien" sind jeweils bestimmte Grundtugenden der Menschen zugeordnet, sodass nunmehr mit der Han-Zeit, nach dem Untergang der Zhou und dem Desaster der kurzlebigen Qin (Ch'in) ein neuer Zyklus begonnen habe. Die Schilderung von Sima Qian ist im traditionellen Geschichtsdenken Chinas weitgehend klassisch geworden. Es ist auffallend, wie viele historische Daten aus Sima Qians Darstellung durch die moderne Archäologie überprüft werden konnten und sich als zutreffend herausgestellt haben - so wurde etwa die von ihm beschriebene Xia-Dynastie lange Zeit für legendär gehalten, scheint aber heute durch Grabungen gesichert. Jedenfalls sind die "Dynastien" der Shang und der Zhou archäologisch belegt. Auch die Periodisierung in "Dynastien" wurde in der späteren Gechichtsschreibung Chinas stets beibehalten. Das Shiji des Sima Qian (s.u.) ist zum paradigmatischen Vorbild der sogenannten "Standard-Geschichten" geworden, in denen jeweils eine neu etablierte "Dynastie" die Leistungen und Verfehlungen ihrer Vorgänger offiziös darstellen ließ.

Aufgrund der archäologischen Belege setzt die moderne Geschichtswissenschaft den Beginn einer städtisch organisierten Gesellschaft am Gelben Fluss mit dem Einsetzen der Shang-Herrschaft an, mithin weitaus später als die Stadtkulturen Ägyptens, des Zwischenstromlandes oder des Indusgebiets, jedoch viel früher als die entsprechenden Gesellschaften im Mittelmeerraum, in Amerika oder in Europa. Um diese Zeit sind im Siedlungsgebiet am Huanghe jedenfalls Bronze, Pferd und Wagen, Schrift und Stadt bekannt. Die Form der Bronzen läßt keinen Einfluß von außen erkennen, es handelt sich vielmehr um etwas, was wir bis heute als "typisch chinesische" Formen und Muster kennen: Dreifüße und Ritualgefäße mit stilisierten Tieren und Pflanzen. Aus den Funden in Anyang sind Orakelinschriften ab dem 13. vorchristlichen Jahrhundert bekannt. Die Schriftzeichen dieser Zeit ähneln bereits in vielen Fällen heutigen chinesischen Zeichen.

Pferd und Wagen der Shang, zusammen mit Bronzewaffen, sichern eine militärische Überlegenheit besonders über die weiter südlich siedelnden Völker, die von jetzt ab in jeder politisch stabilen Epoche weiter nach Süden abgedrängt oder unterworfen werden. Aus der Shang-Zeit, die etwa 500 Jahre umfasst, sind insbesondere zwei Residenzen ausgegraben worden: Zhengzhou (Cheng-chou) und Anyang (An-yang). Es handelte sich um Palast-, Wohn- und Bestattungsanlagen für den Hof und eine zahlreiche Beamtenschaft, die von Steuereinnahmen lebte. Eine beginnende Geldwirtschaft mit Kaurimuscheln ist nachgewiesen, doch waren die meisten Abgaben noch lange in Naturalien zu entrichten. Der Herrschaftsbereich der Shang-Dynastie war starken Veränderungen unterworfen, wobei das Kerngebiet in der heutigen Provinz Henan (Honan, am Unterlauf des Huanghe) lag.

Daran schließt die sehr lange Zeit der Zhou-Dynastie (1027 bis 256) an. Sie zerfällt grob in zwei Perioden: vom Sieg über die Shang bis 771 v. üben die Zhou als "Dynastie" tatsächlich eine Lehenshoheit über einen weiten Bereich des heutigen China nördlich des Changjang aus. Die Hauptstadt dieser Epoche der "westlichen Zhou" ist Haojing (Hao, in der heutigen Provinz Shenxi). Ab 771 zerfällt die politische Macht der Dynastie immer mehr, die Residenz wird nach Luoyang (Loyang, in der Provinz Henan) verlegt und die bisherigen Lehensfürsten der Zhou kämpfen untereinander um die Territorien; die chinesische Geschichtsschreibung spricht von der "Frühlings- und Herbstperiode" (=Chunqiu-Zeit, 722 v. bis 481 v.). Dieser Name stammt von einem Annalenwerk, das oft fälschlich dem Konfuzius zugeschrieben wurde; es schildert Begebenheiten aus dem Staate Lu, der Heimat des Konfuzius im Süden der Halbinsel Shandong. An diese Epoche schließt die "Zeit der Streitenden Reiche" (=Zhanguo-Zeit, 456 bis 221 v.) an, sozial und politisch unruhige Zeit, in der die klassischen philosophischen Traditionen Chinas weiter ausgebildet wurden, die bis heute wirksam sind. Diese Epoche endet mit dem militärisch-politischen Sieg des Staates Qin über den letzten der konkurrierenden Teilstaaten des Zhou-Reiches.

Die politische Situation Chinas in der Periode der "Frühlings- und Herbstannalen" und der "Zeit der Streitenden Reiche" ist wichtig für das Verständnis der Themen und Anliegen der Philosophen: sie ist durch den Kampf um die Vorherrschaft gekennzeichnet, der zwischen den Teilstaaten des Zhou-Reiches ausgetragen wurde und lange Zeit unentschieden blieb. In vielen Erzählungen und historischen Anekdoten (u.a. bei Sima Qian) sind die Verräter wie die Heroen der wechselnden Allianzen dieser Zeit überliefert. Dabei sind einige kleinere Kernstaaten von den größeren, expansiven Randstaaten zu unterscheiden. Die Kernstaaten - wie beispielsweise Lu - verlieren immer mehr an politischer Bedeutung, sie bleiben jedoch Zentren von Kultur und Bildung. Ihre Herrscher verbünden sich einmal in einer sogenannten Nord-Süd-Allianz mit einem Großstaat im Süden, dann wieder in einer Ost-West-Allianz mit dem Großstaat Qin im Westen. Letzterer stellt schließlich aufgrund seiner überlegenen Militärtechnik und Verwaltung das Einheitsreich her, indem er ab dem 4. Jahrhundert alle anderen Staaten unterwirft. Zwar ist die Qin-Dynastie die kurzlebigste unter allen historischen "Dynastien" Chinas - von der Ausrufung des Kaisertums durch Qin Shihuangdi (=Ch'in-Shi-Huang ti; der Name bedeutet Kaiser Nr. 1 aus Qin) im Jahre 221 bis zum Ende der Dynastie unter seinem Nachfolger (Qin Er-Huang) sind ganze 15 Jahre vergangen -, aber in dieser kurzen Zeit wurden Reformen durchgeführt, die weiter Bestand hatten und China entscheidend prägten: Vereinheitlichungen auf dem Gebiet der Staatsverwaltung, der Wirtschaft, des Geld- und Verkehrswesens, der Schrift, der Gesetzgebung usw. Die alte Feudalordnung war zerschlagen, ein Beamtenstaat an deren Stelle getreten. Daran änderte auch die neue Dynastie der Han wenig. Außerdem wurden unter Qin Shihuangdi die bereits bestehenden einzelnen Grenzbefestigungen gegen die "nördlichen Barbaren" zur ersten "Großen Mauer" zusammengefasst, Vorläuferin jener Mauer aus dem 15. Jahrhundert, die heute noch steht. Unter Qin Shihuangdi findet die erste einer Reihe von Bücherverbrennungen (vgl. Darstellung) statt, deren Details umstritten sind, aber in ideologischen Auseinandersetzungen bis heute fortwirken.

Han-Zeit (206v-220n):

Literatur und Geschichtsschreibung

In der Han-Zeit bildete sich in China eine standardisierte Literatursprache heraus ("wén-yán"), welche die Kommunikation zwischen den Sprechern von sehr unterschiedlichen Dialekten im Reich ermöglichen sollte. Sie wurde in der Folge trotz der starken Veränderungen der gesprochenen Sprache beibehalten, sodass sie schließlich für die Masse der Nichtgebildeten beinahe unverständlich wurde.

Es entstanden in dieser Zeit auch die ersten Lexika und Enzyklopädien Chinas, eine Literaturform, die "als typisch für das traditionelle China bezeichnet werden muß". Das Shuowen jiezi (meist: Shuowen, Shuo-wen, "Erläuterung von Schriften und Erklärung von Zeichen") des Xu Shen (1.-2. Jh.) interpretiert 9353 gebräuchliche und darüber hinaus 1163 veraltete Schriftzeichen hinsichtlich ihrer Bedeutung. Es löste das Verzeichnis von Schriftzeichen ab, das Li Si, der Kanzler von Qin unter Shihuangdi, verfasst hatte. Im Shuowen wird zum erstenmal ein Ordnungsprinzip eingeführt, nämlich die Anordnung der Zeichen nach sogenannten (540) "Radikalen", das zwar später vereinfacht und (auf 214) gekürzt wurde, im Prinzip aber bis heute in Gebrauch ist. Das Werk stellt die Grundlage für alle späteren chinesischen Wörterbücher dar und ist eine wichtige Quelle für Paläographie, Sprachgeschichte und Philologie.

Im Jahr 125 v. wurde das Yuefu (Yüeh Fu), das "Amt für Musik" wieder aktiviert, das schon etwa hundert Jahre früher begründet worden und dessen Aufgabe es war, Liedertexte und Melodien zu sammeln. Neben Tempelgesängen und höfischen Kompositionen wurden auch volkstümliche Lieder und Balladen dokumentiert. Einige der Texte von Dichtern dieser Zeit sind bis in jüngste Vergangenheit Bildungsgut geblieben, so z.B. der Essay "Über die Fehler der Qin-Dynastie" des Chia I  (201-169 v.).

