Universität Wien

Franz Martin Wimmer

Geschichtsphilosophie: Begriffe und Grundtypen

Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie WS 2013

Übersicht gesamt:

1. Vorlesung: Begriffliches, Bedeutungen von "Geschichte", Geschichtstheorie als Theorie von "stories" (H. White)
2. Vorlesung: Thema 1: Vorstellungen zum Verlauf von Geschichte
3. Vorlesung: Thema 2: Akteure und Faktoren
4. Vorlesung: Thema 3: Annahmen von Gesetzmäßigkeiten
5. Vorlesung: Thema 4: Erkennbarkeit - idiographisch vs nomothethisch
6. Vorlesung: Thema 5: Erklärbarkeit - hermeneutisch vs szientistisch
7. Vorlesung: Thema 6: Perspektivität und Objektivität


Erste Vorlesung (1. und 8. 10. 2013)

Übersicht dieser ersten Vorlesung:
1.1 Das Wort: "Geschichtsphilosophie"
1.2 Die Gegenstände: "Geschichte" im dreifachen Sinn
1.3 Geschichte als Theorie von "stories" (Whites "Metahistory")


1.1. Vorbemerkung 1: Zum Wort — "Geschichtsphilosophie"

Die erste, erfahrungsgemäß leider notwendige, Bemerkung bezieht sich auf das Wort "Geschichtsphilosophie", das einen Genitiv enthält. Es wird leider manchmal missverstanden, zuweilen sogar mit "Philosophiegeschichte" verwechselt. Das ist so, wie wenn man ein Gasthaus mit einem Hausgast verwechseln würde.

Immer ist es das zweite Hauptwort, das im Deutschen die Grundbedeutung in einem zusammengesetzten Hauptwort angibt, während das erste diese spezifiziert.

Ein Gasthaus ist ebenso ein Haus wie ein Krankenhaus oder ein Warenhaus. Nur ist das erste vor allem für Gäste, das zweite für Kranke und das dritte für Waren da.

Der Hausgast ist kein Haus, sondern ein Gast im Haus. Als solcher unterscheidet er sich von einem Hotelgast, der auch ein Gast ist, wenngleich im Hotel.

Also ist Geschichtsphilosophie nicht Geschichte von Philosophie, sondern Philosophie von Geschichte. Geschichtsphilosophie ist ebenso Philosophie wie Rechtsphilosophie oder Sprachphilosophie, nur befassen sich diese (philosophischen) Disziplinen eben mit unterschiedlichen Dingen: mit Geschichte, Recht, Sprache.

Der Hausgast ist kein Haus ... Dann können wir auch sagen, was aber nicht ganz so klar ist: Die Philosophiegeschichte ist nicht Philosophie, sie ist oder betreibt Geschichte.

"Philosophiegeschichte" oder "Geschichte der Philosophie" ist diejenige Disziplin, die sich mit Philosophie der Vergangenheit befasst, ganz im allgemeinen. Das kann metaphysisches, ethisches, naturphilosophisches, rechts- oder sprachphilosophisches Denken sein, von dem wir aus der Vergangenheit Kenntnis haben. Sprachphilosophie ist beispielsweise philosophische Reflexion über Sprache, Rechtsphilosophie reflektiert Fragen des Rechts, der Gerechtigkeit usw. Und natürlich gibt es eine Geschichte der Sprachphilosophie und der Rechtsphilosophie, in der beispielsweise Platons diesbezügliches Denken eine Rolle spielt und dargestellt wird.

"Geschichtsphilosophie" ist philosophisches Denken, dessen Gegenstand "die Geschichte" ist.

"Die Geschichte" kann beispielsweise die "Vergangenheit menschlicher Gesellschaften" überhaupt (1. Ebene) oder auch deren Erforschung oder Beschreibung in der "Geschichtswissenschaft" (2. Ebene) bezeichnen.

 

 

Da es auch geschichtsphilosophisches Denken in der Vergangenheit gegeben hat, kann es eine "Geschichte der Geschichtsphilosophie" geben. Und Einiges daraus dieser ist Gegenstand dieser Vorlesung.

 


1.2. Vorbemerkung 2: Drei Gegenstände namens "Geschichte"

Als zweite Vorbemerkung müssen wir leider gleich sagen:

Die Geschichtsphilosophie gibt es nicht.

Und auch: Die Geschichte gibt es nicht.

Was es gibt, sind unterschiedliche (auch, nicht nur: philosophische) Wege, sich mit denjenigen Gegenständen zu befassen, die wir im Neuhochdeutschen mit dem Substantiv "Geschichte" bezeichnen. Es handelt sich zunächst einmal um drei sehr verschiedene Gegenstände. Ich werde sie hier in der Schreibweise unterscheiden und von Geschichte, von Geschichte und von Geschichte reden.

Als Geschichte bezeichnen wir den Inhalt irgendeiner Erzählung, unabhängig davon ob dieser irgendeiner Realität außerhalb der Erzählung entspricht oder nicht. Die österreichische Wendung, jemand würde "G'schichten drücken", unterstellt sogar, dass "G'schichten" etwas seien, was gerade nichts mit Realität oder Wahrheit zu tun hat.
Das Englische unterscheidet hier sprachlich, nennt das "story", nicht "history".

