Franz Martin Wimmer, Wien
 

Abd al-Rahman IBN KHALDUN (1332 Tunis - 1406 Kairo)

Begriff der Kultur und der Kulturwissenschaft

 

 

Ibn Khalduns neue Wissenschaft befasst sich mit all dem, was in der Kultur der Menschen, d.h. in ihrem Zusammenleben und Zusammenwirken sich aus der Natur der Menschen notwendig ergibt. Dabei wird ein wichtiger Begriff ausgesprochen, wo von der asabiya die Rede ist, der solidarisierenden Kraft die die Menschengruppen zusammenschweißt, ihnen Stärke und Zusammenhalt verleiht. Ohne asabiya ist die volkreichste Gruppe ohnmächtig und unterliegt der kleinen Gruppe, die asabiya hat. Die Geschichte der asabiya ist also auch die Geschichte der Völker, der Menschheit. Es ist eine strittige Frage, die hier nicht entschieden werden soll, ob Ibn Khaldun mit der asabiya etwas im weitesten Sinn Materielles gemeint habe (wofür etwa sprechen könnte, dass die asabiya wie ein Lebewesen wächst, reift und vergeht) oder ein im weitesten Sinn Geistiges (dafür würde etwa sprechen, dass die asabiya nur den Menschen zugesprochen, den Tieren abgesprochen wird; aber auch. dass sie in ähnlicher Weise wie die Sprache entsteht und nicht direkt von Umweltbedingungen abhängig erscheint).

Diese Frage muss hier offen bleiben. Es soll ausschließlich die Methodologie der neuen Wissenschaft Ibn Khalduns thematisch sein, und diese verändert sich nicht unter der einen oder der anderen der angesprochenen Annahmen.

Mit seiner Methodologie will Ibn Khaldun sichern, dass keine unrichtigen Berichte über die Vergangenheit als richtig, keine unwahrscheinlichen als wahrscheinlich aufgenommen werden. Sie soll also unmögliche und unwahrscheinliche Geschichtswelten zu unterscheiden bzw. auszuschalten ermöglichen. Aus unterschiedlichen Perspektiven entstehen unterschiedliche Vergangenheitswelten, aber auch unterschiedliche Gegenwartswelten. Eine Welt, in der Seeungeheuer einen Eroberer daran hindern können, eine Stadt zu erbauen, fand Ibn Khaldun in Berichten von Geschichtsschreibern vor: wenn berichtet wurde, Alexander der Große sei von derartigen Monstern daran gehindert worden, Alexandria zu bauen - sie schreckten seine Arbeiter, also habe sich Alexander in einem großen hölzernen Behälter, der eine Glasschachtel enthielt, auf den Meeresgrund begeben, dort die teuflischen Ungeheuer abgezeichnet und nach diesen Zeichnungen dann Metallbilder herstellen lassen, die am Ufer aufgestellt worden seien. Als nun die Monster wieder auftauchten, um die Arbeit weiter zu stören, erschraken sie ihrerseits zu Tode und ergriffen die Flucht.

Die Welt, in der dies möglich sein soll, ist für Ibn Khaldun eine erdichtete Welt, aber vielleicht aus anderen Gründen als für uns. weil nämlich, erstens, kein Anführer ein derartiges Risiko eingehen könne, ohne dass sein Volk ihn seines Leichtsinns wegen sofort absetzen würde; zweitens, weil es physisch unmöglich wäre und zum Tode führen würde, sich in solche Meerestiefen zu begeben (nicht allerdings des Druckes wegen, sondern wegen der spezifischen Kälte des Wassers, die etwa die Fische durch große eigene Hitze ausgleichen, weswegen diese wiederum sterben, wenn sie an die Luft kommen und keine Kühlung mehr haben). Der Bericht über Alexander und die Meerungeheuer ist also notwendig falsch, eine solche Gegenwart kann es nie gegeben haben.

Jede Art der Geschichtsbetrachtung schließt unmögliche Vergangenheiten aus, aber nicht jede die selben und nicht jede mit den selben Begründungen. Ibn Khaldun setzt seiner Methodologie dieses bescheidene Ziel: ein Kriterium zu liefern für die Unterscheidung wahrer, wahrscheinlicher, unwahrscheinlicher und falscher Berichte über die menschliche Vergangenheit. Die Kulturwissenschaft fragt nicht, was die beste Gesellschaftsform sei (wie es eine Lehre von der politischen Kunst tun muss), sie sucht auch nicht zu überzeugen (was jede Rhetorik zum Besten der jeweiligen Gesellschaft tut und tun muss), sondern sie stellt fest, welche Arten von Gemeinschaft, welche Formen von Kultur in dem Sinn notwendig sind, dass sie sich aus der menschlichen Natur ergeben. Sie trägt also vergleichsweise bescheidene Frucht, und vielleicht ist dies der Grund, warum Ibn Khaldun sie bei den griechischen und arabischen Philosophen nicht vorfindet:

"die Gelehrten haben sich vielleicht ... nur für die Früchte interessiert. Diese Wissenschaft aber hat ihre Frucht einzig und allein in (der Anwendung) auf geschichtliche Überlieferungen ... Wenn die Probleme (dieser Wissenschaft) an sich und ihren Eigenarten nach auch edel sind, so ist ihre (einzige) Frucht - die allerdings gering (scheint) - die Richtigstellung der (geschichtlichen) Nachrichten. Deshalb haben (die Gelehrten) sich davon ferngehalten."

 

Die Methode der Wissenschaft von Geschichte und Kultur


Wie erkennt man gesicherte Kenntnis über die Welt der Kultur, wie unterscheidet man sie von unsicheren oder unwahren Berichten, von Märchen, Sagen, bloßen Erdichtungen, von Propagandaberichten oder Entstellungen? Wie muss der Geschichts- und Kulturwissenschafter vorgehen, welche Prinzipien muss er als in der Geschichte wirksam voraussetzen, wenn er zu wahren, gesicherten und gehaltvollen Aussagen gelangen will? Dies sind die Fragen, die Ibn Khaldun in seiner umfänglichen "Einleitung" zu einer Weltgeschichte vorweg beantworten will.

Ibn Khaldun unterscheidet mit seiner Tradition zwischen zwei Grundtypen von ëWissenschaftí: den natürlichen einerseits, die dem Menschen als einem Naturwesen zugänglich sind; diese werden als ërationaleí oder ëintellektuelleí Wissenschaften bezeichnet, da der Mensch von Natur aus ein vernunftfähiges, rationales Lebewesen sei. Die zweite, davon grundsätzlich verschiedene Gruppe bilden die göttlichen Wissenschaften, wozu etwa die islamische Rechtswissenschaft gehört, die auf Offenbarung beruht. Diese sind nicht den Menschen als solchen, sondern jeweils nur einer Religionsgemeinschaft zu eigen. Zur ersten Gruppe gehören die sogenannten ëphilosophischení Wissenschaften (in unserer Sprache etwa: Philosophie, Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften); es sind vier: Logik, Mathematik, Physik und Metaphysik.

Die philosophischen Wissenschaften unterscheiden sich nach ihrem jeweiligen Gegenstand. Es ist nun die Frage, zu welcher Gruppe die Wissenschaft von menschlicher Kultur gehört. Ihr Gegenstand ist der Zusammenschluss von Menschen und dessen je besondere Form.

Die Wissenschaft, die Ibn Khaldun grundlegen will, gehört nicht zur Logik. Diese wird bestimmt als
"a science protecting the mind from error in the process of evolving unknown facts one wants to know from the available, known facts. Its use enables the students to distinguish right from wrong wherever he so desires in his study of the essential and accidential perceptions and apperceptions."(Rosenthal Bd.3, S.111)

Da die Kulturwissenschaft wie die Logik von geschaffenen Dingen handelt, wird sie die Ergebnisse der Logik verwerten und anwenden müssen, aber sie ist selbst nicht damit befasst, gültige Abstraktions- und Schlussformen zu erarbeiten.

Was die mathematischen Wissenschaften angeht, so haben diese mit Messungen und Quantitäten zu tun, entweder in praktischer (angewandte Künste) oder in theoretischer Weise (Zahlenlehre). Sie sind - insbesondere die praktischen mathematischen Disziplinen - für die Wissenschaft von der Kultur eine Voraussetzung, da sie Auskunft geben über die mathematischen Eigenschaften solcher Dinge wie Sterne, die einen Einfluss auf die Kultur ausüben. Aber die Kulturwissenschaft hat doch, wenn sie auch von den Ergebnissen der Mathematik Gebrauch machen muss und mit Quantität als einer der Kategorien aller geschaffenen Dinge zu tun hat, nicht Quantität als ihren eigentlichen Gegenstand, sondern die Eigenart und Gesetzmäßigkeiten eines spezifischen geschaffenen Dings, nämlich der menschlichen Kultur.

Es bleiben also noch die philosophischen Wissenschaften von den natürlichen und von den göttlichen Dingen, oder, anders benannt, Physik und Metaphysik. Der Zusammenschluss von Menschen und dessen Spielarten ist kein göttlichhes Ding, sondern ein menschliches, ein geschaffenes und kein ewiges.
Also scheidet die Metaphysik aus. Kulturwissenschaft ist nach Ibn Khaldun ein Teil der Physik, der Wissenschaft von der Natur.