Neben der poetischen Literatur entwickelt sich auch die Prosa in der Han-Zeit weiter, wovon unter den philosophischen Texten insbesondere das Huai-nan Zi (ca. 140 v.) des Prinzen Liu An Zeugnis gibt. Unter den Prosatexten ragen besonders zwei Werke von Historikern hervor, die kurz vorzustellen sind.

Sima Qian: Shiji (Buch der Berichte) - 史記 (neue Schreibweise in der VR China: 史记)

Von Sima Qian, dem ersten großen Historiker der chinesischen Tradition, war schon im Zusammenhang mit dem Geschichtsbild einleitend die Rede. An dieser Stelle ist die Anlage seines Werkes vorzustellen, das als Meisterwerk der chinesischen Prosa der Han-Zeit gilt. Der Buchtitel besteht aus zwei Zeichen, wovon das zweite zur Benennung klassischer Texte üblich ist.
Das erste Zeichen (史) bedeutet Geschichte (Chronik) und wird etymologisch interpretiert als Kombination einer Hand ( ), die ein Schreibrohr ( | ) hält um das, was aus einem Mund ( 口 ) kommt, festzuhalten. Das Zeichen ist seit der Bronzezeit vielfach belegt, die Bestandteile sind in Belegen vor der Schriftreform (ca 220 vAZ) deutlich erkennbar, z.B. so:

Die Grundstruktur der chinesischen Standardgeschichten zeigt sich zum ersten Mal in dem in der Folgezeit klassisch gewordenen Werk der Han-Zeit, das von Sima Qian (Szuma Chien, auch: Ssu-ma Ch'ien, ca. 145 v.-90 v.) fertiggestellt worden ist. Sima Qian war als Amtsnachfolger seines Vaters kaiserlicher Historiograph (es gibt keine wirklich damit vergleichbare Institution in der europäischen Geschichte) unter dem vierten Kaiser der Han-Dynastie, Wudi (regiert 140 v.-86 v.). Kaiser Wudi erweiterte das Reichsgebiet Richtung Süden weit über den Jangtsekiang hinaus fast bis zur heutigen Landesgrenze und errichtete Kolonien in Annam. Die südliche Mandschurei und Nordkorea wurden unterworfen. Die Truppen drangen weit nach Zentralasien bis zum Fluss Jaxartes (Syrdarja in Kasachstan) vor. China erfuhr in dieser Zeit seine bis dahin weiteste Ausdehnung. Aus den Kriegen gegen die Xiongnu ging Wudi schließlich als Sieger hervor. Das frühe Han-Reich zerfiel dann im Verlauf des 1. Jahrhundert vAZ. Einflussreiche und wohlhabende Familien aus den Provinzen sicherten sich Steuerfreiheit, wodurch die Einnahmen des Staates beträchtlich geschmälert wurden. Die Hauptsteuerlast wurde immer mehr auf die Schultern der zunehmend unwilligen Bauern und Arbeiter verlagert. Schließlich riss Wang Mang  den Kaiserthron an sich und leitete so die Dynastie der "Erneuerung" (9-23 AZ) ein. Wang verstaatlichte steuerfreie Besitztümer und teilte sie unter den Bauern auf. Er weitete die staatlichen Monopole aus und schaffte die Sklaverei ab. Nach Überschwemmungen und einer landwirtschaftlichen Krise, die zur Verschuldung der Bauern führte, fand seine Herrschaft ein jähes Ende. Verarmte und heimatlose Bauern und Landarbeiter beteiligten sich gemeinsam an einem Aufstand ("Rote Augenbrauen"), stürmten die Stadt Chang’an und töteten Wang Mang. Danach wurde die Han-Dynastie wieder etabliert, die folgende "späte (östliche) Han-Dynastie" endet 220 AZ.

Sima Qian lebt und schreibt also in der expansiven Phase der ersten Han-Zeit. 99v. wird er vom Kaiser im Gefolge eines verlorenen Feldzugs gegen die Xiongnu aufgrund seiner Stellungnahme für den geschlagenen Feldherrn zuerst zum Tod, dann zur Kastration verurteilt. Standesgemäß wäre daraufhin seine Selbsttötung erwartbar gewesen, jedoch Sima Qian zieht dem nach eigenem Bericht ein Leben als Eunuch vor, um sein Werk fertigzustellen, da dieses höheren Wert für die Menschen habe im Vergleich zu irgend etwas, das ihm selbst widerfahren könnte.

Sima Qians Bericht über die Geschichte Chinas von den Anfängen bis in seine Gegenwart entwickelt in prägender Weise die Kategorien, Begriffe und Methoden, die auch später noch, und in einzelnen historischen Unternehmungen bis in unsere Zeit, die chinesische Historiographie bestimmt haben. Der Einheitsgesichtspunkt, der dem Ganzen zugrundeliegt, ist ein universalistischer und integrativer Begriff unter dem Namen einer Dynastie. Die Einheit der Dynastie, ihre jeweilige Charakteristik, ihre Vorzüge und ihre Mängel bestimmen sowohl die Auswahl der Ereignisse, Personen, Institutionen, als auch den Aufbau der Darstellung und die Bewertung der einzelnen Faktoren im historischen Werk. Ich will daher zunächst auf diesen Begriff der Dynastie und die mit ihm verbundene Geschichtsauffassung kurz eingehen, um dann die eher formalen Strukturelemente zu skizzieren, wie sie vor allem den Standardgeschichten zugrundeliegen.

Das Auffallendste an den traditionellen chinesischen Geschichtswerken scheint darin zu liegen, dass sie von der (gelegentlich fiktiven) Idee ausgehen, dass immer wieder eine einzige Dynastie über China herrsche, welche das geistig-kulturelle ebenso wie das wirtschaftlich-politische Leben gänzlich bestimme. Die von Konfuzius (in den sogenannten Frühlings- und Herbstannalen) idealisierte Dynastie der Zhou liefert eines der ersten Muster dafür. Gerade hierbei fällt auf, dass dieser Dynastie eine übermäßig lange Verfallszeit attestiert wird, da sie nach ca. 800 v. faktisch keine Macht mehr ausübt (und von den meisten tatsächlichen Machthabern und deren Ideologen wohl auch nicht mehr als die herrschende Dynastie betrachtet wurde, - Konfuzius denkt hier anders, also restaurativ, wo er nur Faktisches in den Annalen zu konstatieren vorgibt. Trotz der in Wirklichkeit großen Veränderungen und Machtverschiebungen wird die ganze Epoche bis zu jener kurzen Phase des Qin-Reiches, als der Erste Kaiser von China, als eine Einheit, eben als die Zeit der Zhou-Dynastie, betrachtet. Schon bei Sima Qian findet sich hierfür eine entsprechende kosmologisch-metaphysische Hintergrundtheorie, die eine solche Geschichtsauffassung stützen soll.

Sima Qian nimmt an, dass jede der großen Dynastien eine Teilform oder besondere Anwendung des Tao als ihr jeweiliges Staatsprinzip durchsetzt. Jedoch muß, eben weil es sich jeweils um bloß verabsolutierte Teile, nie um das Ganze des Tao handelt - und handeln kann - jeder dieser Staaten, jede dieser Dynastien wieder zerfallen: das Gegenprinzip des jeweiligen Teilprinzips wird sich durchsetzen. Eine Dynastie stellt also ein zeitweiliges Übergewicht einer bestimmten Ordnungsvorstellung her - und dauerhaft sind jene Dynastien, deren Staatsprinzip die richtige Heilung für die von der vorausgegangenen Dynastie verursachten Mißstände bringt.

Es gibt aber nur eine kleine Zahl von solchen Teil-Taos oder Staatsprinzipien, sodass der Gesamtprozeß durch sich wiederholende Zyklen gekennzeichnet ist. Dies leuchtet ein, wenn man voraussetzt, dass Staatsprinzipien, deren Kairós nicht gegeben ist, oder die überhaupt nicht dem Tao entsprechen, ohnedies sehr schnell wieder samt ihren Verfechtern (da diese nicht das Mandat des Himmels haben) verschwinden - was bei der Interpretation der Geschichte durchaus zur Rechtfertigung des langdauernd Erfolgreichen verwendet wird, bei der Interpretation der Gegenwart aber sowohl revolutionären wie auch reaktionären Ideologen dienen kann.