Die zweite Bedeutung von Geschichte — das Wort hier in der Einzahl zu verwenden ist im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert üblich geworden —, bezieht sich auf etwas, das jemand an der Universität Wien studieren, in einer Schule unterrichten oder auch als Hobby betreiben kann. Es handelt sich um einen geordneten Umgang mit Zeugnissen aus menschlicher Vergangenheit. Wer "geschichtlich interessiert" ist, wird sich mit geistigen Produkten von Menschen beschäftigen, die Geschichte betrieben haben oder wird selbst Geschichte treiben. Was dabei genau zu tun und nicht zu tun ist, kann gelernt werden. Geschichte ist eine Wissenschaft. Im allgemeinsten Sinn ist es die Wissenschaft von menschlicher Vergangenheit.

Vergangenheit selbst wird im Deutschen — wie auch im Englischen, Französischen und anderen Sprachen — mit dem gleichen Wort wie die Wissenschaft, nämlich als Geschichte (history, histoire etc.) bezeichnet.
Entsprechend dem gängigen Sprachgebrauch bezeichnet Geschichte jedoch nicht "Vergangenheit" ganz im Allgemeinen und überhaupt, sondern lediglich einen kleinen Teil davon, nämlich, grob gesprochen:
-- nur Vergangenheit, in der Menschen eine Rolle gespielt haben;
-- davon wiederum nur, soweit Kenntnis darüber besteht und
-- sofern irgend eine Fortwirkung in die Gegenwart angenommen wird.

Zwischen diesen drei Gegenständen bestehen aber keine geringen Unterschiede.

Wir können z.B. fragen wollen, "ob Geschichte Sinn hat". Das sind dann entsprechend eben drei verschiedene Fragen:

Eine Geschichte hat zum Beispiel Sinn, wenn sie eine gewisse narrative Einheit darstellt. Das hat nichts mit Wahrheit oder Erfindung zu tun.
Auch ohne solche "innere Einheit" kann eine Geschichte Sinn machen oder haben in ihrem (zeitlichen, kulturellen etc.) Kontext.

Von Geschichte als einer (akademischen) Disziplin können wir sagen, dass sie Sinn hat, wenn sie einen Zweck erfüllt. Ein solcher Zweck könnte zum Beispiel darin liegen, dass Menschen aus Fehlern oder auch aus Erfolgen in der Vergangenheit lernen. Dazu müsste die Kenntnis dieser Vergangenheit zuverlässig und einschlägig sein, sie müsste auf gegenwärtige Fragestellungen oder Probleme übertragbar bzw. anwendbar sein.

Ob Geschichte Sinn hat, ist eine gänzlich andere Frage. Sie könnte etwa bedeuten, dass wir nach dem "Sinn" der Entstehung und dem Aussterben von Arten (als Sinn der Naturgeschichte) fragen;
oder nach dem "Sinn" des Aufstiegs und Zerfalls menschlicher Organisationen;
oder nach dem "Sinn" von Vergänglichkeit überhaupt. Usw.

Oder wir können fragen, "ob es in der Geschichte Irrtümer gibt". Das sind auch wieder drei verschiedene Fragen:

In einer Geschichte könnte ein "Irrtum" darin bestehen, dass deren innere Logik verletzt wird. Aber das könnte auch wieder im jeweiligen Kontext "richtig" sein.
Beispiel: Wenn der Frosch, den die Prinzessin küsst, zu einem Prinzen mit Querschnittlähmung wird, ist die Märchenlogik verletzt.

In der Wissenschaft Geschichte kann man Irrtümer begehen und zu Erkenntnissen gelangen wie in jeder anderen Wissenschaft.
Ein "Irrtum" könnte z.B. darin gesehen werden, dass Daten über vergangene Ereignisse objektiv falsch verstanden/interpretiert werden.
Beispiel: Wenn Heribert Illig Recht hat, so ist jetzt nicht das Jahr 2013, wie allgemein angenommen, sondern das Jahr 1716.
Dass es "Irrtum" in der Geschichte gibt, setzt die Annahme voraus, dass der/die AutorInnen des Geschehens bewusst und kalkuliert handeln. Derartige Theorien sind entwickelt worden.
Beispiel: Toynbees Auffassung, dass "Kulturen" durch "Selbstmord" zu Grunde gehen.


Oder wir könnten drittens fragen: "ob es Fortschritt in der Geschichte gibt", und auch das wären drei verschiedene Fragen:

Ob eine Geschichte im Vergleich zu einer anderen Geschichte einen "Fortschritt" darstellt, dürfte nicht im Allgemeinen beantwortbar sein.
Beispiel: "Homer ist nicht durch Cervantes übertroffen" usw.

Ein "Fortschritt" in der Geschichte als Wissenschaft kann sein, dass bessere, zuverlässigere Methoden zur Rekonstruktion von Vergangenheit entwickelt werden, die zugleich eine begründete Kritik von bloß erfundenen Vergangenheiten möglich machen.
Wenn es "Fortschritte" in diesem Sinn in der Geschichte als Wissenschaft nicht gibt, so gibt es keine kognitiven Unterschiede zwischen phantasievollen Legenden und empirisch belegten Beschreibungen.
Gibt es aber "Forschritt" in dieser Hinsicht, so ist nach den Kriterien dafür zu fragen.
Beispiel: Ibn Khaldun unterscheidet unmögliche, mögliche und wahrscheinliche Vergangenheiten.