Die nähere Kennzeichnung dessen, was eine Wissenschaft von der natürlichen Kultur des Menschen festzustellen und auszuschließen vermag, wird dann auch eine Antwort auf die Frage ermöglichen, wie man denn eigentlich unterscheiden könne, was der menschlichen Gesellschaft "ihrem Wesen nach und auf Grund ihrer Natur anhaftet, was ihr andererseits akzidentell ist", was unwahrscheinlich in der Geschichte ist und "was ihr unmöglich zukommt". Diese vorläufig noch formalen Bestimmungen der Möglichkeiten und Aufgaben der Kulturwissenschaft machen zwar auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam, der auch beim Wissen um geschichtliche Gegebenheiten zu beachten ist: dass es gewisse und wahrscheinliche Kenntnis davon gibt, gewiss wahre und gewiss falsche, wahrscheinlich wahre und wahrscheinlich faIsche. Aber dies wäre zuwenig.
Das Beliebige der Zuerkennung des Wahrscheinlichkeitsgrades einer Kenntnis, die Beliebigkeit historischer Überzeugungen muss ausgeschaltet werden können, wenn es eine Wissenschaft davon geben soll.

Ibn Khalduns Antwort auf diese Frage läßt sich ganz kurz ausdrücken: Die Wissenschaft von der Kultur hat ihre notwendigen und hinreichenden Bedingungen darin, dass sie sich an die relevanten und gesicherten Erkenntnisse von (andern) Naturwissenschaften hält.

Natürlich wirft diese Antwort mehr Fragen auf, als sie auf den ersten Blick zu beantworten scheint. Man muss etwa fragen: wie sind die Ergebnisse der Naturwissenschaften, wie ist ihr kategorialer Apparat gesichert; welche Ergebnisse liegen überhaupt vor und welche davon sind für die Wissenschaft von menschlicher Kultur relevant, welche nicht? Wir sehen, dass Ibn Khaldun mit seiner methodologischen Bestimmung in einen sehr problematischen Bereich vorstößt und wir werden sehen, dass sein akzeptierter Bereich relevanten und gesicherten naturwissenschaftlichen Wissens anders ist als der unsrige.
Naturwissenschaft (Naturphilosophie, Physik) wird von Ibn Khaldun bestimmt als

"a science that investigates bodies from the point of view of the motion and stationariness which attach to them. It studies the heavenly and the elementary bodies (substances), as well as the human beings, the animals, the plants and the minerals created from them,. It also studies the springs and earthquakes that come into being in the earth, as well as the clouds, vapors, thunder, lightnings, and storms that are in the atmosphere, and other things. It further studies the beginning of motion in bodies - that is, the soul in the different forms in which it appears in human beings, animals, and plants." (Dawood, S.385f.)
Von bewährten Thesen der so gekennzeichneten Naturwissenschaft legt Ibn Khaldun seiner Wissenschaft nun sechs zugrunde, die er in den Prämissen (bei Schimmel: "Vorreden", Pätzold: "einleitende Bemerkungen") ausführt: die erste handelt davon, dass der Zusammenschluss für die Menschen zwangsläufig sei; die Prämissen 2 - 5 sind klimatheoretische Thesen über den Einfluss der natürlichen Umwelt auf Denken und Verhalten des Menschen, die sechste Prämisse schließlich handelt von der Rolle derjenigen Menschen, die das Unsichtbare sehen, von den natürlichen Ursachen von Prophetie und Wahrsagekunst.
Diese sechs naturwissenschaftlichen Thesenkomplexe sind nun etwas näher zu betrachten.
 

Sechs Prämissen

 

1) Zusammenschluss und Herrschaft ist für die Menschen naturnotwendig.