Sima Qian führt in seiner Darstellung des Gründers derjenigen Dynastie, unter der er lebt, gewichtige Gründe dafür an, warum in der Revolte, in der diese Dynastie sich schließlich etablieren konnte, das rechte Prinzip getroffen worden und eine dauerhafte Regierung zu erwarten sei. Zu diesem Zweck greift er auf die alten, nur teilweise noch historisch nachweisbaren Dynastien zurück, soweit sie ebenfalls in der rechten Reihenfolge das jeweils anstehende Teilprinzip des Tao mit ihrem Staatswesen verwirklicht hätten. Sima Qian argumentiert also für die "Richtigkeit" der Han-Dynastie, indem er die Reihenfolge der vorangegangenen Dynastien und deren "Prinzipien" mit deren jeweiliger Verfallsform feststellt: die (legendäre) Xia-Dynastie sei durch "guten Glauben" ("good faith") zur Macht gelangt, dessen Kehrseite die "Derbheit" ("rusticity") war. Die anschließende Shang-Dynastie habe diesen Verfallszustand durch ihr Prinzip der "Verehrung" ("piety") geheilt, welche zum "Aberglauben" ("superstition") entartete und von den Zhou mit deren Prinzip der "Verfeinerung" ("refinement") abgelöst worden sei. Dieses sei aber zur "hohlen Schau" ("hollow show") geworden und nunmehr hätte die Reihe von neuem beginnen müssen. Die Qin (Ch'in)-Dynastie (221-206 v.) habe dies jedoch verkannt und sei deshalb so schnell gestürzt worden. Mit dieser These von einem Dreischritt von "Staatsprinzipien", der sich zyklisch wiederhole, kritisiert Sima Qian die Selbstdarstellung der Qin-Zeit, die von einer Fünferreihe entsprechend der "Fünf Elemente" ausging und die eigene Etablierung als die Vollendung dieser Fünferreihe propagierte. Es wäre geboten gewesen, zum guten Glauben zurückzukehren, aber die Qin-Dynastie, schlug nicht diesen Weg ein, sondern führte, von den legalistischen Philosophen schlecht beraten, zur Erhaltung von Recht und Staat "harte Strafen und Gesetze" ein - was in Sima Qians Augen erklärt, dass diese Dynastie schon bald nach dem Tod ihres Begründers Qin Shih Huangdi scheitern mußte.
Erst die Han-Dynastie, also der Ahn des Kaisers Wu-di, habe wieder den alten Völkerglauben etabliert, sie wurde damit zu den "Xia" von Sima Qians Gegenwart, sie habe den Zyklus in rechter Weise von neuem begonnen.

Das Werk Sima Qians, als Modell noch lange Zeit vorbildlich, soll dazu als Anhaltspunkt dienen. Es ist in 130 Kapitel gegliedert, die die gesamte bisherige Geschichte der Chinesen und der dem Autor bekannten Nicht-Chinesen zum Gegenstand haben und sich wiederum in 5 Sektionen unterteilen lassen:
a) Annalen: 12 Kapitel über die frühesten Dynastien und das Leben einzelner Kaiser der regierenden (Han-)Dynastie
b) Chronologische Tafeln: 10 Kapitel in graphischer Form, die wichtigsten Ereignisse mit ihren Daten betreffend.
c) Abhandlungen: 8 Kapitel über Riten, Musik, Astronomie, Religion und Wirtschaft
d) Adelsfamilien: 30 Kapitel über die Geschichte der verschiedenen Feudalstaaten vor der Reichseinigung durch die Ch'in-Dynastie
e) Biographien: 70 Kapitel über einzelne berühmte Chinesen und Nicht-Chinesen.

Innerhalb jeder Sektion ist die Anordnung des Materials chronologisch vorgenommen. Es handelt sich insgesamt um eine Synthese von Berichten über unterschiedliche Bereiche: politische und dynastische Ereignisse werden ebenso wie Entwicklungen auf dem Gebiet des Wissens, der Kunst oder der Weltanschauung und Philosophie dargestellt. Dies wird in den folgenden Dynastiegeschichten weitergeführt, sodass z.B. eine separate Literaturform wie die europäische "Philosophiegeschichte" vor dem 20. Jahrhundert in chinesischer Literatur nicht existiert (was natürlich nicht heißt, dass die Darstellung von Geschichte des philosophischen Denkens fehlen würde, diese ist jeweils in die Gesamtdarstellung einbezogen).

Das zweite große historische Werk der Han-Zeit ist:

Ban Gu und Ban Zhao: Hanshu (漢書 neue Schreibweise: 汉书)

Wie Sima Qian war auch Ban Gu (32-92), der Bruder des berühmten Feldherrn Ban Chao (durch dessen militärische Erfolge im Westen das Reich der Östlichen Han-Dynastie zeitweilig seine größte Ausdehnung erlangte) kaiserlicher Historiograph. Er führte das von seinem Vater Ban Biao begonnene Hanshu, die Geschichte der Westlichen Han-Zeit fort und verfasste auch andere literarische Arbeiten. Das Hanshu wurde von Ban Zhao (s.u.) zu Ende geführt. Der Werktitel enthält hier zuerst den Namen der beschriebenen Dynastie (Han), das zweite Zeichen bedeutet Geschriebenes, also Buch, und ist Titelwort in vielen der späteren sogenannten Dynastiegeschichten.

Ban Gu übertrug die Fertigstellung des Hanshu seiner Schwester Ban Zhao (=Pan Chao, 45-115), als er sich einem Feldzug gegen die Xiongnu anschloss. Dieser Feldzug war zwar siegreich (Ban Gu verfasste eine Felsinschrift darüber), führte aber zur Entmachtung des Feldherrn und in deren Folge auch zur Einkerkerung Ban Gus. Er starb im Kerker. Ban Zhao stellte das Hanshu fertig und wurde offiziell damit beauftragt, andere Gelehrte über dessen Inhalt zu unterrichten. Ban Zhao war Hofdame der Kaiserin und verfasste außerdem Gedichte und das Werk Nü-Jie (Nu chien, "Gebote für Frauen"), einen im Geist des Konfuzianismus geschriebenen Moralkodex für Frauen. Darin entwirft Ban Zhao eine Lehre weiblicher, aus dem "Yin" hergeleiteter Tugenden, wobei insbesondere Sanftheit, Demut, Bescheidenheit und Gehorsam gefordert werden. Andererseits besteht Ban Zhao aber auf dem Recht auf Bildung für Frauen, was sie als notwendige Voraussetzung für deren moralische Kultivierung ansieht.

In der Anlage des Werks und der Art der Darstellung folgt das Hanshu dem Vorbild des Sima Qian, allerdings beschränkt er sich auf die Geschichte einer einzigen Dynastie und begründet somit, was die Abgrenzung des Gegenstandes betrifft, die Gattung der Dynastie-Geschichten, die später immer wieder nach der Etablierung einer neuen Dynastie über die vorangegangene verfasst worden sind.

Obwohl das Hanshu nur einen Zeitraum von 200 Jahren behandelt, im Vergleich zum Shiji also eine kurze Periode, ist es im Umfang weit größer als dieses. Wie Sima Qians Werk beschreibt auch das Hanshu im ersten, annalistischen Teil, Ereignisse der Politikgeschichte, wobei er sich auf offizielle Akten stützt, in denen Entscheidungen von Herrschern, deren Verwandten, Beratern und Beamten dokumentiert sind. Es übernimmt auch für weitere Teile den Aufbau des Shiji: der zweite Teil bringt Tabellen von Ereignissen, Genealogien und Personenlisten; der dritte Teil behandelt einen weiten Bereich von Themen (wie: Hofzeremoniell, Musik, Geld- und Steuerwesen und Navigation); im vierten Teil werden bedeutende Persönlichkeiten, die nicht Kaiser waren, biographisch vorgestellt. Neue Themen im Hanshu sind Naturphänomene, Geographie und Bibliographie. So enthält dieses Werk eine Liste der Bücher, die in der kaiserlichen Bibliothek aufbewahrt werden (von denen viele in der Folgezeit verlorengehen, sodass diese Liste von großer Bedeutung für die spätere Forschung geworden ist). Die von Sima Qian behandelte Abteilung (über die "erblichen Herrschaften" oder "Adelsfamilien") fehlt im Hanshu, da in der Han-Zeit die erbliche Adelsherrschaft abgeschafft worden war.

PRÜFUNGSRELEVANT zu Sima Qian:

David Schrögendorfer: "Sima Qian. Die Macht der Historiographie." Vorlesungsarbeit: Universität Wien, 2005. im Internet:  http://sammelpunkt.philo.at:8080/1253/

Auswahl-Literatur zur Geschichtsschreibung und Literaturgeschichte in China:

William G. Beasley und G.E. Pulleyblank (Hg.): Historians of China and Japan. London: Oxford Univ. Press, 1961.
Eugen Feifel: Geschichte der chinesischen Literatur. Mit Berücksichtigung ihres geistesgeschichtlichen Hintergrundes. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1959.
Otto Franke: Der Ursprung der chinesischen Geschichtsschreibung. Berlin: Walter de Gruyter, 1925.
Thomas Göller und Achim Mittag: Geschichtsdenken in Europa und China. Hg.: Walter Schweidler, (West-östliche Denkwege Bd. 13). Sankt Augustin: Academia Verlag, 2008.
Wolfgang Kubin: Die chinesische Dichtkunst: Von den Anfängen bis zum Ende der ausgehenden Kaiserzeit. München: K.G. Saur, 2002.
Fritz-Heiner Mutschler:
Tacitus und Sima Qian. Eine Annäherung, in: Philologus 150, 2006, 115-135
———: Tacitus und Sima Qian. Persönliche Erfahrung und historiographische Perspektive, in: Philologus 151, 2007, 127-152
———: Sima Qian and his Western Colleagues: On Possible Categories of Description, in: History and Theory 46, 2007, 194-200
Sima Qian (Szuma Chien): Der Herr von Sin-Ling. Reden aus dem Chan-kuo tse und Biographien aus dem Shi-ki. Hg.: Erich Haenisch. Stuttgart: Reclam, 1965.
———: Records of the Historian. Chapters from the Shih chi of Ssu-ma Ch'ien. Hg.: Burton Watson. New York und London: Columbia Univ. Press, 1969.
———: Selections from Records of The Historian. Hg.: Hsien-yi Yang und Gladys Yang. Peking: Foreign Languages Press, 1979.
Julia Ching: "Introduction." In The Records of Ming Scholars, Hg.: Huang Tsung-hsi,  S. 6-9. Honolulu: University of Hawaii Press, 1987.
Ernst Schwarz (Hg. und Einleitung) Chrysanthemen im Spiegel. Klassische chinesische Dichtungen. Berlin: Rütten & Loening, 1988.
Susanne Weigelin-Schwiedrzik: "Weltgeschichte und chinesische Geschichte. Die chinesische Historiographie des 20. Jahrhunderts zwischen Universalität und Partikularität." In: Globalisierung und Globalgeschichte, Hg.: Margarete Grandner, Dietmar Rothermund und Wolfgang Schwentker,  S. 139-61. Wien: mandelbaum Verlag, 2005.
Franz Martin Wimmer: "Feurige Argumente - Bücherverbrennung und Geistesgeschichte." In Aufspaltung und Zerstörung durch disziplinäre Wissenschaften, Hg.: Werner W. Ernst, S.  111-33. Innsbruck: Studienverlag, 2003. im Internet: http://sammelpunkt.philo.at:8080/1726/



