Franz Martin Wimmer:
99 SE Text 1


SS 99, SE PROBLEME UND ANSÄTZE INTERKULTURELLER PHILOSOPHIE - EINFÜHRUNGSTEXT:

Was will Interkulturelle Philosophie?

Die Leitidee des Projekts, daß eine neue Orientierung der Philosophie mit Bezug auf kulturelle Bedingungen notwendig sei, läßt sich in wenigen Punkten umreißen.

* Es ist erstens die Beobachtung, daß ein Eurozentrismus in der Philosophie bisher eindeutig leitend gewesen ist. Das zeigt sich am deutlichsten in den Darstellungen der Philosophiegeschichte, aber auch in den Themen, den Begriffen und Schulen, wie sie in Lehrbüchern, in Studienplänen, bei Kongressen oder in Zeitschriften ihren Ausdruck finden. Diesbezüglich sind übrigens die Unterschiede in den verschiedenen Regionen der Erde nicht groß: überall herrscht unter akademischen PhilosophInnen die selbstverständliche Auffassung vor, das Philosophie ein abendländisches Unternehmen sei. Und obwohl das so selbstverständlich ist, wundern sich wenige, warum dennoch meist ohne jede Einschränkung von "Philosophie" und nicht von "okzidentaler" Philosophie gesprochen wird.

* Der zweite Punkt ergibt sich daraus. Er besagt, daß Philosophie in mehreren kulturellen Traditionen entstanden ist und bis heute in entsprechend differenten Formen weiterentwickelt wurde. Daraus ergibt sich dann das Bedürfnis, diese "anderen Stimmen" des Philosophierens zu Gehör zu bringen. Es werden dabei nicht nur die alten Texte aus China, Persien und Indien neu gelesen, es werden ganze Kulturregionen erst einmal in die Weltgeschichte des Philosophierens eingeführt. So entstehen Arbeiten über afrikanische und lateinamerikanische Philosophie, über die Philosophie der Azteken und Ägypter und so weiter. Dabei treten regelmäßig zwei Schwierigkeiten auf: einerseits ist nicht ganz leicht zu sagen, was "das Afrikanische" an afrikanischer Philosophie, "das Lateinamerikanische" im andern Fall ist - und natürlich zieht dieses Problem auch gleich die Frage nach sich, was "das Europäische" an der okzidentalen Philosophie ist. Die zweite Schwierigkeit ist damit verbunden: es ist die Frage, was denn eigentlich aus der kulturellen Produktion Afrikas, Lateinamerikas usw. zur "Philosophie" zu rechnen ist und warum. Es ist die Frage nach dem Umfang und Inhalt des Begriffs, die hier unumgehbar ist.

* Das Projekt interkultureller Philosophie fordert eine Öffnung gegenüber Denktraditionen, die zuvor aus unterschiedlichen Gründen ausgegrenzt worden sind. Aber die Öffnung kann nicht schrankenlos sein, weil ansonsten der Gegenstand nicht mehr erkennbar und beschreibbar wäre. Also werden Debatten darüber geführt, welche Traditionen aus welchen Gründen hierher gehören; aber auch darüber, auf welche Quellen sich ein Philosophieren stützen darf oder muß, das die kulturellen Differenzen ernstnimmt und doch mehr als ein nur exotistisches oder ethnologisches Interesse am Denken der Andern hat. Beispielsweise wird man die Fixierung auf Texte als ausschließliche Quellen aufgeben müssen, wenn das Philosophieren von Kulturen in den Blick kommen soll, die wenig oder gar nicht Schriftkulturen waren. Was aber kommt dann in Frage? Jeder diesbezügliche Vorschlag - die Sprichwörter, die Sprachstrukturen, Rechtsformen, Architektur, Rituale usf. - bedarf einer Begründung und ich meine, diese kann letztlich nur darin liegen, daß in den entsprechenden Ausdrucksfeldern Denken ausgedrückt wird, das in methodischer Weise begründet wurde und das nicht nur als Antiquität interessiert, sondern zur Klärung auch von gegenwärtigen Fragen brauchbar ist.