"Die Philosophen drücken das aus, indem sie sagen: Der Mensch ist von Natur ein Städter, d.h. er braucht unbedingt den Zusammenschluss, der in ihrer Terminologie mit Stadt bezeichnet wird; das ist gleichbedeutend mit Kultur (umran)."
Der Grund: der Mensch ist so geschaffen, dass er Nahrung beschaffen muss, um zu leben, aber nicht so (im Gegensatz zu den Tieren), dass er dies als Individuum in ausreichendem Maß könnte.
"Wenn wir die kleinste Menge Nahrung annähmen, die möglich ist, eine Tagesration Weizen beispielsweise, so kann er sie nur durch verschiedene Zubereitungen, wie Mahlen, Kneten und Backen, beschaffen. Jede dieser drei Tätigkeiten aber erfordert Geräte und Werkzeuge, die nur durch zahlreiche Handwerke, wie Schmied, Tischler und Töpfer, hergestellt werden können." (Schimmel, S.18f., vgl. Pätzold, 51; Dawood, 45)
Neben der Nahrungsbeschaffung zwingt auch noch die Verteidigung gegen Tiere und Feinde zum Zusammenschluss: es "muß jeder einzelne zu seiner Verteidigung die Hilfe seiner Artgenossen suchen..." (Schimmel, ebd.)
Nicht also erst zur Erreichung der Humanität ist der Zusammenschluss nötig, sondern zum puren Überleben - und nur diese Überlegenheit will Ibn Khaldun hier als natürlich voraussetzen.Wenn nun aber
"die Menschen zu diesem Zusammenschluß kommen, wie wir es festgestellt haben, und die Kultivierung der Erde durch sie ausgeführt wird, so brauchen sie unbedingt einen Machthaber, der sie voneinander fernhält, da in ihrer animalischen Natur Feindseligkeiten und Gewalttätigkeit liegen, und da die Waffen, welche zur Abwehr der Feindschaft der wilden Tiere hergestellt wurden, nicht ausreichen, um die Feindschaft zwischen ihnen abzuwehren; denn (diese Waffen) sind ja für alle (Menschen) vorhanden. Es muß also unbedingt etwas anderes geben, das die Feindschaft unter ihnen abwehrt, und zwar darf dies nicht einer anderen Art angehören als sie, weil alle Tiere nicht an ihre Wahrnehmungen und göttlichen Eingebungen heranreichen. Deshalb ist dieser Machthaber einer von ihnen, der über sie Übergewicht, Autorität und Brachialgewalt hat, so daß keiner feindlich an den anderen herankommt." (Schimmel, S.19, vgl. Pätzold, 53f; Dawood, 46f)
Herrschaft ist somit ebenso menschennatürlich wie der Zusammenschluss - und ebenso ein Produkt zwingenden Mangels.
 

2) Die natürlichen Gegebenheiten der Erde sind (in sieben Klimazonen) spezifisch verschieden

Danach unterscheiden sich auch die Kulturen. Ibn Khaldun greift hier zwar nicht, wie Herder dies später tun wird, über den Globus hinaus, um die Menschengerechtheit der Erde aufzuzeigen, aber er geht immerhin global vor, bietet eine Naturgeschichte der Erde als der Umwelt des Menschen. Dabei werden sieben Zonen unterschieden, in denen die Pflanzen, Tiere, Mineralien und auch Menschen verschieden seien. Hierin stützt sich Ibn Khaldun auf griechische und arabische Astronomen und Geographen wie Ptolemaios, al-Masudi und al-Idrisi, denen er denselben Titel zuerkennt wie Aristoteles ("weise Männer" = "Philosophen"), Ibn Sina oder Ibn Rushd: sie sind "Naturphilosophen". (Vgl. Dawood, 49-57)
Alle sieben Zonen sind jeweils von gleicher geographischer Breite, in ihrer Längenerstreckung jedoch verschieden: die Länge nimmt zum Äquator hin zu. Der Raum der menschlichen Kultur erstreckt sich zwischen der dritten und der sechsten Zone.
"The north pole gradually ascends on the horizon of the cultivated area of the earth until its elevation reaches sixty-four degrees. Here, all civilization ends. This is the end of the seventh zone. ... Civilization is impossible in the area between the sixty-fourth and the ninetieth degrees, for no admixture of heat and cold occurs there because of the great time interval between them. Generation, therefore, does not take place." (Dawood, S. 55)
Diese Grenze jeder möglichen Kultur verläuft nördlich der britischen Inseln, wie mittelalterliche Karten zeigen, wie beispielsweise das Kartenwerk des päpstlichen Sekretärs Jacopo Angelo, das 1406, im Todesjahr Ibn Khalduns fertiggestellt wurde.. Nördlich davon findet wegen der langanhaltenden und extremen Kälte keine "generation" statt - ebensowenig aber gibt es eine "generation" nahe dem Äquator, wo die Hitze eine noch abruptere Austrocknung der Luft bewirkt, als es die Kälte im Norden tut. Nun betrifft dies nicht nur die Menschen, sondern ebenso Tiere, Pflanzen und sogar Mineralien:
"The excessive heat causes a parching dryness in the air that prevents generation. As the heat becomes more excessive, water and all kinds of moisture dry up, and the power of generation is destroyed in minerals, plants, and animals, because generation depends on moisture." (Dawood, S. 56)
An den (südlichen und nördlichen) Enden der Welt ist also "Kultur" oder "Zivilisation" nicht möglich, aber auch die natürlichen Dinge sind dort stark beeinträchtigt. Immerhin gibt es im Norden aus dem eben erwähnten Grund mehr Zivilisation als im Süden, sodass Ibn Khaldun zusammenfasst:
"Therefore, there is little civilization in the first and second zones. There is a medium degree of civilization in the third, fourth, and fifth zones, because the heat there is temperate owing to the decreased amount of light. There is a great deal of civilization in the sixth and seventh zones because of the decreased amount of heat there. At first, cold does not have the same destructive effect upon the power of generation as heat ... this ... is why civilization is stronger and more abundant in the northern quarter." (Dawood, S. 56f.)
Ibn Ruschd habe sich übrigens, so sagt Ibn Khaldun, in diesem Zusammenhang geirrt, wenn er annahm, dass der Äquator in einer symmetrischen Position sei und es darum südlich des Äquator ebenso wieder gemäßigte Zonen und entsprechend auch Zivilisation gebe wie nördlich. Dies ist falsch, sagt Ibn Khaldun: "as to the region south of the equator, it is made impossible by the fact that the element of water covers the face of the earth in the south  ..." (Dawood, S. 57)