Beispiel 2: Spiralförmige Geschichtsauffassung: Giambattista Vico (1668-1744) 

Hauptwerke:

Vom Wesen und Weg der geistigen Bildung ( De nostri temporis studiorum ratione, 1708)
Deutsche Übersetzung von W.F. Otto (1963)

Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Völker (Scienza nuova, 1725, 1744)
Deutsche Übersetzungen: E. Auerbach (1924; Zitate im Skriptum nach dieser Übersetzung), F. Fellmann (1981),
V. Hösle und Chr. Jermann (erstmals vollständig, Hamburg: Meiner, 1990)

Über Vico:

Prüungsrelevant zu Vico: König, P.: Giambattista Vico. München (2005)

Burke, P.: Vico : Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft. Berlin: Wagenbach, 2001. (Erstdruck: engl. 1984)
Croce, B.: Die Philosophie G. Vicos (Dt. v. E. Auerbach und Th. Lücke),Tübingen (1927)
Fellmann, F.: Das Vico-Axiom: Der Mensch macht die Geschichte, Freiburg-München (1976)
Horkheimer, M.: Die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, (Nachdruck:) Frankfurt (1971)
Otto, S.: Giambattista Vico. Grundzüge seiner Philosophie, Stuttgart-Berlin-Köln (1989)
Pompa, L.: Vico. A Study of the 'New Science', London (1975)
Schmidt, W.R.: Die Geschichtsphilosophie G.B. Vicos. M.e.Anh.z.Hegel, Würzburg (Diss., 1982)

Im Zusammenhang der LV ist die "Neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker" (SN= Scienza Nuova) der wichtigste Text, ich gebe daher hier fast ausschließlich Punkte dazu wieder. Die angeführte Sekundärliteratur ist nicht mehr als ein erster Hinweis zur Lektüre, als Einführung in das Denken Vicos überhaupt kann König (2005), in die SN Pompa (1975) empfohlen werden.

Vicos Schriften, insbesondere die SN, sind zu seinen Lebzeiten und lange danach so gut wie gar nicht gelesen worden.
Zwei Themen werden darin in einer Weise ausgeführt, die den Trends seiner Zeit inhaltlich zwar entsprechen, wobei aber die Thesen und auch die Art der Ausführung sehr unzeitgemäß waren:
- eine Rekonstruktion der Geschichte antiker Kulturen und
- eine Reflexion der philosophischen und geschichtstheoretischen Voraussetzungen solcher Rekonstruktionen. Die beiden Themen werden zudem in der SN nicht sauber getrennt.

"Die neue Wissenschaft" - Übersicht

Einleitung: dichter, teilweise schwer verständlicher Kommentar zum Frontispiz, der in einer Allegorie die ganze Theorie des Werks zum Ausdruck bringen soll:

Frontispiz



Buch 1: "Etablierung der Prinzipien":
beginnt mit einer chronologischen Tafel, die in sieben Reihen die Hauptdaten der hebräischen, chaldäischen, skythischen, phönikischen, ägyptischen, griechischen und römischen Geschichte zeigt.

Abschnitt 1: Anmerkungen und Kommentare zum vorgestellten Schema; es wird dabei klar, dass V. prinzipiell und in Einzelheiten von den Auffassungen der zeitgenössischen Geschichtsschreibung abweicht.
- Abweichende Einzelheiten: Datierungsfragen, Interpretationen.
- Grundsätzliche Abweichungen: V.s Gegner nehmen an, dass das Anwachsen von Zivilisation (der Fortschritt in der Menschheitsgeschichte) eine Folge des gemeinsamen einzigen Ursprungs aller Kulturen sei, woraus eine Kausalität der Übertragungen von Kulturformen folgt.

V. hingegen nimmt an, dass das parallele Wachsen der Kulturen in den verschiedenen historischen Völkern nicht auf einem gemeinsamen historischen Ursprung beruht, sondern auf gemeinsamen menschennatürlichen Wesenszügen. Die "Natur" aller Völker sei so, dass ohne den äußeren Einfluß (von seiten anderer Völker) die verschiedenen historischen Völker notwendigerweise gewisse gemeinsame Merkmale in sozialer, ökonomischer und kultureller Hinsicht entwickeln müssten.

Abschnitt 2: "Elemente"
V. will "wissenschaftlich" vorgehen, indem er die Humanitätsmerkmale oder -prinzipien der Völker aufzählt. Diese sollen die Lösungen bestehender Probleme bei der Beschreibung und Erklärung des geschichtlichen Zustandes (der Vergangenheit und der Gegenwart) ermöglichen. Er stellt diese "Elemente" in Form von Axiomen zusammen, sie geben dem historischen Bericht seine "Form".

Es handelt sich insgesamt um 114 "Elemente":
a) Philosophische Prinzipien, deren wichtigste eine Theorie der Erkenntnis und der sozialen und historischen Natur der Ursachen menschlichen Handelns, insgesamt eine metaphysische Theorie darstellen.
b) Historisch-soziologische Theorien.
c) Methodologische Theorien betreffend die Reform der geschichtswissenschaftlichen Methode.

(Diese Unterscheidung (a-c) findet sich in der SN nicht ausdrücklich. V. nennt die "Elemente" I-XXII und CVI "allgemein", dh. grundlegend für die gesamte Wissenschaft, die übrigen 91 "Elemente" nennt er "besondere". Die "allgemeinen" betreffen a) und c) in der obigen Einteilung, die übrigen soziologische Theorien und historische Folgerungen.)

Die Abschnitte 3 und 4 bringen eine nähere Ausführung seiner Methode, sie stellen den Hauptteil der theoretischen Untersuchungen dar. (Sie werden in dieser Übersicht nach der kursorischen Angabe des Inhalts ausführlicher besprochen.)

Buch 2: "Von der poetischen Weisheit"
These dieses Abschnitts: Die erste Stufe des sozialen Lebens aller Völker ist die "poetische" Lebensweise. Hier sind die Institutionen das Produkt von Menschen, deren Antwort auf die Gegebenheiten ihrer Umwelt von einer weitgehend imaginativen, phantasiebedingten, und nicht-rationalen Denkart bestimmt ist.

Gezeigt werden soll,
wie bestimmte Institutionen bei bestimmten Außenbedingungen zwangsläufig entstehen mußten und zweitens,
wo und wann eben diese Institutionen entstanden sind.

Buch 3: "Von der Entdeckung des wahren Homer"
Die These des Abschnitts: Die homerischen Schriften stammen nicht von einem einzigen Individuum, sondern von den griechischen Rhapsoden, die zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten Griechenlands lebten. Diese Werke sind dem griechischen Volk, nicht einzelnen zuzuschreiben.

Buch 4: "Von dem Lauf, den die Völker nehmen"
Schematische Darstellung der Hauptphasen der "idealen ewigen Geschichte", d.h. der Stufen von Entstehen, Entwicklung und schließlichem Niedergang, die alle Völker durchlaufen müssen, wenn sie sich frei entwickeln. Zwar wird auch hier auf geschichtliche Tatsachen Bezug genommen, der Akzent liegt jedoch auf den Theorien.

Buch 5: "Von der Rückkehr der menschlichen Dinge bei der Wiedergeburt der Völker"
Verhältnismäßig knappe Hinweise dazu, wie die spätere Zeit (das "dunkle Zeitalter" der frühen Feudalepoche) im Lichte seiner Theorien interpretiert werden müsste.

Vicos Kritik der Geschichtsschreibung

Eines der Hauptprobleme der Geschichtswissenschaft im 17. und frühen 18. Jahrhundert lag darin, dass von Händlern und Missionaren Berichte über die Institutionen von Naturvölkern kamen, wobei diese große Ähnlichkeiten mit dem aufwiesen, was aus der europäischen Antike bekannt war. Die gängige Erklärung für diesen Sachverhalt bestand darin, dass man einen gemeinsamen historischen Ursprung behauptete, wobei die Debatte darum ging, in welchem Volk die Kultur zuerst begonnen habe und auf welchem Weg dieses Volk seine Errungenschaften dann den anderen übermittelt habe.

V. bestreitet nicht die Tatsachen, die hier zu erklären waren, aber er schlug eine andere Erklärung vor: aus einer gemeinsamen menschlichen Natur und nicht aufgrund eines gemeinsamen historischen Ursprungs.