Ob es in der Geschichte überhaupt, oder doch wenigstens in bestimmten Perioden von Geschichte, bzw. in der Geschichte von bestimmten Regionen oder Gesellschaften "Fortschritt" in dem Sinn gibt, dass grundlegende Lebensbedigungen der Menschen sich deutlich und nachhaltig verbessern, ist eine der am meisten diskutierten geschichtsphilosophischen Fragen der europäischen Neuzeit gewesen.
Beispiel: Comtes 3-Stadien-Gesetz.

Solche und ähnliche Fragen wurden in der Philosophie tatsächlich diskutiert und wir können uns jetzt klar machen, was also nun "Geschichte" als "Gegenstand von Geschichtsphilosophie" sein könnte:

Eine "Theorie des Storytelling"?
Was wäre der Unterschied zu Literaturtheorie oder Semiotik im Allgemeinen?
Beispiel: White "Metahistory" (s.u. 1.3)

Eine "Theorie der Geschichtswissenschaft"? Was wäre das im Unterschied zur Methodologie dieser Wissenschaft selbst?
Beispiel: Diltheys These von einer spezifischen "Methode des Verstehens".

Was ist gemeint? —
Eine "Theorie der Menschheitsgeschichte" oder "der Weltgeschichte" oder "der Naturgeschichte" oder "der Geschichte des Universums"?
Und was wäre jeweils unter einer solchen Theorie zu verstehen?
Beispiel: Hegels These von Geschichte als Selbstentwicklung des Weltgeistes.

Es sollte jetzt mit all dem nur der eine Satz etwas deutlicher gemacht werden:

Die Geschichtsphilosophie gibt es nicht.

Sondern?

Es gibt philosophische Fragestellungen und Reflexionen in Bezug auf

Geschichte,

Geschichte und

Geschichte

Es gibt also Geschichtsphilosophie, Geschichtsphilosophie und Geschichtsphilosophie.
Nehmen wir an, jemand sei der Auffassung, dass "Geschichtsphilosophie" sich eigentlich nur mit einem dieser drei Begriffe zu befassen habe — unter dieser Annahme hätten wir es mit drei gleichsam reinen Positionen zu tun, deren Ausgangsthesen etwa so lauten könnten:

A) "Geschichtsphilosophie ist nichts anderes als Theorie des Storytelling."

B) "Geschichtsphilosophie ist nichts anderes als Theorie der Geschichtswissenschaft."

C) "Geschichtsphilosophie ist nichts anderes als Theorie über Faktoren, Verlauf und Gesetzmäßigkeiten des für menschliche Gesellschaften typischen Geschehens."

Diese drei Positionen sind nicht mit einander verträglich. In der Literatur werden einem reine Fälle solcher Positionen auch schwerlich begegnen, obwohl es schon AutorInnen bzw. Werke gibt, die sich fast ausschließlich mit B) oder mit C) identifizieren lassen. Ein Indiz dafür ist mit der Tatsache gegeben, dass (v.a. in angelsächsisch-analytischer Literatur) von "spekulativer Geschichtsphilosophie" (=C) im Unterschied zu "kritischer Geschichtsphilosophie" (=B) gesprochen wird. Ähnlich hat Schnaedelbach (1974) zwei Arten von Geschichtsphilosophie unterschieden: ausgehend von "materiellen Einsichten" (Ranke, Burckhardt, Nietzsche) oder von "erkenntniskritischen Überlegungen" (Droysen, Dilthey, Windelband/Rickert).

Nehmen wir, bevor wir uns eigentlich historischen Stationen des geschichtsphilosophischen Denkens zuwenden, einmal versuchsweise an, dass wir es mit "reinen" Fällen A), B) oder C) zu tun haben könnten. Welche Fragen oder Probleme würden da zu erwarten sein?


1.3 Geschichte als "story" — Geschichtsphilosophie als Theorie des "storytelling" – Hayden V. Whites "Metahistory"

'The only thing we learned about King Alfred was about him burning the cakes.'
'That's something though, isn't it? It's a fact -
perhaps it's a fact.
But they don't go in for facts in History these days.
They go in for empathy, Lewis. Whatever that is.'
Colin Dexter: The Jewel That Was Ours

Ist die Rede von "Geschichtsphilosophie", so ist damit im Allgemeinen nicht eine philosophische Befassung mit "stories" gemeint, zumindest nicht in erster Linie. Tatsächlich begegnen uns jedoch Theorien, die genau dies behaupten — dass jeder Umgang mit Geschichte in der Geschichte zu Geschichte, also zu einer "G'schicht" führt und letztlich mit dieser zusammenfällt. Das ist nicht ohne weiteres zu glauben. Es ist auch nicht ohne weiteres zu verwerfen.

Man kann durchaus die These vertreten, dass dasjenige, was die Geschichte (als Wissenschaft) produziert, jeweils eine Geschichte ist, also eine bestimmte Erzählung über etwas aus der Geschichte, und dann weitergehen mit der Behauptung, dass diese Erzählung und deren erzählerische Merkmale und Qualitäten eigentlich alles ist, was wir haben.

Hayden V. White vertritt eine These dieser Art. Er ist nicht der Einzige, aber seine Entwicklung der These ist nicht nur interessant, sondern auch einflussreich. Darum will ich sie kurz darstellen. Ich will auch Einwände dagegen nennen.
Von Whites Schriften sind hier v.a. zu nennen:
- Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1991. (Erstdruck: engl. 1973)
-Darin PRÜFUNGSRELEVANT: Einleitung. Die Poetik der Geschichte, S. 15-62
Weitere Werke:
- "Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie." In: Pietro Rossi (Hg.): Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frankfurt/M. 1987.
- "Historische Modellierung (emplotment) und das Problem der Wahrheit." In: Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft, Hg.: Rainer Maria Kiesow und Dieter Simon,  S. 142-67. Frankfurt/M.: Campus, 2000.

Wir sind mit diesem Thema schon mitten in einer Thematik der Geschichtsphilosophie, nämlich bei der Frage: Wie objektiv kann Geschichtswissenschaft sein? — das ist, natürlich, nicht Whites Frage, aber sie könnte uns helfen, die Sache zu klären. Allerdings nur, wenn wir schon wieder mehrere Bedeutungen von "objektiv" unterscheiden.

objektiv = dem Gegenstand (Objekt) angemessen

objektiv = ohne subjektive Teilnahme, also ohne Sympathie oder Antipathie

objektiv = ohne wertende Stellungnahme

objektiv = Tatsachen, Fakten betreffend

Diese Bedeutungen sind nicht deckungsgleich. Es kann argumentiert werden, dass die "objektive=dem Gegenstand angemessene" Beschreibung einer bestimmten Handlung oder Verhaltensweise erfordert, Beschreibungsbegriffe zu verwenden, die eine "wertende Stellungnahme" implizieren, wie z.B., dass etwas "grausam" oder "ungerecht" geregelt (gewesen) sei.

Es kann und wird beispielsweise in kulturanthropologischen Zugangsweisen zu "fremden" Gesellschaften in bestimmten Fällen eine Parteinahme für oder gegen eine Norm, Verhaltensweise etc. stattfinden. Es wäre möglich, in dieser Hinsicht Kriterien für (in einer Wissenschaft unabdingbare) "Objektivität" zu suchen, die vereinbar ist mit einer (für Kulturwissenschaften ebenso unabdingbaren) "Parteilichkeit", wie sie für die Geschichtswissenschaft Jürgen Kocka formuliert hat. Vgl. seinen Aufsatz über "Angemessenheitskriterien historischer Argumente", in ders.: Sozialgeschichte. Begriff – Entwicklung – Probleme. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht, 2.Aufl., 1986, S. 40-47. Kockas Überlegungen sind insofern einschlägig, als er nach "Grenzen des Spielraums ... mehr oder weniger angemessener, aber legitimer Argumentationen" fragt, aber auch für die "Abwägung innerhalb des Spielraums". Wer allerdings die These vertritt, dass Geschichtstheorie oder -philosophie ausschließlich eine Theorie von Geschichte — und nicht von Geschichte — ist, wird einen solchen Versuch von vornherein für sinnlos halten.

Whites Buch "Metahistory" kann als ein scharfsinniger und differenzierter Versuch angesehen werden, Möglichkeiten und Formen unseres Verhältnisses zur Geschichte zu beleuchten und aufgrund dieser Analyse allen Anspruch der Geschichte als Geschichtsforschung auf Wahrheitsfähigkeit und Wissenschaft zu leugnen. Dem Untertitel zufolge handelt es sich dabei (nur) um eine Darstellung der "historischen Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa", aber dies scheint mir eine Untertreibung zu sein. Tatsächlich spricht White über das geistige Unternehmen ‚Geschichtsschreibung‘ überhaupt und behauptet sehr weitreichende Thesen darüber:

Die drei Arten von "Erklärung", zwischen denen White Plausibilitätsentsprechungen annimmt, sind:

Erklärung durch "Modellierung":
-- Romanze
-- Komödie
-- Tragödie
-- Satire

Erklärung durch "Schlussfolgerung":
-- formativistisch
-- mechanistisch
-- organizistisch
-- kontextualistisch

Erklärung durch "ideologische Implikation":
-- anarchistisch
-- radikal
-- konservativ
-- liberal

Einen Typus, in irgendeinem der drei unterschiedenen Erklärungsbereiche, der aufgrund rationaler oder wissenschaftlicher Kriterien anderen Typen vorzuziehen wäre, kann White nicht ausmachen; dazu ein Zitat aus dem Schlusskapitel:

"Es ist … unzulässig zu sagen, Michelets Geschichtsauffassung sei durch die ‚wissenschaftlichere‘ oder ‚empirischere‘ oder ‚realistischere‘ Konzeption Rankes widerlegt oder überwunden worden; oder das Werk Rankes sei durch das noch ‚wissenschaftlichere‘ oder ‚realistischere‘ Werk Tocquevilles gegenstandslos geworden; oder dass alle drei vom ‚Realismus‘ Burckhardts in den Schatten gestellt würden. Ebensowenig ist es mit irgendeiner theoretischen Gewißheit möglich zu sagen, dass Marx ‘ Geschichtsidee ‚wissenschaftlicher‘ sei als die Hegels, oder dass Nietzsche in seinen Überlegungen zum Geschichtsbewußtsein mehr ‚Tiefe‘ beweise als jene beiden. (561)

In keinem dieser Fälle läßt White also einen Vergleich zu, der auf einen Fortschritt in historischen Erkenntnisbemühungen, auf eine größere Zuverlässigkeit der Objektivität aufbaut; in jedem dieser Fälle handelt es sich nach White bloß um eine nach "ästhetischen" oder "moralischen" Gesichtspunkten getroffene Wahl einer Darstellungsform, einer Ideologie und einer passenden Argumentierweise. Dies ist es, was Rüsen in seiner Diskussion des Buches von der "Gefahr einer Entrationalisierung der Historiographie" sprechen ließ und was bis heute — z.B. im Zusammenhang mit der so genannten "Auschwitz-Lüge" — zu Debatten führt.