Das Konzept des "Polylogs"

Philosophie als Disziplin, gesehen nach Mustern der (europäischen oder europäisch orientierten) Philosophiegeschichtsschreibung, wird oft ausschließlich als okzidentales Phänomen verstanden. Diese Einschätzung beschränkt sich keineswegs auf die ehemaligen Regionen der okzidentalen Kultur, sondern findet sich weltweit. In der gegenwärtigen Situation der Menschheit, in der die Kommunikation zwischen Völkern im Weltmaßstab nicht nur möglich, sondern notwendig wird, ist dies jedoch als eine unbefragte Voraussetzung anachronistisch. Neue Wege gegenseitigen Verstehens und Überzeugens auf der Grundlage epistemischer Gleichrangigkeit sind zu entwickeln und zu praktizieren. Darauf beruht die Idee des Polylogs.

Nehmen wir an, es gebe in einer Sachfrage der Philosophie die relevanten und miteinander nicht vereinbaren Positionen A, B, C und D. Es könnte sich beispielsweise um solche Fragen wie die Begründbarkeit von Menschenrechten, die Gültigkeit von Normen, die Argumentierbarkeit ontologischer Voraussetzungen usw. handeln. Derartig differente Positionen können intra- wie interkulturell feststellbar sein. Zwischen Vertretern solcher differenter Positionen werden Prozesse in Gang kommen, die zum Ziel haben, eine der bisherigen oder auch eine neu zu entwickelnde Position zur allgemeinen Anerkennung zu bringen. Derartige Prozesse können als einseitige oder gegenseitige Beeinflussung gedacht werden. Von gegenseitiger Beeinflussung, die zu dem angegebenen Ziel führen kann, sprechen wir dann, wenn beide oder alle Seiten aktiv an der Herausbildung des Neuen beteiligt sind; bei einseitigen Beeinflussungen ist dies nicht der Fall. Unter dieser Annahme sehen wir, daß Beeinflussungsprozesse von dreierlei Art sein können, die mit den Wörtern "manipulieren", "überreden" und "überzeugen" zu bezeichnen sind, wovon nur der letzte Ausdruck ein derartiges Verfahren der Änderung von Urteilen meint, in dem alle am Verfahren beteiligten Seiten bereit sind, ihre bisherigen Urteile in einer solchen Weise zu ändern, daß der ganze Prozeß als "philosophisch" bezeichnet zu werden verdient. Die beiden erstgenannten sind einseitig, ihr Ergebnis ist nicht durch Denkleistungen der Adressaten eines Arguments mitbestimmt. Wir können unter diesen Annahmen schematisch folgende Modelle unterscheiden:

(a) Einseitig zentraler Einfluß:

Unter der Annahme, daß die Tradition "A" allen von ihr differierenden endgültig oder eindeutig überlegen ist, wird deren Verhältnis zu diesen anderen so gedacht, daß Beeinflussungen mit dem Ziel der Angleichung an A in Richtung auf B, C und D ausgehen, daß von diesen jedoch keinerlei relevante Rückwirkungen auf A erfolgen.

In diesem denkmöglichen Fall gibt es keine Dialoge und natürlich auch keinen Polylog zwischen A, B, C und D. Jede Tradition außer A wird als barbarisch eingestuft, muß verändert, letztlich beseitigt und überwunden werden. Ziel ist also die Ausweitung der Tradition A und das Verschwinden von B, C und D. Im kulturtheoretischen Diskurs kann dies mit Ausdrücken wie "Zivilisierung", "Verwestlichung", "Kulturimperialismus", auch "Eurozentrismus" oder "Akkulturation" bezeichnet werden. B, C und D können einander ignorieren.

(b) Gegenseitiger teilweiser Einfluß: die Stufe der Dialoge

In der Realität kommt es beim Aufeinandertreffen von A, B, C und D auch dann zu Dialogen und gegenseitigen Beeinflussungen, wenn sie aufgrund von traditioneller Selbsteinschätzung theoretisch wegen der selbstverständlichen Überlegenheit der eigenen Tradition gar nicht notwendig oder, weil eine unüberschreitbare Verstehensgrenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden gedacht wird, strenggenommen nicht möglich sind.

Solche Verfahren können wir als Prozesse einer selektiven Akkulturation verstehen. Für A sind einige andere Traditionen auf dieser Stufe nicht mehr barbarisch, sondern "exotisch", und dasselbe gilt für B, C und D, jedoch nicht vollständig. Komparative Philosophie ist hier zunehmend etabliert.

(c) Gegenseitig vollständiger Einfluß: die Stufe des Polylogs

Für jede Tradition ist jede andere "exotisch" in dem Sinn, daß jede für jede andere fremd ist und keine von ihnen außer Frage steht: darin liegt die konsequente Form des Polylogs und einer interkulturellen Philosophie.