Die "Elemente" geben eine Liste der unangemessenen philosophischen Begriffe und methodologischen Vorgangsweisen, die in dieser Frage verbreitet seien:

(1) Statt eine saubere Methode für kritische Interpretationen zu formulieren, verlassen sich die meisten Historiker nach Vicos Meinung auf ihren 'gesunden Menschenverstand', wobei sie folgende Fehler machen:
Sie machen sich selbst zum Maß aller Dinge und interpretieren so bei jedem Wiedererzählen die ursprünglichen Ereignisse neu, bauschen sie auf oder verkleinern sie. Traditionelle Berichte können daher nicht von vornherein als glaubwürdig angesehen werden.
Das geschieht vor allem in der Nationalgeschichtsschreibung (heute würden wir sagen: "Ethnozentrismus"), woraus der Streit um die Frage entsteht, welches Volk die Kultur begründet habe. Vico nennt dies die

"Anmaßung der Nationen"
und diskutiert es v.a. an Datierungsfragen der alten Geschichte. Von den antiken Historikern sei nur (der jüdische Schriftsteller) Josephus Flavius davon frei gewesen.

(Dazu ist anzumerken, dass das 18. Jahrhundert in Datierungsfragen noch gänzlich auf literarische Traditionen und Quellen angewiesen war, wogegen wir heute vielerlei naturwissenschaftliche Daten dazu heranziehen. Vico wirft aber seinen Gegnern vor, sie hätten nicht realisiert, dass die literarischen Berichte, auf die sie sich stützten, nicht Ergebnisse unparteiisch-objektiver Berichterstattung seien, sondern aus parteiischer Sicht geschrieben wären. Solche Parteilichkeit macht die Berichte nach Vicos Auffassung nicht wertlos; wenn sie aber von Nutzen sein sollen, so ist der Historiker genötigt, sie einer strengen Kritik zu unterziehen, indem er die dahinterstehende Parteilichkeit herausarbeitet.)

Vico denkt hier nicht an rein persönliche Standpunkte und Wertungen. Er wendet seine Überlegung auf das allgemeine begriffliche Schema und System des Wissens und Glaubens an, das der jeweilige Schreiber anerkennt. Das Begriffsschema und die etwa von griechischen Rhapsoden gewußten oder geglaubten Sachverhalte sind nicht ihre persönlichen Produkte, sondern die ihrer Gesellschaft, für die sie ihre Erzählungen machten. Wichtiger als die bloß persönlichen Vorurteile (die in den historischen Berichten auch eine Rolle spielen) ist: sie reflektieren das System von Glaubenssätzen, Werten und Annahmen der Gesellschaft, der sie angehören.

2)"Wenn sich die Menschen keine Vorstellung von fernen und unbekannten Dingen machen können, beurteilen sie sie nach dem, was ihnen vertraut und zugänglich ist."
Zur "Anmaßung der Nationen" kommt also noch die

"Anmaßung der Gelehrten":
die Neigung, zu glauben, alles gegenwärtige Wissen sei immer schon bekannt gewesen. Man überschätze aus diesem Grund die Weisheit der Alten. Vico verwirft mit dieser Regel "alle mystischen Deutungen, die von den Gelehrten für die ägyptischen Hieroglyphen gegeben wurden, ebenso wie die philosophischen Allegorien, die sie in den griechischen Mythen finden wollten."

Der Irrtum der "Anmaßung der Gelehrten" liegt in der Annahme, die historische Tatsache sei Erzeugnis von Denkweisen, die einer späteren Gesellschaft angehören. Es handelt sich also um einen Begriffs-Anachronismus, dem die Historiker dann verfallen, wenn sie die Interpretation ihres Materials aufgrund der Annahme versuchen, dass dasjenige, was ihnen ein sinnvoller und rationaler Handlungsablauf zu sein scheint, ein überzeugender und plausibler Weg der Problemlösung, auch den historisch Handelnden so erschienen sein müsse. Es ist dies die Annahme, dass die Rationalitätskriterien der eigenen geschichtlichen Gesellschaftsstufe diejenigen jeder möglichen Gesellschaft sind.

Diesen Irrtum schreibt Vico einer ganzen Tradition von Denkern zu: von Platon bis zu Francis Bacon.

Zwei Thesen sind jeder Theorie historischer Kritik nach Vico zugrundezulegen:
a) kein Bericht der Tradition ist per se glaubwürdig und
b) der natürliche Weg, Geschichte zu interpretieren, nämlich so, als interpretierten wir Phänomene und Handlungen innerhalb unserer eigenen Gesellschaft, ist unangemessen.
Vico wendet sich mit diesen Thesen gegen eine Willkür und eine Naivität: Er greift den willkürlichen Charakter der Annahmen an, worauf die meisten Geschichtsdarstellungen basieren. Seine Alternative ist nicht, keine Voraussetzungen, sondern bewußte Voraussetzungen zu machen.

Der zweite Einwand betrifft die naive Art, Geschichte zu schreiben, indem man unbesehen Faktoren als bestimmend annimmt, die erst später relevant geworden sind.
Welches erkenntnistheoretische Axiom kann nach Vico in dieser Situation leitend sein? Er formuliert es in
SN I, 3 (Nr.331):

"Doch in dieser Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das entfernteste Altertum bedeckt, erscheint das ewige Licht, das nicht untergeht, von jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: daß diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist: und darum können (denn sie müssen) in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden. Dieser Umstand muß jeden, der ihn bedenkt, mit Erstaunen erfüllen: wie alle Philosophen voll Ernst sich bemüht haben, die Wissenschaft von der Welt der Natur zu erringen; welche, da Gott sie geschaffen hat, von ihm allein erkannt wird; und vernachlässigt haben nachzudenken über die Welt der Nationen, oder historische Welt, die die Menschen erkennen können, weil sie die Menschen geschaffen haben."

Natur des Menschen und gesellschaftlicher Wandel

Vico geht von allgemeinen Voraussetzungen aus:
Da der Mensch schwach und gefallen ist, hat die Philosophie ihn zu leiten, sie darf ihn nicht in seiner Korruption belassen. Sie kann diese Aufgabe auch erfüllen.
Zentral ist es, die Rolle der "Vorsehung" zu erkennen, die in zwei typischen Arten stets verkannt worden sei: indem man nur das Schicksal oder nur den Zufall für Veränderungen verantwortlich machte. Ersteres haben in paradigmatischer Weise die Stoiker, zweiteres die Epikureer getan.

Die Geschichte der Institutionen, konkret die Rechtsgeschichte gibt die wesentlichen Hinweise für die menschliche Natur:
SN I,2, Nr.132-133:

"Die Gesetzgebung betrachtet den Menschen wie er ist, um daraus für die menschliche Gesellschaft Nutzen zu ziehen; so macht sie aus der Grausamkeit, der Habsucht und dem Ehrgeiz - welche drei Laster das gesamte Menschengeschlecht verwirren - die Kriegskunst, den Handel und die Staatskunst; also die Kraft, den Reichtum und die Weisheit der Gemeinwesen; solcher Art schafft sie aus jenen drei großen Lastern, die sonst ohne Zweifel die menschliche Erzeugung auf der Erde vernichten würden, einen glücklichen bürgerlichen Zustand.
Dieser Grundsatz zeigt, daß hier göttliche Vorsehung mitwirkt, und daß sie ein göttlicher gesetzgebender Geist ist: der aus den Leidenschaften der Menschen (die alle nur an ihrem persönlichen Nutzen hängen und deshalb wie wilde Tiere in den Wüsten leben würden) die bürgerlichen Ordnungen hervorbringt, durch die sie in menschlicher Gemeinschaft leben können."

Hier ist ein Gedanke ausgesprochen, der die gesamte SN durchzieht: der Unterschied zwischen Motiv und Folge einer Handlung. Ersteres ist zerstörend, letztere aufbauend. Wichtig ist jeweils der institutionelle Kontext, innerhalb dessen die Handlungen von Menschen ausgeführt werden. Weil die Menschen in einer gesetzlich geordneten Welt leben,führen Grausamkeit, Habsucht und Ehrgeiz sie dazu, Soldaten, Kaufleute und Staatsmänner zu werden und so zum öffentlichen Wohl beizutragen.

Philosophie also, wenn sie den Menschen leiten soll, muss diese Konstanten und zugleich den institutionellen Kontext berücksichtigen, in dem die einzelnen handeln. Darum ist es ein Vorwurf, wenn Vico die Stoiker und Epikureer als "mönchisch und einzelgängerisch" kennzeichnet: sie übersehen die Gesellschaftsnatur des Menschen.

Die Frage, ob das Gesetz von Natur aus existiere oder ob der Mensch von Natur gesellschaftsfähig sei, beantwortet Vico damit, dass der Mensch immer schon in Gesellschaft gelebt habe und die Gesellschaft für ihn notwendig sei. Diese Henne-Ei-Frage ist damit gelöst:
SN I,2, Nr.134:

"Die Dinge passen sich nicht an und bestehen nicht außerhalb ihres natürlichen Zustands."

Das setzt eine logische Verbindung zwischen Recht und Gesellschaft voraus. "Gesellschaft" ist für Vico eine legal-strukturierte Form von Zusammenschluß. Es kann daher gar nicht die Frage sein, ob die Gesellschaft ein Produkt des Rechts sei oder eins von beiden etwas anderes wäre als eine notwendige Folge aus der Natur des Menschen. Die Gesellschaftlichkeit des Menschen ist für Vico grundlegend, keiner Erklärung mehr bedürftig, selbst ein Prinzip der Erklärung.