Es handelt sich bei Whites These nicht nur um das 19. Jahrhundert und nicht nur um die aufgezählten, von ihm untersuchten Autoren. Die Geschichtsschreibung, wie die Humanwissenschaften im allgemeinen, blieb ihm zu Folge in die Vagheiten, aber auch in die schöpferische Fähigkeit der natürlichen Sprache durch das ganze 19. Jahrhundert hindurch eingebunden — und sie ist auch heute noch darin eingebunden. (428) Die gegenwärtige Geschichtsschreibung sieht White gekennzeichnet durch einen inhärenten Skeptizismus, der als wissenschaftliche Vorsicht und Empirismus gilt, und durch ihren Agnostizismus, der für Objektivität und transideologische Neutralität ausgegeben wird. (562) Diese skeptische, agnostische Geschichtsschreibung werde kontrastiert und konkurriert von höchst unterschiedlichen Geschichtsdenkern wie Malraux, Yeats, Joyce, Spengler, Toynbee, Wells, Jaspers, Heidegger, Sartre, Benjamin, Foucault, Lukács und einer Menge anderer..., von denen jeder seine eigenen Erklärungsstrategien und seine ideologische Implikationen hat, die für ihn einmalig sind. (433) Was soll nun der Zeitgenosse solcher Denker seinerseits über die Geschichte oder auch über die Geschichte denken? Von der professionellen Historikerriege jedenfalls ist laut White hier keine Orientierungshilfe zu erwarten: Wenn es darum geht, zwischen alternativen Geschichtsauffassungen zu wählen, so sind die einzigen Gründe, eine davon den anderen vorzuziehen, moralische oder ästhetische Gründe. (463: "Sofern unter diesen Betrachtungsweisen der Geschichte gewählt werden soll, sind die alleinigen Kriterien für die Bevorzugung einer vor den anderen moralischer oder ästhetischer Natur.") Den Schwarzen Peter haben also die Ästhetik und die Ethik — sollen diese Disziplinen zusehen, wie hier zu einer rationalen oder sonstwie begründbaren Entscheidung zu gelangen ist. Oder will White sagen, wir säßen hier ganz im Privaten, will er uns das Sprüchlein de gustibus wiederholen?

Es scheint mir der Überlegung wert, ob White seine Thesen rechtfertigen kann.

These 1: Es gibt nur scheinbar einen Unterschied zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie.

Der historische Teil von "Metahistory" befasst sich mit den Werken folgender Autoren: Hegel, Michelet, Ranke, Tocqueville, Burckhardt, Marx, Nietzsche und Croce. Nach gewöhnlicher Auffassung sind zumindest Michelet, Tocqueville und Ranke keine "Philosophen", sondern "Historiker".

In einem Diskussionsbeitrag hiezu hat M. Mandelbaum kritisch angemerkt, dass diese Auswahl zumindest ungewohnt sei, dass White damit offenbar unterstelle, "Geschichtsschreibung" (Proper history) und "Geschichtsphilosophie" (philosophy of history) seien im Grunde Eines und Dasselbe. Mandelbaums Einwand: Selbst wenn die Werke von Michelet, Ranke usf. oft eine bestimmte, definierte Gesamtsicht bezüglich der Merkmale widerspiegeln, die sie im historischen Prozess zu finden suchen, so sind diese Werke doch Werke der Geschichtswissenschaft, nicht der Geschichtsphilosophie.

Also sagt der Einwand: Zumindest gibt es Historiker, die nicht eo ipso schon als Geschichtsphilosophen auftreten, unter den von White referierten Autoren, und er verschleiert dies. Man könnte wohl ebensogut den umgekehrten Einwand machen: Es gibt darunter Geschichtsphilosophen, die keine Historiker sind; Hegel zum Beispiel. White jedoch leugnet die Unterscheidung — mit welchen Gründen? Mandelbaum versichert uns, White begründe hier gar nicht, er behaupte nur. Da es sich dabei, wie Mandelbaum richtig sieht, um Whites "erste und vielleicht grundlegendste Voraussetzung" handelt, möchte ich dieser Frage doch nachgehen.

Bei der Unterscheidung von Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie können mehrere Strategien angewendet werden. Wer den Unterschied betonen will, kann

White nimmt zu keiner dieser Unterscheidungsmöglichkeiten — und auch nicht zu möglichen anderen — Stellung, er scheint sie zu ignorieren. Das heißt aber nicht, dass er seine eigene Auffassung, eine Unterscheidung sei höchstens oberflächlich und scheinbar, nicht rechtfertigt, wie Mandelbaum sagt. Er rechtfertigt sie durch seine These von der Einheit der literarischen Form aller historischen "Diskurse". Bevor wir diesen Versuch ansehen, sollten wir uns zumindest in Erinnerung rufen, dass Mandelbaum mit seinem Einwand die Auffassung wohl der meisten Theoretiker artikuliert, welche philosophische Richtung sie ansonsten auch vertreten mögen: Es gibt einen Unterschied zwischen dem "philosophischen" und dem "geschichtswissenschaftlichen" Umgang mit Geschichte.

