Der geistige "Anschluß" - Philosophie und Politik an der Universität Wien 1930-1950




Herausgegeben gemeinsam mit Kurt R. Fischer.

Wien: WUV Universitätsverlag, 1993. Unveränderter Nachdruck 2013
Ergebnisse des gleichnamigen Symposiums (1988) im Institut für Wissenschaft und Kunst - IWK - Wien.

VORBEMERKUNG:

S. 7: Der Entschluß, diese etwas heterogene Sammlung von kurzen Bemerkungen bis zu langen Essays über das Thema der Verbindung zwischen Politik, Philosophie, Weltanschauung und der Wiener Universität, besonders natürlich der Philosophischen Institute, herauszugeben, ist durch zwei Beobachtungen motiviert und gerechtfertigt. Erstens wurde der von uns vorbereiteten Arbeitstagung am 30.4.1988 großes Interesse entgegengebracht und zweitens ist die Philosophie in ihren verschiedenen Aspekten (den intellektuellen Inhalten, der Weltanschauung, der Kultur- und Machtpolitik) in der zeitgeschichtlichen Forschung zum Bedenkjahr 1988 eher zu kurz gekommen.
Für uns handelt es sich dabei weder um eine Verteidigung noch um einen Angriff, sondern um Dokumentation und Klarstellung. Daß die Philosophie in der Zeit des Nationalsozialismus in einer ähnlichen Situation war wie andere Bereiche der Kultur und der Wissenschaft, daß wir in ihrer Geschichte daher Ähnliches vorfinden würden, war zu erwarten. Daß die Philosophie auch vor 1938 und nach 1945 Kontinuitäten zeigt, scheint ebenfalls evident. Die Konzentration auf Wien ergab sich daraus, daß wir an der Wiener Universität tätig sind. Sie schließt einen Vergleich mit anderen Universitäten nicht aus, sondern macht ihn wünschenswert; das konnte in diesem Rahmen aber nicht geleistet werden.
Wir haben uns in der Vorbereitung der Arbeitstagung und beim Zusammenstellen dieses Bandes nicht auf die rein philosophischen Themen und Probleme beschränkt, sondern kulturpolitische, kulturkritische und nicht zuletzt machtpolitische Gesichtspunkte einbringen wollen. Alle diese Ebenen werden in den Texten diskutiert, wobei sie sich natürlich selten in Reinkultur darstellen lassen.
Neben und hinter spektakulären und weithin sichtbaren Maßnahmen wie der Vernichtung von Schriften und der Aussonderung des sogenannten "jüdischen Schrifttums" aus den Bibliotheken standen weiterreichende Maßnahmen der Wissenschafts- und Hochschulpolitik. Die faktisch durchgeführte und die langfristig geplante Nazifizierung des Wissenschaftsbetriebs im Bereiche der Philosophie ist bislang vor allem an prominenten Einzelfällen (wie etwa Martin Heidegger, Alfred Bäumler u.a.) untersucht, kaum aber in den Details ihrer Wirksamkeit klargelegt worden.
Es schien uns daher an der Zeit, die ausschließlich personalisierende Betrachtung in diesem Abschnitt der Geschichtsschreibung der Gegenwartsphilosophie dadurch zu überwinden, daß sowohl die institutionellen Grundlagen und Verfahrensweisen der Nazifizierung der Wissenschaft beschrieben werden, als auch dadurch, daß die daran Beteiligten oder davon Betroffenen nach
S.8: ihrem (schreibenden, publizierenden, lehrenden, beurteilenden) Verhalten befragt werden.
Nachzubemerken ist noch, daß einzelne Beiträge inzwischen bis zu fünf Jahre alt sind. Erst vor kurzem wurde uns noch eine Dokumentation von George Leaman zur Verfügung gestellt, worin der Autor zeigen will, daß sich "zwischen 1933 und 1945 ... die philosophische Zunft [Deutschlands] in ihre Mehrheit politisch und beruflich für den NS-Staat engagierte". Diese ausführliche Arbeit wird im Argument-Sonderband Nr. 205 ("Heidegger im Kontext - Gesamtüberblick zum NS-Engagement der Universitätsphilosophen") erscheinen. Aus Leamans Untersuchungen zu einer weiteren Arbeit, in der die Universitätsphilosophen außerhalb der alten Reichsgrenzen dargestellt werden, ist in unserem Zusammenhang insbesondere von Interesse, daß Erich Heintel, im Widerspruch zu Aussagen in diesem hier vorliegenden Band, am 1. Juli 1940 unter der Mitgliedsnummer 9018395 in die NSDAP aufgenommen worden sei und bis April 1945 regelmäßig den Mitgliedsbeitrag bezahlt habe. Wir bedauern, dies auf solche Weise erfahren zu haben, weil damit eine weitere Gelegenheit versäumt ist, sich über die realen Verhältnisse und vielleicht Zwänge klar zu werden, welche die Beziehung von akademischer Philosophie und Parteipolitik in dieser Zeit betreffen.

Wien, im Jänner 1993

Kurt Rudolf Fischer
Franz Martin Wimmer




INHALT:
Hans Sluga: Die verfehlte Sendung. Die Philosophie und der Nationalsozialismus (9-35)
Hans-Dieter Klein: Philosophischer Idealismus und Nationalsozialismus (36-52)
Klaus Dethloff: Konservative Revolution und Philosophie in Österreich (53-58)
Georg Graf: Reine Rechtslehre und schmutzige Verfassungstricks. Rechtstheoretische Überlegungen zu einigen Verordnungen des Jahres 1933 (59-68)
Otto Pfersmann: Philosophie in Wien zwischen "Anschluß" und Befreiung, Mythos, Affekt und Praktischer Vernunft (69-100)
Frank Hartmann: Philosophie und Drittes Reich (101-122)
Rudolf Ekstein: Philosophiestudieren in den dreißiger Jahren (123-129)
Gernot Heiß: ...wirkliche Möglichkeiten für eine nationalsozialistische Philosophie? Die Reorganisation der Philosophie (Psychologie und Pädagogik) in Wien 1938 bis 1940 (130-169)
Frank Hartmann: Geistiger Anschluß? Das Wiener Philosophische Institut und der Nationalsozialismus (170-178)
Cornelia Wegeler: Österreichische Wissenschaftsgeschichte: Erkenntnisprozeß oder Verdrängung? (179-205)
Herta Nagl-Docekal: Das Institut für Philosophie der Universität Wien. Der Status quo und seine Genese (206-220)
Elisabeth Nemeth: Zwischen Orthodoxie und gesellschaftlicher Sichtbarkeit (221-235)


Anhang: Darstellungen und Kontroversen:
Kurt R. Fischer: Konsequenzen und Korrespondenzen. Zur Arbeitstagung vom 30.4.1988 (239-250)
Rudolf Haller: Philosophie in Österreich nach 1945 (251-254)
Erich Heintel: Österreichische Philosophie 1945-1985 (255-263)
Markus Arnold: Das Wiener Philosophische Institut 1938-1945. Versuch einer Bilanz (264-267)
Erich Heintel: Offener Brief (268-269)
Hans-Dieter Klein: Bericht über Erich Heintel (270-280)
Hans-Dieter Klein: Brief an Information Philosophie (281-285)
Frank Hartmann: Brief an Hans-Dieter Klein (286-288)
Rudolf Haller: "Presse"-Zensur 1988? (289-292)


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Letzte Änderung am 22.07.98