Aber wenn auch die gesellschaftliche Natur als solche keiner Erklärung bedarf, so trifft dies doch nicht für irgendeine der verschiedenen einzelnen Formen sozialer Organisation zu, die entstanden und wieder vergangen sind. Vicos Auffassung von der Sozialnatur des Menschen hängt daher wesentlich mit der These vom gesellschaftlichen Wandel zusammen, wofür zwei Begriffe einschlägig werden: der "gemeinsame Sinn" und das "natürliche Recht".
SN I,2, Nr.141-142:

"Der menschliche Wille, seiner Natur nach höchst schwankend, festigt und bestimmt sich nach dem allen Menschen gemeinsamen Sinn für das, was ihnen notwendig oder was ihnen nützlich ist: welches die beiden Quellen sind des natürlichen Rechts der Völker.
Dieser allen gemeinsame Sinn ist ein Urteil ohne alle Reflexion, allgemein empfunden von einer ganzen Gruppe, einem ganzen Volke, einer ganzen Nation oder dem gesamten Menschengeschlecht."

Der menschliche Wille sei also von Natur aus nicht klar zielgerichtet, d.h. Vico schildert den Menschen als Naturwesen ohne ausreichenden Instinkt. Dennoch sind die Menschen handlungsfähig, verhalten sich in ganz bestimmter Weise: das ist bewirkt durch den "senso comune", den "gemeinen Menschenverstand".

Unter den Philosophen, die über die menschliche Natur und die Freiheit des Willens nachgedacht haben, gibt es wiederum zwei Extreme: die Deterministen und die Indeterministen. Erstere (z.B. die Stoiker oder auch Spinoza) behaupten, ein Schicksal bestimme alles. Vico leugnet demgegenüber nicht jede Bedingtheit, wohl aber die metaphysische Determiniertheit.

Menschliche Geschichte darf nach Vico nicht als das Produkt irgendeiner transzendenten, kosmischen Notwendigkeit gedacht werden. Vico wendet sich aber ebenso gegen die Auffassung der "Epikureer", denen zufolge die Formen des gesellschaftlichen Lebens ein zufälliges Ergebnis der individuellen Tätigkeiten von Menschen sind. Auch dies werde "von den Tatsachen widerlegt" (SN, Nr. 1109); die Forschung zeige vielmehr, dass eben dieselben Folgen und Systeme von Institutionen bei allen Völkern der Vergangenheit entstanden sind. Solche Ähnlichkeiten müssen auf eine gemeinsame Ursache hinweisen und sprechen somit ganz gegen die These von der Zufälligkeit.

Der Begriff, mit dem Vico zwischen Fatum und Zufälligkeit vermitteln will, ist der
"senso comune":
- ein "Urteil ohne Reflexion";
- er wird geteilt von "einer ganzen Klasse, einem ganzen Volk, einer ganzen Nation oder der ganzen menschlichen Rasse."
- Er ist befasst mit "menschlichen Bedürfnissen oder Vorteilen", die selbst wiederum
- die "beiden Quellen des Naturrechts der Völker" sind.

Eines der Beispiele Vicos sei angeführt, die das Wirken dieses "senso comune" belegen sollen.
SN I, 4, Nr. 341:
"... da die Menschen wegen ihrer verderbten Natur tyrannisiert werden von der Selbstsucht, vermöge derer sie hauptsächlich nur ihren eigenen Vorteil verfolgen, und diesen Vorteil nur für sich, in keiner Weise für ihren Nächsten wünschen, so können sie ihren Leidenschaften nicht die Richtung nach der Gerechtigkeit geben. Daher stellen wir fest, daß der Mensch im bestialischen Zustand nur seine eigene Wohlfahrt liebt; hat er eine Frau genommen und Kinder erzeugt, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der seiner Angehörigen; ist er zum Leben in der Gesellschaft gelangt, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der des Gemeinwesens; dehnt sich die Herrschaft über mehrere Völker aus, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt der Nationen; sind schließlich die Nationen durch Kriege, Friedensschlüsse, Bündnisse und Handelsverkehr geeint, so liebt er seine Wohlfahrt zugleich mit der Wohlfahrt des ganzen menschlichen Geschlechts; in all diesen Umständen liebt der Mensch vorzüglich den eigenen Vorteil. Also kann er von niemand anders als von der göttlichen Vorsehung innerhalb solcher Ordnungen gehalten werden, daß er sein Leben in Gerechtigkeit als Glied der familiären, der staatlichen und endlich der menschlichen Gesellschaft führt; durch diese Ordnungen wird er dazu bestimmt, da er nicht erlangen kann, was er will, das zu erstreben, was ihm an Vorteil zukommt; und das ist, was man "gerecht" nennt."

Die Eigenart der jeweiligen Institutionen bestimmt die gesellschaftliche Autorität des einzelnen. Die Institutionen legen den jeweiligen Begriff von Eigeninteresse fest; insofern dient, was er aus "besonderen Zwecken" tut, jeweils einem "weiteren Ziel": dieser "Geist" (SN, Nr. 1108), der die "weiteren Ziele" hat, ist aber nicht trans—zendent, sondern besteht eben in der Intelligenz menschlicher Handelnder unter dem bestimmenden Einfluß menschlicher Institutionen. Die Vorstellungen davon, was gerecht und menschenwürdig ist, legen fest, welche neuen sozialen Verhältnisse annehmbar sind - und sie sind selbst wieder von früheren Institutionen bestimmt. Vico setzt voraus, dass die Eigenliebe jedes einzelnen, verbunden mit der notwendigen Ausbreitung seiner Interessen bereits genügt, um einen schließlich allgemeinen Ausgleich der Interessen aller herzustellen. Die verschiedenen Stadien der Gesellschaft in ihrer zeitlichen Abfolge folgen dabei gewissermaßen zwangsläufig einem historisch-soziologischen Gesetz.

Es gibt neben diesem veränderlichen "senso comune" aber auch einen für alle Menschen aller Zeiten: weil es so etwas gibt, ist historische Erkenntnis überhaupt möglich. Vico nennt in diesem Zusammenhang die drei "ersten Grundzüge dieser Wissenschaft": die Institutionen von
Religion;
Ehe;
Totenbestattung:
SN I, 3,
Nr.332: "Da nun die Welt der Völker von den Menschen gegründet worden ist, so wollen wir zusehen, in welchen Dingen die Menschen zu allen Zeiten übereingestimmt haben und immer noch übereinstimmen; denn diese Dinge können uns die allgemeinen und ewigen Grundlagen geben, deren jede Wissenschaft bedarf, auf denen alle Völker entstanden sind und sich in staatlicher Ordnung erhalten.
Nr. 333: Betrachten wir alle Völker, barbarische und zivilisierte, durch ungeheure Abstände des Ortes und der Zeit getrennte, auf verschiedene Art gegründete: so beobachten sie alle folgende drei menschliche Sitten: sie haben alle irgend eine Religion, sie schließen alle die Ehen in feierlicher Form; sie begraben alle ihre Toten; und auch bei den wildesten und rohesten Völkern gibt es keine menschlichen Handlungen, die mit ausgesuchteren Zeremonien und mit strenger geheiligten Formen begangen werden, als Religionsübungen, Ehen und Begräbnisse. Darum muß wegen des Grundsatzes, daß gleiche Ideen, die bei einander unbekannten Völkern allgemein entstehen, einen gemeinsamen Untergrund an Wahrheit haben müssen, es für alle gelten, daß von diesen drei Dingen bei ihnen allen die menschliche Gesittung ausging,und daß sie darum von allen aufs Heiligste bewahrt werden müssen, damit die Welt nicht von Neuem verwildere und in den Urwaldzustand zurückfalle. Daher haben wir diese drei ewigen und allgemeinen Gebräuche als die drei ersten Prinzipien unserer Wissenschaft genommen."

Die allen gemeinsame Denkart besteht also zumindest in dem Glauben an eine vorsehende Gottheit, die Notwendigkeit der geregelten Erbfolge und die Unsterblichkeit der menschlichen Seele.

Dafür sucht Vico nun den Beweis der Ausnahmslosigkeit zu führen. Gewöhnlich tut er das in zwei Schritten: (1) es gibt keine Ausnahmen und (2) es kann keine Ausnahmen geben. Wenn die drei Grundzüge in allen Gesellschaften auftreten, so müssen sie auftreten. Im Fall der Ehe z.B. zeigt er diese Notwendigkeit, indem er auf die mangelnde Fürsorge für Nachkommen bei Eltern hinweist, "die kein gesetzliches Band notwendig zusammenhält"; deren Kinder bleiben, "von beiden verlassen, dem Schicksal ausgesetzt, von den Hunden gefressen zu werden..." (Nr. 336) Dem liegt die Grundannahme von der Korruptheit des Menschen zugrunde, der ohne Zwang nicht gerecht sein kann; diese wird nicht weiter diskutiert.

Was mithin der Geschichte aller Völker gemeinsam ist, ist eine Reihe von soziologischen Bedingungen und einige Merkmale der Menschennatur, aufgrund deren die Gesellschaft funktioniert. Dabei können die historischen Varianten von Gottesglaube, Ehe und Unsterblichkeitsglaube sehr verschieden sein.