These 2: Alle historischen Diskurse sind von demselben literarischen Typus.

Gleich zu Beginn seines Buches teilt White uns mit: "Ich betrachte … das Werk des Historikers als offensichtlich verbale Struktur in der Form einer Erzählung." (9) Nun, diese Charakterisierung dürfte nicht ausreichen, um historische Werke von Reiseprospekten oder psychologischen Fallbeschreibungen zu unterscheiden. Um das mithin noch unabsehbare Gebiet zweckdienlich einzuengen, sucht White nach einem "vorkritisch akzeptierten Paradigma, wie eine ‚historische‘ Erklärung auszusehen hat." (9) Er findet es in zwei Dingen:

Und nun stellt White eben fest, dass diese beiden Merkmale sowohl die "eigentliche Geschichtsschreibung", als auch die "Geschichtsphilosophie" kennzeichnen. Er rechtfertigt mithin seine Identifizierung sehr wohl — indem er von einem Universum von Diskursen ausgeht und das Spezifische "des Historischen" darin sucht (und nicht, was wohl der Ausgangpunkt der meisten Analysen des Geschichtsbegriffs oder der Geschichtswissenschaft ist, umgekehrt davon ausgeht, dass ohnehin bekannt sei, was als Historie zu gelten habe und was nicht). Die Frage, die sich bei Whites Argumentation aufdrängt, ist: Warum machte er gerade an diesem Punkt der Abgrenzung halt?

Würde White — die Korrektheit seiner These, dass alles "Historische" dieses "vorkritische Paradigma" teile, einmal angenommen — weitergehen und nach dem Inhalt oder Gegenstand des Diskurses fragen, so käme er wohl ebensowenig wie Mandelbaum umhin, zwischen Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie zu unterscheiden. Aber dies tut er nicht. Daher, und nur unter diesem Titel eines gemeinsamen "vorkritischen Paradigmas" des Darstellens und Erklärens, sind die beiden Unternehmungen identisch. Es bleiben immerhin zwei Fragen:

These 3: Alle historischen Diskurse verwenden eine bestimmte Kombination von Erklärungsstrategien, wobei drei solche Strategie-Typen zu unterscheiden sind.

White unterscheidet innerhalb der Prosa, die er als "historisch" identifiziert, noch weiter nach drei Strategien, "von denen Historiker Gebrauch machen können, um verschiedene Versionen des ‚Anscheins der Erklärung‘ zu erzeugen" Er nennt diese verschiedenen Strategien die "Erklärung durch narrative Strukturierung" (explanation by emplotment), die "Erklärung durch formale Schlußfolgerungen" (explanation by formal argument) und "Erklärung anhand ideologischer Implikationen" (explanation by ideological implication) (10). Entsprechend dem zuvor Ausgeführten dürfen wir annehmen, dass jede dieser "Erklärungsstrategien" sowohl bei — traditionell so genannten — Historikern als auch bei Geschichtsphilosophen zu finden ist, und dass solche Autoren jeweils zumindest eine — oder auch alle — dieser Strategien anwenden. Worin bestehen diese Strategien und wie sieht White sie angewandt?

These 4: Die Erklärung durch Modellierung liefert eine Geschichte, die einem der folgenden Typen von Prosa zugehört: Romanze, Tragödie, Komödie oder Satire.

White beginnt seine Ausführungen über die Erklärungsstrategien nicht mit dem, was sonst meist in der Wissenschaftstheorie als ‚Erklärung‘ gilt, der Subsumtion von Einzelaussagen unter gesetzesartige Hypothesen, sondern mit der "Erklärung durch narrative Modellierung" (emplotment),und definiert:

"Als Erklärung durch Modellierung der Erzählstruktur (Handlung) bezeichne ich ein Verfahren, das einer Fabel dadurch ‚Bedeutung‘ (meaning) verleiht, dass sie die Art von Geschichte (kind of history) bestimmt, die erzählt worden ist." (21)

Welche Arten von Geschichten es hier zu unterscheiden gibt, übernimmt White von N. Frye, der ein Klassifikationsschema für literarische Formen vorgestellt hatte. Die vier Grundarten von Geschichten seien romantische, tragische, komische und satirische Geschichten, und jeder Historiker sei gezwungen, die ganze Menge von Geschichten, die seine Erzählung bilden, in eine umfassende, archetypische Geschichtenform einzuordnen. Man muss daraus schließen, dass, wo eine solche "Modellierung" der Fakten, Daten, Einzelgeschichten zu einer ganzheitlichen Geschichtenform nicht erkennbar ist, auch (noch) kein Historiker am Werk war. Dies trifft nach White tatsächlich für die "Monographie" oder den "Archivbericht" zu (9)

Für die vier genannten Archetypen von Geschichtenformen gibt White folgende Merkmale an:

"Erklärung durch Modellierung" (by emplotment), der erste und zwingende Schritt, den Historiker aufgrund der reinen Faktenbeschreibung tun, schafft jeweils eine archetypische story:

als Romanze, in der das Gute siegt;

als Satire, in der letztlich Vernichtung siegt;

als Komödie, in der alle Triumphe des Menschen nur scheinbar sind;

als Tragödie, die auch einen solchen Schein nicht kennt.