3) Es gibt gemäßigte und nichtgemäßigte Klimazonen

Die Hautfarbe, ebenso wie die Lebensumstände der Menschen, aber auch Tier- und Pflanzenwelt, sogar das Mineralreich, unterscheiden sich in diesen Klimazonen voneinander. Basierend auf der Untersuchung der Natur von Hitze und Kälte und deren Einfluss auf die Lebewesen stellt Ibn Khaldun hier die Grundthese jeder Klimatheorie auf: dass nicht nur die Hautfarbe in den verschiedenen Klimaten unterschiedlich sei, sondern auch komplexe Kulturelemente davon bestimmt seien. Wieder bei Montesquieu im 18. Jahrhundert, aber nicht in jeder vorgetragenen Version, wird sich eine ähnlich umfassende Klimatheorie finden: nur die Bewohner der mittleren Klimazone,
"die Bewohner des Magreb, Syriens, des arabischen und des persischen Irak, Sinds und Chinas, auch Spaniens und die, welche ihnen nahe sind, wie die Franken und Gallier"
seien ausgewogen und stellten das Maß des Menschlichen dar; es
"sind die Wissenschaften, Künste, Bauten, Kleider, Speisen, Früchte, Tiere und alles, was in diesen ... gemäßigten Klimata geschaffen wurde, besonders durch Ausgewogenheit ausgezeichnet. Ihre menschlichen Bewohner haben die ebenmäßigsten Körper, Farben, Charaktereigenschaften und dergleichen. ... Sie sind in allem weit von den Extremen entfernt." (Schimmel, S.23; vgl. Pätzold, S.56; Dawood, 58)
Es gibt also exemplarische Völker; diese leben in den gemäßigten Klimaten; sie haben die höchsten menschenmöglichen Kulturformen entwickelt; ihre Geschichte ist Weltgeschichte. Wenn auch aus anderen Gründen als Hegel: Ibn Khaldun kennt welthistorische Völker; es sind dies:
"Die Araber, Römer, Perser, Israeliten und Griechen, sowie die Bevölkerung von Sind und von China." (Schimmel, S.24)
Diese Völker haben Häuser aus Stein, sie erfinden alle Techniken, verfügen über die "natürlichen Metalle" (Gold, Silber, Eisen, Kupfer, Blei und Zinn), sie verwenden Gold und Silber als Zahlungsmittel. Der Irak und Syrien liegen im Zentrum dieser gemäßigten Zone und "therefore are the most temperate of all these countries." (Dawood, S. 58)
Ganz anders leben die Menschen in den südlichen und nördlichen Randzonen. Sie hausen in Hütten aus Lehm und Schilf, essen Durra und Kräuter, kleiden sich in Rinden oder Tierhäute. Meist aber gehen sie nackt. Die Früchte ihrer Länder sind eigenartig. In ihren Geschäften verwenden sie nicht Gold und Silber, sondern tauschen mit Hilfe von Kupfer, Eisen oder Fellen. Ihre Gemütsart ähnelt derjenigen von Tieren.
Ihr Charakter kommt .. der Wesensart wilder Tiere nahe, ja, es wird sogar berichet, daß viele der Schwarzen, die zu den Bewohnern der ersten Klimazone gehören, in Höhlen und Wäldern hausen, Kräuter essen, wild und isoliert voneinander leben und einander auch auffressen. Nicht anders verhält es sich mit den Slawen. (Pätzold, S.57)
"It has even been reported that most of the Negroes of the first zone dwell in caves and thickets, eat herbs, live in savage isolation and do not congregate, and eat each other. The same applies to the Slavs." (Dawood, S. 59)
Es gibt nun in der Zeit Ibn Khalduns eine verbreitete Theorie zur Erklärung solcher Unterschiede, die er den "Genealogen" zuschreibt. Diese behaupten, die Schwarzen Afrikas seien die Nachkommen von Ham, dem dritten Sohn Noahs, den der Vater verflucht und zum Diener oder Sklaven seiner Brüder Japhet (der als Stammvater der Europäer galt) und Sem (dem Stammvater der Semiten) bestimmt habe:
... that Negroes were the children of Ham, the son of Noah, and that they were singled out to be black as the result of Noah^s curse, which produced Ham^s colour and the slavery God inflicted upon his descendants. (Dawood, S. 59)
Dies aber sei ein Irrtum: nichts stehe in der Bibel über die Hautfarbe von Ham. Allerdings sei Ham zur Sklaverei gegenüber seinen Brüdern ("aber niemandes sonst", Pätzold, S.58) verflucht. Aber die "Genealogen" verkennen im allgemeinen die wahren Gründe für die Unterschiede zwischen den Menschen:
... they declared all the Negro inhabitants of the south to be descendants of Ham. ... They had misgivings about their colour and therefore undertook to report the aforementioned silly story. ... Even if the genealogical construction were correct, it would be the result of mere guesswork, not of cogent, logical argumentation. It would merely be a statement of fact. (Dawood, S. 59)
Was Ibn Khaldun hier kritisiert, ist eine Frühform der späteren Rassentheorien, die ausschließlich unter Berufung auf die biblische Geschichte von Noah und seinen Söhnen die Unterschiede zwischen menschlichen Gesellschaften oder Kulturen erklärt und zugleich damit auch deren jeweilige Unter- bzw. Überordnung begründen will. Demgegenüber hält Ibn Khaldun daran fest, dass es mehrere Kriterien gebe, die in den einzelnen Fällen unterschiedlich anwendbar seien. Er unterscheidet vier Klassen von Fällen:
Distinctions between races or nations are in some cases due to a different descent, as in the case of the Arabs, the Israelites and the Persians. In other cases, they are caused by geographical location and physical marks, as in the case of the Zanj, the Abysinians, the Slavs, and the Sudanese Negroes. Again, in other cases, they are caused by custom and distinguishing characteristics, as well as by descent, as in the case of the Arabs. Or, they may be caused by anything else among the conditions, qualities, and features peculiar to the different nations. (Dawood, S. 59, Pätzold, S.61)
In diesem Zusammenhang macht Ibn Khaldun noch eine weitere, sehr interessante Bemerkung bezüglich der Wissenschaftssprache oder der Definitionsmacht. Er stellt fest, dass die Menschen der südlichen Zonen als "farbig" bezeichnet werden, nicht aber die der nördlichen Zonen
because the people who established the conventional meanings of words where themselves white. Thus, whiteness was something usual and common to them, and they did not see anything sufficiently remarkable in it to cause them to use it as a specific term. (Dawood, S. 59, vgl aber Pätzold, S.59f)
Man kann sagen, dass dies bis heute so geblieben ist. Ich möchte ein eindrückliches Beispiel dafür zitieren, das in einem Aufsatz von Tina Prokop angeführt ist, der 2000 erschienen ist:
Ein Beispiel zur Verdeutlichung, daß in die Bezeichnung der "Anderen" immer Machtbeziehungen eingewoben sind: Ein Forscher, der vielleicht abgesehen von einigen Forschungsreisen, seit seiner Geburt ständig in einer Stadt in den USA lebt, wird nicht unter dieser Kategorie "lokal" oder "indigen" subsumiert, hingegen jedoch ein Bauer, der in einem Dorf im Osten Burkina Fasos geboren wurde, in seiner Jugendzeit durch dieses Land gereist war, nationalstaatliche Grenzen in Westafrika überquert hatte, schließlich seit einigen Jahren mit seiner Familie in einem Dorf im Süden Burkina Fasos lebt und noch nicht festgelegt hat, wie lange er bleiben wird. Die Kategorie "lokal" fungiert weniger als Bezeichnung für den Geburts- oder lebenslangen Wohnort eines Menschen, sondern bezieht sich auf Menschen in Afrika, nicht jedoch in den USA. (Prokop: "Indigene, lokale" Kulturen. In: Journal für Entwicklungspolitik, Wien. Nr. 1, 2000, S.46, Anm. 1)

4) Ein kulturmächtiger Naturfaktor ist die Atmosphäre oder das Klima

Das Klima bestimmt den Charakter der Menschen. Nach Ibn Khaldun ist dieses Bestimmungsverhältnis in der Naturwissenschaft dort nachgewiesen worden, wo man Fröhlichkeit und Traurigkeit als Ausdehnung bzw. Zusammenziehung des animalischen Lebensgeistes und allgemeiner durch die "Natur" von Hitze und Kälte habe erklären können. Es sei eine Beobachtungstatsache, "that Negroes are in general characterized by levity, excitability, and great emotionalism." (Dawood, S. 63) Wie ist das zu erklären? Ibn Khaldun beruft sich hier auf die "Philosophen", die nachgewiesen hätten, dass der "animal spirit" ("Lebensgeist"?) sich bei Hitze ausdehne, was zu Freude und Fröhlichkeit führe, bei Kälte aber zusammenziehe, was zur Traurigkeit führe. Aber nicht nur die atmosphärische Hitze bewirke dies, sondern etwa auch der Wein und ein heißes Bad.
Now, Negroes live in the hot zone. Heat dominates their temperament and formation. ... As a result, they are more quickly moved to joy and gladness, and they are merrier." (Dawood, S. 63, Pätzold, S.62)
Es ist indessen nicht nur eine Frage der Breitengrade. Auch in gemäßigten Zonen tritt das Phänomen auf, und zwar bei Küstenbewohnern (wegen der stärkeren Reflektion des Sonnenlichts durch das Meer). Die Ägypter beispielsweise, die in einer gemäßigten Zone am Meer leben, sind fröhlicher und leichtsinniger als die Bewohner von Fez auf demselben Breitengrad, die in einer gebirgigen Gegend leben und darum vorwiegend traurig und ängstlich in Bezug auf die Zukunft sind.
Die Meinung des al-Masudi, der sich auf Galen und al-Kindi stützt und mit diesen die Eigenschaften des Charakters der Schwäche oder Stärke des (Lebens-) "Geistes" zuschreibt, lehnt Ibn Khaldun als unbewiesen ab. Die wirklichen Ursachen dafür, dass etwa die Schwarzen fröhlicher und zugleich leichtsinniger seien als die Bewohner der nördlichen und damit kälteren Länder, sieht er ausschließlich in äußeren Einwirkungen natürlicher Art.

5) Verschiedenheit von Kulturzuständen ist bedingt durch Mangel bzw. Überfluss an Nahrung

Das wirkt sich ebenso auf den Körper aus, wie auf die Charaktere von Menschen. Die von Ibn Khaldun vorgetragene Kausalerklärung dieses Phänomens beruht auf der Untersuchung des Futters und seiner inneren Feuchtigkeit, der blähenden und zehrenden Wirkung desselben bei Tieren und Menschen. Ibn Khaldun stützt sich hier auf die Beobachtungen von Tierhaltern; der behauptete Effekt ist sehr weitreichend, selbst Frömmigkeit und Religion seien davon betroffen. Keineswegs aber wäre ein Überfluss an Nahrung besonders günstig:
"Wir finden, ... daß diese Menschen, welche Getreide und Gewürze entbehren, einen besseren Zustand des Körpers und Charakters aufweisen als die Bewohner der fruchtbaren Hügel, die im Wohlleben versunken sind: ihre Farben sind reiner, ihre Körper fehlerloser, ihre Gestalten vollkommener und schöner, ihre Charaktereigenschaften entfernter von aller Abweichung von der Norm, ihr Verstand schärfer im Erkennen und Begreifen." (Schimmel, ebd.)
Zuviel Essen erzeuge überschüssige Kräfte im Körper, die schädlich seien. Bei den Stadtbewohnern zeige sich dies in besonders auffallender Weise: sie seien weniger scharf-sinnig und weniger gottesfürchtig zugleich. Auch die Langzeitfolgen bestimmter Ernährungsarten seien zu beachten: im Fall einer Hungersnot kann sich der Übersättigte nicht schnell genug umstellen und stirbt. Aber:
Those who die in famines are victims of their previous habitual state of satiation, not of the hunger that afflicts them for the first time. (Dawood, S. 67)
Tatsächlich könnten Menschen mit unglaublich wenig Nahrung leben. Er selbst, der Sufi Ibn Khaldun, habe Menschen getroffen, die 40 Tage lang überhaupt nichts zu sich nahmen, dem Sultan seien zwei Frauen vorgestellt worden, die mehrere Jahre nichts gegessen hätten. "They were examined, and the matter was found to be correct." (Dawood, S. 68) Essen, auch die Quantität, sei eine Frage der Gewöhnung und des Brauches, nur in sehr geringem Maße eine Frage der Notwendigkeit. Im allgemeinen gelte: weniger ist besser, sowohl für den Körper als auch für den Geist.
Doch nicht nur die Menge, auch die Art der Speisen sei charakterbildend: wer Kamelfleisch isst, erwerbe auf Dauer die Geduld und Kraft des Kamels. (Dawood, S. 69) - Der Mensch ist, was er isst ... man kann Ibn Khaldun hier kaum lesen, ohne auf Schritt und Tritt an Lamettrie, d-Holbach, Helvetius oder Feuerbach erinnert zu werden. Es ist eine durch und durch materialistische Auffassung von Geschichte und Kultur. Durch und durch? Zumindest die sechste "Prämisse" läßt stutzen.

6) Ein natürlicher Kulturfaktor sind schließlich die Prophetien

Es ist hier die Rede von denjenigen Menschen, die "das Unsichtbare sehen", und Ibn Khaldun stellt die Frage, wodurch diese Fähigkeit zustandekomme: durch Naturanlage oder durch Übung. Prophetie wird als die höchste Form menschlicher Seelenäußerung und -betätigung gesehen, wobei der Koran wiederum als die höchste Prophetie gilt. Aber auch hier sieht Ibn Khaldun noch natürliche Kräfte am Werk: die Welt insgesamt baue sich aus Elementen in steigender Ordnung auf, in einer Hierarchie: Pflanzenseele, Tierseele, Menschenseele. Innerhalb der Menschenseelen gibt es noch einmal Stufungen. Es gibt die schwache Menschenseele, die sich nur bis zu gewöhnlichen Wahrnehmungen und Beobachtungen erhebt; über ihr steht die "Seele der Heiligen", die den Beginn der geistigen Welt erreichen und hohe Erkenntnisse finden kann; die dritte Stufe schließlich ist die "Seele der Propheten", die sich bis zur Engelswelt erhebt - sie erhält göttliche Eingebungen und übermittelt sie den Menschen. Noch die höchste Einsicht des Propheten aber beruht auf Struktur und Natur der geschaffenen Welt. Ibn Khaldun
"considers all such activities (i.e. prophetische, FW) to be grounded throughout in the natural properties of the human soul which, in turn, is closely related to the human body and the world of generation, of the elements, of sensible bodies, and of their motion and rest." (Mahdi, S. 902)

Zusammenfassung

Es gibt gewisse und es gibt wahrscheinliche Kenntnis von der Kultur. Es gibt einen unbezweifelbaren Prüfstein, an dem man die Wahrheit, Wahrscheinlichkeit oder Nichtwahrheit von Berichten über die Geschichte prüfen kann und soll. Diese Prüfung kann stattfinden, wenn man berücksichtigt, welche menschennatürlichen Thesen die Naturwissenschaft erwiesen hat. Wenn man, mit anderen Worten, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen kennt und berücksichtigt, unter denen Kultur entsteht, besteht und sich verändert. Mit Hilfe dieser Faktoren muss man die vergangene Geschichte rekonstruieren und erklären. Man darf nur solche Faktoren annehmen, die naturwissenschaftlich, d.h. durch Erfahrung bewiesen sind und die allgemein sind, d.h. die das Kulturleben aller Menschen - wenn auch in je unterschiedlicher Form - bestimmen. Diese sind:
- Der Zwang zu Zusammenschluss und Herrschaft aufgrund der Unfähigkeit menschlicher Individuen, sich zu verteidigen und sich lebensnotwendige Nahrung zu verschaffen.
- Die Natur des bewohnbaren Teils der Erde und dessen unterschiedliche Lebensbedingungen.
- Der bestimmende Einfluss des Klimas auf Hautfarbe und Lebensumstände der Menschen, der Einfluss der Atmosphäre auf die Charaktereigenschaften von Menschen.
- Das Verhältnis von Ernährungsweise und Charaktereigenschaften.
- Der Einfluss und die natürliche Entstehung von göttlicher Weisheit und Prophetie.
 
 
Hauptwerk:
Kitab al-Ibar (Geschichte der Araber und Berber) 7 Bde.
Der erste Band u.d.T. Al-Muqaddimah enthält die methodologischen und geschichtsphilosophischen Thesen. In Europa seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts bekannt.
 
Benutzte Übersetzungen:
Annemarie Schimmel: Ibn Chaldun, Ausgewählte Abschnitte aus der muqaddima (Tübingen: Mohr 1951) Zitiert als (Schimmel S.n)
Mathias Pätzold: Ibn-Khaldun, Buch der Beispiele. (Leipzig: Reclam 1992) Zitiert als (Pätzold S.n)
Franz Rosenthal: Ibn Khaldun. The Muqaddimah. 3 Bde.
(Princeton: Univ.Pr. 1967) Zitiert als (Rosenthal S.n)
Franz Rosenthal: Ibn Khaldun. The Muqaddimah. (Abridged edition by N.J. Dawood, Princeton: Univ.Pr. 1981) Zitiert als (Dawood S.n)
 
Zitierte Sekundärliteratur:
Muhsin Mahdi: Ibn Khaldun, in: M.M.Sharif (Hg.): A History of Muslim Philosophy (Wiesbaden 1966; hier in Bd. 2, S.969 ff.) Zitiert als (Mahdi, S.n)
S.H. Nasr: An Introduction to Islamic Cosmological Doctrines
Cambridge, Mass. 1964