Francis Bacon: Neues Organ der Wissenschaften. Übers. v. A. Th. Brück (1830). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1990.

In seinem "Neuen Organ der Wissenschaften" hat Bacon neben anderen, in der Wissenschafts- und Philosophiegeschichte wirksamen Ideen (vor allem seine Theorie des Experiments und der induktiven Erkenntnis sind hervorzuheben) eine Theorie darüber entwickelt, wie es zu Vorurteilen und Fehlurteilen beim Menschen kommt. Diese Theorie ist unter dem Namen der Idolenlehre bekannt, weil Bacon darin die Quellen für Fehlurteile in vier "idolae" sieht. Diese "Idole" halten den menschlichen Geist befangen und verunmöglichen ihm einen direkten Zugang zur Wirklichkeit; damit ist Wissenschaft und Forschung behindert und es ist ein wichtiges Unternehmen, diese Behinderungen der menschlichen Erkenntnis ausfindig zu machen und Methoden zu finden, sie zu neutralisieren.


1) Die "Vorurteile der Gattung" (idola tribus) Diese erste und grundlegende Form der Begrenzung des menschlichen Verstandes beruht auf Eigentümlichkeiten der menschlichen Natur. Es "geschehen alle Auffassungen der Sinne und des Verstandes nach der Natur des Menschen, nicht nach der Natur des Weltalls. Der menschliche Verstand gleicht einem Spiegel mit unebener Fläche..." Aus dieser "menschlichen Natur" entstehen Neigungen, die der Erkenntnis der Wirklichkeit abträglich sind, wobei Bacon auf folgende hinweist: - Menschen neigen dazu, mit demjenigen Teil der Realität zufrieden zu sein, den die Sinne zeigen. Solche Dinge wie "Luft" würden daher nicht untersucht; - Menschen verbleiben gerne in hergebrachten oder gern geglaubten Ideen und neigen dazu, Gegenbeispiele zu ignorieren; - Menschen lassen sich in ihrem Denken und Urteilen vom Gefühl und vom Willen leiten; - Menschen neigen dazu, in abstrakten Ideen zu schwärmen und dasjenige für statisch und unveränderlich zu halten, was tatsächlich im Fluss ist; - Menschen neigen dazu, Abstraktionen für Dinge zu halten, überall einen Sinn hineinzulesen und die Natur nach der eigenen Lebenserfahrung zu interpretieren. Diese erste Form von "Idolen" sei allen Menschen gemeinsam - es handelt sich also nicht um etwas wie "Ideologien" im modernen Sinn, sondern um die menschennatürlichen Bedingungen von Wahrnehmung und Denken. Durch ein methodisches Vorgehen sind diese Begrenzungen zumindest teilweise aufzuheben. Um dafür ein modernes Beispiel zu geben: Menschen können ultraviolette Lichtstrahlen nicht "sehen", wohl aber mit Hilfe von Instrumenten messen und mithin "wahrnehmen".


2) Vorurteile des Standpunkts (idola specus) Hier denkt Bacon an die Vorstellungswelt des Einzelmenschen. Jeder "hat eine besondere Höhle oder Grotte, welche das natürliche Licht bricht und verdirbt..." Damit sind also individuelle Beschränktheiten angesprochen, deren Gründe in der je eigentümlichen Natur, in der Erziehung und im Umgang mit anderen Menschen, in den bestimmten Büchern, die jemand gelesen hat, bei den Autoritäten, die jemand verehrt, in der Unterschiedlichkeit der gewonnenen Eindrücke und ähnlichen Dingen liegen, die für jeden einzelnen Menschen verschieden sind.


3) Vorurteile der Gesellschaft (idola fori) Damit spricht Bacon die kollektiven oder kulturellen Voreingenommenheiten an. Diese Art von Vorurteilen ergibt sich aus dem Verkehr der Menschen untereinander, aus der Sprache, die sie sprechen und aus den Gebräuchen und Gesetzen, die sie befolgen. "... die Menschen gesellen sich zueinander vermittels der Rede; aber die Worte werden den Dingen nach der Auffassung der Menge beigelegt; deshalb behinderts die schlechte und törichte Beilegung der Namen den Geist in merkwürdiger Weise." Bacon verweist hier insbesondere auf Wörter für Nichtexistierendes, wie z.B. Glück (fortuna), Erster Beweger=Gott (primum mobile) u.ä. Solche Wörter führen zu endlosen Streitigkeiten, wobei es sich eben nicht nur um private Meinungen handelt, sondern um eine Vorstellungswelt, die das jeweilige Kollektiv zusammenhält. Es ist dasjenige, was am ehesten mit unserem Begriff von Glaubenssystemen und Ideologien zusammenstimmt.


4) Vorurteile der Bühne (idola theatri) nennt Bacon jene Vorstellungen, die wir aus den verschiedenen Lehrsystemen und Schulen übernehmen. Sie sind "in der Seele des Menschen aus den mancherlei Lehrsätzen der Philosophie und auch aus verkehrten Regeln der Beweise eingedrungen..." Es geht dabei nicht nur um die Philosophie, sondern auch um "manche Prinzipien und Lehrsätze der besonderen Wissenschaften, die durch Herkommen, Leichtgläubigkeit und Nachlässigkeit Geltung erlangt haben." In diesem Zusammenhang betont Bacon, daß die Systeme der Philosophie schließlich lediglich menschliche Schöpfungen sind, und unterscheidet drei Typen falscher Philosophie:

a) "Sophistische" Philosophie habe beispielsweise Aristoteles betrieben, indem er die Naturphilosophie durch seine "Dialektik" verdorben habe;

b) "Empirische" Philosophie, die allgemeine Aussagen macht, sich dabei aber lediglich auf einige wenige und noch dazu dunkle Beobachtungen stützt. Gilberts Werk "De magnete" dient Bacon als Beispiel dafür.

c) "Abergläubische" Philosophie ist durch die Einführung theologischer Betrachtungen gekennzeichnet. Darunter fallen sowohl Platon und die antiken Pythagoreer, als auch die zeitgenössischen Astronomen, sofern sie in ihrer Hochschätzung der Mathematik sich die Welt in geometrischer Weise als Schöpfung Gottes erklären.

Was Bacon mit der Idolenlehre untersucht, ist der Einfluß sser menschlichen Kultur und des Willens auf den Verstand. Der erste wichtige Schritt ist die Erkenntnis von den Behinderungen, die sich daraus ergeben, dann aber soll man den Idolen "mit festem und feierlichem Entschluß" entsagen und zur Einfachheit und Naivität zurückfinden: "Zu dem Reiche des Menschen, das in den Wissenschaften gegründet wird, darf kein anderer Eingang sein, als zu dem Himmelreiche, in welches nur in Kindesgestalt einzutreten ist."