Fragen zum Überlegen:

Wer sind die romantischen, satirischen, komischen und tragischen Historiker im Europa des 19. Jahrhunderts nach White?

Welche Richtungen der Geschichtsschreibung der Gegenwart würden diesen Kennzeichnungen entsprechen?

 

These 5: Die Erklärung durch formale Schlußfolgerung liefert eine Geschichte, deren Argumentations— oder Begründungszusammenhang einem der folgenden Typen angehört: formativistisch, organizistisch, mechanizistisch oder kontextualistisch.

Die "Erklärung durch formale, explizite oder diskursive Schlußfolgerung " sieht White dort geleistet, wo der

"Historiker … die Ereignisse in der Geschichte (story) (bzw. die Form, die er ihnen im Zuge ihrer Verknüpfung zu einer ganz bestimmten ‚Geschichte‘ gegeben hat)," erklärt, "indem er eine nomologisch—deduktive Kette von Folgerungen konstruiert. Er argumentiert mit einem Syllogismus, dessen Obersatz ein mutmaßlich allgemeines Gesetz kausaler Verhältnisse ausdrückt, dessen Untersatz die Grenzbedingungen bezeichnet, innerhalb derer das Gesetz zur Anwendung kommt, und dessen Konklusion die tatsächlichen Ereignisse aus den Prämissen mit logischer Stringenz ableitet." (26)

Hier greift White ganz offensichtlich ein klassisches Thema der Wissenschaftstheorie auf, indem er eine Antwort auf die Frage zu formulieren scheint, mit welchen begrifflichen Mitteln in der Geschichtswissenschaft Ereignisse erklärt werden. An dieser Formulierung fallen mehrere Dinge auf:

Auf Fragen solcher Art geht White jedoch leider nicht ein. Es bleibt daher unklar, welchen Stellenwert die angeführte Definition für "Erklärung durch Schlußfolgerung" bei White überhaupt hat.

Wenden wir uns daher seiner Beschreibung der vier Typen zu.

Hat der Historiker seinem Leser in der Operation der "Modellierung" seine Sicht davon plausibel machen wollen, was geschehen ist, so wird durch diese zweite Operation des argumentativen Erklärens eine Antwort darauf gesucht, warum dieses geschah. Allerdings sieht White den Sinn dieser Warumfrage nicht in allen Fällen als gleichbedeutend an, wie sich schnell zeigt. Insgesamt findet White in den unterschiedlichen Warumfragen der Historiker einen Beleg für seine These, dass es sich bei der Geschichtsschreibung nach wie vor um eine "protoszientifische Wissenschaft" handle: Historiker seien nicht nur darin nicht einig, welche Gesetzmäßigkeiten eine gegebene Ereignisfolge oder auch ein gegebenes Einzelereignis erklären könnten, sondern auch nicht darüber "welche Form eine ‚wissenschaftliche‘ Erklärung haben sollte."(27) Was in Naturwissenschaften vor Jahrhunderten erreicht wurde, sei in den historischen ‚Wissenschaften‘ immer noch ausständig: Es fehle Einigkeit darüber,

White folgert aus dieser Lagebeschreibung: Die Geschichtsschreibung verbleibt im Zustand "begrifflicher Anarchie", in dem sich die Naturwissenschaften während des 16. Jahrhunderts befanden, "als es ebenso viele Ansichten vom ‚Unterfangen Wissenschaft‘ gab wie metaphysische Positionen." (28) Diese begriffliche Anarchie im Unternehmen Geschichtswissenschaft führt jedoch nicht dazu, dass in dieser Disziplin gänzlich ohne Regelhaftigkeit erklärt würde; White glaubt vielmehr auch hier eine begrenzte Anzahl von Erklärungsformen feststellen zu können, wobei Charakterisierung, Zahl und Bezeichnung den vier Typen von "world views" abgeschaut sind, die Pepper unterscheidet.

"nur dann … vollständig, wenn er die Gesetze entdeckt hat, von denen er annimmt, dass sie die Geschichte ebenso bestimmen, wie die Gesetze der Physik die Natur bestimmen." (32)
Einzelereignisse, Einzelphänomene erscheinen in dieser Sichtweise als weniger wichtig als die Gesetzmäßigkeiten, für die sie vielleicht nur Beispiele sind: auch Typen von Ereignissen sind weniger wichtig als die Gesetze sozialer Strukturen, die den Lauf der Geschichte bestimmen.

Die vier Typen von "Erklärung durch formale Schlußfolgerung"

Formativismus
erklärt Ereignis durch Verweis auf terminologische Entsprechungen; Beispiel: Herder

Organizismus
erklärt Ereignis durch Verweis auf Gesamtheiten; Beispiel: Ranke

Mechanismus
erklärt Ereignis durch Verweis auf Gesetze; Beispiel: Marx

Kontextualismus
erklärt Ereignis durch Verweis auf Relate; Beispiel: Burckhardt

Keine der vier Formen argumentativen Erklärens hat nach White an sich kognitive Priorität vor den anderen; faktisch aber werden von professionellen Historikern, so White, der Formativismus oder der Kontextualismus meist bevorzugt. Mechanistische oder organizistische Denker wie Tocqueville, Hegel, oder Marx hingegen würden weitgehend als "Heterodoxien" abgelehnt.