In der menschlichen Wirklichkeit existiert diese Form gegenseitiger Beeinflussung unter Voraussetzung tatsächlicher Gleichrangigkeit und unter Infragestellung aller Grundbegriffe, lediglich als programmatische oder regulative Idee; dasselbe trifft allerdings ebenso für die erstgenannte Vorstellung eines einseitig zentralen Einflusses zu. Wenn also die Wirklichkeit sich stets als eine mehr oder weniger vielseitige Form der zweiten Stufe beschreiben läßt, so ist doch zu fragen, nach welchem der beiden Extreme hin eine Orientierung begründet werden kann. Das heißt: es ist nach der Argumentierbarkeit des Modells eines nur einseitigen Einflusses bzw. desjenigen eines Polylogs zu fragen. In theoretischer Hinsicht scheint mir diese Frage unschwer zu beantworten: solange die Möglichkeit relevanter, jedoch divergierender Traditionen hinsichtlich philosophischer Sachfragen besteht, ist das erste Modell einer bloß einseitigen Beeinflussung nicht zu rechtfertigen, das Modell des Polylogs jedoch sehr wohl.

Ziele einer interkulturell orientierten Philosophie

Die Leitfrage interkulturell orientierten Philosophierens wird sein, welche tradierten Ideen und Denkformen für eine künftige globale Kultur fruchtbar gemacht werden können. Diese Frage erfordert zumindest zweierlei:

* Erstens die Offenheit, wie wir sie im Fall von Sprach-Wörterbüchern praktizieren, daß nämlich nicht die Voraussetzung leitend ist, eine der darin dokumentierten Sprachen sei in einem exzellenten Grad imstande, die Welt zu beschreiben, die andere hingegen inferior. In einem - fiktiven - Wörterbuch der Kulturen dürfte eine solche Vorstellung ebensowenig leitend sein wie in einem gewöhnlichen Wörterbuch. Ein solches "Wörterbuch" für die Philosophie zu beginnen, kann nur in einem polylogischen Verfahren geschehen.

* Zweitens ist die Orientierung an Sachfragen und Methoden für den Wert dieses Unternehmens ausschlaggebend.

Dafür kann eine Minimalregel (negativ) formuliert werden: halte keine philosophische These für gut begründet, an deren Zustandekommen nur Menschen einer einzigen kulturellen Tradition beteiligt waren.

Diese Regel kann auch in einer positiven Weise formuliert werden: Suche wo immer möglich nach transkulturellen Überlappungen von philosophischen Begriffen, da es wahrscheinlich ist, daß gut begründete Thesen in mehr als nur einer kulturellen Tradition entwickelt worden sind.

Ob Philosophen in einer aktiven und gegenseitig fruchtbaren Begegnung der Kulturen etwas beizutragen haben, ist eine Frage. Eine andere Frage ist es, ob Philosophie überhaupt möglich ist, wenn sie die Tatsache ignoriert, daß jedes Denken und jeder Ausdruck des Denkens nur mit den Mitteln eines kulturell in bestimmter Weise geprägten Systems stattfinden kann. Es ist eine für jeden Argumentierenden ärgerliche Tatsache, daß es nicht eine und nicht eine endgültig angemessene Sprache, Kulturtradition und Denkform des Philosophierens gibt, sondern viele, und daß jede davon kultürlich ist, keine darunter natürlich. Interkulturell orientiertes Philosophieren will diesen Sachverhalt bewußt machen, um daraus für beides Gewinn zu ziehen: für die Philosophie, indem zentristische Vorurteile kritisiert und neue Gesichtspunkte eingebracht werden; für den Umgang mit kulturellen Differenzen, indem gegenseitige Verständigung auf grundlegender Ebene angestrebt wird.

BEISPIELE

Ich will an zwei Beispielen verdeutlichen, welche Probleme hier auftreten und andeuten, wie sie behandelt werden könnten. Das erste Beispiel betrifft sowohl die Erkenntnistheorie als auch die Ontologie und die Begriffsbildung, das zweite die Begründung von allgemeinen Normen.

Wiredus Postulat einer "konzeptuellen Entkolonisierung"

Kwasi Wiredu ist einer derjenigen Philosophen aus dem modernen Afrika, der das "Dilemma der Kulturalität" nicht nur erfahren, sondern auch analysiert hat. Er spricht von der Notwendigkeit einer "begrifflichen Entkolonisierung", die darin gegeben sei, daß selbst so zentrale Begriffe wie "Truth, Knowledge, Reality, Self, Person, Space, Time, Life, Matter, Subjectivity" und zahlreiche andere für ihn, dessen Primärsprache das westafrikanische Akan ist, oft und in systematisch wichtigen Zusammenhängen Konnotationen haben, welche bestimmte Thesen der europäischen philosophischen Tradition unformulierbar oder zumindest höchst unplausibel erscheinen lassen. Sein Vorschlag für die zentralen Termini der Philosophie lautet nun:

Try to think them through in your own African language and, on the basis of the results, review the intelligibility of the associated problems or the plausibility of the apparent solutions that have tempted you when you have pondered them in some metropolitan language. (Wiredu 1997, S. 12)

Wiredus Vorschlag ist ernstzunehmen, doch führt er weit. Konsequenterweise dürfte das Verfahren nicht auf solche Sprachen begrenzt werden, deren Sprecher einem Kolonisierungsprozeß unterworfen waren, sondern müßte bei jeder Sprache durchgeführt werden - und bestünde dann wohl in einer "Enthistorisierung" der philosophischen Terminologie. Zudem bliebe weiterhin das Problem, die so gewonnenen Einsichten wieder zu übersetzen, es sei denn, man zöge sich eben auf so etwas wie eine "ethnische" Philosophie zurück und ließe die jeweils anderen außerhalb des Diskurses. Sehen wir uns jedoch noch ein Beispiel an, das Wiredus Vorschlag deutlich macht. Er beruft sich auf Alexis Kagamé

who pointed out that throughout the Bantu zone a remark like 'I think, therefore I am' would be unintelligible for "the verb 'to be' is always followed by an attribute or an adjunct of place: I am good, big etc., I am in such and such a place, etc. Thus the utterance '.. therefore, I am' would prompt the question 'You are ... what ... where?" (ebd., S. 16)

Dies ist nach Wiredu in der Akan-Sprache auch der Fall: der Begriff der Existenz ist in dieser Sprache

intrinsically spatial, in fact, locative; to exist is to be there, at some place. 'Wo ho' is the Akan rendition of 'exist'. Without the 'ho', which means 'there', in other words,'some place', all meaning is lost. 'Wo', standing alone, does not in any way correspond to the existential sense of the verb 'to be', which has no place in Akan syntax or semantics. (ebd.)

Wenn man nun damit die cartesische Formulierung "cogito ergo sum" vergleicht, so zeigt sich schnell, daß das Akan eine wesentliche Intention dieser Formel unerwartbar macht. Descartes meinte alles Bezweifelbare, auch räumliche Existenzen bezweifeln, und dabei doch Gewißheit hinsichtlich seiner eigenen Existenz haben zu können. Das Ich des "cogito" existiert nach seiner Überzeugung jedenfalls, auch als nichträumliche, immaterielle Entität, und die Sprache läßt dies auch ausdrücken. Damit ist allerdings noch nichts weiter festgestellt als eine Verschiedenheit (Wiredu: "incongruity") des Akan vom Lateinischen oder auch anderen europäischen Sprachen. Eine derartige Verschiedenheit ist aber nicht nebensächlich für die Möglichkeit des Philosophierens:

There is, of course, nothing sacrosanct about the linguistic categories of Akan thought. But, given the prima facie incoherence of the Cartesian suggestion within the Akan conceptual framework, an Akan thinker who scrutinizes the matter in his or her own language must feel the need for infinitely more proof of intelligibility than if s/he contemplated it in English or some cognate language. (ebd., S. 17)

Für jemanden, dessen Muttersprache Akan ist, wäre es natürlich dennoch möglich, von der Gültigkeit des cartesischen Arguments überzeugt zu werden - und dies, meint Wiredu, wäre keineswegs ein Aufgeben des Programms einer "conceptual decolonization", das ja nicht darauf abzielt, fremdes Gedankengut als solches abzuweisen. Allerdings gesteht er, daß Descartes' Argument ihn selbst nicht überzeugt. Das Entscheidende hier ist, daß eine sprachlich bedingte starke Unplausibilität bewußt wird, für oder gegen die dann argumentiert werden muß. Wie auch immer das Ergebnis einer solchen Argumentation aussieht, eines will Wiredu festhalten:

the implications of the Akan conception of existence for many notable doctrines of Western metaphysics and theology require the most rigorous examination. (ebd.)

Ich sehe nur eine Möglichkeit, Wiredu in diesem Punkt zu widersprechen - eine allerdings höchst zweifelhafte Möglichkeit: indem man nämlich behaupten würde, das Akan - und andere Sprachen - sei eben strukturell ungeeignet für philosophisches Denken. Die These wäre dann etwa: es gibt einige Sprachen (vielleicht auch nur eine einzige), die geeignet sind, philosophische Begriffe und Thesen angemessen auszudrücken. Andere Sprachen seien dies nicht oder doch so lange nicht, bis sie vielleicht entsprechend angepaßt wären.

Die These klingt nicht nur seltsam - und ich erlaube mir hier, Heideggers einschlägige Formulierungen der These nicht zu zitieren - sie setzt schlicht zuviel voraus: nähme jemand sie ernst, so könnte sie nur begründet werden von jemand, der/die selbst in allen Sprachen gleicherweise kompetent und philosophierend erfahren wäre (was natürlich eine unsinnige Vorstellung ist) oder wenn zumindest gewährleistet wäre, daß eine durchgehende und stets gegenseitige Kritik aller (und nicht nur einiger europäischer) Sprachen in bezug auf die darin naheliegenden philosophisch einschlägigen Plausibilitäten bereits geleistet ist. Dann allerdings wäre Wiredus Programm der "conceptual decolonization" bereits durchgeführt. Dem ist nicht so, sodaß wir uns seinen Vorschlag noch einmal ansehen können.

Viele Lehrsätze der abendländischen Metaphysik und Theologie, so lasen wir, fordern eine strenge Überprüfung heraus, wenn man von den Implikationen des Akan-Begriffs der Existenz ausgeht. Er führt Untersuchungen über die Erklärung der Existenz des Universums als Beispiel für eine Fragestellung an, die "a high regard among many Western metaphysicians" genießen.

However, a simple argument, inspired by the locative conception of existence embedded in the Akan language, would seem, quite radically, to subvert any such project: To have a location is to be in the universe. Therefore, if to exist means to be at some location, then to think of the existence of the universe is to dabble in sheer babble. (ebd.)

Es klingt schlicht unsinnig in Akan, vom Universum auszusagen, daß es existiert und ebensowenig, daß es nicht existieren könnte. Dann macht es aber auch keinen Sinn, davon zu sprechen, das Universum sei so oder so zur Existenz gekommen, etwa eine "creatio ex nihilo" anzunehmen. Eine derartige Vorstellung müßte vom Akan her fremd sein. Was Wiredu hier formuliert, ist ein Kriterium für die Unterscheidung sinnvoller von sinnlosen Aussagen, das seinerseits natürlich noch einmal zur Diskussion steht.

Was können Philosophen also von einer Entkolonialisierung philosophischer Begriffe erwarten, wie sie Wiredu vorschlägt?

My own hope is that if this program is well enough and soon enough implemented, it will no longer be necessary to talk of the Akan of Yoruba or Luo concept of this or that, but simply of the concept of whatever is in question with a view to advancing philosophical suggestions that can be immediately evaluated on independent grounds.
Nor, is the process of decolonization without interest to non-African thinkers, for any enlargement of conceptual options is an instrumentality for the enlargement of the human mind everywhere. (ebd., S. 21)

Es ist die Hoffnung eines Universalisten in der Philosophie, die hier zum Ausdruck kommt, keines Ethnophilosophen. Aber es ist zugleich eine Kritik am voreiligen Universalismus. Entscheidend für die Debatte innerhalb der akademischen Philosophie dürfte auf Dauer aber doch die Frage sein, ob in solchen interkulturell orientierten Diskursen, wie Wiredus Programm einen darstellt, ein "enlargement of conceptual options" oder nicht doch nur eine exotistische Abschweifung geschieht. Mit anderen Worten gefragt: haben wir diese Argumente gegen Descartes, gegen die Sinnhaftigkeit metaphysischer Aussagen über die Existenz des Universums etc. nicht schon in Europa selbst gehört und gelesen? Brauchen wir tatsächlich die Kritik, die der Akan-Denker aus seinem sprachlich-kulturellen Hintergrund schöpft?

Ich habe Wiredus Vorschlag hier nur als Beispiel für eine Analyse des Dilemmas der Kulturbedingtheit im Philosophieren und für einen Lösungsvorschlag angeführt. Die Frage stellt sich allgemeiner: brauchen okzidentale PhilosophInnen, etwa wenn sie sich Gedanken über ein globales Ethos oder über die Begründbarkeit von Menschenrechten machen, von der Sache her eine gegenseitig kritische Auseinandersetzung mit afrikanischem, chinesischem, indischem, lateinamerikanischem Denken wirklich? Es ist nicht unmöglich, daß alle Einwände und Überlegungen, die da kommen mögen, in der eigenen Tradition schon einmal gemacht, alle Differenzierungen schon einmal vorgeschlagen worden sind.

Es ist nicht unmöglich. Aber der Blick in die eigene Denkgeschichte wird uns nicht lehren, ob es wirklich so ist. Wenn es nicht so ist, so entgeht uns als Philosophierenden etwas - der Sache nach. Wenn uns jedoch nichts inhaltlich wirklich Anderes begegnet, so hätte durch ernsthafte Auseinandersetzung unsere Tradition einen wichtigen Test bestanden. In jedem der beiden Fälle ist ein Gewinn, kein Verlust durch eine wirkliche Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Denktraditionen zu erwarten.

Der Fall des Julián Tzul

Verdeutlichen wir uns an einem Problem der praktischen Philosophie, vor welcher Art von Fragen wir in einer interkulturell orientierten Philosophie stehen, so kann dies anhand des "Falles von Julián Tzul" geschehen, den R. A. Herra in folgender Weise beschrieben hat:

Ein besonderes Beispiel für die Art, wie die okzidentale Lebensform mit anderen Kulturen umgeht, ist das Verbrechen des Julián TZUL , jenes gualtematekischen Indio, den die europäisierte Justiz der ladinos wegen einer Gewalttat zu einer Gefängnisstrafe verurteilte, wobei sie nicht imstande war, dieses in den eigenen kulturellen Kontext einzuordnen. Seit der spanischen Conquista hat man den Gualtemateken Gesetze und Rechtsformen aufgezwungen, die der Weltanschauung der einheimischen Indiobevölkerung, die außerdem die Mehrheit darstellt, im allgemeinen fremd sind. Der Indio Julián TZUL wurde zum Opfer dieser Gesetze. In einer Schreckenstat, zu der ihn seine Weltanschauung gebrachte hatte, tötete er einen brujo, den er dabei überraschte, wie er Verwünschungen ausstieß, ihm und seinen Kindern den Tod auf dieselbe Weise wünschte, wie er schon zuvor seine Frau getötet hatte. Der zuständige Gerichtshof entschied nicht auf Notwehr (was ein europäischer, durch das Strafrecht globalisierter Rechtsbegriff ist) im Fall des magischen Terrors dieses Indio, als er den mächtigen Feind überraschte, wie dieser die Dämonen anrief und ihm Böses wünschte. Die Verzweiflung dieses Moments macht die mörderische Handlung Julián TZULS leichter. Dieses Urteil belegt die Unmöglichkeit, daß im (monokulturellen) Staatsrecht vom Typ des spanischen Rechts solchen Personen "Gerechtigkeit widerfahren" könnte, die im kulturellen Klima der Quiche leben und eine Wertskala haben, die zur vorkolonialen Epoche gehört. (Herra 1988, S. 15)

Aus dieser Beschreibung Herras ergeben sich Fragen von zweierlei Art:
erstens danach, welche strukturell ähnliche Fälle in unserer Gesellschaft - unseren Gesellschaften - vorkommen und wie sie behandelt werden (z.B. beim Verbot der Bluttransfusion durch Mitglieder bestimmter Glaubensrichtungen);
zweitens danach, welche Möglichkeiten in der Philosophie gegeben sind, um zu einer Klärung solcher Fälle beizutragen.
Die erstgenannten Fragen sind empirisch: Fragen der Sozialwissenschaft und der Rechts- oder Gesetzespraxis. Die zweite Art von Fragen ist methodologischer und ethischer Natur.

Es ist notwendig, hinsichtlich der ersten Art von Fragen möglichst genau informiert zu sein, aber dies ist nicht ausreichend zur Beantwortung von Fragen der zweiten Art. Immerhin sind Überlegungen von Sozial- und Politikwissenschaftern diesbezüglich sehr hilfreich. Ich möchte der empirischen Seite des Falles hier nicht weiter nachgehen, weil ich glaube, daß beinahe unendlich viele strukturell ähnliche Fälle gefunden werden können. Wenn Philosophieren, interkulturell orientiertes Philosophieren zumal, überhaupt von irgendeinem Wert ist, so läßt es diese Empirie weder links liegen, noch auch beschränkt es sich auf ein bloßes Wahrnehmen und Verstehen von Differenzen.

Zur Problematik der zweitgenannten Fragen sei darum das Argument Herras bei seiner Darstellung des Falles des Julián Tzul etwas schematischer verdeutlicht; dessen wesentliche Merkmale seien:
1) Es existiere ein einheitliches ("monokulturelles") Rechtssystem.
2) Es gebe bei den Angehörigen einer Gesellschaft rechtlich relevante Vorstellungen/Weltanschauungen, die bis zur Gegensätzlichkeit differieren, d.h. es könne für ein Rechtssubjekt ein bestimmtes Verhalten moralisch-rechtlich nicht nur erlaubt, sondern geboten sein, das für andere Rechtssubjekte verboten ist.
3) Unter diesen Bedingungen sei es unmöglich, daß allen Rechtssubjekten "Gerechtigkeit widerfahren" kann.

Es ergeben sich daraus zwangsläufig Fragen, von denen mir die wichtigsten folgende zu sein scheinen:
ad 1) Gibt es eine Alternative dazu, daß eine moderne Gesellschaft ein einheitliches Rechtssystem hat? Was wäre ein nicht-monokulturelles Rechtssystem (im Straf- und Zivilrecht)? Es ist keine Frage, daß traditionale Gesellschaften Rechtssysteme kennen, bei denen keine Gleichheit aller Rechtssubjekte vor dem Gesetz gilt. Daraus ist jedoch kein Argument für Rechtsordnungen moderner Gesellschaften zu gewinnen.
Es scheint, daß unter bestimmten Bedingungen der Fall des Julián Tzul anders behandelt werden könnte. Allerdings sind dies Bedingungen von tendenziell oder real ghettoisierender Art. Aus Kanada wird folgendes Beispiel berichtet (Lichem 1996): Ein Angehöriger einer indigenen Minderheit steht wegen Gattenmordes vor Gericht. Der Richter fordert den Stammesrat des Angeklagten auf, ein Urteil zu fällen, dem er, wenn er es akzeptiert, formale Gesetzeskraft verleihen werde. Der Rat verurteilt den Angeklagten, alten Traditionen folgend, zu dreijähriger Verbannung auf einer unbewohnten Insel. Überlebt er die Verbannung, so wird er danach wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Weder die Strafart noch die vorgesehene Rehabilitierung kommen in dieser Weise im kanadischen Strafrecht vor. Doch handelt es sich bei der Gemeinschaft, aus der der Angeklagte stammt, um eine geschlossene, von der übrigen Gesellschaft weitgehend isolierte Gruppe. Der Richter akzeptiert das vorgeschlagene Urteil, es gewinnt trotz des Widerstands eines großen Teils der Öffentlichkeit Rechtskraft.

ad 2) Kann in einem einheitlichen Rechtssystem eine Handlung/ein Verhalten zugleich geboten oder erlaubt und verboten sein? Welche Rolle spielen weltanschauliche Überzeugungen für die rechtliche Beurteilung des Handelns anderer Menschen? Welche Auffassungen dazu sind von Rechtsphilosophen unterschiedlicher Kulturen entwickelt worden und wie werden sie begründet?

ad 3) Gibt es einen kulturunabhängigen Begriff von Gerechtigkeit? Welcher Begriff von Gerechtigkeit ist einer plurikulturellen Gesellschaft eher angemessen als andere Begriffe? Gibt es insbesondere so etwas wie ein Menschenrecht auf die Beurteilung der Handlungen eines Menschen gemäß seinen eigenen (weltanschaulichen) Überzeugungen? Wo liegen mögliche Grenzen von Toleranz in derartigen Fällen, und wie sind sie zu begründen?

Die beiden Beispiele können hier nicht weiter entwickelt werden und decken auch nicht die Thematik insgesamt ab, um die es in den Diskussionen über interkulturelle Philosophie geht. Mehrere wissenschaftliche Gesellschaften haben seit etwas mehr als einem halben Jahrzehnt Aktivitäten in Richtung auf eine Neuorientierung des Philosophierens zur "Interkulturalität" entfaltet. Ich beschränke mich hier auf die beiden im deutschen Sprachraum tätigen. Die "Gesellschaft für Interkulturelle Philosophie (GIP) e. V." mit dem Sitz in Köln wurde von dem Kreis um Ram Adhar Mall 1992 begründet. Die Tätigkeit der GIP besteht bislang vor allem in der Organisation von Kongressen und der Herausgabe einer Buchreihe. 1993 erschien der erste Band von mittlerweile neun Bänden der "Studien zur Interkulturellen Philosophie" bei Rodopi in Amsterdam. In Wien gibt es seit 1994 die "Wiener Gesellschaft für interkulturelle Philosophie (WiGiP)", die neben lokalen Aktivitäten (verschiedene experimentelle Arbeitskreise und Projekte) neuerdings eine Halbjahreszeitschrift herausbringt: "polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren" (1. Jahrgang 1998). Informationen zu beiden Gesellschaften bieten folgende Webseiten im Internet:
GIP: http://members.aol.com/GIPev/welcome.html
WiGiP: http://www.univie.ac.at/WIGIP

AUSGEWäHLTE LITERATUR ZUM THEMA:

Fornet-Betancourt, Raúl (1997) Lateinamerikanische Philosophie zwischen Inkulturation und Interkulturalität. Frankfurt: Verl. für Interkulturelle Kommunikation

Hengelbrock, Jürgen und Gerd-Rüdiger Hoffmann (1993). Philosophie. Beiträge zur Unterrichtspraxis, Heft 29: Afrika. Berlin: Cornelsen

Herra, Rafael Angel. (1988). Kritik der Globalphilosophie. In: Wimmer Franz Martin (Hg.): Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien: Passagen Verlag. S. 13-34.

Holenstein, Elmar (1998). Kulturphilosophische Perspektiven. Frankfurt/M.: Suhrkamp

Hountondji, Paulin (1993) Afrikanische Philosophie. Mythos und Realität. Berlin: Dietz

Kimmerle, Heinz (1991) Philosophie in Afrika - afrikanische Philosophie. Annäherungen an einen interkulturellen Philosophiebegriff. Frankfurt/M.: Campus

Lichem, Walter (1996). Leben in Anderheit. Vortrag beim Symposium "Toleranz oder Dialog", Institut für Wissenschaft und Kunst, Wien (wird veröffentlicht)

Mall, Ram Adhar (1995). Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie - eine neue Orientierung. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Moritz, Ralf, Hiltrud Rüstau und Gerd-Rüdiger Hoffmann (Hg.). (1988). Wie und warum entstand Philosophie in verschiedenen Regionen der Erde? Berlin: Akademie-Verlag.

Nagl-Docekal, Herta und Franz M. Wimmer (Hg.) (1992). Postkoloniales Philosophieren: Afrika. Wien: Oldenbourg

Panikkar, Raimundo. (1998) Religion, Philosophie und Kultur. In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Jg.1, H.1, S. 13-37.

Paul, Gregor. (1984) Asien und Europa - Philosophien im Vergleich. Frankfurt/M.: Diesterweg

--. (1998) Logik, Verstehen und Kulturen. In: Schneider, Notker, R.A. Mall und Dieter Lohmar (Hg.): Einheit und Vielfalt. Das Verstehen der Kulturen. Amsterdam: Rodopi, S. 111-132

Plott, John C. (1977ff). Global History of Philosophy. Bd. 1-5. Delhi: Motilal Banarsidass.

Wimmer, Franz Martin. (1988) (Hg.) Vier Fragen zur Philosophie in Afrika, Asien und Lateinamerika. Wien: Passagen

--. (1990). Interkulturelle Philosophie. Theorie und Geschichte. Wien: Passagen.

--. (1997). Vorlesungen zu Theorie und Methode der Philosophie im Vergleich der Kulturen. Bremen: Universität (Studiengang Philosophie)

--. (1998). Thesen, Bedingungen und Aufgaben interkulturell orientierter Philosophie In: polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren, Jg.1, H.1, S. 5-12.

Wiredu, Kwasi. (1997). The Need for conceptual Decolonization in African Philosophy. In Heinz Kimmerle und Franz M. Wimmer (Hg.): Philosophy and Democracy in Intercultural Perspective. Amsterdam: Rodopi, S. 11-22.


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Letzte Bearbeitung: 9. März 1999
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