Neben dem "senso comune" ist die zweite Bedingung für den konkreten Zustand einer Gesellschaft ihr "natürliches Recht":
SN I,2, Nr. 141:
"Der menschliche Wille, seiner Natur nach höchst schwankend, festigt und bestimmt sich nach dem allen Menschen gemeinsamen Sinn für das, was ihnen notwendig oder was ihnen nützlich ist: welches die beiden Quellen sind des natürlichen Rechts der Völker."

Es handelt sich jeweils um zwei Arten von Recht in einer Gesellschaft:
(1) Das gesatzte Recht als Ergebnis legaler Mechanismen;
(2) Auffassungen davon, was richtig und gerecht ist.

Zweiteres kann die Quelle für Bewegungen zu Veränderungen von Lebensformen und -bedingungen sein, ersteres nicht. Dieses letztere meint Vico hier mit dem "natürlichen Recht".
Vico verknüpft das natürliche Recht mit den Sitten und betont, dass  beide der Natur der Völker entspringen. Allgemeine Anschauungen über Recht und Gerechtigkeit sind nicht willkürlich, sondern notwendige Konsequenzen der Glaubenssätze, Haltungen und Denkweisen, die mit jeder institutionellen Rolle verbunden sind.
Sie sind also objektiv, insofern sie von jedem, der diese Rolle teilt, als notwendig angesehen werden. Für alle anderen haben sie nichts Zwingendes.

Diese These vertritt Vico gegenüber Naturrechtstheoretikern (wie H. Grotius und Pufendorf), die ein einziges System natürlichen Rechts für alle Menschen annehmen: sie machen einen Fehler in der Voraussetzung, dass ein Rechtssystem, das in einem gegebenen institutionellen System objektiv ist, diese Geltung in jedem System haben müsse. Der Begriff der natürlichen Gerechtigkeit wird von Vico also seinem Inhalt nach durch die gesellschaftliche Organisation der jeweiligen Zeit bestimmt und erklärt: es handelt sich um einen geschichtlich-gesellschaftlichen Begriff. Wenn also geschichtlich Handelnde den oder jenen Aspekt ihrer Gesellschaft verändern wollen, so wissen sie teilweise, was sie wollen. Sie mögen subjektiv aus egoistischen Motiven handeln, am Ende wird doch die für alle - unter den gegebenen Umständen - annehmbarste Gesamtlösung resultieren.

Es gibt also eine zweifache Beziehung zwischen Institutionen und natürlichem Recht: ein gegebenes institutionelles System macht eine Lebensform möglich, die ihren Schöpfern gerecht erscheint. Gleichzeitig schafft sie die Grundlage für jede neue Konzeption von Gerechtigkeit, die sie ablösen soll. Dass historische Veränderung stattfindet, liegt in der lasterhaften Natur des Menschen begründet, die ihn zur Unzufriedenheit treibt.

Menschennatur und geschichtliche Veränderung

Die Theorie der historischen Veränderung der menschlichen Natur ist in der These von der sozialen Veränderung impliziert
SN,I,2, Nr. 147-148:
"Die Natur der Dinge ist nichts anderes als ihr Entstehen in bestimmten Zeitläuften und unter bestimmten Umständen; jedesmal, wenn diese so sind, entstehen die Dinge daraus so und nicht anders.
148: Die von den Gegenständen untrennbaren Eigenschaften müssen erzeugt worden sein durch die Modifikation oder Art, mit der die Dinge entstanden sind; daher können uns solche Eigenschaften bezeugen, daß so und nicht anders Natur oder Entstehung jener Dinge ist."

Diese Axiome drücken eine logisch sehr starke Relation zwischen den Bedingungen, unter denen Institutionen entstehen, und ihrer Natur aus: Zeitläufte und Modifikationen werden zuerst dargestellt als die hinreichenden Bedingungen von Institutionen - denn immer wenn "diese so sind", sind auch die Institutionen entsprechend so. Aber es sind auch Institutionen hinreichende Bedingungen für Zeitläufte und Modifikationen, denn aus den Eigenschaften ersterer können die letzteren bezeugt werden. Daher sind "Zeitläufte und Modifikationen" sowohl hinreichende wie notwendige Bedingungen, und Institutionen sowohl hinreichende als auch notwendige Bedingungen für Zeitläufte und Modifikationen; es handelt sich um eine Relation gegenseitiger Implikation.

Die Schwierigkeit der Interpretation, die sich daraus ergibt, wird von idealistischen Interpreten so gelöst, dass sie die Rolle eines "Geistes" betonen, der dem objektiven Geist entspricht, den Hegel annimmt. Vicos grundlegende erkenntnistheoretische Aussage in diesem Zusammenhang ist, daß, da "diese historische Welt ganz gewiß von den Menschen gemacht worden ist" ... "in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes ihre Prinzipien aufgefunden werden" können. (SN, Nr. 331) Hierbei wird allerdings kein Beispiel für einen Anwendungsfall gegeben. Ein solches findet sich jedoch in Buch II/I/1:
SN Nr. 374:
"Von solchen ersten Menschen - also stumpfsinnigen, blöden und schrecklichen Bestien - hätten alle Philosophen und Philologen bei der Untersuchung der antiken Weisheit ausgehen müssen; von den Giganten also, im eigentlichen Sinne des Wortes. ...
Nr. 375: Die poetische Weisheit, die die erste Weisheit des Heidentums war, mußte mit einer Metaphysik beginnen, und zwar nicht mit einer abstrakten und verstandesmäßigen, wie die der Gelehrten, sondern einer sinnlich empfundenen und durch Einbildungskraft vorgestellten, wie es solchen ersten Menschen entspricht, die gar kein Nachdenken, aber ganz starke Sinne und mächtige Phantasie besaßen."

Diese ersten Menschen hatten "starke Sinne und mächtige Phantasie", aber wenig Intellekt. Setzt man assoziative Prinzipien voraus, die die Phantasie lenken, so ergeben sich darauf Religion, Sprache und andere Institutionen der Primitiven; diese erfüllen bestimmte Bedürfnisse. Die "Zeit" bezeichnet also ein bestimmtes Stadium der Entwicklung des Menschengeistes und der Institutionen. Im "poetischen" Zeitalter wird alles sinnlich empfunden, die ganze Natur wird als belebt aufgefasst und dies hat Rückwirkungen auf die Institutionen. Zu einer andern "Zeit" wieder nehmen die Fähigkeiten des Menschen - und damit seine Institutionen - einen quasi-logischen Charakter an.

Durch die Einführung der "Zeit" als konstitutives Element der Institutionen will Vico den Irrtum des begrifflichen Anachronismus vermeiden, also die "Anmaßung der Gelehrten"; dieser Irrtum entsprang der mißverstandenen Annahme, dass die Ideen und Institutionen aller historischen Zeitalter Ausdruck einer festen und in der Geschichte unveränderlichen menschlichen Natur seien. Vicos Annahme, die "Zeit" sei konstitutiv, erlaubt den Begriff einer Entwicklung der menschlichen Natur.

Das wird deutlich an seiner Kritik am Naturrecht, wie Pufendorf und Grotius es vertreten haben: diese analysieren die Voraussetzungen des Denkens in ihrer verhältnismäßig rational strukturierten Zeit und behaupten, dieselben Bedingungen hätten immer gegolten. Das meint Vico, wenn er vom "Naturrecht der Philosophen" spricht und darunter den Glauben versteht, "daß die natürliche Rechtsauffassung in ihrer höchsten Vollendung den heidnischen Nationen seit ihren ersten Anfängen verständlich gewesen sei..." (SN, Nr. 329)
Dem entgegen behauptet Vico, dass die Fähigkeit, abstrakt zu denken, selbst ein historisches Produkt sei, eine "Modifikation" des Menschengeistes zu bestimmten, aber nicht zu allen Zeiten.

Stellen nun die durch Institutionen und Bewußtsein gegenseitig bedingten Veränderungen insgesamt eine Fortschritt, eine Entwicklung dar? Diese Frage ist an Hand von Vicos Begriff der "Vorsehung" zu untersuchen.

Die Vorsehung

Die Schwierigkeit liegt darin: Vico behauptet, die Geschichte werde von Menschen gemacht und gleichzeitig, sie sei das Werk der Vorsehung. Wie ist das verträglich?

Wir haben drei Begriffe zu unterscheiden, die mit dem Ausdruck "Vorsehung" (providenza) bezeichnet werden:
a) historisch wirksame Vorsehung
b) geschichtsimmanente Vorsehung und
c) transzendente Vorsehung.

Der mit a) angesprochene Begriff von "Vorsehung" hat Bedeutung für die Geistesgeschichte: es handelt sich um den Glauben, dass Gott in die Geschichte eingreift bzw. in ihr wirkt. Diese Glaube ist nach Vico grundlegend, er gehört zu den drei Prinzipien. Dieser Glaube selbst soll aber ein Werk der "Vorsehung" sein:

SN Nr.132-133, vgl. oben
Hier wird ein Argument in vier Schritten entwickelt:
(1) Die Menschen sind von Natur lasterhaft und wenn ihr Verhalten nur von ihrer individuellen Natur kontrolliert würde, so würden sie einander vernichten.
(2) Durch ihr Handeln innerhalb eines gesetzlichen Zusammenhanges indessen bilden sie bürgerliche Ordnungen, in denen ihre individuellen Laster auf natürliche Weise zu einem glücklichen gesellschaftlichen Leben aller beitragen.
(3) Diese Tatsachen beweisen, dass es Kräfte gibt, die zum Wohl der Menschen arbeiten und die von dessen eigener Natur verschieden sind, dh. dass es göttliche Vorsehung gibt.
(4) Dies wiederum beweist die Existenz eines "göttlichen gesetzgebenden Geistes".

