Franz Martin Wimmer

Lieber Kurt

oder: Antisemitismus heute



in: Peter Muhr, Paul Feyerabend und Cornelia Wegeler (Hg.): Philosophie, Psychoanalyse, Emigration. Festschrift für Kurt Rudolf Fischer zum 70. Geburtstag. Wien: WUV 1992, S. 447-452

Aus dem Text:

Als ich meinem kleinen Sohn vor etlichen Jahren ein Gedicht-Bild aufschrieb (die "Wellen" in Wellenform usw.), da wollte ich ihm sagen, woher ich Kenntnis davon habe, wo so etwas zu einer hohen Kunst entwickelt worden ist. Ich kannte keinen unbefangenen Ausdruck, versuchte es mit "jüdischen Österreichern", "Juden" und "Burgenländern jüdischer Herkunft". Er muß einen seltsamen Eindruck gewonnen haben, weil mir die "Steirer", "Tiroler" oder heimatlichen "Pinzgauer" sonst ganz ohne Hemmung über die Lippen kommen.

Wie also soll ich meinem Sohn sagen, wer Kurt Rudolf Fischer ist, der zum Mittelgewichtsmeister von China wurde, weil er zeigen wollte, daß es nicht wahr ist, was er ständig hörte: daß Juden feige sind von Natur und durch und durch? Soll ich ihm überhaupt irgendetwas davon sagen, wäre es nicht besser, die Nürnberger Rassegesetze als kollektiven Wahnsinn und die Schoa als Unfaßbarkeit in eine mittlerweile schon lange vergangene Geschichte einzuordnen? Da ich mitten in diesem kollektiven Wahnsinn zur Welt gekommen bin, bleibt mir dieser Weg nicht offen - vielleicht wird es nach vielen Generationen einmal der weise Weg einer toleranteren Menschheit sein. Vorläufig muß ich sagen, wie ich zu "den Juden" stehe, ob ich will oder nicht.


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