"Die Motive für die Feindseligkeit professioneller Historiker gegen organizistische und mechanistische Konzepte blieben … freilich verdeckt. Es würde sich nämlich herausstellen, daß diese Motive in außerwissenschaftlichen Erwägungen verborgen liegen. Denn wenn man sich auf den protowissenschaftlichen Charakter aller historischen Untersuchung besinnt, dann gibt es keine apodiktischen epistemologischen Gründe, eine dieser Erklärungsweisen einer anderen vorzuziehen."(36)

Wenn feststeht, dass der Organizismus und Mechanizismus Einsicht gewährt in irgendeinen Prozess der Natur und Gesellschaft, welche nicht durch Formismus und Kontextualismus erreicht werden kann, so muss der Ausschluss von Organizismus und Mechanizismus aus dem Kanon orthodoxer historischer Erklärungen auf außer-epistemischen Überlegungen beruhen. Es handelt sich dabei um eine Entscheidung darüber, wie eine Wissenschaft vom Menschen und der Gesellschaft generell auszusehen habe, es handelt sich nicht um empirisch entscheidbare einzelne Fragen — und diese Entscheidung fällt White zufolge ausschließlich auf der moralischen, insbesondere auf der ideologischen Ebene.

White findet diese seine Einschätzung auch von den Theoretikern der jeweiligen Geschichtsauffassungen bestätigt:

In diesem Streit der Parteien sieht White ein Charakteristikum der Geschichtsschreibung, das unaufhebbar und daraus zu verstehen sei, dass in der Geschichtsschreibung stets noch eine dritte Form des "Erklärens" stattfinde: "Es scheint … in jeder historischen Darstellung der Wirklichkeit eine irreduzibel ideologische Komponente zu stecken." (38)

These 6: Die Erklärung durch ideologische Implikation liefert eine Geschichte, deren Argumentation auf anarchistische, konservative, radikale oder liberale Aktion hinausläuft.

Unter einer Ideologie versteht White "ein Bündel von sozialen Verhaltensregeln und Handlungsgeboten …, die mit einer bestimmten Position gegenüber der gegenwärtigen Gesellschaft und im Hinblick auf soziales, an Veränderung oder Aufrechterhaltung des Status quo orientiertem Handeln verbunden sind."(38)

Warum er gerade die vier Formen von Ideologie nach Karl Mannheim aufgreift und nicht auch andere, hat seinen Grund darin, dass diese vier "ideologischen Grundpositionen" solche "Wertsysteme" darstellen, die für sich "die Autorität der ‚Vernunft‘, der ‚Wissenschaft‘ oder des ‚Realismus‘" reklamieren, was bei anderen (wie dem Faschismus) nicht der Fall sei — diese vier also seien "geistig verantwortungsbewußt". (39) Anhand einiger Sachfragen der Historie werden nun die Merkmale der genannten vier ideologischen Orientierungen angegeben:

Die vier Typen von "Erklärung durch ideologische Implikation"

Anarchismus
ordnet Ereignis einem Utopia zu, das in Ursprüngen liegt; Beispiel:

Konservativismus
ordnet Ereignis in ein geordnetes Wachstum ein; Beispiel:

Radikalismus
ordnet Ereignis einer Gesetzmäßigkeit unter; Beispiel: Marx

Liberalismus
ordnet Ereignis in eine gestaltbare, aber nicht revolutionöre Gegenwart ein; Beispiel:

Diese "ideologischen Implikationen" orientieren die Historiker White zufolge auch noch in anderen, spezifischeren Dingen: in ihrer Vorstellung von "Wissenschaft", in ihrem Denken über den "Sinn der Geschichte" usw. Doch mag das Angedeutete jetzt genügen. Wichtig erscheint mir der Hinweis, dass White für seine Analyse weder explizite Ideologie erwartet (z.B. hätten Werke wie die von Burckhardt und Nietzsche "deren Interessen offensichtlich nicht politisch eingefärbt waren, ganz bestimmte ideologische Implikationen" (44), was ihm für ihre ideologische Zuordnung genügt), und dass erst durch den Aufweis der ideologischen Implikation eines Historikers dieser in seiner Eigenart erkennbar sei.

"Ich behaupte, daß sich das ethische Moment einer Geschichtsdarstellung in der Art der ideologischen Implikation spiegelt, durch die eine ästhetische Wahrnehmung (die Modellierung der Erzählstruktur) und eine kognitive Operation (die formale Schlußfolgerung) so miteinander kombiniert werden, daß sich normative Aussagen aus Feststellungen ableiten lassen, die zunächst rein deskriptiv oder analytisch zu sein scheinen." (44)

Mit diesem Satz schlägt White seine Lösung in einer Frage vor, die die Geschichtswissenschaft zu Recht bedrängt; seine Lösung bleibt allerdings dezisionistisch auf allen Ebenen.


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Erstellt: September 2013 mit Ergänzungen während des Semesters der Lehrveranstaltung