Wichtig ist hier der Schritt von (3) zu (4):
in (3) wird "Vorsehung" mit bestimmten gesellschaftlichen Strukturen identifiziert und ist daher immanent;
in (4) wird "Vorsehung" zum Geist und damit transzendent.

Der immanente Vorsehungsbegriff macht dann keine theoretische Schwierigkeit, wenn er nur als ein anderer Ausdruck für die Gesellschaftsnatur des Menschen gesehen werden kann.
Die transzendente "Vorsehung" indessen kann nicht als grundlegend für die These der SN angesehen werden; sie ist vielmehr aus der immanenten "Vorsehung" hergeleitet. Letztere aber ist mit dem "senso comune" selbst zu identifizieren. (Vgl. SN II, 5, Nr. 630: die "Vorsehung" wirkt auf ganz natürliche Weise).
Es bleibt eine offene Frage, ob Vico den naturalistischen Charakter seiner Theorie selbst deutlich erkannt und etwa durch sein häufiges Betonen der Rolle der "Vorsehung" zu verdecken gesucht hat, oder ob etwa seine christliche Überzeugung ihn hinderte, zu sehen, dass es sich bei seiner Rede von der "Vorsehung" tatsächlich nur um leere Behauptungen handelte.

Einwände

Gegen Vicos Auffassung vom Verhältnis zwischen den Handlungen einzelner Menschen und dem Geschichtsablauf können verschiedene Einwände vorgebracht werden:

Einwand 1: Vico denkt, dass der Mensch einen freien Willen hat. Insofern also seine Handlungen ein willkürliches Element beinhalten, gibt es darüber keine echte Wissenschaft. Andererseits ist der Geschichtsverlauf durch historische und soziologische Bedingungen nichtpersonaler Art bestimmt. Das scheint nicht vereinbar.
Antwort: Vico bezieht sich mit letzterer Aussage nur auf Institutionengeschichte. Seiner Auffassung nach ist das individuelle Handeln nicht gleichgültig für Erklärungen in der Geschichte überhaupt, wohl aber für die Erklärung von Institutionengeschichte.

Einwand 2: Wenn man von gesellschaftlichen Zwecken oder Zielsetzungen spricht, so meint man doch auch Zwecke von einzelnen.
Antwort: Es ist richtig, dass gesellschaftliche Ziele (nur) von Individuen vertreten werden. Aber was die Erklärung historischer Ereignisse angeht, so darf man nicht das rein Individuelle daran betrachten, sondern muss die gesellschaftliche Stellung, Verflochtenheit, Wirksamkeit des einzelnen sehen. Will man die rassenpolitischen Maßnahmen erklären, die Hitler befohlen hat, so reicht es nicht hin, bloß seine persönlichen Eigenschaften und Auffassungen zu schildern.

Einwand 3: Es kommt alles darauf an, ob derjenige, der eine bestimmte Rolle in einer Gesellschaft spielt, intelligent oder borniert, optimistisch oder pessimistisch etc. ist. Ist es nicht richtig, dass der Zweite Weltkrieg nicht ausgebrochen wäre, hätte es nicht an entscheidender Stelle so jemanden wie Hitler gegeben?
Dabei muss nicht vorausgesetzt werden, dass die Handlungen Hitlers die einzige oder die entscheidende Kriegsursache waren. Er konnte nur unter den gegebenen Verhältnissen (der ökonomischen und sozialen Situation in Deutschland, dem Antikommunismus etc.) dies bewirken. Aber diese Verhältnisse waren doch nicht hinreichend: es mußte jemand da sein von Hitlers Fanatismus. Das Auftreten eines solchen Individuums aber ist letztlich zufällig, mindestens nicht durch solche Faktoren bewirkt wie Vico sie anführt. Deshalb können die Entscheidungen von Individuen bei der Erklärung geschichtlicher Prozesse nicht außer acht gelassen werden.
Antwort:
a) Zum Teil hätte Vico den Einwand wohl akzeptiert. Er leugnet nicht, dass die individuellen Fähigkeiten von einflußreichen Einzelnen wichtig sind. Er bewundert den Augustus und stellt fest, der Untergang Roms hätte sich schon früher abgespielt, wenn Augustus nicht gewesen wäre. Vgl. SN, Nr. 1102-03. Jedoch meint er, der Untergang wurde eben nur zeitweise aufgehalten, da seine Ursache in Bedingungen gelegen sei, die zu elementar waren, um von den Entscheidungen eines einzelnen berührt zu werden.
b) Der Einwand übersieht: es ist irreführend, wenn man annimmt, die Handlungen irgend eines Individuums wären als solche schon folgenreich. Z.B. muss jeder Herrscher Unterstützung haben. Hitler handelt nicht isoliert oder im Gegensatz zu ganz Deutschland: seine Politik wird geduldet oder unterstützt von hinreichend vielen Menschen, um folgenreich zu sein. Also ist das Echo das eigentlich Entscheidende, das jemand in bestimmter - zeitlich-räumlicher - Umgebung findet. Nicht zu jeder Zeit werden dieselben Typen groß. Vgl. dazu SN Nr. 243.

Einwand 4: Bei Vico ist nur von institutionalisiertem Geschehen die Rede, als ob nur institutionelle Prozesse geschichtlich genannt werden könnten. Tatsächlich aber beweist jede Biographie, das dies nicht zutrifft.
Antwort: Um eine Biographie zu verstehen, ist die Kenntnis der Bräuche, Gewohnheiten und Lebensbedingungen notwendig, sonst bleiben die Entschlüsse und Handlungen des einzelnen ganz unverständlich.

Diese Erläuterungen verweisen auf eine begriffliche Unterscheidung, die Vico auch in terminologischer Weise trifft, wenn er zwischen Wissen und Bewußtsein, zwischen Wahrem und Gewissem und zwischen Philosophie und Philologie trennt.
SN I, 2, Nr. 137:
"Die Menschen, die das Wahre über die Dinge nicht kennen, sorgen, sich an das Gewisse zu halten; damit, wenn sie dem Verstand nicht genug tun können durch die Wissenschaft, zu mindest der Wille sich stütze auf das Bewußtsein."

Wahres gehört zur Wissenschaft, hingegen ist Gewisses, auch Bewußtsein, nur ein Surrogat dafür. In Element XXII schließt er sich an die aristotelische Festsetzung an: die Wissenschaft handelt vom Allgemeinen und Ewigen. Gewiß hingegen wäre, was in richtiger Weise vom Besonderen und Vergänglichen handelt. Tatsächlich findet sich in Element CXI der Hinweis: "certum" heiße in gutem Latein "auf den Einzelfall bezogen" oder, wie die Schulen sagen, "individuatum".

Diese Interpretation von "il vero" und "il certo" wird auch durch die Unterscheidung zwischen "Philosophie" und "Philologie" gestützt:
SN I, 2, Nr. 138:
"Die Philosophie betrachtet die Vernunft, und daraus entsteht die Wissenschaft des Wahren; die Philologie beobachtet, was die menschliche Willkür als Gesetz aufgestellt hat, und daraus entsteht das Bewußtsein von dem, was gewiß ist."

"Philolog" heißt hier ziemlich genau, wer heute "Historiker" heißt. nur in gegenseitiger Kritik und Anregung von "Philologen" und "Philosophen" liegt beider Nutzen.

Ideale ewige Geschichte

SN IV, Einl., Nr. 915:
"... wollen wir nun ... entsprechend unseren Grundsätzen über die ewige, ideale Geschichte, in diesem vierten Buch hinzufügen den Lauf, den die Völker nehmen, indem wir mit beständiger Gleichförmigkeit bei all ihren mannigfaltigen und so sehr verschiedenartigen Sitten verfahren nach der Einteilung in die drei Zeitalter der Ägypter: die Zeitalter der Götter, der Heroen und der Menschen; denn nach dieser Einteilung sehen wir die Völker sich entwickeln in beständiger und niemals unterbrochener Ordnung von Ursachen und Wirkungen; und zwar geht diese Ordnung durch drei Arten von Naturen; aus ihnen entstehen drei Arten von Sitten; in diesen beobachtet man drei Arten von natürlichem Recht; aus solchem Recht ergeben sich drei Arten von politischen Verfassungen oder Republiken; und damit die zur menschlichen Gesellschaft gelangten Menschen sich diese drei Arten von wichtigsten Dingen gegenseitig mitteilen konnten, bildeten sich drei Arten von Sprachen und ebensoviele von Charakteren; um sie zu rechtfertigen, drei Arten von Rechtswissenschaft, unterstützt von drei Arten von Autorität und von Rechtsauffassung, in drei Arten von Gerichten...

Corsi e ricorsi

Vico sieht in der Geschichte eine dialektische Struktur der Entwicklung des menschlichen Wissens, die als spiralförmige Wiederkehr von Aufstiegen und Abstiegen ("corsi e ricorsi") vorgestellt wird. Jeweisl verlaufen diese auf einander aufbauenden Zyklen von einem bestialischen zu einem zivilisierten Zustand, wobei aber das vorige Stadium nicht gänzlich ausgelöscht wird. Er sieht den klaren Fall dieses Verlaufs in der "Wiederkehr" primitiver Zustände nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches.